In den letzten Tagen hatte Prisca sehr viel nachgedacht, aber auch sehr viel geredet. Mit Mara, ihrer Leibsklavin, die ihr sozusagen bei der "Aufarbeitung" der Erlebnisse von Antium behilflich gewesen war. Der Vorfall mit dem Verwalter hätte an sich ja schon genug Gesprächsstoff gereicht, aber darum ging es Prisca gar nicht. Vielmehr hatte es sie beschäftige, dass ihr Leibwächter sich aus heiterem Himmel wie ein Verrückter aufgeführt hatte. Wie ist er nur auf diese absurde Idee gekommen? Diese Frage hatte Prisca immer und immer wieder gestellt. Und immer wieder hatte Mara darauf entgegnet, dass es eben vorkommen konnte, dass die Augen und Ohren dem Verstand einen Streich spielten. Das war an sich nicht ungewöhnlich und das konnte Mara auch mit verschiedensten Beispielen unterlegen: Eine Fatamorgana zum Beispiel, bei der man in der flirrenden Hitze der Sonne plötzlich Dinge am Horizont zu sehen glaubte, die gar nicht da waren. Oder im Opiumrausch! Wenn die Realität einer bunten Märchenwelt glich und man glaubte, sich ganz und gar seinen Phantasien hingeben zu können. Nicht selten kam danach die Ernüchterung, wenn nicht gar ein "böses Erwachen" ohne sich daran erinnern zu können, was genau eigentlich vorgefallen war. Jener "Zustand" war Prisca nur zu gut bekannt, schließlich probierte sie selbst gerne diese bewusstseinserweiternden Mittelchen aus (insbesondere wenn sie mal wieder schlechte Laune hatte).
War also die Sonne der Grund für das "verrückte Handeln" ihres Leibwächters gewesen? Das hatte Prisca ja bereits angenommen, aber so ganz überzeugt war sie nicht. Und Drogen? Nein, wann hätte Lyciscus die denn nehmen sollen? Prisca war doch die ganze Zeit über bei ihm gewesen! Die ganze Zeit? Nicht ganz! Zumindest nicht zu dem Zeitpunkt, als Lyciscus beim brennenden Anwesen auf den "verrückten" Verwalter getroffen war. Ja genau da! Als es brannte und das ganze Haus voller Qualm und Rauch gewesen war Und hatte sich nicht auch Azita sehr seltsam verhalten, als sie sich wie eine "Verrückte" auf den Verwalter stürzen wollte?
Prisca war sehr überrascht als Mara ihr davon erzählte und mehr noch angesichts der plausiblen Erklärung, welche die junge Griechin ihr lieferte: In dem Qualm und Rauch musste irgendetwas gewesen sein. Ein im Feuer gelöstes Opiat, welches durch das Einatmen Halluzinationen hervor rief. Hatte nicht die Sklavin selbst erzählt, dass der Verwalter sich immer seltsamer benommen hat? So als stünde er unter Drogen? Das passt zusammen und wahrscheinlich hatte Varro irgendein Pulver in das Feuer gestreut! So muss es gewesen sein! Denn genau bei den Dreien, die im Haus gewesen waren als es brannte, traten Anzeichen von "Irrsinn" auf - dem Verwalter, Azita und eben Lyciscus. Bei dem Thraker hatte die Droge nur etwas später gewirkt, weil er nicht so lange dem Rauch ausgesetzt war und zudem sein Körper stärker war und was dann geschah, hatte Prisca ja selbst gesehen und gehört.
Mara hatte Prisca absolut überzeugt. Zumindest hatte sich Lyciscus danach nicht mehr sonderbar verhalten. Und die Sklavin? Nun, die hatte Prisca bis dato hier noch nicht zu Gesicht bekommen. Den Aussagen der anderen Sklaven nach, musste sich die Perserin aber bislang völlig unauffällig verhalten haben. Blieb noch der Verwalter übrig. War Varro am Ende auch wieder bei klarem Verstand? Das bliebe noch zu klären, sobald Prisca Kenntnis über den Verbleib des Alten hatte. Aber darum wollte sie sich später kümmern. Zuerst wollte Prisca mit Lyciscus reden. Um ehrlich zu sein hatte sie Angst, dass er ihrem Befehl zufolge wirklich gehen würde. Für immer! Das wollte Prisca auf keinen Fall riskieren und so schickte sie sofort den Sklavenjungen zu Lyciscus Kammer. Gleichzeitig sollte Mara sich auf die Suche nach Azita machen, wo auch immer die Perserin gerade stecken mochte.
In der Zwischenzeit machte es sich Prisca im Garten auf der Kline bequem. An jener Stelle, wo sie bereits einmal voller Ungeduld und Hoffnung auf die Rückkehr ihres Leibwächters gewartet hatte. Um ihre Gedanken abzulenken, vollendete Prisca den Lorbeerkranz und als sie damit fertig war, überfiel sie plötzlich eine starke Müdigkeit. Kein Wunder, nachdem sie tagelang kaum geschlafen hatte. Nur ein bisschen die Augen zu machen, bis Lyciscus da ist, dachte Prisca als ihre Augenlider schwer wie Blei wurden und ehe sie sich versah, war sie bereits tief und fest eingeschlafen. Wie lange sie schlafend da lag, wusste Prisca nicht. Erst als sie eine sanfte Berührung spürte und die Stimme des Thrakers ganz nah an ihrem Ohr vernahm, kehrte ihr Bewusstsein langsam wieder zurück.
Prisca streckte Arme und Beine genüsslich räkelnd von sich. Dann drehte sie sich langsam von einer Seite auf die Andere und öffnete die Augen. Ihr erster Blick fiel auf den Korbsessel, wo Lyciscus saß und ihr anscheinend schon länger beim schlafen zugesehen hatte. Zumindest vermutete Prisca das in dem Moment als sie in seine Augen blickte und diese wie fixiert auf sie wirkten. Die Freude darüber, dass Lyciscus hier war und er nicht fort gegangen war, ließ spontan ihre Mundwinkel nach oben zucken während ihre Augen weiter in den Seinen ruhten.
"Ich freue mich, dass du da bist …", kam es leise über Prisca´s Lippen und ein weiteres Lächeln folgte. Die Worte und das Lächeln waren ehrlich gemeint, auch wenn sie vielleicht überraschend kamen. Prisca hatte lange überlegt, wie sie sich Lyciscus gegenüber nun verhalten sollte - wie sie quasi einen "Neuanfang" zwischen ihnen schaffen konnte. Hierzu hatte ihr Mara leider keinen Tipp mit gegeben. Natürlich hätte Prisca nun gleich wieder die strenge Herrin spielen können, die ihrem Sklaven zwar verziehen hatte aber immer noch sauer auf ihn war. Sie hätte Lyciscus auch nur beiläufig mitteilen können, dass er seine alten Aufgaben sofort zurück bekäme und damit die Sache erledigt wäre. Aber wäre damit die neue Basis für ein gegenseitiges Vertrauen geschaffen? Prisca bezweifelte das. Andererseits - was durfte ein "einfacher" Sklave schon großartig von seiner Herrschaft erwarten? Etwa eine Entschuldigung?
Obwohl er "nur" ein Sklave war, hatte Lyciscus durchaus einen besonderen Platz in ihrem Leben eingenommen. Er war ihr ständiger Begleiter, dem sie ihr Leben anvertraute und womöglich würde er irgendwann sein Leben für sie opfern. Lyciscus hatte also mehr verdient als manch anderer "einfacher" Sklave und deshalb tat Prisca nun das, was ihr Herz ihr befahl. Einmal atmete Prisca tief durch und dann erhob sie sich von der Kline. Mit zwei Schritten war sie bei dem Tisch mit dem Lorbeerkranz, den sie aufhob und zwischen ihren Fingern drehte während sie folgende Worte suchte und fand:
"Lyciscus, … als du mir in Antium gesagt hast wie leid es dir tut und, dass du dein Handeln selbst nicht erklären kannst, da … da habe ich dir nicht geglaubt …"Prisca schluckte, denn es fiel ihr nicht leicht ihren Fehler zuzugeben. Aber sie fühlte sich augenblicklich besser und so sprach sie weiter: "Ich war wütend, enttäuscht und fühlte mich verletzt … Aber ich habe mich wohl getäuscht. Nachdem Mara mir erzählt hat, dass auch Azita sich wie eine Irre aufgeführt hat ist mir klar geworden, dass das alles kein Zufall sein kann. … Du, der Verwalter und sie, … ihr habt wahrscheinlich in dem Rauch etwas eingeatmet das eure Sinne völlig vernebelt hat. Deshalb habt ihr diese absurden Dinge getan." Mit dieser Erklärung konnte (und wollte) Prisca gut leben und mal ganz ehrlich: Wer konnte schon mit Sicherheit sagen, dass das nicht am Ende gar der Wahrheit entsprach? Prisca erwartete jedenfalls keinen Widerspruch und daher sprach sie direkt weiter:
"Ich … ich wollte dir das schon in Antium geben. Ich habe ihn gemacht zum Zeichen der Anerkennung für deinen Sieg und … weil ich doch geschummelt habe." Mit etwas zittrigen Händen und einem unsicher wirkendem Lächeln hob Prisca den Kranz hoch und zeigte ihn Lyciscus …