Beiträge von Manius Flavius Gracchus

    Mit dem ersten Wort seines Vetters strauchelten Gracchus' Absichten bereits, er stockte und hielt beinahe den Atem an. Einige Herzschläge lang schloss er die Augen, spürte Aquilius' Näherkommen, spürte die starke Präsenz, welche von ihm ausging, spürte den Geliebten in seinem Rücken. Er drehte sich um, blickte endlich dem Vetter in die Augen, schüttelte traurig den Kopf.
    "Ich weiß nicht, Caius, ich weiß nicht mehr wohin. Alles läuft aus den geplanten Bahnen, zerrinnt mir zwischen den Fingern, löst sich in Staub auf, sobald ich danach greife. Ich habe das Gefühl, ich verliere ... "
    Der Verstand war es, was er glaubte ob all dessen verlieren zu müssen, doch sprach er dies nicht aus.
    "Ich glaubte, mich an jene Werte festhalten zu können, welche mein Vater mir gab, welche mein Vater mir aufzwang, glaubte wenigstens in der Pflicht bestehen zu können, war es doch das, zu was er mich sein Leben lang drängte und was ich glaubte beweisen zu müssen. Doch nachdem dies zu keinem Ziel führte, auf keinem Weg, klammerte ich mich verzweifelt an das, was ich immer geglaubt hatte, dass dies noch viel wichtiger sei, die Familie. Doch alles zerbricht, was mir wertvoll ist."
    Verzweiflung spiegelte sich in den Tiefen seiner Augen, jene Verzweiflung, welche ihn seit Wochen gefangen hielt, seit dem Fluch Arrecinas, seit sich mehr und mehr abzeichnete, dass er in seiner patrizischen Pflicht hatte versagt, seit jenem verhängnisvollen Zusammentreffen mit Caius, seit Quintus aufgetaucht war, seit er von dessen und Leontias Tod wusste.
    "Ich weiß nicht mehr wohin, Caius. Es bleibt keine Flucht in die Pflicht, denn sowohl im Cursus Honorum als auch im Cultus Deorum kann ich nicht fortführen, was ich begonnen habe, ohne ein blamables Bild für die Familie zu bieten. Auch das Militär bietet keinen Fluchtweg, denn du weißt, dass ich dies nicht kann. Und hier, hier zerstöre ich nur was mir wichtig ist. Es ist ... es ist dieser Fluch, Caius, ich werde ihn nicht los und er reißt all jene ins Verderben, die mir teuer sind. Leontia, sie ... wenn es je eine Frau gab, welche ich vergötterte, so war sie es. Sie war ... sie war eine Muse, meine Muse. Seit jenem Tage der Bestattungsfeier Onkel Corvinus' als sie sich zu mir in die Bibliothek gesellte wo ich in den Schriften des Platon las, wo unsere Geister gemeinsam auszogen die Geheimnisse seiner Gleichnisse zu entdecken, seit jenem Tage waren mir die Worte in ihrer einfachen Aneinanderreihung nicht mehr genügend. In Gedanken an Leontias reinen, unschuldigen, beinahe epiphanen, jungfräulichem Geist, ihre ungetrübte Neugier und ihr unbeflecktes Wesen wollte ich stets Perfektion in das Bild meiner Schrift bringen, wollte ich mit der Klangfarbe der Worte ein Gemälde erschaffen, mit ihren Silben ein Lied spielen, nur um ihres Wesen gerecht zu werden. Als sie in Rom eintraf fürchtete ich ihre Nähe, befürchtete in ihrem Angesicht nicht bestehen zu können. da ich niemals dazu fähig sein würde, meine Worte wie in Briefen zu novellieren, und doch beflügelte ihr Anblick meinen Geist nur noch mehr, trieb mich an und meine Schriften voran. Doch nun wird mein Geist keine Ruhe mehr finden, die Schriften werden kein Ende finden, denn wie könnten sie dies ohne Leontia, werden sie ohne ihren Geist doch nur ein leerer Kelch sein. Sie ist hinfort aus diesem Leben, meinetwegen, weil sie mir vertraute, und Quintus ist hinfort, weil er ich war. Wie soll das weitergehen? Ich weiß nicht mehr wohin, Caius, ich würde fortlaufen, doch ich weiß nicht wohin."
    Er sog die Luft ein, den herben Odeur seines Vetters gleichsam, welcher sogleich Reminiszenzen an Vergangenes in ihm erblühen ließ. Eines nach dem Anderen, dies war es, was Furianus ihm hatte geraten, und er klammerte sich verzweifelt daran.
    "Ich werde für Leontias ordnungsgemäße Bestattung Sorge tragen, im Kreise der Familie nur, doch ihre Gaia muss Ruhe finden. Ebenso der Genius Quintus', es ist das Mindeste, was ich ihm schulde. So denn ihm im Leben sein rechtmäßiger Platz verwehrt blieb, wird er ihn zumindest nach dem Tode erhalten."

    ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~

    Eisig kroch der scharfe Wind über die karge Ödnis der ausgedörrten Felder, schwarzfarben und von öliger Konsistenz lag das Wasser in flachen Pfützen, ein durchdringender Geruch nach fauligem Gewelk lag in der Luft. Graufarben schoben sich schwer die düsteren Wolken über den blassen Himmel hinweg, von Blitzen durchzuckt in ihrem rotfarbenen Schein, vom nahen Grollen des Donners begleitet. Auf einem unbequemen, scharfkantigen Stuhl inmitten dieses tristen Bildnis saß Gracchus, unfähig sich zu lösen aus der traurigen Starre. In warmen Tropfen, blutrot und von eben dieser Konsistenz, fiel der Regen vom Himmel aus den über ihm ziehenden Wolken, benetzte das rissig und furchenreiche Erdreich unter sich. Schmale, rotfarbenen Fäden zogen sich über die Landschaft, vereinigten sich zu reißenden Bächen, und wo das Leben von Leontia und Quintus zusammen floss, dort erwuchs ein gewaltiger Sturzbach, Strom tausend blutender Wasser, ungebändigte Gewalten, reißender Tod. Obgleich für den Sterbenden der Tod nur war ein neuer Anfang im Leben, nur das Ende eines Kreislaufes und gleichsam Beginn, so blieb für jene, welche sie zurück ließen, nur triste Hoffnungslosigkeit, trauriges Verharren, und wo einst der Duft Tausender und Abertausender Mandelblüten die frisches Sommerluft durchzog, wo Ranken sich wandten grünfarben über die fruchtbare Erde, wo aus Keimen Triebe sprossen und aus Trieben Wunderwerk wuchs, wo kein Flecken Erde war unbeseelt und kein Gedanke nicht in Eleganz gebadet und mit Brillianz verziert, dort blieb nun nur grenzenlose Leere zurück, schöpferische Abwesenheit von Sinnen und buchstabenferne Bedeutungslosigkeit.

    ~~~


    Behutsam schüttelte Sciurus seinen Herren an den Schultern. "Wach auf, Herr. Es ist schon spät, die Sonne geht bereits auf." Grummelnd drehte sich Gracchus und zog die Decke enger um die Schultern.
    "Die Sonne ... was kümmert mich die Sonne?"
    murrte er, ohne die Augen zu öffnen.
    "Der Tag ist ohnehin vergeudet, sinnfrei und leer. Ich habe geträumt, Sciurus, vom Garten der Musen."
    Nun öffnete Gracchus seine Augen, blickte den Sklaven verschlafen an.
    "Er ist leer, Sciurus. Leer und verdorrt."
    "Du musst dich zusammenreißen, Herr. Man erwartet von dir ..."
    "Schweig!"
    fuhr Gracchus ihm ins Wort.
    "Sage mir nicht, was man von mir erwartet! Ich weiß, was man von mir erwartet!"
    Das Thema war damit beendet, Gracchus drehte sich um und versuchte weiter zu schlafen, was ihm jedoch nicht recht gelingen wollte, so dass er sich kurze Zeit später aus dem Bett quälte und Sciurus in seiner morgendlichen Tatenreihe gewähren ließ. Der Sklave versuchte erneut, seinen Herrn zur Raison zu bringen. "Du wirst noch träge, Herr, wenn du nicht endlich diesen Defätismus ablegst. Du solltest dich um eine Aufgabe bemühen."
    "Träge? Träge! Ich verliere meine Sinne! Es bringt mich um den Verstand! Wohin ich auch blicke, entweder sehe ich in tote Gesichter oder ich sehe in Gesichter, deren größtes Unglück ich bin!"
    "Eben darum, Herr, du solltest mit deinem Vetter dem Patron sprechen. Eine Aufgabe würde dich auf andere Gedanken bringen."
    "Mit Felix? Was könnte er schon tun? Soll ich der nächste Flavier sein, welchem sie ein Quindecimvirat anbieten? Lächerlich und blamabel zugleich, lieber sitze ich untätig hier herum und gebe langsam meinen Geist auf! Auch die Erwartungen, und mögen es diejenigen der Ahnen sein, können nicht verhindern, dass ich dort hängen bleibe, wo es nicht mehr weiter geht. Was ich auch tue, was mir möglich ist, es wird einer Schmach gleichkommen, welche noch größer ist als die Trägheit, denn sie wird öffentlich sein. Du hast doch Agrippina vernommen, ich kann nicht mehr zurück, doch nach vorne gibt es keinen Weg. Also was, du einfältiger Tor, soll ich tun?"
    Sciurus antwortete nicht.
    "Ja, schweig nur! Geh mir aus den Augen und trage dafür Sorge, dass das Wasser warm ist! Los, spute dich, bevor ich mich vergesse!"
    Der Sklave eilte sich aus dem Zimmer seines missgelaunten Herrn zu kommen. Gracchus ließ sich seufzend auf der Bettkante nieder und massierte sich die Schläfen. Das schlimmste war, dass Sciurus Recht hatte, doch eine Antwort bot er ebenfalls nicht. Wenn nur die Bestattung Leontias und Quintus' schon hinter ihm läge, wenn nur all dies ihn nicht noch des Nachts würde quälen, wie es dies am Tage bei Sinnen schon zur genüge tat, wenn nur dies nicht alles wäre so furchtbar verworren.


    Sim-Off:

    edit: Korrektur unverzeihlicher Fehler

    ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~


    Oh schaurig ists durch die Wüste zu gehn,
    Wenn es wimmelt von Skorpionengezücht,
    Sich wie Fata Morganen die Winde drehn,
    Die Sonne sich in Sandkörnern bricht,
    Unter jedem Tritte eine Verwehung entspringt,
    Wenn aus dem feinen Staube es zischt und singt,
    O schaurig ists durch die Wüste zu gehn,
    Wenn der Wind leise kinsternd spricht!


    Fest hält die Fibel der zitternde Mann
    Und rennt, als ob man ihn jage,
    Hohl über die Fläche rennt er alsdann -
    Doch was treibt ihn an ist die Frage?
    Es sind die Larven der verstorbenen Ahnen,
    Die mit durchdringlichen Worten mahnen;
    Hu, hu, irre wers hören kann,
    Hinducket das Männlein zage.


    Vom Sande starret das Korn hervor,
    Unheimlich nicket die Leere,
    Gracchus rennt, gespannt das Ohr,
    Durch glühenden Sand wie Speere;
    Und wie es rieselt und knistert darin!
    Das ist die Schicksalsspinnerin,
    Das sind die Seelen ohne Ehre;
    Die die Messer wetzen im Geröhre!


    Voran, voran! Nur immer im Lauf,
    Voran, als wollt es ihn holen!
    Vor seinem Fuße wirbelt es auf,
    Es pfeift ihm unter den Sohlen
    Wie eine gespenstische Melodei;
    Das ist der Fährmann ungetreu,
    Da kommt der diebische Hades hinauf,
    Der die Proserpina hat gestohlen!


    Da birst die Wüste, ein Seufzer geht da
    Hervor aus der klaffenden Höhle;
    Weh, weh, da ruft die verdammte Leontia:
    "Ho, ho, meine arme Seele!"
    Gracchus springt wie ein wundes Reh;
    Wär nicht Fortunen in seiner Näh,
    Seine bleichenden Knochen fände spät
    Ein Gräber im Wüstengeschwele.


    Da mählich gründet der Boden sich,
    Und drüben, neben der Marmorbüste,
    Die Lampe flimmert so heimatlich,
    Zeigt auf die Schwelle zur Süße.
    Tief atmet Gracchus, zur Leere zurück
    Noch immer wirft er den scheuen Blick:
    Ja, im Sande wars fürchterlich,
    O schaurig wars in der Wüste!*
    ~~~


    Doch auch die marmorne Büste löste sich langsam auf, Gracchus spürte das Beben seines Körpers und öffnete träge die Augen. Schweiß stand ihm auf der Stirne, gleichsam walllte Kälte durch seinen Körper. Sein Leibsklave Sciurus hatte ihn bei den Schultern gepackt und so lange an ihm gerüttelt, bis er den Träumen entrissen war. "Herr, wach auf. Du hast schon wieder nach ihr gerufen. Wenn du weiter jede Nacht ihren Namen rufst, dann wird dies nicht unbemerkt bleiben und früher oder später für Gerüchte sorgen." Die Worte des Sklaven drangen kaum bis zu Gracchus vor, noch immer war er halb im Schlafe gefangen, murmelte nur unverständliche Worte, welche mit Leontia begannen und mit Leontia endeten, und sank dann zurück in die Reiche des Traumfürsten.



    Sim-Off:

    *'Der Patrizier in der Wüste', ausgeliehen von und angelehnt an 'Der Knabe im Moor'.

    Die Flammen mehrerer Öllampen erleuchteten den Raum in einem goldfarbenen Ton, warfen tanzende Schatten über den mit dunklem Teppich belegten Boden, zogen weiche, fließende Übergänge zwischen Licht und Schatten, ließen gleichsam eine Hälfte von Gracchus' Gesicht in Dunkelheit ruhen, da er den Blick nach unten hatte gewand, einer Schrift entgegen, welche einen Brief hatte zum Inhalt, einen Brief an Leontias Vater Aetius. Sobald jener würde herausfinden, um was Gracchus ihn bitten wollte, so es dazu würde kommen, würde er dies ihm absprechen, dessen war Gracchus sich sicher. Eine Wahrheit nicht auszusprechen, dies kam einer Lüge gleich, doch Gracchus sah sich bereits selbst viel zu tief in einem Netz aus Unwahrheiten, Ausreden und Täuschung verheddert, als dass jene kleine Unterschlagung der Wahrheit, welche in jenem Brief geschrieben war, noch würde ins Gewicht fallen, besonders, da jene kleine Unterschlagung nichts tatsächlich wichtiges betraf, denn nur eine Sklavin. Er blickte auf und mit einem Wink aus dem Handgelenk heraus hieß Gracchus eben diese Sklavin, Salambo, ein wenig näher zu kommen, so dass er sie genauer in Augenschein konnte nehmen, denn bisherig war sie ihm nur höchstens nebenbei einmal ins Auge gefallen. Sie war von schlankem Wuchs, für eine Frau nicht groß, jedoch auch nicht klein, ihre Brüste zeichneten sich rund und fest unter ihrem Gewand ab, ihr Hintern war flach, und obgleich sie eine durch und durch weibliche Erscheinung aufwies, so fehlten ihr die ausgeprägt üppigen Rundungen einer römischen Matrone, was Gracchus' Ansinnen jedoch nur entgegen kam. Mit ihrer gebräunten Haut, den dunklen Augen und dem dunklen Haar entsprach sie nicht unbedingt seinem Typ, doch da sie eine Frau war, war dies ohnehin ein wenig schwer und immerhin war er nicht auf der Suche nach einer Geliebten, so dass ihre Erscheinung alles in allem durchaus agreabel war.
    "Nimm Platz."
    wies er sie an und haderte mit sich selbst, ob es antizipierend würde sein, ihr einen Namen zu geben, oder ob sie weiterhin eine Sklavin wie alle anderen sollte sein.
    "Du wurdest sicherlich bereits unterrichtet, dass deine Herrin Leontia den Styx überquert hat."
    Dass die Sklavin ob dessen könnte Trauer verspüren, dies kam Gracchus nicht im Ansatz in den Sinn, da er ihr, wie allen anderen Sklaven auch, tiefgehende Gefühle ohnehin absprach. Zudem hatte sie ohnehin kein Recht, um Leontia in gleichem Maße zu trauern wie er dies beispielsweise tat, und darum auch kein Recht auf Rücksichtnahme auf ihre Empfindungen.
    "So schwer dies für uns zu akzeptieren sein mag, so bedeutet dies für dich doch weitreichende Konsequenzen, welche weit über Trauer und Verlust hinaus gehen. Obgleich du ohnehin all die Zeit in Aetius' Besitz standest, so wird er nun vermutlich bald veranlassen, dass die Besitztümer seiner Tochter zurück nach Ravenna überführt werden. Ich kann dir wohl assekurieren, dass ein Kleinod wie du seine vollste Aufmerksamkeit wird finden."
    Vermutlich würde Salambo eines von Aetius' persönlichen Spielzeugen werden. Allein die Vorstellung wie Leontias Vater sich einen Stall voll Lustsklavinnen hielt, degoutierte Gracchus aufs schärfste, die Genusssucht seines Onkels war aus seiner Sicht unbeschreiblich und äußerst blamabel für einen Mann seines Standes.
    "Du wirst in seine Besitztümer eingehen, eine von vielen sein, und so er denn keinen Gefallen mehr an dir findet, als namenloses, gesichtsloses Wesen in der Culina seines Hauses enden."
    Er lehnte sich zurück und verschränkte die Hände vor sich ineinander, gab ihr ein wenig Zeit, sich jenes Bildnis vor Augen zu visualisieren, und betrachtete die Reaktion des Wesens vor sich. Er erwartete er nicht, dass sie würde sprechen, da sie noch nicht dazu aufgefordert worden war, doch er begutachtete genauestens jede ihrer Regungen, welche im schummrigen Licht der Öllampen zu erkennen war. Ein wenig Druck war nie verkehrt, denn obgleich sich Gracchus nur sehr ungern solcher Maßnahmen bediente, so wusste er doch, dass dies womöglich notwendig war, war sein Anliegen doch kein geringes.

    ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~

    Weißfarben durchbrachen die schimmernden Segel den graufarbenen Nebel, zerteilten den wabernden Dunst und gaben den Blick frei auf die epiphane Gestalt, welche langsam und bedächtig die Planke des silbrig glänzenden Schiffes hinab stieg, bis dass ihre schmalen Füße den festen Boden erreichten. Mit einem Lächeln auf den Lippen ergriff Gracchus die dargebotene, bleiche Hand und führte seine Base in den Halbkreis der neun wohlgestalteten, blassen Frauen aus weißfarbenem, makellosen Stein, bemalt mit den Farben der Sonne. Entzückt betrachtete Leontia die blühenden, blaufarbenen Blumen in Händen der Musen, welche beim Anblick ihres Hauches erfreut ihre Blätter spreizten und sich der wohligen Wärme hingaben. Wie Gracchus nach ihr in den Kreis trat, bemerkte er, dass längstens nicht mehr sein eigen Ich ihm inne wohnte, wie ein animalisches Gelüst von seinem Innersten Besitz ergriff, seine Person bei Seite drängte und seinen Körper für sich beanspruchte. Nicht mehr er streifte mit den Spitzen seiner Finger erst über den blassen Stein der Musen, nicht mehr er berührte sodann das weiche, weißfarbene Fell seiner Base, strich über die zarten Ohren, welche zu dem Lamm gehörten, welches Leontia geworden war. So unschuldig und rein stand das Geschöpf vor ihm, makellos, dass alles in ihm danach drängte, seine Zähne in seine Kehle zu stoßen und in Stücke es zu reißen. Wie ein gieriger Episit stürzte sich der Wolf, der er geworden war, auf das unschuldige Lämmlein, welches mit großen, erwartungsvollen dunklen Augen seinem Kommen entgegen sah, riss seine Raubtierzähne in die Kehle seiner Beute. Das rotfarbene Blut schoss in ungebändigtem Strom aus Leontias Kehle, der Fluss wollte kein Ende nehmen, füllte längstens die Opferschale zu ihren Füßen und ließ sie überquellen. Mit leerem Blick ließ Gracchus das schlichte Opfermesser in seinen blutüberströmten Händen sinken, drehte sich zu den schweigenden Musen um und las in ihren Augen, dass keine litatio würde verkündet werden. Er hatte Leontia geopfert, völlig vergeblich.

    ~~~


    Schweißperlen liefen über Gracchus' Schläfen, als er, geweckt von Sciurus, mitten in der Nacht aufschreckte. Von Furcht ergriffen wühlte er sich aus der Decke, den Sklaven kaum beachtend, blickte an sich herab, blickte im Dämmerlicht auf seine Hände, erwartete sie blutüberströmt, strebte zu der silbernen Waschschüssel auf einem kleinen Tisch nahe des Fensters, tauchte seine Hände in das kühle, bald eisige Wasser und rieb sie panisch aneinander, um den unsichtbaren Lebenssaft von sich zu waschen. Noch als er sie trocknete, als er sich mit leerem Blick zurück auf das Bett ließ sinken, konnte er das Blut an seinen Händen spüren, und lange fand er hernach keinen Schlaf.

    Entgegen seinen Vermutungen hatte Sciurus die Sklavin Salambo im römischen Haushalt der Flavia vorfinden können. Sie war bereits kurz nach Leontias Aufbruch in die imperiale Hauptstadt zurückgekehrt und war unauffällig ihren Aufgaben nachgegangen, welche in Abwesenheit ihrer Herrin nicht unbedingt beträchtlich waren. An diesem Tage hatte Gracchus' Leibsklave das anmutige Geschöpf im Garten aufgetrieben, er hatte sie angewiesen, sich ansehnlich zurecht zu machen und ihn zu seinem Herrn zu begleiten, welcher nach ihr hatte verlangt. Beiläufig nur hatte er den Tod Leontias erwähnt, da sich solcherlei ohnehin schneller im Hause herum sprach als dies zu verhindern war, ging er davon aus, dass sie bereits darum wusste. Was er jedoch nicht wusste, was ihn darum aufs äußerste ärgerte, war, was sein Herr von der Sklavin wollte. Doch vermutlich hatte Leontia ihn irgendwann einmal darum gebeten, im Falle ihres Ablebens für ihre Leibsklavin Sorge zu tragen, womöglich gar mit ihrer Entlassung in die Freiheit. Sciurus beneidete Salambo in keinster Weise, beinahe hätte er sie gar bedauern können, doch soweit kam es nicht. Er wies die Sklavin an, auf dem Gang zu warten, und betrat das Arbeitszimmer seines Herrn. "Die Sklavin deiner Base, Salambo, ist hier, Herr."
    "Lass sie eintreten."

    Stille verharrte im Raum, legte sich wie eine Decke aus Einigkeit über die beiden Eheleute, fegte gleichsam jegliche Fragen hinfort, denn Gracchus konnte nicht die Stille durchbrechen, konnte nicht nun seinen Pflichten nachkommen, nachdem ihm noch immer Leontia in den Sinnen hing, konnte sie nicht bei Seite schieben, gleichsam nicht Antonia missbrauchen, um mit ihr den Gedanken an seine Base zu verdrängen. Sie waren bereits zu lange verheiratet, als dass dieser eine Tag nun jenen Zeitpunkt würde markieren, welcher ihr Versagen würde offensichtlich zu Tage bringen. Obgleich es Gracchus danach drängte, irgend etwas zu sagen, irgend etwas, um die Misere zwischen ihnen zu beenden, welche sich bereits zu lange aufrecht hielt, nur ein Wort, ein Gedanke, schwieg er dies aus, flüchtete sich in weitere Belanglosigkeiten.
    "Mit der Verwaltung der Güter hattest du keine Schwierigkeiten?"
    Es war dies im Grunde tatsächlich etwas, was ihm Sorge bereitet hatte. Natürlich durfte er von seinem Weibe erwarten, dass sie für solcherlei wirtschaftliche Belange Sorge trug, doch da sie mit ihm in einer Ehe ohnehin schon genug Last zu tragen hatte, würde er im erneuten Bedarfsfall einen Verwalter einstellen.

    ~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~

    Ein wenig verloren durchwanderte Gracchus die leeren, graufarbenen Gänge, trat stillschweigend über den blassen, steinernen Boden hinweg und lauschte dem hohlen Hall seiner eigenen Schritte, welcher von den nackten Wänden zurück fiel. Er war zuhause, dies war sein eigenes Gedankengebäude, es war ihm so vertraut, dass er es in jedem Traume wiedererkennen würde, und doch war er fremd hier, denn es war der Flügel, in welchem sein nur so wenig gekannter Bruder innewohnte. Bedächtig schoben sich blasse, schmale Finger in sein Blickfeld, umfassten den metallenen Knauf einer Türe vor ihm. Mit der Berührung und dem Empfinden der Kälte auf seiner Haut überkam ihn die Erinnerung, dass dies seine eigene Hand war, welche die Pforte öffnete und in den Raum hinein aufstieß. Ein Lachen drang aus einer der Ecken hervor - es war sein eigenes und doch war es dies nicht, auf dem Fußboden lag ein einfaches Messer, blitzte im Licht der durch ein schmales Kellerfenster in den Raum fallenden Abendsonne.
    "Quintus?"
    fragte Gracchus vorsichtig in den Raum hinein. Doch nur die blendende Stille tönte all zu laut durch die Leere hindurch und ließ Gracchus frösteln.
    "Quintus?"
    fragte er noch einmal, ohne zu wissen, nach wem oder was er suchte, bevor er sich umdrehte und sich selbst gegenüber stand.
    "Quintus ist tot"
    , sprach er.
    "Ich bin Quintus"
    , entgegnete er sich selbst.
    "Ich bin Gracchus"
    , beharrte er.
    "Manius"
    , fügte er hinzu.
    "Quintus ist Gracchus."
    "Wie Manius."
    "Er ist tot."
    "Er ist untergegangen."
    "Quintus?"
    "Oder Manius?"
    "Gracchus."
    "Er ist tot."
    "Einer oder beide?"
    "Einer."
    "Oder beide."
    "Und ich?"
    "Du bist Gracchus."
    "Welcher?"
    "Manius."
    "Oder Quintus."
    "Beide."
    "Oder einer."
    "Oder keiner."
    Längstens stand er einem Dutzend seiner eigenen Persönlichkeit gegenüber, ein jeder Quintus oder Manius oder beide, ein jeder das gleiche Antlitz, die gleiche Stimme, die Haltung, der Gang, die Augen - sprachen sie alle durcheinander, ob Manius oder Quintus oder Gracchus oder beide oder einer, und es wurden mehr und mehr, sie drängten ihn aus seinen eigenen Gängen hinaus, aus seinem eigenen Heim, immer mehr, ob Gracchus oder Manius oder Quintus oder beide oder einer oder noch mehr.

    ~~~


    Aufstöhnend wälzte sich Gracchus in seinem Bett herum, bis endlich die Realität ihn einholte und die Augen er aufschlug. Dunkelheit umfasste ihn, es war mitten in der Nacht. Langsam drehte er sich um und erschrak, denn Sciurus, sein Leibsklave, saß auf einem Schemel neben der Türe und blickte ihn aus seinen gewöhnlich blaufarben, doch nun im Dämmern der Nacht wie alles andere graufarbenen Augen an. "Du hast dich im Schlaf herumgewälzt, Herr. Schlaf weiter, es war nur ein Traum."
    "Schläfst du denn nie?"
    "Nein, Herr, wie sollte ich sonst über dich wachen?"
    Da er zu müde war, um über solcherlei nachzudenken, gab Gracchus nur ein unverständliches Brummen von sich und drehte sich um.
    "Komm zu mir, und pass auf, dass niemand in den Westflügel geht. Ich bin dort zu oft."
    Obwohl der Sklave nicht verstand, was sein Herr, welcher noch immer halb im Traume gefangen war, mit seinen Worten zum Ausdruck bringen wollte, stand er auf und legte sich neben Gracchus ins Bett, welcher bereits wieder die Augen geschlossen hatte und mit flachem Atem dem Schlaf verfallen war.

    Die Worte seines Vetters schossen durch den Raum, zielten auf Gracchus Innerstes ab und ließen sein Herz in einem dumpfen Schlag zerbersten. Er hatte alles verloren - Leontia, seinen Zwilling, sich selbst und nun auch noch Caius. Mit zitternden Händen ergriff er den Stuhl, welcher Aquilius gegenüber stand, ließ sich hernieder sinken, versank gleichsam in der Tiefe endloser Ödnis, war nicht nur durch den Schreibtisch getrennt von seinem Vetter, nicht nur durch die Mauer, die sie sich hatten errichtet, sondern durch ein Leben, durch nichts geringeres als sich selbst. So bohrte sich denn noch immer der Splitter durch sein Leben, welchen einst der Fluch in sein Ich hatte getrieben, so ging ihm verlustig, was längst wichtiger war denn öffentliche Pflicht.
    "So sind wir uns doch noch immer ähnlicher, als du glaubst. Denn ich bot Quintus mein Leben, entgegen aller Zweifel über all jene Dinge, welche er damit anstellen mochte, nicht, um ihm zuzusehen, wie er mein Leben nutzt, sondern um dem meinen zu entkommen, um frei zu sein ... für dich."
    Seine Worte erstarben langsam. Die Hände in seinem Schoße zusammen gelegt, betrachtete Gracchus sich dabei, wie er seine Finger knetete, und unterdrückte das tiefe, innere Drängen, seiner Traurigkeit und dem Fluss seiner Tränen wie zu oft in den letzten Wochen erneut freien Lauf zu lassen. Mit heißerer, trockener Stimme fuhr er fort.
    "Er wollte es nicht, wollte nicht Manius Gracchus sein, nicht werden. Wer kann es ihm verdenken? Alle sehen sie nur immer den erfolgreichen Manius, Sacerdos im capitolinischen Tempel, Gatte der Claudia Antonia, erfolgreicher Viginitvir und Quaestor, auf bestem Weg ... ja, wohin? Dorthin, wo sie ihn sehen wollen, da oben, wo ein Flavius hin gehört, und sie erwarten, dass er ob dessen glücklich und zufrieden ist, dass er anerkennt, was er sein muss. Aber Quintus, Quintus konnte den wahren Mainus sehen, denjenigen, welcher dies alles nie wollte, er ließ sich nicht durch die Fassade täuschen, nicht einmal durch seine Machtgier, und das was er sah, das war es nicht wert, es einzutauschen, nicht einmal gegen das darbende Leben in der Subura oder in Piraterie. Vielleicht braucht es den Ursprung aus einem Punkt, um dies zu sehen, vielleicht sind zwei, wie wir es waren, tatsächlich nur ein Ganzes, aufgeteilt und doch zusammen gehörig. Und nun ... nun ist noch weniger übrig und kein Mensch wird um ihn trauern. Wie sollte ich nicht an Vergangenem festhalten, wo doch in der Gegenwart, in der Zukunft fehlt, was mir, was dem Ich hinter der Fassade, mehr bedeutet als alles Amt und Würde, wo all das verloren geht, was ich wünschte?"
    Sein Blick hob sich von seinen Händen, er schaute starr zu Aquilius hin.
    "Er ist tot, untergegangen auf dem Mare Internum, ich konnte ihn nicht einmal mehr erreichen. Ich mag ihn nicht gekannt haben, und doch war er mein Zwilling und ich weiß, dass über alle Unterschiede uns mehr verband als nur unser Äußeres. Leontia ist tot, untergegangen, nicht durch seine Schuld, doch mit ihm auf dem Mare Internum, und ich hoffe so sehr, dass sie bis zuletzt glaubte, dass ich bei ihr war. Ich habe sie geliebt, Caius. Nicht wie ich dich liebe, nicht gekrönt mit all dem körperlichen Sehnen, doch mit allen Sinnen meines Geistes. Und du, Caius? Du bist nicht tot und doch sitzt du vor mir, als wärst du ein Fremder, als wäre ich ein Eindringling in deinem Leben, und ich habe das Gefühl, dass auch zwischen uns alles tot ist. Und ich? Ich wünschte, ich wäre ..."
    Ein kalter Schauer jagte durch jede Faser in Gracchus' Körper.
    "Wo hat es begonnen, das ist die Frage, die ich mir noch immer wieder und wieder stelle. Ist Leontia tot, weil Quintus sie zu dieser Reise überredete? War Quintus dort, weil ich ihm mein Leben bot? Ist Leontia tot, weil sie glaubte, dass ich mit ihr ging? Ist Quintus tot, weil er versuchte, ich zu sein? Begann das alles bei mir und hätte es nicht mit mir ein Ende finden sollen? Ich habe sie verraten, habe mich selbst verraten, habe dich verraten, und doch sitze ich noch immer hier. Das ist mein Tod, Caius, das leise Sterben des Manius Gracchus hinter der Fassade. Es begann mit einem Fluch und es wird erst enden, wenn nichts mehr übrig ist, das es von ihm zu zerstören gilt."
    Langsam stand er auf, sich der Flucht zuwendend.
    "Was macht es noch für einen Unterschied, wer von uns zurück gekommen ist? Wohin zurück? Zu wem? Es bleibt ihm nur eine trostlose Fassade, eine leere Hülle ohne Inhalt. Vergiss den Manius, den du kanntest, denn ich habe dein Leben schon weit genug mit mir hinab gerissen. Du hast Recht, Caius, die Vergangenheit muss endlich vergehen und vergangen bleiben."
    Als er sich umwandte, der Türe zu, starb ein weiterer Teil von Manius Gracchus, leise, unbemerkt, doch für ihn gab es keine Zukunft mehr. Es drängte ihn danach, sich noch einmal bei Caius zu entschuldigen, um Verzeihung zu bitten, für das, was war, doch er schwieg, harrte einen Herzschlag aus und begrub jenes Verlangen mit sich selbst.

    Alles in Gracchus drängte danach, seinen Vetter zu umarmen, dessen vertraute Nähe zu spüren, doch er wusste, dass er dies nicht durfte verlangen, denn zu leicht würde es sie erneut in Schmerzen stürzen. Doch auch die körperliche Distanz zwischen ihnen konnte nicht verhindern, dass er Caius' Wesen begierig in sich auf sog wie ein Verdurstender das Wasser, selbst die kühle Art, mit welcher sein Vetter versuchte auch die innere Distanz zwischen ihnen zu wahren, konnte dies nicht, jene eisige Distanz zwischen ihnen, ob derer Gracchus bereits befürchtete, sein Vetter hatte ihm nicht verzeihen können was er getan hatte.
    "Viel zu deutlich erinnere ich mich. An das was ich tat und an das was ich nicht tat, und auch an jenes, um das ich dich bat. Doch bevor du erfüllst, was ich dir auferlegte, lass mich beginnen wie so oft, lass mich noch einmal um Verzeihung bitten, für das was ich bin, denn nichts drängt mich mehr als was zwischen uns steht, denn solange es zwischen uns steht scheinen mir selbst die letzten Wochen nur unbedeutend und wenn ich weiß, dass ich dich verloren habe, dann wird ohnehin nichts mehr von Bedeutung sein, so dass all das was folgen muss ich mir gänzlich ersparen kann."
    Das Lächeln schwand aus seinem Gesicht und wich Ernsthaftigkeit, welche die Verzweiflung in ihm verbarg.
    "Was geschehen ist, ist geschehen, du weißt um meine Schwäche, ebenso wie ich um die deine weiß. Dennoch dürfen wir nicht zulassen, dass es noch einmal soweit kommt, Caius. Ich habe einen Fehler begangen als ich meinen Schwur tat, es war nicht der erste in meinem Leben und mitnichten wird es der letzte gewesen sein, doch ich habe es getan und du weißt, dass ich nicht mehr einfach zurück kann als wäre nichts geschehen. Du weißt, dass wenn ich diesen Schwur breche, nichts mehr von mir übrig ist, dass der Manius, welchen du kennst, dann nicht mehr existiert. Ich habe diese Entscheidung damals getroffen und ein marginaler Teil von mir glaubt noch immer, dass es richtig war, während ein viel größerer Teil längst daran zweifelt und sich nichts sehnlicher wünscht, als dem nachzugeben, was mich seit Jahren drängt. Doch ich kann nicht, Caius, ich kann nicht zulassen, dass es noch einmal soweit kommt wie zuletzt, nicht auf diese Weise. Lass nicht zu, dass unsere ..."
    Es kostete ihn sichtlich Mühe und Überwindung, auszusprechen, was zwischen ihnen war, selbst hier in diesem Raum, mit keinem anderen als Aquilius vor sich.
    "...dass unsere Liebe überschattet wird von diesem Verlangen, denn sie ist zu rein, zu wertvoll, um sie zu opfern."
    Wie zum Verhör stand er noch immer im Raum, mied Aquilius' Blick und fuhr alsbald fort, um die letzten Worte aus dem Zimmer zu drängen.
    "So vieles schweift mir durch die Sinne, welches nur zwischen dir und mir existiert ... welches einst zwischen dir und mir existierte, was womöglich ich durch meine Leichtfertigkeit zerstört habe. Wäre es an mir, meinen Caius zu finden, so würde ich nicht einmal wissen, wo anzufangen. Doch hoffe ich, du findest einen Anfang, denn trotz dessen, dass ich im Bewusstsein meines selbst mir dessen sicher bin, dass ich selbst noch immer ich selbst bin - obgleich auch ein Teil von mir gegangen ist mit ihm, denn nur einer von uns ist noch übrig - so weiß ich doch, dass es für dich notwendig ist, dies zu prüfen."
    Ein desperater Ausdruck legte sich über sein Gesicht als Gracchus fragend zu seinem Vetter blickte.
    "Was ist das nur für eine verrückte Welt geworden, in welcher selbst du nicht einmal mehr dir sicher sein kannst, dass ich ich bin? Was ist nur aus der Welt geworden, die einst so einfach schien?"

    Nichts lag Gracchus ferner denn seinen Vetter mit seiner Anwesenheit zu überraschen, zu überrumpeln, und erneut eine jener devastativen Situationen herauf zu beschwören, in welche sie immer wieder hinein schlitterten, seit sie beide in Rom lebten. Aus diesem Grunde hatte er sich bereits bei Aquilius ankündigen lassen, sobald jener aus der Stadt von seinem Dienst in den Tempeln in die Villa Flavia zurück gekehrt war, für einen späteren Zeitpunkt jedoch, so dass seinem Vetter genügend Zeit blieb, sich ebenfalls mental auf dieses Treffen vorzubereiten. Gracchus wusste, dass ihm in seinem desolaten Zustand selbst alle Zeit der Welt nicht würde ausreichen, um ihn auf Caius vorzubereiten, doch gleichsam sehnte er sich nach jener Geborgenheit, welche sein Vetter ihm in Achaia immer hatte geben können, gleichsam war Caius noch immer der einzige Mensch, welchem bedingungslos sein Herz gehörte und der einzige Mensch, mit welchem er bedingungslos alles konnte teilen, selbst die schauderhaftesten Erkenntnisse und Erinnerungen. Er trug nur ein einfaches, blaufarbenes Gewand ohne größere Verzierungen, als er mit seinem Sklaven Sciurus das Arbeitszimmer seines Vetters betrat. Sciurus trug dafür Sorge, dass alle anderen Sklaven den Raum verließen, bevor er selbst die Türe hinter sich schloss, denn Gracchus wollte seinen Vetter mit niemandem teilen, nicht einmal mit Sklaven. Das goldfarbene Licht der Öllampe auf dem Schreibtisch, welche bereits entzündet worden war, flackerte mit dem Zug der Türe und leckte über Aquilius' Körper.
    "Caius."
    Ein wenig verloren stand Gracchus im Raume, und doch vermochte der Anblick seines Vetters, was wochenlang nicht war möglich gewesen, dass ein ehrliches, erfreutes Lächeln sich über seine Gesichtszüge schob, dass er mit einem Male wieder Hoffnung verspürte, dass die Welt in ihre Fugen zurück finden würde, wenn nur sein geliebter Vetter ihm noch einmal konnte verzeihen.

    Gleich seinem Vetter stand Gracchus auf, um jenen zu verabschieden, doch nichts hatte ihn auf dessen Handlung vorbereitet, ihn mit einer herzlichen Umarmung zu bedenken. Mehr nur als ein wenig überrumpelt erwiderte er diese Vertraulichkeit mäßig, musste gleichsam an sich halten und war darum froh, als sein Vetter, welcher eigentlich sein Neffe war, das Zimmer verlassen hatte. Zurück blieb ein zitternder Körper, wie eine Pappel im Herbstwind schwankend, der alsbald schwer zurück auf den Stuhl sich sinken ließ. Gracchus wünschte sich eine dicke Mauer um sich herum, auf dass nichts würde ihn berühren können, auf dass nichts würde ihn aus dem Gleichgewicht bringen können, nach welchem er sich so dringend sehnte, welches so unendlich weit fort und ungreifbar fern erschien. Langsam sank sein Oberkörper vornüber, bis endlich sein Kopf auf der Tischplatte landete und dort liegen blieb. Einfach alles war aus den Fugen geraten, seit jenem unsäglichen Tage der Entfluchung seiner Nichte - im Detail des dilettantischen Versuches jener Entfluchung - kumulierten sich die Ereignisse und potenzierten sich mit den beteiligten Handlungsteilnehmern - Caius, Quintus, Leontia, Minervina, Serenus, Furianus, Agrippina - so dass letztlich jedes Ereignis und jede Handlung in einer mehr oder minder gewaltigen Misere endete, manches mal ganz offensichtlich, manches mal tief verborgen, und Gracchus jede Ruhe und Harmonie raubte, derer er so verzweifelt versuchte habhaft zu werden, nach welcher es ihn so sehr drängte. Er musste die Dinge langsam angehen, eines nach dem anderen, Furianus indes hatte es bereits angedeutet, einen Stein nach dem anderen in das gewaltige Mosaik der Existenz einsetzen, auf dass letztlich das Gesamte wieder würde für ihn sichtbar werden.

    Zitat

    Original von Decima Valeria


    Sim-Off:

    Verzeihung.


    Vor den Göttern zählt, was wir im Herzen tragen. Es war dies, was er längst wusste, und was doch mit einem Male in sein Bewusstsein einschlug, jene Erkenntnis ob der eigenen Transparenz in diesem Hause, welche ihm augenblicklich als der schwerste Stein auf seinen Schultern, der abgrundtiefste Schlund seines Innersten erschien. Niemand musste je von der erdrückenden Schuld in seinem Inneren, von den devastativen Zweifeln über Recht und Wahrheit erfahren, und doch würden die Götter es wissen, wussten es längst und womöglich lag hier der Kern aller Misere, denn vor den Göttern gab es kaum etwas zu verbergen, gleich vor dem eigenen selbst. Von einem Anflug von Schrecken ergriffen wandte Gracchus seinen bangen Blick zum allgegenwärtigen Iuppiter hin, als würde dieser in eben diesem Moment in sein Herz blicken und ihn ob dessen über alle Maßen erzürnt in infinitesimal feine Schnipsel zerreißen wie ein Blatt missgefüllten Pergamentes. Ein Lufthauch zog in eben diesem Moment durch die Pforte des Tempels ein, verwirbelte die graufarbenen Räucherdämpfe und verwehte gleichsam die hauchdünnen Pergamentfragmente, welche bis eben noch die Gestalt eines Mannes hatten gebildet, in alle Richtungen hinfort, zerstreuten ihn in alle Windrichtungen, ohne dass Gracchus auch nur einen einzigen Fetzen von sich konnte fassen. Es wurde ihm blümerant vor Augen, die Welt löste sich gleich ihm selbst auf, seine Ohren waren erfüllt von Disharmonie, doch sein Äußeres zeigte nur ein kurzes Aufflackern von Orientierungslosigkeit, ein marginales Schwanken, nur ein Blinzeln, bevor er seine Aufmerksamkeit auf die Decima vor sich zwang, um ihren Worten zu folgen. Decima Valeria - Sacerdos im Dienst der Iuno. Er ließ ihren Namen von den Wänden seines Gedankengebäudes widerhallen, um nicht sein Ich im Wind zu verlieren, ihr Name sagte ihm nichts, ganz davon abgesehen, dass die Decima einige wichtige Männer in Rom stellten, doch ihre Profession erklärte ihre Anwesenheit, da sie vermutlich in der cella nebenan ihren Dienst verrichtet hatte. Und sie sprach weiter, von Rom, von ihm, seinem eigenen Dienst, Worte, an die verzweifelt er sich klammerte und ob deren paradoxen, sonderbaren Inhalts es einfach war, sich an ihnen voran zu hangeln.
    "Halb Rom?"
    fragte er, ob ihrer Worte dennoch erneut derangiert. Dass seine Fertigkeiten gerühmt und sein Verdienst um die Götter gelobt und gewürdigt werden sollten, dies war Gracchus nicht nur völlig neu - er hatte die Angewohnheit bereits den geringsten Anschein solcherlei mit untrüglicher Sicherheit nicht wahrzunehmen, sowie jegliche Beteuerungen eben jener Art seines Vetters und Geliebten Caius als verklärte Sinneswahrnehmung abzutun - es machte ihn gleichermaßen aufs Äußerste verlegen, sowohl aus seinem Inneren heraus, als auch um Worte. Einem anderen Patrizier hätte Gracchus eine mit sublimem Humor gewürzte Antwort entgegnet, ebenso einem Mann von höherem Rang, einem Magistraten oder Senator, denn solcherlei Worte gehörten zum alltäglich gesprochenen Satzgut, welches notwendig, doch nicht immer gänzlich ernst gemeint war. Einem Klienten oder Bittsteller hätte er ebenfalls seine Ehrlichkeit absprechen können, gehörte das Bauchpinseln dort doch nicht nur zum guten Ton, sondern gleichsam zum Repertoire der Zielrealisierung. Die Sacerdos vor ihm jedoch hatte keinerlei Motiv - zumindest keinerlei, dessen Gracchus derzeit konnte habhaft werden - ihm solcherlei zu schmeicheln, zumal sie noch immer im Inneren des Tempels standen, wenn auch bereits auf der Schwelle.
    "Ich habe nur meine Pflicht getan, im einen, wie im anderen Falle."
    Obgleich sich seine Worte hohl und leer, nach leblosem Gedankengut, geboren aus der strengen Ausbildung des patrizischen Standes und seiner Erziehung, mochten anhören, so entsprachen sie doch seiner tiefen, inneren Überzeugung, dass ein einmal erlangtes Amt mit nicht weniger durfte erfüllt werden, als der bedingungslosen Hingabe, dem aufopferungsvollen Einsatz persönlicher Kraft und der Hinnahme jeglicher Entbehrung, welche sie mit sich bringen mochte. Obgleich einige Patrizier diese Pflichten nicht mehr achteten und selbst an ihrer Sinnhaftigkeit zweifeln mochten, so stellten sie für Gracchus jene Werte dar, welche seinen Stand von dem der Masse unterschied, und hielten die Patrizier nicht an eben jenen Grundsätzen fest - aus Bequemlichkeit, Trägheit oder sonstiger Wesensart - so brauchten sie gleichermaßen nicht jene Art von Anerkennung ihres Standes zu erwarten, auf welcher sie trotz allem beharrten. Er selbst mochte nicht den Weg gegangen sein, welchen sein Vater und mit ihm die Familie für ihn hatten vorgesehen, doch immer war er seinem eigenen Weg beständig mit jener Überzeugung gefolgt, sie hatte ihn durch den Cultus Deorum getragen, ihn durch seine magistratischen Amtszeiten begleitet, und letztlich auch dazu geführt, dass er den Cultus verlassen hatte, da ihm allein der Gedanke zuwider gewesen war, ein Amt samt einer Pflicht inne zu haben, gleichsam dieser jedoch nicht nachzukommen.
    "Du bist Priesterin der Iuno?"
    Fragte er überflüssigerweise, im Versuch, damit von seiner eigenen Person abzulenken.
    "Hast du die Verantwortung für die cella nebenan übernommen?"
    Jene Sacerdos, welche zu derjenigen Zeit, zu welcher Gracchus für die cella des Iuppiters in diesem Tempel war verantwortlich gewesen, ihren Dienst hauptsächlich in der cella der Iuno verrichtet hatte, war eine ältliche Frau gewesen und hatte bereits oft davon gesprochen, den Cultus Deorum bald zu verlassen, weshalb seine Frage nicht jeglicher Logik entbehrte.
    "Ist dir bekannt, wer sich derzeit für die Belange des Iuppiter einsetzt?"

    Es trieb Gracchus ein Schaudern über den Rücken als seine Gemahlin ihn begrüßte und dabei seinen Praenomen auf die ihr eigene, unnachahmliche Art aussprach, welche ihm regelmäßig die Nackenhaare aufrichtete. Ihr freudiges Lächeln jedoch trieb gleich darauf seine linke Augenbraue in die Höhe, denn er hatte längstens geglaubt, dass sie über solcherlei Farce im Privaten hinaus waren, doch dass sie sich tatsächlich über seine Rückkehr könnte freuen, daran glaubte er nicht.
    "Salve, Antonia."
    Seine Stimmlage war geprägt von nichtssagender Neutralität.
    "Ich hoffe, du befindest dich wohl?"
    Mit seinem Eintreffen vermutlich nicht mehr, doch es war ohnehin nur eine Frage der Höflichkeit, welche keine Antwort erwartete. Einen Augenblick zögerte er, bedachte, was von der Reise er ihr sollte erzählen, ob überhaupt sein Ringen gegen das Fieber, die Zeit bei Agrippina eine Erwähnung bedurften, doch sein Befinden würde sie ohnehin nicht interessieren, denn auch ihre Frage danach war sicherlich nur eine Frage der verpflichtenden Höflichkeit.
    "Meine Reise indes war keinesfalls von einem guten Ausgang geprägt, denn statt meine Base Leontia sicher nach Hause zu geleiten, kann ich nur die Kunde von ihrem Übertritt ins Elysium bringen. Ihr Schiff versank im Meer und mit ihm sie."
    Damit war entschieden, mit was zu beginnen war, gleichsam war mit jener Kunde Gracchus' jegliches Verlangen zur Beiwohnung verloren, welches jedoch ohnehin vorherig nicht vorhanden gewesen war.

    Furianus' letzten Gedanken konnte Gracchus nicht gänzlich nachvollziehen, er hatte derzeit nicht nur bereits mit den eigenen Wirrungen seines Geistes genügend Mühe, zudem bestand die grauenvollste Aussicht für ihn augenblicklich daraus, dass sich ob seiner Schuld die rastlosen Geister seiner Base und seines Bruders jenen Larven würden anreihen, welche ihn manches mal des Nachts und gar bisweilen des Tages plagten, ob dessen die Bestattung nicht bald genug konnte stattfinden, nicht nur diejenige Leontias, sondern auch, in noch viel kleinerem Kreise, diejenige Quintus'. Dennoch gab er ein leises, zustimmendes Brummen von sich und nickte marginal, denn er war dessen überzeugt, dass die Worte seines Vetters, welcher eigentlich sein Neffe war, mit Bedacht gewählt und von veritabelem Inhalt waren. Sciurus, welcher wie gewöhnlich unauffällig im Schatten des Raumes stand, würde sich ohnehin um all dies zu kümmern haben und selbstredend auch allen Gedankengängen folgen können.
    "So will ich dich denn nicht länger von deinen Vorbereitungen abhalten. Es war nur mir ein Anliegen, dass du um diese Geschehnisse vor deiner Abreise weißt. Ich wünsche dir eine angenehme Reise, Furianus, und ebenso einen erfolgreichen Start in dein Proconsulat. Mögen die Götter dir stets gewogen sein, was auch immer du tust."
    Es graute Gracchus bei dem Gedanken, wie viele seiner Verwandten in kürze eine Reise über das Mare Internum würden antreten, doch ließ sich wenig daran ändern.

    Derangierung mischte sich in Gracchus' impenetrablen Blick und er suchte unruhig forschend in den Gängen seiner Gedanken nach der Antwort auf ihre Frage, doch alle Türen blieben ihm verschlossen, sein Gedankengebäude schien nur noch aus leerem Mauerwerk zu bestehen, die Flure längst mit graufarbenem Staub bedeckt, die wenigen Türen, welche sich öffnen ließen, ihn beständig im Kreise zu führen. Schlussendlich schüttelte er langsam, indifferent den Kopf.
    "Nicht vorweggenommen, sondern endgültig. Denn was bleibt anderes nach Hoffnungslosigkeit?"
    Als seine Aufmerksamkeit aus der irrealen Realität seines Selbst zurück zum Gesicht der jungen Frau wanderte, deren Mundwinkel von einem zarten Lächeln umspielt wurden, klärte sich sein Blick und es schien, als würde er sie erst jetzt tatsächlich wahrnehmen, als würde er sich erst jetzt ihrer Person gewahr werden. Ihre Augen waren von gleichem, hellen Blauton wie die seiner Schwestern, wie es auch die Leontias waren gewesen.
    "Verzeih, es steht mir nicht zu, die gesamte Existenz zu Hoffnungslosigkeit zu verdammen. Es ist der desolate Tod einer nahen Verwandten, welcher mich in diesen Defätismus treibt, mir die Euthymie irreal scheinen und mich augenscheinlich vergessen lässt, wer ich bin."
    Wäre nicht das Durcheinander in seinem Inneren ein äußerst guter Garant gegen jegliche Zweifel von außen - selbst vom aus dem Inneren stammenden Äußeren, so hätte Gracchus vermutlich längst die Stimme seines toten Vaters in den Ohren vernommen, welcher sich über die prätentiöse Art seines Sohnes hätte echauffiert, welchem mitten in Rom jegliche Dignitas und Gravitas verlustig gegangen war. Doch eigene Zweifel und Hader in seinem Inneren aus sich selbst heraus übertönten dies längst.
    "Der Tempel des Iuppiter ist es, welchen ich aufsuche, da ich einst mein Leben in die Hände des Göttervaters gab und durch mein votum gebunden in seinen Dienst trat. Es gibt keinen Ort, an welchem ich ..."
    Obgleich es ihm ein wenig unangenehm war, dies vor einer ihm fremden Person einzugestehen, so war es doch bereits zu spät für ein Zurückweichen.
    "... an welchem ich mich geborgener fühlen könnte und an welchem mir meine Gedanken klarer sind als hier."
    Ein marginales Lächeln kräuselte nun auch seine Lippen.
    "Ich fürchte jedoch, die lustratio meiner Gedanken war am heutigen Tage nicht sonderlich erfolgreich, und augenscheinlich sind sie noch immer nicht völlig beieinander, da ich selbst die Etikette vergessen. Gestatte, mein Versäumnis nachzuholen und mich vorzustellen. Mein Name ist Flavius Gracchus."

    Wieder einmal stand Gracchus vor der braunen Holztüre, musterte die Maserung darin und haderte mit sich selbst, getraute sich nicht, den nächsten notwendigen Schritt zu tun. Zu gut kannte er diese Maserung bereits, jedes dunkle Fleckchen im hellen Holz, jede Biegung, jeden Streifen, gleich als wäre er mit dieser Türe verheiratet und nicht mit jener Frau, welche dahinter lauerte und von welcher er nur halb so viel kannte, wenn überhaupt. Dennoch musste er die Türe samt ihrer Maserung verlassen, dies war indisputabel, denn er war nun einmal nicht mit ihr verheiratet, sondern mit jener Frau, welche hinter ihr lauerte, obgleich ihm die Türe an diesem Tage - und nicht nur an diesem - im Vergleich mehr als angenehm erschien. Denn mehr, als nicht sein Kind auszutragen, konnte dieser Raumteiler auch nicht fertig bringen, und dies war eben so viel, wie seine Gattin zuwege brachte. Warum nur hatte Quintus nicht Antonia denn seine Base aus dem Hause rauben können? Erschrocken sog Gracchus Luft durch die Nase - er durfte sich solcherlei Gedanken nicht gestatten, nicht hier, nicht heute, niemals. Claudia Antonia war seine Gemahlin, er hatte dem zugestimmt, sie hatte dem zugestimmt, er hatte dies nicht gewollt, sie hatte dies nicht gewollt, und dennoch war es ihre Pflicht einander zu achten. Noch während er an das Holz der gleichermaßen geliebten und verhassten Türe klopfte, überlegte Gracchus bei sich, mit welchem Anliegen er beginnen sollte, sobald er seiner Gattin angesichtig werden würde. Sollte er zuerst darlegen, wo und wie er die letzten Wochen zugebracht hatte - was sie ohnehin nicht würde interessieren - zuerst seine eheliche Pflicht erfüllen - was sie ebenfalls nicht würde interessieren, woran sie jedoch unweigerlich würde teilhaben - oder zuerst ihr mitteilen, dass seine Base von ihnen gegangen war? Ohne eine Antwort aus dem Inneren des Raumes abzuwarten, trat er ein.

    "Einige Tage"
    , formte Gracchus die Worte seines Vetters nach.
    "Ich weiß nicht, ob ich dies alles so bald arrangieren kann. So vieles ist zu tun und ich weiß nicht, wo anzufangen."
    Bisherig war Gracchus nur immer zu Bestattungen aus Achaia angereist, wenige Tage zuvor, und reiste hernach wieder ab, ohne für irgend etwas Sorge tragen zu müssen. Selbst zu den Bestattungen seiner Eltern hatte er nicht lange in Italia verweilt, denn kaum nur hatte ihn zu dieser Zeit ihr Tod berührt, waren sie ihm doch nicht nur räumlich fern gewesen. Leontias Tod jedoch warf ihn nicht nur deshalb aus den gewohnten, sicheren Bahnen, da er sich selbst in einer gewissen Schuldigkeit sah, nicht nur da es gleichsam auch der Tod seines Zwillings war, sondern deswegen, da sie ihm viel näher gewesen war, als viele andere Menschen. Nicht körperlich nahe, selbst von Angesicht zu Angesicht hatten sie sich vor ihrer Ankunft in Rom kaum gegenüber gestanden, doch ihre Gedanken, ihr Geist und ihre geschriebenen Worte waren den seinen so nahe gewesen, wie sonst nur die seines Vetters Aquilius. Sie hatte ihn beflügelt, und nun, da sie fort war, für immer gegangen, fühlte sich Gracchus als hätte man ihm seine Schwingen gestutzt.
    "Aetius ist zu benachrichtigen, falls er aus Ravenna anreist, so wird sich alles nur weiter verzögern. Minervina und Serenus in Aegyptus, und Milo auf Sardinien müssen ebenfalls benachrichtigt werden. Womöglich wird auch Agrippina kommen."
    Aristides ' Mutter hatte nichts diesbezügliches erwähnt, doch sie gab nie all das Preis, was sie dachte oder zu tun gedachte.
    "Trotz allem wird es nur eine familiäre Feierlichkeit sein. Du weißt sicher, dass der Staat einen Vermissten erst nach einiger Zeit als tot anerkennt, sofern seine Leiche nicht geborgen wird, selbst wenn keinerlei Hoffnung mehr besteht. Zudem ist mir ohnehin nicht bekannt, dass Leontia hier in Rom viele Bekanntschaften pflegte."

    Seine Aufmerksamkeit, welche noch immer nach Innen gerichtet war, richtete sich auf die junge Frau ohne in die Wirklichkeit zurück zu kehren, darum war kein Erstaunen in Gracchus' Blick, denn sie schien ihm als würde sie in den Tempel hinein gehören, ihre Worte klangen weder neugierig, noch unpassend oder unhöflich in seinen Ohren, ihr Auftreten und ihre Erscheinung war nicht weniger fehl am Platze denn es eine epiphanen Gestalt hätte vermocht zu sein. Es war darum nicht nur das aufgewühlte Innere, welches Gracchus zu einer ehelichen und aufrichtigen Antwort bewog, zumindest zum Versuch einer solchen, obgleich es durchaus eines gewissen Ringens bedurfte, um jene zu fassen.
    "Es ist das, was uns alle hoffnungslos macht. Es ist all das, was wir nicht greifen, nicht beeinflussen können, dem wir machtlos ausgeliefert sind."
    Einen Herzschlag lang hielt er unsicher inne.
    "Vielleicht glauben wir auch nur dem machtlos ausgeliefert zu sein, doch wenn der Glaube stark genug wird, kann er schnell zur Wahrheit werden."
    Es war merkwürdig dies in einem Tempel auszusprechen, beruhte doch viel der Religio Romana aus staatlicher Sicht gerade auf eben diesem Grundsatz, dass der Glaube Wahrheit werden konnte, wo ursprünglich keine Wahrheit war. Und dennoch war es einer der Grundfeste der Gesellschaft, ebenso unumstößlich wie der Staat an sich.
    "Was macht es dann noch für einen Unterschied, was wir glauben und was wahr ist? Letztlich bleibt nur die Hoffnungslosigkeit übrig."
    Es war ein kläglicher Versuch, von Beginn an zum Scheitern verurteilt, das Chaos in seinem Inneren in Worte zu fassen, denn alles in ihm und alles um ihn schien ihm unfassbar, ungreifbar, als würde er im Regen stehen und versuchen alle Tropfen, welche vom Himmel fielen, in seinen Handflächen aufzufangen.

    Behutsam, beinahe zärtlich ließ Gracchus seine Fingerkuppen über den rauen Altarstein auf dem Tempelvorplatz wandern, fuhr über die feinen Rillen im Stein in die Kuhle hinab, durch welche Opferflüssigkeiten den Altar hindurch hinab ins Erdreich wurden geleitet, und über die Ränder, an welchen der Stein in Voluten endete. Schließlich blickte er auf, dem gewaltigen Tempel entgegen, welcher alles um sich herum klein, marginal und unbedeutend erscheinen ließ, selbst die große Stadt zu seinen Füßen, welche sich so gern als Zentrum der Welt titulierte. Langsam und bedächtig erklomm Gracchus die Stufen, Schritt für Schritt die Präsenz der Götter in sich erspürend, wandelte durch die bunt bemalten Säulen vor den Cellae der Iuno, der Minerva und des Iuppiter. Die großen Tore des Tempels standen offen, aus dem Inneren flackerte das goldfarbene Licht der Öllampen und Kerzen heraus, und ein die Sinne betörender Duft nach Cassia, Lorbeer und Weihrauch waberte durch die stille Luft des Sommers. Ein Schaudern ließ Gracchus erzittern als er die Cella des Iuppiters betrat, gleichsam wie eine Woge des Bedauerns ihn durchlief, als er den Blick hinauf zu den glitzernden Augen der imposanten Iuppiterstatue wandte. Er vermisste den Tempel, misste den Dienst Tag für Tag, vermisste den Geruch frischen Opferblutes, den Geruch verbrennenden Opferfleisches, welcher sich mit dem Odeur der Räucherungen vermischte, misste das leise schlurfende Geräusch, wenn die letzten Schlucke des Opferweines in einem feinen Sog in der Öffnung für die Opferflüssigkeiten vor der Statue verschwanden. Er vermisste den Dunst, das Flackern und die Wärme der zahllosen Kerzen und Öllampen, misste das Gefühl der Geborgenheit, welches in den Häusern der Götter allgegenwärtig war.
    "Warum, Diespiter, warum?"
    Langsam ließ sich Gracchus vor der großen, bärtigen Statue auf die Knie sinken, sank in sich zusammen und starrte still auf die glühenden Räucherkohlen. Er vermisste die Stille der Tempel, kein Mensch wagte hier die Stimme zu erheben, nicht einmal Schluchzen erlaubten sich die Verzweifelten oder Traurigen, nur höchstens leises Schniefen, er misste die Ruhe, denn niemand rannte durch einen Tempel, es war als würde man die Schwelle der Zeit übertreten, sobald man durch die Pforte eines der Götterhäuser trat, denn die Bewegungen der Menschen verlangsamten sich, wurden mit Bedacht und Sorgfalt ausgeführt. Er vermisste die Harmonie, denn hier war es, wo Ausgleich geschaffen wurde, wo den Göttern Gaben dargereicht wurden für ihre Geschenke, wo den Göttern Geschenke gemacht wurden, um ihre Gaben zu erhalten - do ut des. Er misste die Wahrheit, denn niemand wagte in einem Tempel zu lügen, und er vermisste die Größe und Erhabenheit, denn nichts Größeres, nichts Erhabeneres war auf der Welt als das, was die Menschen glaubten Götter zu sein. Aus einer Gewandfalte zog Gracchus einen ledernen Beutel hervor, welchen er sorgfältig öffnete, schließlich die daraus hervorblitzenden Körner heraus nahm und auf die Kohle legte, welche auf dem Rost zu Füßen des Iuppiter rotfarben glühte, nachdem er von jener die weiße, verbrannte Asche hinfort gepustet hatte. Feiner, graufarbener Nebel erhob sich, verschleierte für einige Herzschläge seine Sicht.
    "Warum, Iove, warum nur?"
    Er misste dies alles so sehr, doch gleichsam da er stand, wo er stand, stand er noch immer dort, wo er stand. Leise tippelnde Schritte erinnerten ihn eine Weile später daran, dass er nur Gast war in diesem Haus, nur Besucher, einer von vielen. Er erhob sich und trat dem Ausgang entgegen, ohne Antwort, denn Iuppiter schwieg.