Die Möglichkeit, dass sich Petronius angegriffen fühlte, bestand von vorn herein, aber dessen Ausführungen fielen umfangreicher als erwartet aus. Am Ende wusste Menecrates nicht einzuschätzen, ob es sich um ein Großaufgebot an Verteidigung handelte oder der Tribun eine Grundsatzdiskussion anstrebte.
"Das ist der Zweck von Auszeichnungen", knurrte der Preafectus. "Sie sollen motivieren und zwar zu mehr Leistung als nur einer durchschnittlichen." Da Menecrates wegen einem anderen Thema die Besprechung einberufen hatte, störte es ihn, dass er sich mit einer Diskussion über die Vergabe von Phalerae aufhalten musste, zumal sein Zeitplan wenig Spielraum zuließ.
"Wie ich bereits sagte: Es wird keine Phalera mehr für einen Dienst nach Vorschrift geben. Es ist im Imperium seit Jahrzehnten bekannt, dass die Auszeichnungen bei uns erheblich weniger wert sind als die aus anderen Einheiten. Das liegt AUCH daran, dass ein Soldat im Feld - insbesondere in fremden Provinzen - sich natürlich schneller auszeichnen kann. Er erhält dort mehr Möglichkeiten. Das weiß natürlich ein Legat, könnte es auch berücksichtigen, aber umso mehr belächelt er eine Phalea für - wie sagtest du so schön? - die Ableistung einer Dienstzeit ohne Beanstandungen. Das ist ein Witz, Tribun Petronius Crispus!" Zum witzeln war Menecrates allerdings nicht zumute. Dass der Anspruch des Tribuns, auf den er große Stücke hielt, derart gering ausfiel, bestürzte ihn.
"Aber auch ein Miles kann sich auszeichnen und darauf werden wir zukünftig unser Augenmerk bei der Vergabe von Auszeichnungen, auch den Phalerae, richten. Jeder, der sich aus seiner Mannschaft herausheben möchte, kann das durch augenfälligen Einsatz im Rahmen seines Dienstes tun. Die Betonung liegt auf 'augenfällig'. Die bloße Teilnahme an Operationen genügt nicht. Luft nach oben gibt es immer und dann auch im Einzelfall eine höhere Auszeichnung."
Das Stichwort 'augenfällig' stellte eine geniale Überleitung zum eigentlichen Thema dar. Menecrates zog die neben ihm liegende Akte heran, schob sie ein Stück an sich vorbei, sodass sie zwischen ihm und Petronius zum liegen kam, und tippte darauf.
"Appius Furius Cerretanus - der Optio ist sogar augenfällig geworden, aber anders als angedacht."
Menecrates rieb sich die Augenbraue, während er überlegte, bei welchem der Sachverhalte, den Optio betreffend, er beginnen sollte: dem für heute vorgesehenen Tagesordnungspunkt oder dem unfreiwillig hinzugekommenen Thema 'Phalera für eine Dienstzeit ohne Beanstandung'. Er entschied sich für Letzteres und blätterte die Papyri durch, bis er eine von Lurcos Aussagen fand. Das Protokoll legte er separat auf den Tisch und schob es unmittelbar vor Petronius. Er hatte sich vorbereitet, daher konnte er das Relevante finden und trotz erschwertem Blickwinkel vorlesen.
"Es liegen mehrere Aussagen über die Ausübung des Dienstes jenes Optio vor. Beginnen wir mit dieser. Sie bezieht sich auf seinen Einsatz am Brandtag unserer Station und stammt vom Hauptermittler der Sonderkommission 'Statio I Urbana', von Purgitius Lurco. Du kennst ihn." Er sparte sich die Bezeichnung des Dienstgrades, sie hatte inzwischen zweimal geändert.
"Zitat: Als die Statio brannte, rannte er hinein um einige Kollegen zu retten. Löblich.
Was tat er um die Schuldigen zu verfolgen? Nichts.
Welche Befehle gab er zur Ermittlung der Schuldigen aus? Keinen.
Welche sonstigen Maßnahmen hat er ergriffen, um die Ermittlungen aufzunehmen? Keine.
Hat er einen Bericht für unseren Centurio gefertigt ihn über die Sachlage oder über Eireanns Zusammenhang mit den Krähen informiert? Nein.
Warum reagierte dieser Mann nicht?
Warum tat er nicht dass, was von ihm erwartet wird - sprich warum erledigte er nicht seine Pflicht?"
Menecrates musterte Petronius und wartete auf dessen Reaktion. Er sparte sich die Frage, ob der Tribun dies als Dienst ohne Beanstandung wertete, zumal dies nur der Anfang der Misere um Optio Cerretanus war.