• Auf den melancholischen Aufbruch in Alexandreia folgte eine entbehrungsreiche Zeit auf See, welche Manius Minor bereits als eine Präfiguration des ihm in Rom erwartetenden Übels erschien, denn sowohl erwies sich sein Zelt als dergestalt inkomfortabel, wie er dies erwartet hatte, als auch die Gesellschaft an Bord um ein vielfaches Maß als ennuyanter denn auf der vorherigen Schiffsreise, da selbst der Kapitän sich eines Dialektes bediente, welcher ihm kaum erlaubte dessen Worten zu folgen. Einzig Patrokolos war ihm Trost und Stütze, herzte ihn in den Stunden größter Desolation, schwelgte mit ihm in den Remineszenzen an die vergangenen, freudigen Monate, in welchen die beiden nicht selten getrennte Wege waren gegangen, da der junge Flavius im Kreise seiner imperfektionistischen Myrmidonen mitnichten beständig seiner lebendigen optischen Prothese hatte bedurft, was wiederum nun die Gelegenheit bot, diverse Episoden, welche der eine wie andere separat hatte durchlebt, auszutauschen und damit in der Tat bisweilen gar Amusement inmitten jener inexpugnablen Tristesse zu generieren.


    Dennoch kehrte der Schatten der Desperation mit größter Regularität immer wieder, verfinsterte das Antlitz des flavischen Jünglings und strapazierte dabei nicht selten auch das nervöse Korsett seines Dieners, welcher nun, da man sich in höchster Not hatte ausgesprochen und neue Vertrautheit gewonnen, bisweilen gar ein offenes Wort riskierte und seine Enerviertheit verbalisierte, woraufhin Manius Minor, fest dem Vorsatze verbunden, seinem geliebten Patrokolos nach Gelegenheit jedwede superfluente Last bis zu seiner Manumissio zu ersparen, nicht selten sein Lamentieren mäßigte. Doch die Rücksicht auf jenen Freund, welchen die ihnen mit jeder Seemeile sich weiter approximierenden Perspektive eines von leeren Meinungen beherrschtes, sinnen- wie freudloses Leben in beiweitem geringeren Maße tangierte, implizierte doch mitnichten, dass damit die Emotionen des Jünglings waren annihiliert.
    Fortunablerweise gelang es Patrokolos zumindest, in einem der Matrosen einen zuverlässigen Lieferanten an Opium zu gewinnen, welcher ihnen im Tausch gegen das ein oder andere Gewand aus dem Fundus an Kleidung, den Sulpicius zumindest ihnen hatte überlassen, ein wenig jener klebrigen Masse überließ, die beim Schlucken trotz ihres abscheulichen Geschmacks eine formidable Wirkung entfaltete und zumindest das Bauchgrimmen und die Nervosität, welche sich nach längerer Abstinenz bei Manius Minor einstellten, linderten, sodass er erneut in Tagträumereien und Glücksgefühle sich zu flüchten imstande war.

  • ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~


    Ein wohliger Schauer durchfuhr ihn, nachdem er von der köstlichen Milch des Mohnes hatte gekostet, denn sogleich verspürte er jene Hitzewallung, welche nicht selten an der Pforte ins Reich der Glückseligkeit stand. Er reichte den Becher weiter an seinen Nebenmann, sodann wandte er sich neuerlich der Tänzerin zu, welche eifrig sich ihrer Reize bedienend durch die Reihen der verstreuten Klinen tänzelte, stets lasziv sich zum Rhythmus der Musik bald hierhin, bald dorthin räkelnd, ehe sie schließlich vor seinem Antlitz verharrte, um ihm allein sich im Rausche des Tanzes hinzugeben.
    Immer näher kam sie ihm, immer ekstatischer wurden ihre Bewegungen, immer mehr an jene Klimax gewahrend, welche lediglich die innigste Vereinigung zweier Liebender mochte erreichen, was die Wirkung auf ihn nicht verfehlte, denn schon verspürte er seine Libido wachsen, jenes brennende Begehren, welches in diesem Kreise so leichtlich war zu befriedigen. Folglich streckte er schlichtweg seine Hand aus, bekam den Rock um die eifrig zuckenden Hüften zu fassen und zog mit sanfter Gewalt das Mädchen zu sich, umfasste endlich sie an jener mirakulöserweise geradehin ruhenden, schmalsten Stelle der Taille und bugsierte sie auf seine Kline, um innig sich mit ihr zu vereinen.
    Erst hier wurde ihm gewahr, dass die Tänzerin, gleich den berbischen Schönheiten aus dem Hause des Dionysios, durch einen Schleier ihr Antlitz verbarg, was augenscheinlich ein ridikulöses Feigenblatt von Anständigkeit repräsentierte, betrachtete man den übrigen, weniger denn dezent verhüllten Leib. Doch wollte er auch ihren zweifelsohne sinnlichen Mund berühren, ihre zarten Wangen ebenso liebkosen wie ihre üppigen Brüste, ihr durch das wallende Haar fahren, sodass er gierig den sanften Stoff mit der Hand ergriff, daran riss und... erstarrte.
    Wohlbekannt war ihm das Gesicht, welches nun ihn starr fixierte, zu Lebzeiten bereits mit vornehmer Blässe gesegnet, nun jedoch ob der zerborstenen Lippen, der leeren Augen und der wächsernen Qualität der Haut zweifelsohne unter die Toten war zu rechnen, denn niemand geringeres als seine eigene Schwester war es, welche nun auf seiner Klinen kniete, um ihm, wie es schien, zu Willen zu sein.


    Voll Schrecken stieß er jenen untoten Leichnam von sich, die Abscheu, neuerlich seine eigene Schwester begehrt zu haben, sodass das Mägdelein, nunmehr jeglicher Kräfte entbunden, von der Kline auf den mosaikengeschmückten Boden stürzte und dort leblos verharrte. Panisch blickte er um sich, hinüber zu jenem Conbacchanten, welcher sich nunmehr ihm zuwandte und kein anderer war denn Sulpicius Cornutus, der ihn seinerseits anklagend anblickte. Ihm gegenüber dagegen konnte er Manius Maior ausmachen, welcher bequemlich auf seiner Kline ruhte, augenscheinlich nicht im geringsten disturbiert, seine eigene Tochter gleich einer Dirne tanzen und nunmehr zu Boden gehen zu sehen, dort der Kapitän, mit einer Handvoll Seeleuten ins Gespräch vertieft.
    "Möchtest du noch einen Schluck?"
    , vernahm er mit einem Male eine wohlvertraute, ja verhasste Stimme und wandte neuerlich sich um, um am Kopfende seines Speisebettes Aurelia Prisca zu erblicken, angetan gleich einer ägyptischen Priesterin in transparentem Gewand, doch ein Tableau offerierend, auf welchem ein güldener Becher, dekoriert mit Schlangenmotiven wartete. Sogleich war ihm bewusst, dass dem darin wabernden Trunke Schierling musste adjungiert worden sein.


    Ein Schauder erfasste ihn, nein: ein Schwindel gar und er rollte, jedwede Orientierung verlustig gehend, von seiner Kline...


    ~ ~ ~


    ...und stieß gegen einen Körper, welcher ihm ein erschrecktes Quieken entlockte. Schweißperlen standen auf seiner Stirne, seine Tunica erschien ihm, als sei er nicht einem Traume, sondern dem Frigidarium einer Therme entstiegen, und zu allem Überflüsse hatte selbst der Erdgrund seine Festigkeit verloren, wogte hin und her und zog ihn bald gegen den Körper, dann wieder weg von diesem.
    Doch der Corpus an seiner Seite war warm, wie seine fahrige Hand rasch ertastete, die Physiognomie des Antlitzes entsprach eben jener seines Freundes Patrokolos, was nur konnte bedeuten, dass er in keiner signifikanten Gefahr sich befand, sondern neuerlich einem jener gräulichen Träume aufgesessen war, welche ihn nun so lange Zeit hatten geschont.


    "Patrokolos!"
    , murmelte der Jüngling mit timider Stimme, während das Bewusstsein seiner Situiertheit zurückkehrte, ihn gemahnte, dass er auf einem Lastschiff sich befand, was die Instabilität des Bodens, womöglich gar den Sturz im Traume mochte explizieren, dass er auf selbigem seit vielen Tagen gen Italia reiste und das Rauschen um ihn einer mäßig agitierten See mochte anzulasten sein. Jene Einsicht bereits kalmierte den jungen Flavius bereits signifikant, noch ehe ein Seufzen, sodann die ennuyierte Stimme seines Dieners war zu vernehmen:
    "Was ist?"
    "Ich hatte einen grässlichen Traum: Flamma war dort, und Vater, und Sulpicius und Aurelia..."
    "Ängstige dich nicht, Domine, es war nur ein Traum!"
    , mühte Patrokolos sich, jenes Zwiegespräch zu finalisieren und seinerseits Morpheus' Reich aufs Neue zu betreten, ehe es recht begonnen hatte. Doch Manius Minor war hellwach, sein jugendlicher Geist war überfrachtet von Sorgen und Nöten und so verspürte er einen höchst urgierenden Drang, seine Gedanken zu teilen:
    "Es ist eben kein Traum. In wenigen Tagen schon werde ich wieder in Rom sein, gefährdet durch die Nachstellungen Aurelias, konfrontiert mit dem Tode meiner Schwester, geplagt von meinem... nun, von meinem Vater!"
    "Und glaubst du, es wird erträglicher werden dadurch, dass du zum hundertsten Mal darüber klagst?"
    , replizierte Patrokolos und stieß vernehmlich Luft aus.
    "Nein, selbstredend nicht, aber es grämt, nein: torquiert mich dennoch jeden Tag und jede Stunde, Patrokolos! Ich muss doch irgendetwas zu tun imstande sein!"
    "Nichts kannst du tun, Domine. Du musst dich in dein Schicksal fügen. Denke an Epikur, ihm spielte das Leben auch übel mit, dennoch starb er als glückseliger Mann!"
    Jene, wohl mehr dahergesagte denn sorgsam erwogene Verlautbarung traf den jungen Gracchen gleich einem Blitzschlag, aktivierte seinen Geist inmitten jener unerquicklichen Nacht auf See, da sie ihm doch eine Perspektive offerierte, welche er all die Tage und Stunden des Klagens und Verdrängens niemals hatte erwogen: In der Tat hatte der große Epikur selbst weitaus größeren Schmerz zu tragen gehabt denn er selbst, hatte dennoch fröhlich und zufrieden sein Ende erwartet, anstatt den grässlichen Qualen sich hinzugeben. Wie lautete der vierte Lehrsatz? Was schmerzt, spürt man nicht ununterbrochen im Fleisch; vielmehr ist der größte Schmerz nur von kurzer Dauer; der Schmerz aber, der die Lust im Fleisch kaum übersteigt, dauert nicht viele Tage lang. Lange andauernde Krankheiten gewähren mehr Lust im Fleisch als Schmerz.
    Selbstredend war seine Familia nicht direkt als eine Krankheit zu titulieren, sodass selbiger Lehrsatz an der Situation Manius Minors mochte in der Intention des Autors mochte vorbeigehen, dennoch machte der junge Flavius hier eine frappierende Analogie aus, welche womöglich in der Tat ein Ausweg aus seinem Leiden mochte sein: Nichts als die Wahrheit war Patrokolos' Einsicht, dass mit dem Unabänderlichen zu hadern absolut närrisch war, vielmehr das Arrangement mit dem Übel die singuläre Option eines wahren Epikureers konnte sein.
    In der Tat ließ sich die Situation mit den Augen Epikurs in einem gänzlich neuen Licht ästimieren, da doch sein Hass gegen die Aurelia lediglich darauf fußte, dass er Furcht verspürte um sein Erbe, die Reputation der Familie wie die vermeindliche Sekurität, welche selbige ihm vermeintlich bot: Berühmt und angesehen wollten manche Menschen werden, weil sie meinten, dass sie sich so die Sicherheit vor den Menschen verschaffen könnten. Wenn daher das Leben solcher Menschen sicher war, haben sie das natürliche Gut gewonnen. Wenn es aber nicht sicher war, besaßen sie nicht, wonach sie von Anfang an in Übereinstimmung mit ihrer eigenen Natur strebten. Nun, da er jener, auf leeren Meinungen sich gründenden Sisyphos-Arbeit des politisch-sozialen Wettbewerbs hatte abgeschworen, gab es im Grunde keinen Grund, sich ob der ridikulösen Überambition seiner Stiefmutter zu grämen!
    Selbstredend mochte es sein, dass sie seine Schwester durch sinistre Pläne hatte ermordet. Doch welchen Zweck hatte es, ihr deshalb nachzueilen, wo es doch außer Frage stand, dass ihr Gatte, sein desillusionierender Vater, ohnehin würde verhindern, dass ihr deshalb eine Strafe ereilte? Ein glückliches und unvergängliches Wesen hat weder selbst Schwierigkeiten noch bereitet es einem anderen Schwierigkeiten. Daher hat es weder mit Zornesausbrüchen noch mit Zuneigung zu tun; denn alle Gefühle dieser Art sind Zeichen von Schwäche. Und selbst wenn sie, getrieben von ihrer infiniten Gier ihn mochte, kaum würde er sein Vaterhaus betreten, einer Natter gleich vergiften, so blieb doch hier des Philosophen Rat bestehen: Die unbegrenzte Zeit verschafft die gleiche Lust wie die begrenzte, wenn man die Grenzen der Lust mit der Vernunft abmisst. Beinahe entlockte jene Einsicht, vor wenigen Tagen noch selbst den Freitod erwogen und lediglich aus Rücksicht auf seinen Freund ausgeschlagen zu haben, dem junge Flavius ein sublimes Lächeln.
    Was sollte ihn in Rom erwarten, was er nicht mit dem vierfachen Heilmittel Epikurs mochte heilen? Würde denn nicht soeben jener Keil, welchen Aurelia in die flavische Familie zu treiben gedachte, ihr Traum davon, der eigenen Brut den Vorzug zu verschaffen vor jenen, welche von Rechts wegen ihn für sich durften reklamieren, ihm jene Freiheit von gesellschaftlichen Pflichten, ja politische Abstinenz bescheren, die er sich so sehr wünschte?

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