Die Gemonische Treppe
Die Gemonische Treppe war ein Treppenbau, der vom Kapitol über das Forum bis zum Tiber hinabführte und dabei am Staatsgefängnis, dem Carcer Tullianus, entlanglief. Unter den ersten, deren Leichname dort in entehrender Absicht ausgestellt worden waren, war der Prätorianerpräfekt Lucius Aelius Seianus gewesen, Stilos Vorfahr. Die Zeiten änderten sich. Mit bitterem Blick und ohne jedes Mitleid im Herzen wohnte Stilo dem heutigen Ereignis bei, das er selbst in die Wege geleitet hatte.
Die Sonne brannte auf Rom und vom Tiber kroch der Gestank von Fäkalien und Verwesung hinauf. Stilo rann der Schweiß die Schläfen hinab, während er fest geradeaus sah. Hier, an der Gemonischen Treppe, blies der Herold heute ein vertrautes Signal. Es lockte jenen Schlag Menschen herbei, die sich gern an Tod und Elend weideten. Wer noch nie einem solchen Ereignis beigewohnt hat, wäre vielleicht erschrocken über ihre völlige Durchschnittlichkeit. Sie alle waren normale Leute, Männer, Frauen und Kinder, die nun die Hälse reckten, um mehr zu sehen und wurden belohnt: Ein bleicher, aufgedunsener Leichnam wurde an einem Haken durch Rom gezerrt. Diese infame Aufgabe übernahmen der Carnifex und seine Gehilfen im Auftrag des Tresvir capitales. Niemand außer ihnen wusste, dass der Tote einer von jenen war, welche die unmenschlichen Haftbedingungen der Prätorianer nicht überlebt hatten. Doch wen sie hier und heute an seinen Bestimmungsort verbrachten, das wussten auch sie nicht. Niemand außer den Prätorianern selbst kannte den Namen des Mannes oder wusste, wofür er einst festgehalten worden war.
Bei der Gemonischen Treppe angelangt ließen die Gehilfen des Henkers den Toten fallen. Kurz darauf folgten weitere Körper, drei an der Zahl, alle in schauderhaftem Zustand, sei es durch das Schleifen ihrer unbekleideten Körper über den blanken Boden Roms oder schon zu Lebzeiten verstümmelt durch das, was ihnen widerfahren war.
Die Bestrafung von Hochverrätern endete nicht mit ihrem Tod: Es war generell untersagt, einen Hingerichteten zu bestatten. Bei Verurteilungen für Hochverrat und Verwandtenmord wurde der Leichnam auch nicht auf ein Ersuchen hin an die Verwandten ausgehändigt, sondern unwürdig entsorgt. Weder Totentrauer noch Feiern zu Ehren des Toten durften stattfinden. Sein gesamtes Andenken wurde vernichtet, seine Bilder und sein Name ausgelöscht. Auch die radikalen Christen fielen der Damnatio memoriae anheim.
Und so wusste niemand außer den Prätorianern, die dem Prozedere gleichmütig beiwohnten, dass die vier Toten folgende waren:
- Volusus Didius Molliculus, der den radikalen Christen in seinem Haus Unterschlupf gewährt hatte.
- Gaius Trebatius Calvus, der sich ihnen angeschlossen hatte.
- Trebatia Caeca, dessen Frau.
- Theognis, der Sklave aus dem Hause Didia.
Dann ertönte erneut das Hornsignal und der Herold gebot Stille. Der Tresvir capitales, zu diesem Anlass im Trauergewand, trat vor, flankiert von seinen Liktoren. Hinter ihm stieg ein Schwarm Möwen auf, die sich auf das Aas freuten. Er hielt eine zornsprühende Rede, in der es um den Sieg der römischen Götter ging, um ein Signal an alle Feinde Roms und um Gerechtigkeit vor allen Dingen. Alles folgte festem Ritual, bis er den Platz wieder verließ. Die Menge wurde entfesselt, eine Meute durchschnittlicher Menschen, welche die Toten nun traten, verhöhnten, schlugen, bespuckten und am Ende wie Schakale zerrissen. Man würde die Reste hier liegen lassen, bis die Verwesung stattgefunden hatte, und sie dann mit dem Haken in den Tiber ziehen, wo sie ins Tyrrhenische Mehr hinabtrieben. Ein Hund, der vielleicht einem Toten gehörte oder ein Menschenfreund war, schrie herzerweichend, am ganzen Körper zitternd, ohne etwas gegen dieses Treiben unternehmen zu können. Das Tier besaß mehr Herz und Menschlichkeit als die Menschen selbst.
Stilo wandte den Blick von dem Hund ab und wieder der Menge zu, im Gesicht ein Ausdruck tiefer Herablassung. Was immer dieser Menschheit jemals widerfuhr, sie hatte es verdient. Er sah die Fluten des Tiber, die in der heißen Sonne glitzerten, und dachte noch einmal an Seianus, jenen großen Mann, der zu gut gewesen war für eine Menschheit, der nichts als Verachtung gebührte.