Schweigend stand Eldrid vor den Gemächern ihres Gastgebers, Marcus Claudius Marcellus. Die Sorge, einen ungünstigen Moment zu erwischen, hielt sie doch davon ab einfach einzutreten. Gegenwärtig waren nahezu alle Augenblicke ungünstig. Sie mochte den Römer seit ihrer gemeinsamen Flucht eigentlich recht gern. Er war immer sehr freundlich zu ihr gewesen und wenn sie sich dann doch einmal unterhielten, schaffte sie es kaum, ihr Lächeln aus dem Gesicht zu verbannen. Er verdankte ihr seine Freiheit - und sie verdankte ihre Freiheit ihm. Das schweißte irgendwie zusammen und natürlich barg der Gedanke daran, ihn in ihrer Zukunft nicht mehr zu sehen, eine gewisse Schwermut. Sie würde ihn vermissen, das wusste sie. Wenn sie nach Germanien zurückging, zurück in den Schoß ihrer Familie, würde sie praktisch die halbe Welt voneinander trennen. Die Alpen. Es war eine unvorstellbare Distanz, die sie in ihrem Leben nur noch einmal bewältigen würde. Zurück zu ihren Brüdern. Ihr Wolfsfell, das sie immer noch besaß, hatte sie in ihrem Lager liegen. Tagsüber trug sie es nicht, es war einfach zu warm und sie hatte auch den Eindruck, dass ihre Gastgeber es merkwürdig fanden, wenn sie über ihrer römischen Kleidung den recht derben Pelz eines Wolfes trug. Das Fell erinnerte sie immer an Zuhause, an ihre geliebten Brüder, vor allem eben an Sarolf, der ihr nahe wie kein anderer stand.
Die Frage war nur einfach, wann es wieder nach Hause gehen würde. Er hatte ihr damals gelobt, sich darum zu bemühen, sie nach Hause zu schicken und sie hatte es ihm geglaubt. Er sah nicht aus wie eine Schlange, nicht wie ein Lügner und sie wollte es ihm einfach glauben. Auch heute zweifelte sie nicht an seiner Absicht, aber sie hatte nun schon länger nichts mehr von dahingehenden Bemühungen gehört. Er hatte zugesagt, sich umzuhören und ihr zu sagen, wenn er etwas hörte, aber langsam wurden ihr die Tage wirklich lang und das Heimweh wuchs und wuchs. Sie fühlte sich fremd an diesem Ort. Sie fühlte sich fremd in Rom, in dieser großen Stadt. Sie fühlte sich fremd in diesem Haus, das zwar wirklich groß und luxuriös schien, aber ihr auch einfach kein Heim war. Die Bewohner sprachen kaum mit ihr. Die Sklaven waren freundlich, aber zurückhaltend. Die Herrschaften scherten sich nicht im geringsten um sie und Eldrid fühlte sich trotz der vielen Menschen einsam. Marcus hatte auch nur selten Zeit, sich mit ihr abzugeben. Er hatte viele Pflichten und das verstand sie. Sie verstand, dass er ein wichtiger Mann in seiner Gemeinschaft war. Sie wollte auch nicht mit ihm streiten. Er meinte es gut mit ihr, auch wenn er ihr anriet, das Anwesen nicht zu verlassen. Am vorigen Tag hatte sie es dann doch einmal tun wollen. Sie hatte sich vorgenommen, nur in der Nähe des Hauses ein bisschen herumzulaufen. Nicht so weit, dass sie sich verlaufen könnte, wie Marcus es befürchtete. Sie wollte sich nur die Menschen hier einmal ansehen, die Häuser. Man hatte sie allerdings zu ihrer großen Verblüffung nicht hinaus gelassen. Fast wäre sie zornig geworden, aber ehe sie das auch nach Außen hätte tragen können, hatte ihr sanftes Gemüt wieder Oberhand gewonnen und sie hatte sich geschlagen wieder zurückgezogen.
Selten hatte sie sich so einsam und nutzlos gefühlt. Egal, wie gut man es mit ihr auch meinen mochte, es brachte ihr keine Erfüllung Tag für Tag auf das Wasser im Atrium zu schauen. Die Pflanzen im Garten zu bewundern. Immer wieder dachte sie an ihre Familie, die sie seit vielen Monaten nicht mehr gesehen hatte und die sie vermutlich für tot hielten. Oder für versklavt. Sie würde es ihnen so gern sagen. Dass es ihr gut ging. Dass ihr kein Leid widerfahren war. Am schlimmsten bekümmerten sie tatsächlich die Sorgen ihrer Familie. Sie musste einfach heim und ihnen den Kummer nehmen. Sie würde Marcus danken und ihm sagen, dass sie es auf eigene Faust versuchen würde. Das Heimweh war mittlerweile über ihre Angst vor dem weiten Weg hinausgewachsen und sie würde sich nun von ihm emanzipieren.
Kurz befeuchtete sie ihre Lippen mit der Zunge, dann trat sie ein. Sie wusste, dass er hier war. Sie hatte nicht viel zu tun und so beobachtete sie eben. Da sie keine anderen Stimmen vernahm, wusste sie auch, dass er allein in seinen Gemächern war.
"Marcus." begrüßte sie ihn, wie wohl eigentlich nur seine engste Familie ihn begrüßte. Sie wusste bis heute nicht, welches die richtige Anrede für ihn wäre und so nahm sie den Namen, den er ihr bei ihrem Kennenlernen als allererstes genannt hatte. Richtig wäre wohl Claudius, oder aber, wenn ihr vertrautes Verhältnis galt, Marcellus. Dafür reichten ihre Kenntnisse allerdings nicht weit genug. Nachdem sie ihn mit ihrer sanften Stimme auf sich aufmerksam gemacht hatte, trat sie lächelnd noch etwas näher an ihn heran. "Ich hoffe, ich stören nicht; ich möchten deine Zeiten nicht stehlen. Ich bin hier, um mich... " zu sagen Lebwohl. Ich bin für deine Freundschaft dankbar, doch ich kann sie nicht länger nehmen.. Sie brachte es nicht über sich. Also redete sie erst einmal um den heißen Brei herum, denn irgendetwas in ihr sagte, dass er nicht gut auf ihr Anliegen reagieren würde. "... zu fragen, wie du fühlst."
Erst einmal sehen, wie seine Stimmung war. Wenn er wirklich keine Zeit hatte, hatte er immerhin die Gelegenheit sich kurz zu verabschieden. Wenn er Zeit für sie hatte, würden sie noch ein wenig miteinander sprechen können. In jedem Fall würde er dem Ianitor sagen müssen, dass er kein Recht hatte, den Gast seines Herrn festzuhalten.