• Schließet Tür und Tor

    Tief ist die Nacht und das Licht wird knapp

    Schweigt still, seht euch vor

    Rot scheint der Geistermond hinab

    Versengold - Samhain


    Langsam ließ Hadamar sein Pferd sich den Weg suchen. Die Sonne war längst untergegangen, und der Mond, der zwar schon am Himmel stand, nur noch eine schmale Sichel. Aber das Wetter war klar, und durch die geringe Präsenz des Mondes war der Sternenhimmel umso fantastischer. Wenn er nach oben blickte, glitzerte und funkelte es auf tiefschwarzem Samt. Der Anblick war atemberaubend, vor allem für jemanden wie ihn, der selten so bewusst darauf achtete wie heute. Meistens war der Himmel halt einfach da. So lange er ihm nicht auf den Kopf fiel, war alles gut, und Hadamar beachtete ihn nicht weiter. Heute war eine jener Nächte, in denen er dann doch darauf achtete, und in denen es auch ihm die Sprache verschlug angesichts der Schönheit. Gleichzeitig spürte er ein vages Gefühl von Heimweh, weil die Sterne, so großartig sie auch aussahen, nicht seine Sterne waren. Und er hatte sich in all den Jahren nicht daran gewöhnt, dass der Anblick über ihm ein anderer war als der, der ihn so lange, durch Kindheit und Jugend und darüber hinaus, begleitet hatte.


    Licht spendeten die Sterne genug. Wie jedes Mal aber, wenn sie ihm so bewusst auffielen auf seinem Weg zu dem etwas abgelegenen Ort, den er schon in seiner Anfangszeit hier gefunden und als seinen persönlichen Opferplatz ausgesucht hatte, hoffte er, dass seine Götter ihn trotzdem noch hören konnten. Hier, unter fremdem Himmel. Auf fremder Erde. Er fühlte sich nicht wohl damit, aber das immerhin war er gewohnt. Auch weil es nicht der einzige Grund war, warum ihm jedes Mal etwas mulmig war. Er war kein Gode, damit ging es ja schon los. Und er sollte auch nicht allein sein. Manchmal nahm er Tariq mit, auch heute hatte er ihn eingeladen, sich ihm anzuschließen, wenn er das denn wollte. Aber so nahe sie sich auch standen inzwischen, die Bräuche des anderen konnten sie nicht immer nachvollziehen, auch wenn sie sie respektieren mochten. So war Hadamar doch irgendwie... allein, selbst wenn der Kleine dabei war, und das sollte nicht so sein. Anlässe wie dieser waren nicht dazu gedacht, sie allein zu feiern, und es behagte ihm nicht, wie lange er die Festtage seiner Ahnen schon so begehen musste.


    Und dann war da noch die Tatsache, dass es die falsche Nacht war für das hier, eigentlich. Der elfte Neumond seit der letzten Wintersonnwende würde erst in einigen Tagen sein, vier, vielleicht fünf, schätzte er. Aber das war ein weiterer der Kompromisse, die er einging, eingehen musste bei der Legio. Er konnte sich glücklich schätzen, dass er Centurio war und als solcher in der Position, öfter freie Abende zu haben, an denen er die Castra auch verlassen konnte, und damit mehr machen als nur eine Kerze zu entzünden und eine kleine Opfergabe zu bringen. Auch noch jedes Mal aussuchen zu können, an welchen Tagen, war einfach nicht drin. Also war er heute hier, obwohl der Mond sich noch zeigte, und damit die eigentliche Nacht des Totenfestes nicht hereingebrochen war. Wenn sie dann kam, würde er zusätzlich noch das tun, was in kleinem Rahmen möglich war.


    Aber wenn er ehrlich war, war er zumindest über Letzteres nicht ganz unglücklich. Er hatte im Lauf der Jahre zu viele Menschenleben genommen, um ausgerechnet in der Nacht wirklich gerne unterwegs zu sein, in der die Tore für die Toten offen standen. In der die Geister der Verstorbenen die Grenze zum Diesseits überschreiten konnten, die Wohlgesonnenen ebenso wie... die anderen. Es gab zu viele dieser anderen bei ihm, mittlerweile. Und obwohl er ein Feuer entzünden würde, wie es Brauch war, ein Feuer, das diese anderen fernhalten würde, blieb da doch der Weg hin und zurück. Nicht dass er Angst hatte... aber man musste die Nornen ja nicht unnötig herausfordern.

  • Abseits von den Wegen, irgendwo in der Steppe, die Satala umgab, war eine seltsam anmutende Gesteinsformation zu finden. An manchen Stellen so dünn, dass der Stein gleich zu brechen schien, dann wieder sich ausweitend zu größerer Stärke, mit geschwungenen Auswüchsen in mehrere Richtungen, die sich fast schon filigran wanden und nur noch erahnen ließen, dass in den Lücken dazwischen ehemals ebenfalls Stein gewesen war, nur so dünn geworden, dass er schließlich ganz weggetragen worden war. Sie war nicht sonderlich groß und auf zwei Seiten geschützt, durch einen kleinen Felsbrocken und etwas, das in der Steppe hier nicht allzu oft vorkam: ein windschiefes, knorriges Bäumchen, das sich tapfer behauptete. Man musste schon durch Zufall nah genug herankommen und im richtigen Winkel stehen, um sie sehen zu können, und Zufall war es denn auch gewesen, dass Hadamar sie gefunden hatte bei einem seiner Erkundungsritte hier ganz zu Anfang, um die Gegend kennenzulernen – und um seine Centurie auch mal abseits der Wege durch die Gegend hetzen zu können bei einem Gewaltmarsch. Dass sie durch unwegsames Terrain mussten, konnte immer mal wieder vorkommen... und davon abgesehen wussten sie die Straßen dann umso mehr zu schätzen.

    Er zügelte sein Pferd, als er fast da war, ließ sich von dessen Rücken gleiten und ging die letzten Schritte zu Fuß. Das Gestein, das hier verstreut lag, war verwittert, abgeschliffen von Wind und Wetter. Dort, wo es ungeschützt herumlag, schienen es einfach Steine zu sein, aber Hadamar wusste inzwischen, wie weich das Zeug hier oft war. Und dort, was es geschützter lag, wo es den Elementen nur teilweise ausgesetzt war, hatte das zu teils absonderlichen Formen geführt. So wie bei dem Ort, an dem er nun war. Er hatte inzwischen genug davon gesehen, aber dieser... hatte irgendwas in ihm berührt, und das hatte er als Zeichen genommen. Seither kam er hierher, wenn eines der germanischen Feste anstand und er es einrichten konnte, sich dafür ein bisschen mehr Zeit zu nehmen an einem Abend.


    Die Zügel schlang er leicht um einen Ast, als er das Bäumchen erreicht hatte, dann lockerte er den Gurt ein wenig, der den leichten Hörnchensattel an Ort und Stelle hielt, und zog die Taschen herunter, mit einer Bewegung, der man nicht wirklich ansah, wie schwer sie waren. Danach holte er hervor, was er mitgebracht hatte: Funkenschläger, Feuerstein, Zunder und Holz – er hatte nicht hier in der Steppe noch danach suchen wollen –, um ein Feuer entzünden zu können, Schale und Messer, einen Schlauch mit Met, dazu Trockenfrüchte, Brot und zu guter Letzt einen betäubten Hasen. Zwar ein ziemlich kleines Tier, das wusste er wohl, aber wie bei so vielem musste er da Kompromisse eingehen. Ziemlich wohlgenährt war das Vieh jedenfalls, und damit symbolisierte es die vergangene Ernte und die Hoffnung darauf, dass das kommende Jahr gut verlaufen möge. Zu guter Letzt holte er sich schließlich sein Sax, das in seiner Scheide ruhte und zusätzlich sicher eingeschlagen in einen festen Wollstoff noch am Sattel hing. Er hatte es, seit er 16 geworden war, seit seiner Mannwerdung – und hatte es seither stets mitgenommen, gleich, wohin er versetzt worden war. Nie wirklich genutzt, abgesehen von jenen Momenten, in denen er allein übte, und jenen, in denen er sich mit Vertrauten den ein oder anderen Übungskampf liefern konnte. Es ließ sich nicht leugnen, dass er nach all den Jahren weit besser mit Gladius umgehen konnte denn mit Sax... aber es war die Waffe seiner Ahnen, ein Symbol für sie, für seine Herkunft, und nicht zuletzt für seinen Stand und den seiner Familie unter den germanischen Sippen und Stämmen. An Abenden wie heute gehörte diese Waffe dazu, fand er.

  • Als er alles bereit gelegt hatte, was er brauchte, machte er sich zunächst daran, ein Feuer zu entzünden. Es sollte groß sein, zu Samhain, eigentlich. Es ging immerhin darum, den Toten den Weg zu weisen, den wohlgesonnenen, dass sie einen fanden – und zugleich darum, die anderen abzuwehren. Je größer das Feuer, je heller das Licht, desto leichter gelang beides. Aber er konnte hier schlecht ein großes Feuer entzünden... und davon mal abgesehen war es in diesem Jahr sowieso nicht die richtige Nacht, und die Geister der Verstorbenen daher auch noch nicht unterwegs. Nicht so schlimm also, dass es notgedrungen klein bleiben musste. Mit schnellen Handgriffen war das Feuer entfacht – und dann setzte er sich erst mal davor hin und hielt für ein paar Momente inne, während er einfach nur in die Flammen starrte.


    Sie leckten am Holz und züngelten immer wieder nach oben, beständig in unruhiger, flackernder Bewegung. Wenn man sich darauf einließ, bannten sie den Blick... und ließen den Geist auf Wanderschaft gehen. Es war die falsche Nacht, sinnierte er, nicht zum ersten Mal. Aber zum ersten Mal, seit er das wusste, konnte er sich nicht mehr dagegen wehren, nicht mehr verdrängen, dass ihn das diesmal mehr störte als sonst immer. Vor etwas mehr als einem Jahr war Eldrid gestorben. Und vor wenigen Monaten Witjon, ebenso wie dessen ältester Sohn, kurz vor ihm wohl. Und diese Nachrichten... diese Todesfälle hatten ihn mehr erschüttert, als er zuzugeben bereit war, sogar sich selbst gegenüber. Er hatte sein Leben einfach weitergelebt, und der Alltag in einer Legion war dankbar dafür: es gab immer viel zu tun. Genug um Ablenkung zu finden, um nicht nachdenken zu müssen. Er hatte es verdrängt, so einfach war das.

    Aber Samhain rückte näher, und Hadamar fiel es mit jedem Tag schwerer, die Gedanken an den Tod seiner Verwandten wegzuschieben. Es war das Fest der Toten, wo sie unter den Lebenden wandeln konnten. Er konnte sich das ganze restliche Jahr in Verdrängung üben, aber nicht in dieser Zeit. Sie würden ihm, zu Recht, grollen, wenn er ihrer nicht gedachte. Noch dazu am ersten Totenfest, an dem ihm das möglich war – selbst bei Eldrid, denn die Nachricht von ihr hatte er erst nach dem letzten Totenfest erhalten. Allein: er wollte sich nicht damit beschäftigen, dass sie tot war. Er konnte es nach wie vor einfach nicht fassen, jedes Mal, wenn er daran dachte, war da einfach nur... ein Loch irgendwo in seinem Inneren. Seine Schwester, die Älteste nach ihm, nur ein Jahr jünger als er. Die ihm immer den Kopf gewaschen hatte, wenn er etwas ausgefressen hatte, oder sich vor seinen Pflichten gedrückt hatte, oder sonst irgendwas getan hatte, was sie unpassend fand. Dass sie nicht mehr unter den Lebenden weilte, das war... das konnte er nicht begreifen. Das wollte er nicht begreifen. Und jetzt war auch noch Witjon tot.

    Das Loch in ihm war besser als das, was darin lauerte und nun schon fast ein Jahr vor sich hin schwärte. Das Problem war nur: Samhain stand an. Die Toten verdienten es, gewürdigt zu werden. Er konnte sie nicht mehr verdrängen, und damit konnte er auch den Verlust nicht mehr verdrängen. Und die Ränder des Lochs fingen an zu brennen.

  • Die Sterne erleuchteten den Himmel und tauchten die karge Landschaft in ein magisches Licht. Tariq verwunderte es nicht, dass Geschichten gerne an Lagerfeuern erzählt wurden, wo die Gesichter der Zuhörer nur von tanzenden Flammen erhellt wurden, während die Nacht die Welt außerhalb des Feuerscheins in einen Ort verwandelte, an dem alles möglich schien. Der Geist konnte wahrnehmen, was die Augen nicht mehr zu sehen vermochten. Der Felsblock, an dem Tariq gerade vorbeiritt, schimmerte silbrig und könnte ebenso gut die Fassade einer geheimnisvollen Festung sein – oder das Äußere eines Grabhügels, in dem Ghule lauerten. Ihn schauderte und mit einem kurzen Druck seiner Knie trieb er sein Pferd an, schneller zu laufen.


    Seitdem Tariq denken konnte, hatte er Geschichten geliebt. Sie waren seine Zuflucht aus einem Leben, das lange Zeit mehr als trostlos gewesen war. Sie hatten ihn in jenen Nächten gewärmt, wenn er nichts als einen kalten Steinboden als Schlafstatt gehabt hatte oder seinen knurrenden Magen übertönt, wenn er bei der Verteilung des Essens mal wieder leer ausgegangen war – oder es einfach für alle nichts gab. Sie hatten ihn viel gelehrt, Dinge, die die Wegbegleiter seiner Kindheit und Jugend ihn nicht hatten lehren können. Deren Ausbildung war eher pragmatischer Natur gewesen, während die Geschichten seine Seele fütterten und ihm gelegentlich auch als Kompass dienten, wenn er nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Seine Liebe zu Geschichten war auch der Grund, warum er jetzt hier war.


    Hadamar hatte ihn eingeladen, dabei zu sein bei einem Brauch, den er Samhain nannte. Tariq hatte den Begriff bereits gehört, bevor er Hadamar kennengelernt hatte, denn dieser war durchaus nicht der erste aus dem nördlichen Europa stammende Bewohner Kappadokiens. Aber wenn Tariq ehrlich war, war Samhain bis zu seiner Begegnung mit Hadamar nur eine inhaltsleere Worthülse gewesen, die zwar vielversprechend klang, ihm aber trotzdem nichts sagte. Irgendwann, nachdem aus ihrer unglücklichen ersten Begegnung eine echte Freundschaft geworden war, – Hadamar war fast so etwas wie ein älterer Bruder für ihn – hatte Tariq mitkommen dürfen, um an dem Ritual teilzunehmen. Und neugierig wie er nun mal war, auf andere Kulturen und Gebräuche, die wiederum seine Fantasie und Begeisterung für Geschichten anfachten, war er mitgegangen. Er hatte nicht teilgenommen, nur zugeschaut, weil … na ja, weil ihm der Brauch trotz aller Begeisterung für das Unbekannte irgendwie fremd geblieben war. Die Andersartigkeit faszinierte ihn, das ja, aber sie hatte ihm auch zum ersten Mal wirklich vor Augen geführt, dass Hadamar und er eben keine echten Brüder waren. Dass es etwas gab, das sie trotz der Zeit, die Hadamar dafür aufgewendet hatte, ihm seine Heimat Germanien näherzubringen, trennte. Tariq kannte keine religiösen Traditionen und Riten, die einem von Kindesbeinen an so vertraut sind, dass sie einem in Fleisch und Blut übergehen. Tariq kannte nur Geschichten.


    Als er den Feuerschein erblickte, signalisierte er seinem Pferd, stehenzubleiben und ließ sich auf den Boden gleiten. Er führte es zu Hadamars Pferd, das auch etwas abseits stand, tätschelte beiden Tieren den Kopf und trat dann in den Kreis des Feuerscheins. Er nickte Hadamar zu, obwohl er nicht wusste, ob dieser ihn überhaupt wahrnahm, und ließ sich dann schräg gegenüber auf dem Boden an einen kleinen Felsblock gelehnt nieder.

  • Hadamar bemerkte durchaus, dass jemand sich näherte. Er war zu lange Soldat, um nicht immer einen Teil seiner Aufmerksamkeit, und sei es nur unbewusst, seiner Umgebung zu widmen. Wachsam zu sein. Er sah nicht auf, aber er lauschte auf die sachten Geräusche, das Klappern der Hufe, wenn sie auf Steine traten, das leise Schnauben, das aus einer anderen Richtung kam als von dort, wo sein Pferd stand, lauschte darauf wie sich beides näherte – und schließlich aufhörte. Seine Hand hatte sich schon längst dem Griff seines Sax genähert, das neben ihm lag. Seine Sinne wurden immer schärfer, je näher der Besucher kam – bis er aus dem Augenwinkel im flackernden Feuerschein sehen konnte, dass es Tariq war. Beinahe unmerklich entfernte sich seine Hand wieder vom Schwert, während er immer noch ins Feuer sah. Erst nach einem weiteren langen Moment sah er auf und nickte Tariq stumm zu. Er war sich nicht sicher gewesen, ob der Junge kommen würde – umso mehr freute er sich darüber. Er mochte mit den germanischen Bräuchen wenig anfangen können... generell mit Bräuchen und Traditionen, hatte Hadamar den Eindruck bekommen im Lauf der Jahre, auch wenn Tariq bei diesem Thema nicht allzu von sich gab – aber dass er da war, bedeutete ihm gerade in diesem Jahr mehr, als er bis jetzt geglaubt hatte. Bis jetzt, wo Tariq erschienen war. Er mochte bei diesem Ritual im Grunde allein sein, weil keiner sonst da war, dem es etwas bedeutete, und der die Toten kannte, die er ehren wollte. Aber Tariq war im Lauf der Jahre Familie geworden, das wurde Hadamar in diesem Augenblick bewusst. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem angedeuteten Lächeln, als sich ihre Blicke kurz trafen. Dann wandte Hadamar sich wieder dem Feuer zu.


    Einen weiteren, etwas längeren Moment blieb er noch so, bevor schließlich wieder Bewegung in ihn kam. Er goss etwas von dem Met in einen mitgebrachten Becher – der Met war selbstgemacht, und es war immer ein Glücksspiel, ob er ihm gelang oder nicht. Hadamar machte sich den Aufwand selten, eigentlich nur, wenn er etwas davon brauchte für ein Opferfest... was blieb ihm anderes, hier war Met, echter Met, kaum zu kriegen. Diesmal war es nicht der beste, der ihm schon mal gelungen war, aber auch nicht der schlechteste, immerhin. Er schüttete einen Schluck ins Feuer, das zischte und Flammen hochschlagen ließ als Reaktion darauf. „Wodan“, murmelte er. „Lass den Gefallenen in Walhall eine würdige Feier zuteil werden.“ Ein weiterer Schluck fand den Weg ins Feuer. „Hel. Sorge für die Toten in deinem Reich.“ Eigentlich war mehr zu sagen – aber er war kein Gode. Es war nicht an ihm, sich an die Götter zu wenden bei Opferfesten wie diesen, und sowieso fehlten ihm bei so was immer die Worte. Also machte er das, was er seit Jahren schon machte: er führte das Ritual größtenteils schweigend durch. Er bot Tariq den Becher an, für den Fall, dass er auch einen Schluck vergießen wollte, dann zog er den Hasen heran und öffnete ihm mit einem raschen Schnitt die Kehle. Das Blut schoss schnell hervor und sprudelte in die Schale, die er dafür bereit hielt, während das Tier selbst in seiner Ohnmacht zu zucken begann, als das Leben aus ihm herausrann. Es dauerte nicht lange, bis es vorbei war – obwohl für einen Hasen ganz ordentlich, war es eben doch ein kleines Tier, und so verging nicht viel Zeit, bis er den toten Körper beiseite legen konnte.


    Mit der Schale in der Hand machte er dann die paar Schritte vom Feuer zu dem Stein, den besonderen. Den Opferstein. Er tunkte zwei Finger in das frische, warme Blut und begann um den Stein herum Runen auf den Boden zu zeichnen. „Jera“, murmelte er wieder, und zeichnete die Rune westlich des Steins, für die diesjährige Ernte, für das vergangene und das kommende Jahr. „Isa.“ Er tunkte die Finger wieder ein und zeichnete Isa im Norden, für das Eis des nahenden Winters, der Kälte und Dunkelheit bringen würde, und oft genug den Tod. „Berkana.“ Diese Rune fand ihren Platz östlich, für die Birke, die mit ihrem zarthellen Stamm und ihrem lichten Grün wie kaum ein anderer Baum für das Erwachen im Frühling stand, der nach dem Winter wieder ins Land ziehen würde, so die Götter wollten. „Fehu.“ Mit frischem Blut auf seinen Fingern zeichnete er Fehu im Süden, für das Vieh, das ein Zeichen für Wohlstand war, auf dass die Götter das kommende Jahr gut werden lassen würden. „Ansuz.“ Die letzte Rune zeichnete er schließlich auf den Stein, der sich jetzt genau in der Mitte der vier anderen Runen befand – für die Götter, und für sein Vertrauen in sie. „Habt Dank für das vergangene Jahr, für alles, was gut darin war. Segnet das kommende, so es euch gefällt.“


    Noch so ein Grund, warum er ungern bei solchen Zeremonien etwas laut sagte. Es war nicht nur, dass er das Gefühl hatte ihm fehlten die nötigen Worte dafür – die paar, die er dann doch fand, oder die er sich vorher zurecht gelegt hatte, klangen irgendwie nicht nach ihm. Er konnte schon sorgsam formulieren, aber er machte sich meistens einfach nicht die Mühe. Aber den Göttern musste Respekt gezollt werden, auch in der Sprache, und so wählte er Formulierungen, die sich... fremd anhörten, wenn sie aus seinem Mund kamen. Er hielt noch einen Moment inne, dann griff er nach dem Hasen, häutete ihn mit schnellen Bewegungen, weidete ihn mit Tariqs Hilfe aus und ließ ihn dann über dem mittlerweile etwas heruntergebrannten Feuer rösten. Während er darauf wartete, dass das Fleisch gar wurde, betrachtete er im flackernden Feuerschein die Runen, die er gezeichnet hatte. Das Blut auf dem Stein verlief sachte nach unten, ein paar Tropfen suchten sich ihren Weg über die raue Oberfläche des Steins, der Schwerkraft folgend. Die beiden oberen, leicht schrägen Striche waren mehr oder weniger zu einem geworden, weil vor allem von dem oberen bereits so viel heruntergelaufen war. Den weiteren Weg nach unten suchte sich das Blut von der Spitze der beiden Striche aus, die beinahe eins waren. Das Feuer flackerte wie in einem letzten Aufbäumen noch einmal hoch, und für einen Moment sah Ansuz fast aus wie Uruz. Hadamar starrte für einen Moment wie gebannt darauf – dann blinzelte er, und der Eindruck war weg.

  • Mit einem leichten Heben der Mundwinkel nahm Hadamar zur Kenntnis, dass er da war. Tariq lächelte zurück, sagte aber sonst nichts. Dies war ein eher stilles Ritual – so zumindest der Eindruck, den Tariq in den letzten Jahren gewonnen hatte. Auf die Idee, dass es an Hadamar selbst und einem fehlenden Goden liegen könnte, kam der Junge nicht … erstens mangelte es ihm an Vergleichsmöglichkeiten und zweitens fühlte es sich selbst für ihn, der Worte liebte, richtig an, dass dieses Fest ein stilles war. Hadamar hatte ihm erzählt, dass an Samhain der Schleier zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten dünn war. Dass die Toten dann herüberkommen und unter den Menschen wandeln konnten. Wie immer, wenn Tariq daran dachte, ergriff eine unnatürliche Kälte Besitz von ihm – und er warf einen kurzen Blick über die Schulter, wohl wissend, dass er nichts weiter sehen würde als Dunkelheit. Und die Abbilder der Flammen, in die er zuvor die ganze Zeit gestarrt hatte.


    Er fingerte nach der Münze, die er an einer Lederschnur befestigt um den Hals trug. Es war eine römische Münze, ein As – die erste Münze, die er gefunden und die einzige, die er jemals für sich selbst zurückbehalten hatte. Ansonsten hatte er das nie gewagt, da Durok, der Kopf seiner damaligen Bande, stets zu wissen schien, wenn jemand etwas vor ihm verbarg. Doch diese Münze war seine, das hatte er gewusst, als er das glitzernde Stück Metall im Straßenstaub hatte liegen sehen. Er hatte sie versteckt, in der Einkerbung einer Mauer, und war immer wieder dorthin zurückgekehrt, um zu sehen, ob sie noch da war. Sie war immer noch da, jedes einzelne Mal, wenn er gucken kam – und mit der Zeit war sie zu einer Art Glücksbringer geworden für ihn. Als Hadamar ihn mitgenommen hatte nach Satala, war Tariq eines Tages zur Mauer zurückgekehrt – und zu seiner großen Freude war die Münze immer noch in ihrem Versteck, unangetastet, als habe sie auf ihn gewartet. Dieses Mal hatte er sie mitgenommen und trug sie seitdem um den Hals, auf dass sie größeres Unheil weiterhin von ihm fernhalten möge. Ob sie tatsächlich gegen die Geister der Toten wirksam war, wusste er nicht genau, aber das vertraute Gefühl des Metalls unter seinen Fingerkuppen vermittelte ihm zumindest ein wenig Sicherheit.


    Als Hadamar ihm den Becher mit Met reichte, tat Tariq es ihm nach und schüttete ein wenig Flüssigkeit in die Flammen. Er sagte allerdings nichts, rief niemanden an oder bat um etwas. Auch, wenn er die Namen von Hadamars germanischen Göttern kannte, blieben sie ihm fremd. So wie die Götter allgemein eher fremd für ihn waren. Es war nicht so, dass er nicht an ihre Existenz glaubte, nur blieben sie entrückt, weiter weg von ihm und seinem Leben als der Kaiser im entfernten Rom. Es gab Menschen, die laut eigener Aussage hoch in der Gunst der Götter standen – so wie die kappadokischen Tempelfürsten, die so reich waren, dass Durok immer leuchtende Augen bekommen hatte, wenn er von ihnen sprach. Aber auch, wenn er eine innige Verehrung für die Besitztümer jener Männer in sich trug, hatte ihn das nicht dazu verleitet, den Jungen, die seinen eigenen Reichtum mehrten, das Sein und Wirken der Götter näherzubringen.


    Tariq beobachtete, wie Hadamar einen Hasen opferte und mit dessen Blut Zeichen auf den Stein malte – Runen nannte er sie. Diese wiederum faszinierten Tariq, denn sie symbolisierten Worte. Und dass in Worten Macht liegt, die jeder Mensch tagtäglich spüren konnte, hielt Tariq für eine erwiesene Tatsache. Er half Hadamar, den Hasen auszuweiden und auf einem Stock über dem Feuer zu rösten. Während der Hase briet, starrte Hadamar die Runen an – und auch Tariq fiel auf, dass das Blut an einigen Stellen der Schwerkraft folgend gen Erdboden lief. Kurz fragte er sich, ob die Götter oder die Totengeister jetzt zornig waren, weil die Schrift falsch war. Mit angehaltenem Atem wartete er darauf, dass er heisere Stimmen im Wind hörte oder gar das Feuer vor ihnen plötzlich erlosch … aber nichts dergleichen passierte. Tariq atmete langsam wieder aus. Vielleicht fanden die Götter es nicht so schlimm, wenn ein Soldat wie Hadamar Fehler in die Zeichen malte? Wieder lauschte er auf die Geräusche der Nacht – und plötzlich fragte er sich, ob seine Eltern vielleicht auch dort draußen waren. Er konnte sich nicht an sie erinnern, weder an ihre Gesichter noch an ihre Stimmen. Er wusste noch nicht einmal, ob sie tatsächlich tot waren. Aber wenn … wären sie dann auch da draußen?


    „Sag mal, Hadamar“, unterbrach er ganz unvermittelt die Stille. „Kann man mit den Geistern der Toten eigentlich sprechen?“

  • Uruz. Hatte das irgendwas zu bedeuten? Es gab Völvas, manchmal auch Goden, die an Samhain auch die Zukunft weissagten, manche Stämme hatten diese Tradition. Aber er hatte davon zu wenig Ahnung. Er wusste nicht, was er da gerade gesehen hatte. Ob überhaupt etwas, und wenn ja, ob es etwas zu bedeuten hatte. Trotzdem konnte er sich nicht ganz davon lösen – bis Tariqs Stimme ihn plötzlich aus seinen Gedanken riss. Fragend sah er auf, einen winzigen Moment sogar verwirrt, bis er ins Hier und Jetzt zurückgefunden hatte, und etwas länger dann grübelnd, während er darüber nachdachte. „Ich bin kein Gode, ich hab davon nicht wirklich Ahnung“, erwiderte er leise. „Aber ich glaub nicht, ehrlich gesagt. Man kann sie spüren, denk ich, gerade zu dieser Jahreszeit, wo sie zu uns kommen können... vielleicht auch wahrnehmen, was sie einem mitteilen wollen, wenn man dafür empfänglich ist, oder die Götter es wollen oder so. Aber mit ihnen sprechen, so wie wir zwei gerade...“ Er schüttelte den Kopf. Und fragte sich dann, ob Tariq jetzt davon enttäuscht war. „Gibt’s jemanden, mit dem du reden wollen würdest, wenn’s möglich wär?“


    Noch während er sprach, prüfte er den Hasen und stellte fest, dass dieser fertig geworden war. Gemeinsam teilten sie das Fleisch auf, für sie beide und eine dritte Portion als weitere Opfergabe für die Götter und die Toten. Hadamar hatte nur einen Becher dabei, deswegen kam der mit neuem Met gefüllt in die Mitte zwischen sie beide, und dann fingen sie an zu essen, während sie sich leise weiter unterhielten. Auch das war... anders als Zuhause. Samhain war ruhiger, das schon, aber das Festmahl hatte trotzdem eine andere Atmosphäre als hier. Man erzählte sich Geschichten von den Toten, Anekdoten, nicht nur traurige, auch lustige, um sie sich in Erinnerung zu rufen und darin lebendig zu halten. Genau dadurch wurde Samhain auch zu einem Familienfest, einem melancholischen vielleicht, aber anders als in reiner Trauer schwang in Melancholie immer auch etwas... etwas Schönes mit. Melancholie war nicht bitter, sondern bittersüß. Hadamar unterdrückte ein Seufzen. Er hatte durchaus öfter den Wunsch, seine Heimat endlich mal wiederzusehen, aber er verspürte selten Heimweh, das echte, das einen tief in der Seele schmerzte. Aber an den traditionellen Festtagen, da überkam es ihn schon.

  • Hadamar braucht lange, um zu antworten – und Tariq fragte sich, ob er ihn überhaupt gehört hatte. Oder ob er in einer Art Trance versunken war. Vielleicht war er auch mit den Gedanken in den fernen Wäldern seiner Heimat, die Tariq sich so überhaupt nicht vorstellen konnte. Als er schließlich doch antwortete, blickte Tariq ein weiteres Mal über seine Schulter. Woher sollte er wissen, ob seine Eltern ihm etwas mitzuteilen hatten? Würde er es merken, wenn sie mit ihm redeten? „Ich … ja.“ Seine Worte, um die er sonst selten verlegen war, versiegten wie die schmalen Bachläufe im trockenen Steppenboden. Er hatte nie mit Hadamar über seine Eltern gesprochen. Vielleicht, weil es einfach nicht viel zu sagen gab. Er kannte sie nicht, er hatte noch nicht einmal eine vage Erinnerung an sie. Samir, ein Junge aus Duroks Bande, mit dem er eine Zeitlang umhergezogen war, hatte immer behauptet, dass er sich an das Gesicht seiner Mutter erinnern könne. Angeblich hatte sie zu ihm gesprochen, in seinen Träumen – und Trost gespendet in dunklen Stunden. Tariq hatte das nie ernst genommen. So eine Mutter hatte er auch gehabt, eine Traum-Mutter, wunderschön, einfühlsam und beschützend. Bis ein Fußtritt ihn aus dem Schlaf geholt hatte. „Mit meinen Eltern. Ich weiß allerdings nicht, ob sie wirklich tot sind. Ich erinnere mich nicht an sie.“ Er zuckte mit den Schultern, wie um die Aussage als unwichtig abzutun. „Ich dachte, damit könnte ich’s vielleicht rausfinden.“


    Nur, was würde er sie fragen wollen, wenn sie wirklich dort draußen waren? Was passiert war? Wie er in Duroks nicht sehr fürsorglicher Obhut gelandet war? Ob sie jemals versucht hatten, ihn zu finden? Gut, wenn sie tatsächlich tot waren, hätten sie ihn schlecht suchen können. Andererseits: Wollte er die Wahrheit wirklich wissen? Die Wahrheit war oft ein zweischneidiges Schwert. So könnte er sich eine Geschichte in seinem Kopf zurechtlegen, über das, was passiert war. Eine Geschichte, die ein warmes Gefühl in seinem Inneren zurückließ, von Eltern, denen er etwas bedeutet hatte, die möglicherweise jeden Stein umgedreht hatten, um ihn zu finden. Oder die ihn nicht hatten suchen können, weil die Götter sie bereits zu sich geholt hatten und die dort, wo sie jetzt waren, über ihn wachten. Die Wahrheit könnte aber eine weit hässlichere Fratze präsentieren. Von Eltern, die ihr Kind verkauften, weil sie es nicht ernähren konnten zum Beispiel. Oder aus egoistischeren Motiven.


    Um diese Gedanken zu verdrängen, fragte er: „Und du? Würdest du mit jemandem reden wollen?“ Er griff nach dem Fleisch, das Hadamar ihm reichte. Obwohl er eigentlich zu den Leuten zählte, die immer etwas essen konnten, verspürte er im Moment keinen Appetit, weshalb er das Fleischstück etwas unschlüssig in seinen Fingern hin und her drehte.

  • Tariq antwortete ein wenig zögerlich, was sonst nicht seine Art war. Aber er selbst war auch anders als sonst. Das war Samhain, mutmaßte Hadamar... dieses Fest berührte jeden, der es beging, selbst wenn er damit nur am Rande in Berührung kam wie Tariq. Das Bewusstsein um die Geister der Toten, die einem nahe kamen zu dieser Jahreszeit, die Gedanken, die damit einher gingen, das machte etwas mit einem. Mit jemandem, der dieses Fest nicht schon seit Jahr und Tag kannte, sondern sich wie Tariq wohl erst jetzt damit beschäftigte, sicherlich noch mehr.


    In Hadamars Augen spiegelte sich Trauer wider, als Tariq schließlich von seinen Eltern sprach. Es gab viele harte Schicksale, die die Götter für manche bereit hielten, und in aller Regel dachte Hadamar sich nichts dabei. So war das Leben halt, so waren die Götter, und es spielte für ihn noch nicht mal wirklich eine Rolle, ob sie dabei einfach nur würfelten oder sich tatsächlich etwas dabei dachten. Man konnte nichts an seiner Ausgangsposition ändern, und auch nicht daran, was einem fremdbestimmt zustieß – man konnte und sollte den Göttern opfern, damit sie einem wohlgesonnen waren, aber mehr ließ sich da nicht machen. Aber man konnte immer selbst entscheiden, was man anfing mit dem, was die Götter einem hinwarfen. Und das war das, was Hadamar interessierte, weil es das einzige war, was Menschen wirklich beeinflussen konnten.


    Aber dieser Junge, mit seinem Schicksal, der war ihm ans Herz gewachsen. Und bei ihm tat es ihm weh, dass sein Leben bisher so verlaufen war, ohne dass Tariq irgendwas dafür konnte. „Du kannst versuchen dich darauf einzulassen. Auf den Wind lauschen, die Geräusche. Vielleicht schicken sie dir ein Zeichen, nicht unbedingt heute Nacht, aber in ein paar Tagen, wenn Neumond ist. Vielleicht ist es deutlich genug, oder auf eine so spezielle Art, dass es eigentlich niemand anders sein kann.“ Immer noch ein wenig traurig deutete er ein leichtes Heben der Schultern an. „Aber wirklich sicher sein können wir uns erst, wenn wir selbst ins Reich der Toten wechseln.“


    Bei Tariqs nächster Frage stockte Hadamar erneut, diesmal mitten im Abbeißen begriffen. Er beging dieses Fest jetzt schon so lange... er hatte sich seit seiner Kindheit diese Frage eigentlich nicht mehr gestellt, einfach weil er wusste, dass das nicht ging. Er sprach schon, hin und wieder, aber es blieb halt ein einseitiges Gespräch, selbst in jenen Momenten, in denen er den Eindruck hatte jemand hörte zu, und schickte vielleicht sogar ein Zeichen. Während er endgültig abbiss und kaute, überlegte er also zum ersten Mal seit Jahren wieder ernsthaft, mit wem er würde reden wollen. Sein Vater? Da war er sich nicht so sicher – interessant wäre es sicher, aber nach all den Jahren war es nicht so, dass er sich danach sehnte. Und Eldrid und Witjon... Hadamar starrte in die Flammen, als er an die beiden dachte, vor allem an seine Schwester, und aus dem Loch in seiner Brust schlugen ebenfalls Flammen hoch. Sie begann in ihm zu wüten, brannten lichterloh und nahmen ihm die Luft zum Atmen.


    Er presste die Lippen aufeinander und kämpfte mit sich, zwang die Flammen und den Schmerz Stück für Stück dorthin zurück, woher sie gekommen waren: zurück in das Loch. Als er endlich wieder in der Lage war zu schlucken, hatte er Mühe, das Fleisch an dem Kloß in seinem Hals vorbeizubringen. „Nein“, erwiderte er dann kurz angebunden. Nein. Eigentlich war das gelogen, das wusste er – wenn es wirklich die Möglichkeit gäbe, natürlich würde er mit den beiden sprechen. Aber es gab sie nicht, und er wollte sich nicht damit aufhalten über etwas nachzudenken, sich womöglich nach etwas zu sehnen, was nicht möglich war. Es war Zeit- und Energieverschwendung, fertig. Und, aber das gab er nicht mal vor sich selbst wirklich zu: er würde damit Gefahr laufen, dass das Loch in ihm den Schmerz unwiderruflich freigab. Seine Zähne senkten sich wieder in das Fleisch, und er aß weiter, obwohl er nichts mehr schmeckte, und obwohl das Schlucken mühsam war.


    Den Rest der Mahlzeit verbrachten sie schweigend, und als sie fertig waren, goss Hadamar den Rest des Mets ins Feuer und legte die dritte Portion des Fleischs zu dem Stein, beides als Opfergaben an die Götter. Dann begann er leise zu singen. Er machte das nicht jedes Jahr, aber diesmal fühlte er sich einfach danach. Es war ein Lied, das er von seiner Mutter kannte, die es früher immer gesungen hatte, in irgendeinem alten Dialekt, den ihre Vorväter gesprochen hatten.


    Dark the stars and dark the moon
    Hush the night and the morning loon
    Tell the horses and beat on your drum
    Gone their master, gone their son
    Dark the oceans, dark the sky
    Hush the whales and the ocean tide
    Tell the salt marsh and beat on your drum
    Gone their master, gone their son
    Dark to light and light to dark
    Three black carriages, three white carts
    What brings us together is what pulls us apart
    Gone our brother, gone our heart

    Ioanna Gika – Gone


    Er wusste nicht, was es war. Vielleicht lag es an Tariqs Frage vorhin. Vielleicht daran, dass es das Lied ihrer Mutter war, die es ihnen vorgesungen hatte, als sie beide klein gewesen waren, Eldrid und er, damals schon, als es noch nur sie beide gegeben hatte. Und auch dann, als es wieder nur sie beide gewesen waren, weil ein Bruder im Kindbett gestorben war. Vielleicht daran, dass er den Schmerz vorhin nur notdürftig hatte wegschieben können, dass er immer noch viel zu dicht unter der Oberfläche tobte. Aber plötzlich hatte er das Gefühl, dass in seinen Gesang eine Frau miteinstimmte, leise, ein wenig geisterhaft, und wie aus großer Ferne. Er wurde immer leiser, bis er schließlich verstummte, lauschte in den Wind und meinte Eldrid zu hören. Eldrid, wie sie früher immer mit ihrer glockenklaren Stimme mitgesungen hatte.


    Vielleicht war es der Wind. Vielleicht war es auch seine Erinnerung, die ihm einen Streich spielte. Aber für einen Moment hatte Hadamar das Gefühl, dass seine Schwester tatsächlich hier war, und der Schmerz brach wieder durch und wühlte sich durch seine Brust, und diesmal schaffte er es nicht, ihn schnell wieder zu verdrängen.

  • Auf den Wind lauschen. Auf eine spezielle Art, dass es eigentlich niemand anderes sein kann. Konnte es wirklich funktionieren? Wollte er, dass es funktionierte? Urplötzlich hatte er das Gefühl, angestarrt zu werden von etwas oder jemandem, aus der Dunkelheit heraus. Er stellte sich vor, selbst dort hinten zu stehen, er sah seine eigene Silhouette, angestrahlt vom warmen Licht des Feuers. Ein eisiger Schauder rann ihm über den Rücken und er rutschte ein Stück näher an die Flammen heran, spürte die Hitze auf seinem Gesicht und an den Knien und Unterschenkeln. Wenn er noch näherkam, würde seine Kleidung vermutlich Feuer fangen – aber selbst dieser Gedanke schreckte ihn weniger als das, was möglicherweise im Dunklen lauerte. Dort war etwas. Oder spielte ihm seine Fantasie, die sich selbst bei Tageslicht diversen Ausschweifungen hingeben konnte, einen Streich?


    Hadamars Antwort auf seine Frage war kurz und erstickte jegliche Nachfrage direkt im Keim. Tariq benötigte keine ausgefeilte Menschenkenntnis, um zu wissen, dass dieses ‚Nein‘ eine glatte Lüge war. Er brauchte nur Hadamars Gesicht zu sehen – und die Trauer, die sich dort widerspiegelte. Aber ganz offensichtlich wollte er darüber nicht reden; und Tariq würde ihn mit Sicherheit nicht drängen. Trauer ließ sich schwer in Worte kleiden. Dennoch kannte er diese stille Trauer aus seiner Kultur nicht. Die Menschen seiner Heimat trauerten so, wie sie auch sonst lebten – extrovertiert. Laute Klagegesänge waren das Mindeste, meist untermalt von Tränen. Er verspürte einen winzigen Stich, weil er beim Gedanken an seine Eltern keine Trauer empfand. Waren sie deshalb wütend auf ihn? Waren sie es, die ihn aus der Dunkelheit heraus anstarrten? Tariq drehte das Fleisch in seinen Fingern hin und her, gegessen hatte er immer noch nichts davon. Er sah, wie Hadamar aß, methodisch, ohne jeglichen Genuss. Eher so, als sei jeder Bissen eine Qual. Er wirkte immer noch in sich gekehrt, allein mit seinem Schmerz über die Toten, derer es offensichtlich einige oder zumindest ihm nahestehende gegeben hatte. Tariq fing nun doch an zu essen, hauptsächlich deshalb, um etwas zu tun und sich abzulenken. Zudem hatte er zu lange nach dem Credo 'Esse, wenn du essen kannst!' gelebt, um irgendeine Möglichkeit verstreichen zu lassen, Nahrung zu sich zu nehmen – auch, wenn er gerade weder Hunger noch Appetit hatte.


    Er wünschte sich dennoch, Hadamar würde mit ihm sprechen, irgendetwas sagen, um die Stille zu unterbrechen, und so zumindest der unmittelbaren Nähe des Feuers etwas Tröstliches zu geben. Doch er nahm seine Mahlzeit schweigend ein und Tariq rutschte irgendwann wieder ein wenig vom Feuer weg, weil seine Knie und Beine zu glühen begannen. Hadamar verteilte Met und Fleisch und fing auf einmal an zu singen. Tariq hob überrascht den Kopf. Das war tatsächlich eine Facette seines Freundes, die er nicht kannte. Er verstand die Worte nicht, es schien eine Form des Germanischen zu sein, die ihm unbekannt war. Die Melodie war nicht so klagend wie die Trauergesänge seiner Heimat, eher still und wehmütig. Dennoch hatte sie für Tariq etwas Tröstliches … eigentlich war das Lied genau das, was er sich eben gewünscht hatte. Worte, die die Stille durchbrachen. Worte, die zumindest den Lichtkreis, den das Feuer warf, in eine Zone verwandelte, in der potentiell Bedrohliches keinen Platz hatte. Das Fremde, das draußen in der Dunkelheit war, blieb dort. Er lauschte in die Nacht hinein und vermeinte tatsächlich flüsternde Stimmen im Wind zu vernehmen. Vielleicht bildete er sich das auch nur ein, aber dieses Mal verspürte er keine Angst …


    Als finales Opfer an die Götter wurde das restliche Blut des Hasen über den Stein gegossen. Es löschte die Rune Ansuz – oder war es Uruz? –, lief hinab und vermengte sich mit der Rune des Nordens Isa. Die anderen drei blieben unberührt. Sie blieben noch eine Weile sitzen, aber keiner von ihnen sprach. Dieses Mal störte es Tariq nicht. Er hing seinen Gedanken nach, dachte an die Eltern, die er nicht gekannt hatte, und von denen er nach wie vor nicht wusste, ob sie dort draußen waren mit den anderen Geistern. Irgendwann – er wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war – sammelten sie ihre Sachen ein und löschten das Feuer. Die Dunkelheit legte sich wie ein Schleier über sie, ehe sich ihre Augen an das Licht der Sterne und des abnehmenden Mondes gewöhnt hatten. Noch immer hatte Tariq das Gefühl, nicht allein zu sein, ohne mit Sicherheit sagen zu können, woran genau er das festmachen wollte. Und so war er doch ein bisschen erleichtert, als sie auf die Rücken der Pferde stiegen und diesen ganz speziellen Platz in der Wüste hinter sich ließen.

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