Beiträge von Manius Flavius Gracchus

    Auch Gracchus war nicht eben glücklich über die gewählte Abordnung, denn das erste, was er von Senator Matinius im Senat hatte je mitbekommen, war dessen Ankunft nach dem Aufstand in Hispania in Rom gewesen, welche nicht eben rühmlich genannt werden konnte, bei Senator Octavius dagegen war er sich bis zu diesem Tage nicht gänzlich sicher, in welche Ecke jener politisch einzuordnen war. Doch Alternativen waren nicht gegeben, so dass Gracchus letztlich seine Zustimmung anzeigte und dabei hoffte, die Abordnung möge sich Zeit lassen und Valerianus noch lange nicht in Rom eintreffen - da Matinius nicht mehr eben der jüngste und Octavius allfällig noch immer von dem Anschlag auf seine Person nicht gänzlich erholt war, war zumindest hierfür die Chance ein wenig erhöht.
    :dafuer:

    Die morgendliche Salutatio war beendet, doch bevor Gracchus die senatorischen Pflichten in die Curia Iulia würden ziehen, galt zuvor es noch sich einer Sache anzunehmen, welche wenig Aufschub nur duldete. Für seinen Neffen Lucanus hatte er den Hauslehrer Kleochares erworben, eine erfreulich günstige Erwerbung, ohne dieser Tage zu ahnen, dass noch weitaus lohnender der Erwerb würde sein, da auch sein Neffe Serenus sich bald in Rom hatte wieder eingefunden. So galt es nur, die beiden Herren und den Sklaven einander zuzuführen und schon hätten jegliche Bildungslücken sich aufgelöst, wie der Weihrauch beim Opfer - so zumindest glaubte Gracchus in seiner manches mal - ganz besonders bezüglich Kindeserziehung - ein wenig naiven Sicht der Welt.

    In mannigfach bunter Couleur kündete die Natur von ihrem Bestreben, das starr gefrorene Innere der dunklen Erde zu verlassen und die Welt mit lebendigem Wandel, frischem Hauch und vollkommener Idylle zu überziehen. Von einer honigfarbenen Silhouette sonnigen Lichtscheines waren die kahlen Äste der Bäume umrahmt, streckten sehnsuchtsvoll erste Knospen zum Himmel empor und wiegten sich sanft im unscheinbarem Hauch, welcher die Hügel der Stadt lieblich umschmeichelte. Erste Blumen räkelten sich unter der warmen Berührung der Sonne, Singvögel zirpten freudig ihr Lied und hießen den Frühling willkommen. Doch längst nicht alles Leben in Rom wurde ob dessen von leichter Seichtigkeit erfasst, hatte Blick für die sich erhebende Ästhetik der Natur. Es war einer jener Tage, an welchen Gracchus nicht mehr ein, noch aus wusste, an welchen zu viel in seinem Kopfe umeinander wirbelte, so dass es ihm schien, dass mit jedem weiteren Gedanken, mit jedem weiteren Worte oder nur einem Namen jener müsse platzen. Die Gänge der Regia schienen ihm drückend, erdrückend, als würden die Mauern langsam sich enger und enger um ihn herum ziehen, gleichsam die Decke hinab sich senken, mit endlos quälender Langsamkeit, doch beständig, so dass irgendwann nichts mehr half, denn der Aufgaben sich zu entledigen und die Flucht ins Freie hinaus an zu treten. Tief schien der Morast der Straße, längst verklungen die schwingende Harmonie, welche den Körper stets im Einklang hielt, klamm und düster waberten Schwaden aus eisiger Desperation durch die Gassen, ließen kahle Äste zittern wie furchterfüllte Gestalten am Wegesrand, welche gierig die Hände streckten nach jedem vorbeiziehenden Geist. Das flüsternde Gemurmel der Passanten erfüllte die Luft, andächtiger Gesang, vergilbtes Geleit für einen sterbenden Gedanken, sich aus der lautvollen Stille schälende Sonate der vollkommenen Verkommenheit. Bis zu seinen Ohren hin konnte Gracchus das Pochen seines Herzens vernehmen, zäh fließend, gleichsam berstend in sich selbst und aus sich heraus, die Hand seines Sklaven auf der Schultern war nur mehr gestaltloses Geleit, welches willenlos ihn durch die Menge schob. Grünfarben war die Hoffnung, grünfarben die Erlösung, blumig der Odeur der Stille, welche jedes Wort, jeden Laut verschluckte. Manches mal vergaß er, wo er war, manches mal vergaß er, wer er war, manches mal in tiefer Nacht konnte er vergessen. Schneeglöckchen schoben sich in Gracchus' Blick, geknickt, gebrochen auf der Mitte des Weges, von graufarbenem Stein umrahmt, beraubt ihres Lebens für einen vergänglichen Augenblick der Schönheit. Umsichtig kniete er sich hernieder und hob die sterbende Kostbarkeit in seine Hände, ohne zu ahnen, was hernach mit ihnen sollte geschehen, doch als seinen Blick er wieder hob, sich aufrichtete, blickte er Claudia Epicharis voraus - epiphane Gestalt aus gleißendem Lichte, Leichtigkeit mit transluzenten Schwingen, welche in allen Farben des Regenbogens beliebten zu schimmern. Ihr Wesen war ihm so fremd, so unverständlich, doch gleichsam ob dessen so faszinierend, dass entgegen jeglichen Drängens er sich selbst überwand und zu ihr trat.
    "Salve, Claudia."
    Vorbei war es mit der Überwindung, vergangen der auflodernde Mut, denn kaum, dass die Begrüßung gesprochen war, fehlten Gracchus jegliche weitere Worte, fehlte ihm jedes Gespür, wie dieser Beginn eines Anfangs fortzusetzen war, um dem Augenblick einen beständigen Anschein von Dauer zu geben.
    "Ein äußerst vorzüglicher Tag, um tiefsinnige Schriften zwischen den Schätzen der Natur zu goutieren"
    , deutete er mit einem Wink auf die Schriftrolle in ihrer Hand an, doch plump schienen die Worte über seine Lippen zu poltern, ungelenk und grave, vergleichen mit ihrem grazilen Wesen, welches so zerbrechlich anmutete, dass Gracchus manches mal sich die Frage stellte, ob nicht Aristides es mit dem ersten übermütigen Griff würde devastieren.

    Für einen Moment lang hob Gracchus den Blick und tangierte Aurelius damit äußerst nachdenklich, im Schwanken inbegriffen, ob es einen Sinn hatte, ihm näheres ob des Senates zu erzählen. Doch allfällig würde Corvinus beizeiten ohnehin erkennen, wie es um das Gremium bestellt war, dass zu viele der im Spott geworfenen Worte nur allzu treffend waren, gleichsam wollte er nicht ihn desillusionieren, zudem auch Gracchus noch immer nicht gänzlich die Hoffnung hatte verloren, dass eines Tages der Senat würde sich erheben und wahrhaftig tiefgründige, essentielle Entscheidungen treffen, anstatt alltäglich sich über nichtige Paragraphen zu streiten, welche ihren Sinn verloren hatten oder auch nicht. Statt der Trübsal über die Mühlen der Politik, in welchen er niemals hatte landen wollen, welche doch längst sukzessive ihn durch ihre Räder zog, nachzugeben, ließ auch Gracchus einen Mundwinkel ein Stück weit empor wandern.
    "So sollte ich besser meine Zusage revidieren? Denn wie könnte als Pontifex ich zulassen, dass die Setpemviri ihre Pflichten vernachlässigen, um jenen des Staates nachzugehen, sind sie es doch, welche die Last jener Pflichten zu tragen haben, welche die Pontifices selbst beiseite schieben, um sich der Staatspflicht zu widmen."
    Das sublime Lächeln hielt nicht lange vor, denn die Thematik um den verblichenen Kaiser gereichte nicht nur zu Traurigkeit, als viel mehr noch zu Sorge. Bis der Caesar in Rom würde eintreffen und absehbar würde sein, in welcher Art und Weise seine Position bezüglich der Vergangenheit war begründet, galt es Vorkehrungen zu treffen. Würde der Caesar die Welt an seine Vergangenheit in der Aelia erinnern, würde er den Verrat einer Flavia an der Ulpia dazu gebrauchen, all das in unbedeutende Nichtigkeit hinab zu stürzen, was die Mitglieder der Flavia in den letzten Jahren hatten erreicht? Niemand wusste, wie Ulpius Aelianus würde reagieren, doch Gracchus hatte entschieden, nicht abzuwarten, bis die Flavia auf einer Proskriptionsliste würde landen. Es war in dieser Hinsicht äußerst günstig, dass Furianus das Proconsulat über eine senatorisch verwaltete Provinz inne hatte, im schlimmsten Falle würden sie dort ihr Exil suchen. Im besten Falle würde der neue Imperator die Besonnenheit seines Vorgängers teilen, die Vergangenheit ruhen lassen und nichts von all dem würde das Leben in Rom tangieren.
    "Nun, man darf nicht das weit verzweigte Familiennetz der Cornelier außer Acht lassen. Manches mal scheint es mir gar, jeder dritte Mann im Senat trägt den Namen Cornelius oder ist zumindest von einem von diesen gekauft. Unbezweifelt sind sie eine äußerst altehrwürdige und um das Reich verdiente Gens, doch manches mal nehmen sie sich ein wenig zu viel heraus. Es bleibt abzuwarten, wie der Senat sich entscheidet."
    Nicht nur in Bezug auf das Aedilat, sondern gleichsam hinsichtlich der Quaestur Aurelius' und dessen Einsatzgebiet. Die Eröffnung der Tatsache, dass Corvinus sich ihn Ähnlichkeit zu Gracchus sah, gereichte mit Leichtigkeit dazu, dessen rechte Augenbraue ein deutliches Stück weit in die Höhe empor zu tragen und einen derangierten Ausdruck in seinen Blick zu legen, welchen er damit zu überdecken suchte, dass ebenfalls seinem Getränk er sich widmete, die im Licht funkelnde Oberfläche der Flüssigkeit und die vom Becherrand perlenden Tropfen intensiv begutachtete, ehedem er einen Schluck nahm und seine mit einem Male so trockene Kehle befeuchtete.
    "Ludi sind natürlich bereits in Planung"
    , rettete er sich durch eine Flucht in Belanglosigkeiten aus der merkwürdig unangenehmen Situation.
    "Solche Dinge müssen weit im Voraus in Angriff genommen werden, vor der eigentlichen Wahl noch, denn hernach wird es schwer, in absehbar kurzer Zeit ein adaequates Programm aufzustellen. Vermutlich werden es die Ludi Ceriales sein, doch allfällig auch andere Ludi, je nachdem, ob eine Zusammenarbeit der Aedilen hierbei möglich ist. Auf jeden Fall werden Ludi Scaenici Teil dessen sein, ich stehe bereits in Verhandlung mit einem jungen Autor aus Achaia, ein aufstrebendes Talent wie ich meine, mit zwar unbekanntem Namen, doch exzeptionellem Stil."
    Dass Lucanus sich für Ludi konnte begeistern, war Gracchus indes eine bisher unbekannte Neuigkeit, doch bei genauer Betrachtung war dies kaum verwunderlich, zeigte Lucanus doch allenthalben jeden Tag neue Interessen, ohne dabei die alten aus den Augen zu verlieren.
    "Lucanus ist ein äußerst emsiger, junger Mann. Er sucht derzeit noch nach seinem Weg und es ist äußerst erfreulich, dass er diesen nicht in Untätigkeit und Arbeitsscheu zu sich lassen kommen möchte, sondern selbst sich auf die Suche begibt. Indes ist es nie früh genug, sich um Spiele zu bemühen, denn allfällig werden seine eigenen früher vor ihm stehen, als ihm eigentlich lieb ist."
    Dies war etwas, was Gracchus sehr wohl konnte nachvollziehen, denn obgleich er bereits in Planung dessen stand, so wusste er mit größtmöglicher Sicherheit, dass im Falle des Falles hernach alles viel zu schnell würde gehen.
    "In welchen Belangen suchte Lucanus dich auf? Ist nicht Senator Decimus Vorsitzender der Factio Aurata?"

    Auch Gracchus war bereits zu solch früher Stunde seit geraumer Weile auf den Beinen, denn die Tage des Winters waren kurz, so dass auch der Nacht ein Gutteil ihrer Zeit musste abgerungen werden, um all den Pflichten und Aufgaben im Ansatz nachkommen zu können. Da Gracchus bis auf einen Becher Milch kaum etwas am Morgen zu sich nahm, konnte zumindest die Zeit für das Frühstück er sich sparen, so dass er jene Dauer zwischen dem Aufstehen und der Salutatio bereits dazu adhibierte, sich der dringendsten Korrespondenz zu widmen. Eben pinselte er in kontemplativer Art und Weise das M seines Namens auf ein Schrifstück, als die gesamte Villa in einem Erdstoß zu erzittern schien und der feine Schwung des M darob in einem unschönen, zittrigen Knick endete. Derangiert blickte Gracchus zu Sciurus auf, welcher bereits sich zur Türe hatte aufgemacht, um zu sehen, welch Vandalenvolk vor jener harrte.
    "Guten Morgen, Herr, einen Augenblick bitte." Scirurus wandte sich ins Zimmer zurück, zu seinem eigenen Herrn. "Dein Neffe, der junge Herr Serenus."
    Im Grunde hatte es keine andere Möglichkeit gegeben, denn jedes andere Mitglied des Hauses hätte sich in einer weit gemäßigteren und adäquateren Weise angekündigt.
    "Er soll herein kommen."
    Ein wenig ungelenk platzierte Gracchus das anius Flavius Gracchus hinter dem unschönen M, war nicht gänzlich damit zufrieden, beließ es jedoch dabei.

    Es war dies ein äußerst bedeutsamer Tag im Leben eines jeden seine Gattin liebenden Ehemannes, denn am Tage der Matronalia suchte er die Göttin gnädig zu stimmen, seine Gemahlin ein weiteres Jahr mit ihrer Gunst reichlich zu bedenken. Obgleich Gracchus nicht in jeder Hinsicht ein liebender Ehemann war - im Grunde genommen reichte bereits allein der Gedanke an die merkwürdige Beziehung seiner Ehe, um ihn zu derangieren -, so war er doch stets pflichtbewusst und sorgend gegenüber seiner Familie und insbesondere seinem Eheweib. Die Salutatio war an diesem Tage darob ausgesetzt worden, immerhin war dies ebenso ein Tag freudiger Erneuerung, welcher nicht nur von verheirateten Römern wurde begangen, so dass Gracchus bereits früh am Morgen zum Tempel der Iuno Lucina auf dem Esquilin sich hatte auf gemacht. Ein leichter Regenschauer hatte in der Nacht die Stadt mit seinen Tropfen benetzt, so dass zwischen den Pflastersteinen sich Feuchtigkeit hatte gesammelt und die Sänftenträger vorsichtig ihre Füße auf den Weg setzten, um nicht ins Rutschen zu geraten. Gracchus mochte den Regen und auch die Szenerie, welche er hinterließ, so dass dies ein wenig die Trübnis von seinen Gedanken nahm, welche sich ob des kleinen Opfers hatten in seinem Kopfe gesammelt. Sein Sklave Sciurus richtete noch einmal die Falten der Toga, ehedem Gracchus zum Podium des Tempels hinauf schritt, gefolgt von einem kleinen Tross Sklaven, welche die Opfergaben trugen. Ein Seufzen drängte sich seine Kehle empor, ob der Tatsache, dass die Matronalia vermutlich stets der einzige Tag würden bleiben, an welchem der Göttin er hier seine Aufwartung würde machen, blieb jedoch im Inneren seines Rachens gefangen. Dennoch fühlte er sich wie ein Eindringling als er die große Pforte durchschritten hatte und vom warmen, honigfarbenen Schein der Kerzen und Lampen im Inneren des Tempels wurde umhüllt. Weiche Schatten umschmeichelten das Kultbild der Iuno, tauchten sie ein in eine sanfte Güte, doch ihr Blick schien stechend scharf. War letztlich doch alles nur Akt der Nemesis, hatten die Götter sie verlassen? Das Wasser im Becken neben dem Eingang war morgendlich kalt, so dass Gracchus nur kurz seine Händen dort hinein tunkte und abrieb - selbst im heißen Sommer Roms war er stets bekennender Warmduscher. Ein dicklicher Mann mit aufrechtem Gang und einem zufriedenen Gesichtsausdruck hatte eben sein Opfer beendet, trat mit einem freundlichen Nicken an ihm vorbei und verließ den Tempel, gefolgt von Gracchus' zweifelndem Blick. Er hatte den Anschein eines glücklichen Ehemannes gegeben, Vater zahlloser Kinder, womöglich bereits Enkel, welcher nicht nur Iuno um das Wohl seiner Gemahlin im kommenden Jahr bat, sondern gleichsam auch in jedem Jahr mehr Dank hatte vorzutragen. Ein kalter Lufthauch wehte durch die Pforte ins Innere des Tempels hinein und ließ die goldfarbenen Flammen flackern, so dass Gracchus' Aufmerksamkeit zurück zu seinem Opfer fand. Je näher dem Abbild der Iuno er trat, desto kleiner fühlte er sich, marginal in einem unbedeutenden Augenblicke des Kosmos, verschwindend gering und entbehrlich. Vor der Göttin stehend zog er sich eine Falte der Toga über den Kopf und ließ den Sklaven, welcher mit dem tönernen Gefäß voll kostbarster Räuchermischung neben ihn getreten war, noch eine Weile schweigend warten. Dann endlich griff er eine Hand der Mischung und streute sie über die rotfarben glühenden Kohlen, so dass augenblicklich ein milchig, weißfarbener Rauch empor stieg, ihn umhüllte mit seinem herb-süßlichen Odeur die Beine der Iuno umschmeichelte und schlussendlich auch bei deren über allem thronenden Haupte angelangt war. Ein leises Flüstern schien den endlosen Raum zu durchdringen, doch Gracchus hörte nicht darauf, wollte nicht darauf hören, nahm stattdessen die Kanne voll süßen Weines.
    "Iuno Lucina, gütige Mutter, hehre Holde, wie Dir am diesem Tage zusteht, bringe ich, Manius Flavius Gracchus, Gaben zu Deinem Wohle, wie Dir zusteht an diesem Deinem Tage, und bitte darum, dass meiner Gemahlin Claudia Antonia Du Deine Gunst mögest gewähren. Ihr Wohl, Iuno Lucina, Gütige, Wohl Deiner Tochter Claudia Antonia, ist mein Wunsch ob dieser Gaben."
    Der Wein rann in die kuhlenförmige Aushöhlung am Fuße der Iuno und rann mit glucksendem Geräusch in die Tiefe unter ihnen. Als die letzten Tropfen vom Stein abperlten und neben der Öffnung sich sammelten, legte Gracchus einen Kranz aus Blumen auf den Opfertisch - ein wenig farblos noch zu dieser Jahreszeit, doch mit den schönsten Blüten, welche zu Beginn des Martius in Rom zu finden waren. Dem Kranz folgte ein Kuchen aus duftendem Teig, einige Münzen in die verschlossene Kiste und schlussendlich eine kleine, silberne Statuette der Iuno. Schlussendlich zogen die Sklaven sich zurück und Gracchus stand allein und mit nun leeren Händen im Angesicht der Göttin, zaudernd, zweifelnd, ob weitere Worte wären angebracht. Lange Zeit hatte er das Wesen der Götter studiert, wusste längst, dass die Welt in weit anderen Bahnen verlief als viele Menschen glaubten, und doch in Bahnen, welche ihnen viel näher waren als sie ahnten. Sie opferten und ehrten die Götter, ohne je darob zu wissen, was genau sie taten, und doch taten sie, was notwendig war. Gracchus räusperte sich, ein Laut, welcher dröhnend von den Wänden des Tempels zurück zu hallen schien, die ihn zurück auf Gracchus hinab warfen, welcher ob dessen seine Stimme senkte.
    "Iuno Lucina, gütige Mutter, Du weißt um das Unglück meiner Gemahlin, und darob möchte ich aus tiefstem Herzen Dich bitten, ihr nur ein wenig mehr Deiner Gunst zu gewähren, ein wenig mehr Glück und Freude in Ihrem Leben. Wenn es noch ein wenig Deiner Gunst gibt, welche Du für mich hast aufbewahrt, so nimm sie von mir, Göttliche, und gewähre stattdessen sie Antonia."
    Erneut drängte ein Seufzen sich in ihm empor, doch erneut blieb es in seinem Innersten, tief in ihm verborgen. Umhüllt von der schweigenden Stille des Tempels drehte Gracchus sich schlussendlich von der Göttin ab, schlug die Togafalte doch erst zurück als er bereits zwischen den Säulen des Tempels im Freien stand.

    Was auch immer Gracchus an manchen Tagen tat, oft wusste im Nachhinein am Abend er es selbst nicht mehr, so dass er ausgesprochen froh darüber war, dass er seine persönliche Agenda in Form seines Leibsklaven Sciurus sein eigenen konnte nennen, welcher ihn rechtzeitig am nächsten Tage daran erinnerte, so es etwas fort zu setzen, zu beenden oder neu zu beginnen galt. Ebenso ordnete Sciurus all das, was am Abend in der Villa noch zu sichten oder zu bearbeiten war - Briefe, Verwaltungslisten, Bittschriften, zu prüfende Rechnungslisten, Nachrichten von den Landgütern und andere Schriftstücke, welche meist nicht halb so wichtig oder dringlich waren, wie sie den Anschein gaben. Manches mal glaubte Gracchus gar, sein Vetter Felix hätte sich nur darob nach Sardina zurück gezogen, um seine Patronats-Pflichten auf einen seiner Klienten abzuladen - und zufälligerweise hatte eben es sich ergeben, dass gerade Gracchus in Rom gewesen und ohnehin ihm die Ehre zuteil geworden war, das Erbe des Hausherrn in der Villa Flavia antreten zu dürfen so lange Aristides in der Legion weilte. Wäre Gracchus indes ein misstrauischer Mensch gewesen, so hätte allfällig er vermutlich bemerkt, dass all seine Verwandten nicht eben unglücklich darüber waren, diese Pflichten auf seinen Schultern zu wissen, doch da er kaum je misstrauisch und zudem mehr als pflichtbewusst war, so gab es diesbezüglich über nichts zu sinnieren. Wie an vielen Abenden voriger und sicherlich auch zukünftiger Tage war es darob in Gracchus' Ansinnen, den Abend mit gentilen Pflichten zu beginnen, um möglicherweise in späterer Nacht noch ein wenig Zeit zu finden, seinen eigenen Gelüste in Form einer Schriftrolle - möglicherweise einer bereits gefüllten, allfällig doch auch mit einer noch zu füllenden - zufrieden zu stellen. Zuoberst des Stapels lag die monatliche Aufstellung der Vermögenswerte in Form von Grundbesitz und daraus erwirtschafteten Gewinne. Während Gracchus selbst innerhalb weniger Jahre einst das gesamte Vermögen, welches sein Vater ihm zur Verfügung gestellt, in den Sand - im Genauen in Asche - gesetzt hatte - obgleich weniger sein mangelndes Talent bezüglich finanzieller Angelegenheiten hierfür Schuld trug denn seine eigenen Dummheit, so dass ein Glück es gewesen war, dass Vespasianus dem verfügbaren Vermögen seines Sohnes hatte eine Grenze gesetzt -, so schien es Antonia wahrlich ein leichtes zu sein, jeden Monat das Vermögen noch ein wenig zu mehren, so dass er noch keinen Augenblick hatte bereut, ihr die Verwaltung des Besitzes anzuvertrauen, weshalb er das Schriftstück vor sich nur kurz mit seinem Blick überflog, um sich sodann dem folgenden zu widmen. Es war kein gewöhnliches Schriftstück, welches er in seine Hände nahm, bereits die Anordnung der Zeilen verriet dies, doch mehr noch der Schwung der Schrift, welchen Gracchus auf jedem Fetzen Pergament, an jeder Mauer und selbst noch im Sande geschrieben würde erkennen. Er lehnte sich zurück und sog die Zeilen in sich ein, bereits mit gespannter Neugier, und sobald das Ende er hatte erreicht, begann in seinem Kopf die Interpretation. Die Unterlippe zwischen die Zähne gezogen und darauf herum kauend, sann Gracchus über das Licht der Parzen und den schwarzfarbenen Boden nach. Dort hatte Aquilius gefunden, was ihn erfreute, doch schrieb er nicht, ob dies etwas war, was er mit sich hatte in die Villa genommen oder ob Gracchus zum schwarzfarbenen Boden ihn müsste begleiten, um dies zu sehen. Der schwarzfarbene Boden, dies konnte schwarzer Stein sein - der Stein der Magna Mater etwa? - oder auch sehr fruchtbare Erde - doch in Rom? - womöglich auch nur ein Platz im Schatten, welcher darob schwarzfarben schien. Was wohl mochte ihn erfreuen und im Schatten liegen, womöglich stehen? Es dauert einige Zeit, bis Gracchus den metallischen Geschmack in seinem Munde bemerkte und ob dessen feststellte, dass ob der Tortur seiner Unterlippe er dort hatte hinein gebissen. Mit der Spitze seiner Zunge fuhr er über die winzige Wunde, welche durch die vergrößernde Wahrnehmung des Geschmacksorganes weit schlimmer erschien als sie war, und stieß einen brummenden Laut aus. Die Entscheidung schlussendlich fiel nicht allzu schwer, denn Caius war einer der wenigen Menschen, ob derentwegen Gracchus die Pflicht würde warten lassen, so dass er sich erhob, das Schriftstück sorgsam faltete und zu einem der Regale schritt, in welchem ein unauffälliger, bronzener Ianus-Doppelkopf auf bronzenem Sockel stand. Er kippte die Statue und schob das kostbare Schriftstück in die Höhlung des Kopfes hinein. Nachdem er den Brief im Abbild des Ianus hatte verstaut und jener wieder an seinem Platze stand, verließ Gracchus sein Arbeitszimmer, versuchte vergeblich, die freudige Erwartung aus seinen Augen und von seinen Lippen zu vertreiben, und klopfte schlussendlich am Arbeitszimmer seines Vetters. Noch ohne eine Antwort aus dem Inneren abzuwarten öffnete er die Türe, da er ohnehin nicht konnte wissen, ob Aquilius in diesem Raum würde warten oder womöglich in seinem Cubiculum, und streckte seine Kopf durch den Spalt zwischen Türe und Rahmen. Sein Vetter saß hinter seinem Schreibtisch und arbeitete sich durch einige Akten - unbezweifelt keine Pflicht, die nicht könnte warten, so dass Gracchus auch den Rest seines Körpers in den Raum schob, die Türe hinter sich schloss und den Rigel vor die Türe legte - im flavischen Hause war er längst vorsichtig geworden.
    "Caius ..."
    , drang dessen Name über seine Lippen, das u genießerisch in endlose Länge gezogen, während ein schalkhaftes Lächeln seine Lippen kräuselte, denn Aquilius' geheimnisvolle Worte hatten für eine Weile all die quälenden Augenblicke aus Gracchus' Geist verdrängt und eine unersättliche Neugier dort hinterlassen. Er trat langsam in den Raum hinein.
    "Heute war mir im Lichte der Lampe,
    die mit öliger Flamme brannte,
    vergönnt zu sehen deine Worte
    von hellem Licht und dunklem Orte,
    so dass die Gier sich in mir wand
    und keine Ruhe ich noch fand,
    bis dass nicht vor dir ich endlich stehe
    und mit eigenen Augen dies sehe,
    was längst du hast erblickt,
    so dass es ebenfalls mich entzückt."

    Es waren keine ausgefeilten Worte, denn in der Spontanität fehlte dazu die Zeit, so dass Gracchus durchaus froh war, dass niemand dies würde je schriftlich festhalten und nachlesen können, sondern in dem Augenblicke es bereits für die Welt verloren war, nachdem der Klang seiner Stimme sich im Raume hatte aufgelöst.

    In Gedanken die Regia durchwandernd auf der Suche nach architektonischem Detail bemerkte Gracchus nebenbei auch die Zurückhaltung seines Vetters in Hinsicht auf die Austern, was ein sublimes Lächeln ihm über die Lippen trieb. Er wareben im Inbegriff, einen Zuspruch zu Lucanus' Forschung zu tätigen, als ein Sklave vom Eintreffen des jungen Serenus kündete. Wie einem sanften Regenguss ein tobendes Gewitter eilte Serenus dessen Hund Nero voraus, doch ob der freudigen Überraschung wegen verzichtete Gracchus darauf, seinen Neffen bezüglich der noch immer mangelhaften Erziehung seines Tieres eine Rüge auszusprechen. Viel unangenehm auffälliger indes war Gracchus die Disharmonie Serenus' Erscheinung, an welcher augenscheinlich jemand hatte versucht, möglichst viele Grüntöne zu kombinieren, ohne auch nur im geringsten auf die Lehre der Farbharmonie zu achten.
    "Serenus, welch eine freudige Überraschung!"
    In der Tat war es dies, denn gerade ob der zurückliegenden Tage hatte Gracchus immer wieder mit dem Gedanken gespielt, ob nicht womöglich doch es würde möglich sein, Aristides davon zu überzeugen, ihm seinen Erstgeborenen als Erbe zu überlassen, da er mit Epicharis an seiner Seite sicherlich kaum um weitere Kinder würde verlegen sein. In einem schwachen Moment gar hatte er darüber sinniert, Aristides mit jener Aussicht zu ködern, dass Serneus nur auf diese Weise in den Vorzug des Ordo Senatorius würde gelangen, doch bereits im darauffolgenden Augenblick war er zutiefst beschämt ob dieses Gedankens und seiner Selbst, wäre dies doch eine überaus schändliche Hintergehung seines Vetters, welchem dies allfällig nicht einmal würde auffallen, was die Angelegenheit noch weitaus schlimmer machte. Dennoch, beim Anblick des fidelen, prächtig geratenen Jungen - abgesehen von der Farbgebung und den ein wenig zu nachlässig geschnittenen Haaren - wurde Gracchus es schwer um sein Herz und er verspürte einen Anflug von Neid auf seinen fernen Vetter, ob dessen im nächsten Augenblicke wiederum er bereits sich vor sich selbst schämte.
    "Ich danke dir für die Grüße, ich hoffe Agrippina befindet sich wohl?"
    Obgleich die Nennung des Namens Gracchus' einen eisigen Schauer über den Nacken zog, ließ er sich nichts ob dessen anmerken.
    "Ebenso wie ich hoffe, sie hat dich für längere Dauer nach Rom gesandt."
    Obgleich Serenus nach der Verlobung seines Vaters natürlich ein überaus infantiles und indiskutables Verhalten an den Tag hatte gelegt, so war es indispensabel, dass der Junge seine Ausbildung fern von Baiae fortsetzte, zudem hatte Aristides als Vater eine nicht unbeträchtliche Schuld am Verhalten seines Sohnes getragen, so dass jener längst von jedem Vorwurf musste befreit sein. Gracchus wandte sich an Lucanus und Celerina.
    "Lucius Serenus ist der Sohn unseres Vetters Aristides und somit euer ... Onkel dritten Grades."
    Unwillkürlich hob sich Gracchus' rechte Augenbraue in die Höhe, gleich darauf kräuselte ein Schmunzeln seine Lippen.
    "Serenus, dies sind deine Nichte dritten Grades Celerina und dein Neffe, ebenfalls dritten Grades, Cnaeus Lucanus, sie sind die Nachkommen des Gaius Maximus."
    Dass Serenus Gaius Maximus würde einordnen können, setzte Gracchus voraus, denn Agrippina legte äußerst großen Wert darauf, dass ihre Nachkommen genauestens über den Stammbaum Bescheid wussten, wie dies in der Flavia üblich war.

    Eine Quaestur in einer Provinz stellte Gracchus sich stets als das Größte aller Ämterübel vor, nicht nur, da die Provinz an sich - ausgenommen Achaia und womöglich Aegyptus - für ihn stets mit dem Ende der Welt war gleich zu setzen, sondern auch, da ihm der Bericht des Claudius Menecrates über seine Quaestur in Hispania noch allzu deutlich in Erinnerung geblieben war. Aurelius in solch ein Amt zu entsenden wäre eine äußerst desolate Verschwendung, zudem hatte er ihm seine Stimme für ein Amt in Rom zugesichert.
    "Aurelius Corvinus in die Provinz zu entsenden, erscheint mir ebenfalls eine denkbar suboptimale Idee. Er ist nicht nur Auctor der Acta Diurna, sondern ebenso einer der Septemviri und dabei äußerst bemüht um den Cultus Deorum, so dass es ein ernstlicher Verlust für eben diesen wäre, ihn über eine gesamte Amtszeit hinweg entbehren zu müssen. Er sollte darob eine Aufgabe in Rom zugeteilt bekommen, so dass er dem Collegium weiterhin zur Verfügung steht."
    Dabei erwähnte Gracchus nicht implizit, ob er diesbezüglich auf das Collegium der Epulonen wollte verweisen oder aber auf jenes der Pontifices, welches gegenüber den Septemviri weisungsbefugt war, da eben jene einst zur Entlastung des Collegium Pontificium waren eingesetzt worden.



    edit: an Macer angepasst

    Lange noch schwang die Präsenz seines Vetters im Raume nach, subliminaler Odeur bernsteinfarben klingender Epen im nebligen Morgendunst, harmonische Tonspuren im pastellfarbenen Sand einer verklärten Seele, der zarte, warme Hauch, eingebrannt auf der Stirne wie das Mal eines Sklaven - Sklave eines Narren oder Narr eines Sklaven? Wie die weichen, schaumigen Wogen zur Ebbe hatte er sich aus dem Raum zurück gezogen, wie die milde, orangefarbene Sonne vom abendlichen Himmel, doch sie würden wieder kommen, die Flut, der Tag. Nachdenklich wanderte Gracchus zum Fenster und blickte in die Dunkelheit hinaus, deren weiche Schemen von Öllampen aus dem Inneren der Villa wurden beleuchtet, und hob seine Blick zum Himmel empor, an welchem funkelnde Sterne wie Ideen blitzten. Ein einzelner von ihnen fiel in diesem Augenblick vom Firmament herab, hinterließ einen Herzschlag lang eine gleißende Spur, um auf ewig im Dunkel der Nacht zu verglühen. Eilig versuchte Gracchus, einen Wunsch zu formulieren, doch kein Laut drang über seine Lippen. So fand letztlich einzig ein schimmernder Tropfen seinen Weg in Freiheit, welcher bereits seit Tagen danach drängte, sich zeigen zu dürfen, und suchte dort verzweifelt nach einem Sinn dieser Existenz, ohne eine Spur von Hoffnung auf Erfolg.


    ~ finis ~

    Tief in sich selbst zurück gezogen - denn längstens war sowohl das Verlangen, als auch die Kraft zu weiteren Worten ihm verlustig gegangen - überwand Gracchus die letzten Schritte, bis dass endlich - vorerst - die Last von seiner Schulter abfiel. Sein Herz pochte dröhnend in seinen Ohren, schlug - wie es ihm schien - völlig aus dem Takt geraten, unregelmäßig in seiner Brust und drohte seinen Körper zu zerreißen, wenn nicht vorher seine Muskeln diese Aufgabe würden übernehmen, welche sich schmerzhaft in seinen Waden und seiner Schulter bäumten und zerrten, spannten und rissen, oder aber seine Gelenke, welche sicherlich längst aus ihren Fassungen waren gesprungen, dabei Knochen und Sehnen hatten bersten lassen. War es so, zu sterben? Mitnichten konnte der Tod so grauenvoll sein, und während ein gewisses Maß an körperlicher Anstrengung - etwa die Tänze der Salier - dazu gereichte, den Körper in Wallung zu versetzen, so sah Gracchus längst an diesem Tage die einzige Möglichkeit, dem Körper zu entkommen, ihn mit dem Geiste zu verlassen. Als darob die flavischen Sklaven herbei eilten, war kaum noch er ansprechbar. Ein halber Tag noch, noch einmal die gesamte Strecke, noch einmal die Qual, noch einmal und hernach das Opfer. Wie hatte Rom nur je so grausam sein können? Wieder und wieder rief er sich das Bildnis der Virgo Vestalis Maxima vor Augen, welche in ihrem eigenen Blute auf den Stufen des Tempels der Vesta lag. Rom war grausam. Am Ende des Tages würden sie auf den Stufen vor dem kapitolinischen Tempel liegen, in ihrem eigenen Blut. Es gab keine andere Wahl. Dies war Rom. Er war ein Teil dessen. Bis zum bitteren Ende.

    Wie Mahnmale der Vergänglichkeit schoben sich die Gräber alter Adelsfamilien an ihnen vorbei, bis schlussendlich auch jenes der flavischen Familie in Sichtweite kam, nicht übermächtig, nicht protzig, elegant und bescheiden, gleichsam von exzeptioneller Qualität. Man wusste, woher man kam, und die Welt wusste ebenso darob, man musste ihr dies nicht gleich eines Scheunentores vor den Kopfe schlagen. Je näher sie kamen, desto mehr schien Gracchus als hätte die Sonne beschlossen, sich für diesen Tage ungeachtet der frühen Stunde bereits vom Himmel hinfort zu schleichen, einer trüben Düsternis die Bahn zu bereiten, welche weit adäquater für solcherlei Stunden war. War es feiner Nebel, welcher sich um die Steine legte, die Bäume zu schwarzfarbenen Konturen verkommen ließ, oder war dies bereits ein Schleier aus gräulichfarbenem Nieselregen? Wie ihm zum Abschied winkende Freunde schwankten die Schatten der Gräser im trüben Licht, eisig und schneidend umwehte der kalte Hauch des Windes seinen Nacken, kroch seine Glieder entlang bis in sein Herz, welches mit fester Hand er umfasste.
    'Du', säuselte er. 'Du wagst es dieser Tage hier zu erscheinen! Dies sind meine Tage, meine Freiheit, doch du forderst sie ein für dein Gewissen! Mir hast du mein Leben geraubt, willst du nun auch noch meinen Tod?'
    'Manius, theuerster Manius, wieso hast du mich hinfort gesandt?' säuselte sie. 'Es ist so kalt hier, so feucht und einsam. Theuerster Manius, wieso?'
    'Wo ist das Festmahl?' säuselte er. 'Ist das alles? Ist das deine Pflichterfüllung? Eine Schande bist du für die gesamte Familie, vom Anfang bis zum Ende, und jedes Jahr erneut!'
    'Ich habe dich geliebt, Manius,' säuselte sie. 'Doch du wolltest mir nie verzeihen. Nun ist es zu spät, zu spät auf immer und ewig.'
    'Mein Blut für dein Leben,' säuselte er. 'Sieh, was daraus geworden ist. Vergeudet mein Blut für dies nichtige Leben.'
    Schattige Hände griffen nach seinem Herzen und drückten sukzessive es zusammen, bis dass er glaubte, es müsse zerspringen. Die Luft in seinen Lungen wollte nicht in seinen Körper über gehen, in seinem Kopf begann ein dröhnendes Pochen und seinen Leib drängte danach zu zerfließen, sich aufzulösen in die einzelnen Partikel seiner Bestandteile. Er schloss die Augen ehedem ihm blümerant konnte werden, sog die warme Luft durch seine Nase ein und versuchte sich selbst in seinem Inneren zu finden. Als die Augen er wieder öffnete umschmeichelten die Strahlen der Sonne die Szenerie, der leichte Windhauch trieb zarte, milchfarbene Wolken über den blassblaufarbenen Himmel und ein Spatz tanzte fröhlich auf dem Gemäuer des flavischen Grabmals. Nur ein einziger Geist der Flavia war übrig geblieben, doch er war kein Geist, kein Hauch im Wind der Zeit, kein Schatten in der Dimension der Vergänglichkeit, war so real wie Gracchus selbst. Derangiert blickte er Lucanus an und nur allmählich tropfte der Klang der Erkenntnis in seine Sinne, dass es einen Grund gab, weshalb er hier war, es einen Grund geben musste. Der Spatz hüpfte ein Stück auf dem graufarbenen Stein, um schlussendlich in die Luft sich zu erheben und am endlosen Himmel zu verschwinden als lebloser Punkt am Horizont. Einige gingen, andere kamen, und an Tagen wie diesen trafen sie alle aufeinander, die einen und die anderen. Dennoch fühlte Gracchus eine seltsame Leere in sich, denn es schien ihm als stünde er zwischen ihnen und doch völlig allein. Die einen hatte er bereits enttäuscht, die anderen würde er enttäuschen, und jene, welche Teil seines engeren Kreises waren, mieden ihn längst. Wie ein im Wind schaukelndes Blatt hatte Lucanus sich von ihm durch die Lüfte tragen lassen, ziellos, wahllos, mit der einen wie mit der anderen Richtung zufrieden, so dass er an diesem Platze eben so fehl und richtig war, wie an jedem anderen dieser Welt. Langsam wandte Gracchus sich um, so dass die Sklaven mit den Gaben vor traten. Milch, Öl und dazu ein Mahl, Picknick für Verstorbene. Umständlich zog Gracchus sich eine Falte der Toga über den Kopf, nahm eine Kanne entgegen und trat auf die verschlossenen Pforten der Gruft hin zu.
    "Di parentes der gens Flavia, wie dies Euer Recht ist an diesen Tagen, nehmt unsere Gaben, die wir Euch offerieren an diesen Tagen da wir Euch nicht vergessen haben, zum Eurem Wohle, wie Euch dies zusteht, die Ihr mit Eurer Gunst all jene beschenkt, die nach Euch gekommen, di parentes, gütige Vorväter der flavischen Familien, zu Eurem Wohle unsere Gaben."
    Umsichtig und bedächtig ließ Gracchus das schimmernde Öl - kostbares Olivenöl aus den Früchten von flavischen Plantagen - durch eine kleine Öffnung im Stein zu seinen Füßen in den Boden hinab sickern. Lucanus hatte er bereits wieder vergessen.

    Jene überaus profane Korrelation der Leidenschaft, welche Leiden schafft, schoss Gracchus bei Aquilius' Worten durch den Sinn, und wohl hätte dies dazu gereichen können, ein schmales Lächeln ob der Belanglosigkeit dieses Gedankens um seine Lippen zu legen, wäre nicht dies seine eigene Leidenschaft, welche ihm selbst Leiden schuf, und darob nicht im Geringsten belanglos war aus seiner Sicht der Dinge, welche stets seine einzige blieb. In einem gemächlichen, zuverlässigen Fluss stetiger Treue umspülten die Worte seines Vetters Gracchus' Geist, suchten mit ihren klaren, schimmernden Fluten jenen Hader hinfort zu spülen, welcher fortwährend im sich zu kleinen Dämmen verheddernden Geäst seiner Selbst verfing, und doch blieb Gracchus stets am anderen Ufer, blickte sehnsuchtsvoll in eine ferne Welt, welche mehr nur als unverständlich ihm war, und glaubte sich stets einer Qualität verlustig, welche unbezweifelt zum Glück vonnöten war. Dennoch, wie konnte am jenseitigen Ufer irgend etwas auch nur annähernd gereichen, mit jenem vergleichbar zu sein, was zwischen ihnen lag, was sie verbunden hielt, in einem zärtlichen Hauch explosiver Couleur, in einer adorablen Symphonie delektabelsten Odeurs, in sublimer Komposition weicher Klangkaskaden? Die Schulter unter seiner Stirn fühlend, so traut, so nah, die Berührung in seinem Nacken, behutsam, dies wollte ihn vergessen lassen, hinfort tauchen in die endlosen Tiefen der schattigen Naivität, des blaufarbenen Trostes, doch nichts konnte ihn vergessen machen, nicht einmal Caius an diesem Tage.
    "Halte mich fest, Caius, halte mich nur fest."
    Wenn nicht das Vergessen ihm seinen Zuspruch wollte gewähren, so wollte er ob dessen auch nicht vergessen, was ihm blieb. So hielt Aquilius ihn, mehr Schild denn Schwert in dieser Stunde, Augenblicke, Herzschläge, Ewigkeiten, Zeitalter während, bis irgendwann Gracchus sich von ihm löste, die Sinne gefestigt, wenn auch längst nicht alle wieder beieinander.
    "Ich danke dir, Caius. Für deine Worte, deinen Zuspruch ... für dich. Wohl werde ich noch einmal mit Antonia ob dessen sprechen müssen ... danach ..."
    In Ratlosigkeit hoben sich seine Schultern und sanken wiederum herab.
    "Was danach kommt, weiß nur das unbegreifliche Schicksal."

    Schweigend nebeneinander verließen auch Neffe und Onkel Flavius den Ort des Opfers, zu Fuß, denn obgleich der Tag sich von frühlingshaft, angenehmer Seite zeigte, so fürchtete doch Gracchus an diesen Tagen der parentalia die Anwesenheit der Verstorbenen, nicht gütiger, wohlgesonnener Anverwandter, sondern rachsüchtiger Geister, von welchen nicht wenige ebenso anverwandt waren, und scheute darob die stille Abgeschiedenheit der Sänfte, welche er sonstig im Trubel der Stadt bevorzugte, um das Gemüt von den sanften Strahlen der mild scheinenden Sonne erhellen zu lassen. Am flavischen Amphitheatrum vorbei folgten sie der Straße aus Rom hinaus zum flavischen Familiengrab.

    Schritt um Schritt näherten Lucanus und Gracchus an den parentalia nach dem Opfer der Virgo Vestalis Maxima sich dem Familiengrab der Flavier, ließen die Mauern der Stadt hinter sich und folgten andächtig den pilgernden Menschen, welche gleich ihnen zu den Gräbern ihrer Anverwandten sich begaben. Schwarzfarbene Krähen saßen am Rande der gepflasterten Straße in den noch immer winterlich kahlen Bäumen, krächzten ihr klangloses Lied in die milde Luft hinaus und zogen in Schwärmen über das Land. Am Abend, wenn die frommen Römer längst zuhause in ihren warmen Casae und Villen würden soupieren, würden auch sie ihren Teil am Festmahl auf den Gräbern erhalten.
    "Obgleich die göttlichen Flavier bei weitem prestigeträchtiger sind, so ist es mir an den parentalia stets ein stärkeres Bedürfnis, nicht am Tempel in der Stadt Gaben zu hinterlegen, sondern hier vor den Mauern Roms, dort, wo unser Ursprung ist."
    Dort wo die Asche seiner Eltern aufbewahrt war, ebenso wie auch jene der stellvertretend für seinen Bruder und seine Base verbrannten Körper, und auch Platz zum Gedenken an seine Schwester war.
    "Manches mal nimmt das Leben äußerst sonderbare Wendungen."
    Mehr zu sich selbst denn zu seinem Neffen sprach er und blickte zum hügeligen Horizont, dorthin, wo es stets schien, als könne ein Mann auf der Erde stehen und den Himmel berühren. Einst hatte er davon geträumt, jener Mann zu sein, doch je älter er geworden war, desto deutlicher hatte sich ihm offenbart, dass er nicht einmal seine Welt hinter sich konnte lassen, um jenen Punkt zu erreichen. Nun träumte er davon, dass Quintus den Himmel berührte und kantige Schatten darauf verteilte, dass Leontia mit feinem Pinselschwung flaumige Wolkentupfen dorthin malte, und manches mal gar träumte er, dass er endlich auszog, es ihnen gleich zu tun.

    Ein leichtes Flimmern lag in der Luft, reagibel erzitterten die Partikel der Ambiance im Flirren der nachhallenden Ekstase, tauchten die Salier in eine Couleur aus glückseligem Taumel und durchzogen die Szenerie mit einem feinen Odeur nach purpurner Verzückung. Jeden Lufthauch konnte Gracchus in sich spüren, ein frischer Nebel, welcher durch seine Nase sich schlängelte, am Gaumen vorbei schlich und diesen kitzelte, um schlussendlich zärtlich durch seine Lungen zu streichen und von dort aus in jeder Pore seines Körpers ein euthymisches Kribbeln zu kreieren. Schimmernd zog ein zarter Film aus salzigen Perlen sich über seine Haut, ließ einzelne Haarsträhnen aneinander kleben und verstärkte nur mehr die wohlige Empfindung, welche das langsame Abklingen der Raserei seines Blutes durch seine Adern begleitete. Epiphan schien in diesem Augenblicke sein Vetter, welcher den salii palatini voran stand und nun seine Krieger mit prüfendem Blicke sondierte, während unweit der Rex Sacorum sich anschickte das Opfer einzuleiten. Obgleich zu Beginn der Tänze stets das Schild schwer in Gracchus' Hand lag, der Körper im Reigen bis an seine Grenze wurde geführt und die Füße am folgenden Tage ob des stampfenden Schrittes zu schmerzen beliebten, so war es stets nicht nur Pflicht und Ehre, gemeinsam mit der Sodalität die traditionellen Feiertage zu begleiten, sondern ebenso ein Rausch unermesslicher Verzückung, dem sonstig so fernen Mavors in solcherlei Weise nahe zu sein.

    Zu militärischen Feinheiten bezüglich verlustiger Kommandanten wollte Gracchus nicht großartig sich äußern, immerhin war dies ein Gebiet, welches ihm beinahe ebenso fern lag wie das tiefgründige Wesen der Weiblichkeit, zudem hatte der verlustige Legat Decimus unter der Order und Führung des Imperators persönlich gestanden, so dass unbezweifelt bereits ob seines Verbleibes war nachgeforscht und alle erdenklichen Maßnahmen bezüglich seines Verschwinden waren unternommen worden. Es galt darob sicherlich einzig, die Information nach Rom hin einzuholen, anderes war mitnichten undenkbar.
    "Eine Kontaktaufnahme mit dem Legaten Tiberius Vitamalacus sollte unser erstes Ziel dabei sein, um die genauen Umstände ob des Verschwinden des Legaten Decimus zu ermitteln. Als Senator und Vetter des Vermissten erscheint mir Senator Decimus Meridius geradezu prädestiniert, sich dieser Sache im Namen des Senates anzunehmen."

    Andächtig - wie der Onkel mit dem Neffen - standen die beiden Flavier - der Onkel mit dem Neffen - vor dem Opfergeschehen und erwarteten in ihre eigenen Gedanken versunken das Ergebnis der Divination. Jenes fiel, wie kaum anders zu erwarten, positiv aus, denn so nicht gerade der Haruspex ungustiös faulige Organe aus dem Tier würde ziehen, so stand bei einem solchen Opfer, an welchem viele einfache Bürger Anteil nahmen, stets zu erwarten, dass die vitalia wurden schön gelesen, so sie dies nicht ohnehin waren. Erleichtert, so als wüssten sie dies nicht, strömten die Zuschauer nachfolgend von Dannen, um ihren eigenen Anteil an der Verehrung der Verstorbenen zu leisten. Gracchus drehte sich zu seinem Neffen Lucanus und legte seine Hand ihm auf die Schulter.
    "Möchtest du mich zum flavischen Grabmal vor der Stadt begleiten? Auch wenn deine nächsten Anverwandten in Hispania bestattet wurden, so fanden dort einige Mitglieder deiner Familie ihre letzte Ruhe."
    Zu viele indes, welche noch nicht allzu lange dort bestattet waren.
    "Und wie die Götter, so binden auch die di parentes ohnehin sich nicht an einen Ort."
    Favorablerweise war dies eben so, andernfalls hätte Gracchus niemals Ruhe gefunden ob dessen, dass seine geliebte Base samt seines Zwillings irgendwo am Grunde des Meeres wäre auf Ewig gefangen.

    Divergent zu seinem Vetter hatte Gracchus keinerlei Bedenken in Hinsicht auf Lucanus' Entscheidung, sich vorwiegend dem cultus Iunonis widmen zu wollen, denn nicht nur, dass die Ausübung des Kultes seiner Ansicht nach ohnehin sich nicht auf einen einzigen Kult ließ beschränken - weshalb ihm stets widersinnig erschien, dass dies eben so wurde gehandhabt -, war Iuno gleichsam zudem Teil der göttlichen Trias, welcher vor allen anderen stets die größte Aufmerksamkeit des Staates zukam, so dass Lucanus Teil eines der prestigeträchtigsten Kulte würde werden und sicherlich das ein oder andere gewichtige Opfer würde leiten können - geradezu mehr als sicher war Gracchus sich dessen, da das Collegium Pontificium nicht unerheblichen Einfluss auf solcherlei konnte nehmen.
    "Eine äußerst begrüßenswerte Entscheidung."
    Ein wenig hatte Gracchus befürchtet, Lucanus würde bereits in den Cursus Honorum streben wollen, doch schien er ihm hierzu noch etwas zu unkonzentriert und gleichsam fremd im öffentlichen Leben Roms, so dass es nicht einfach wäre gewesen, die übrigen Senatoren von ihm zu überzeugen, gleichwohl im Falle des Falles Gracchus keine Kosten und Mühen hätte gescheut, denn bisherig hatte sich bei Lucanus nicht ergeben, dass jegliche Hilfe er geneigt war abzulehnen, wie sein Onkel Aquilius dies nur allzu gerne tat.
    "Welche Thematik beinhaltet dieses Forschungsprojekt, welchem du dich widmest?"
    Es war dies der Vorzug der unbeschwerten Jugend, sich solcherlei hin zu geben, denn sobald ein Mann erst in den Mühlen seiner Ämter war gefangen, so blieb selten Zeit und Muse extensive Forschung zu betreiben, ein Umstand, welcher nach Gracchus' Auffassung weit mehr als desolat, ja geradezu deplorabel musste betrachtet werden, denn was konnte sub specie aeternitatis neben dem intensiven Studium epischer Wortmelodien den Geist mehr reizen, denn etwa die Betrachtung der Solözismen im Schriftbild sarmatischer Gedenkschriften oder die Expertise gesammelter vorsokratischer Werke bezüglich paleographischer Details und kodikologischer Finessen?