Vermutlich wusste Furianus kaum, wie treffend er Gracchus' derzeitige Position beschrieben hatte, denn tatsächlich schien es jenem, als würde er sich fortwährend nur im Kreise drehen, auf der Stelle tretend, keinen Schritt vor und keinen Schritt zurück kommen. Dagegen hatten die Worte seines Neffen den Dienst der Götter betreffend beinahe keinen Sinn für Gracchus, denn Interesse war kaum je sein Antrieb gewesen, Interesse hegte er an wohlproportionierten Plastiken und ausgefeilten Worten, doch in die Arme des Iuppiters trieben ihn Pflicht wie Verzweiflung gleichermaßen, bald Sehnen und Wunsch. Doch genau darin lag all die Misere begründet, welche allerdings im Augenblick ihm nur marginal erschien verglichen mit den unumstößlichen Tatsachen. Noch immer mit leerem Blick schaute er seinen Vetter an, welcher eigentlich sein Neffe war, welchen er so wenig kannte und doch mehr als er je seinen Bruder hatte gekannt, welcher ihm so ähnlich gewesen war, welcher ebenfalls viel zu jung gewesen und nun ebenfalls tot war, doch welchen niemand sonst würde betrauern, niemand als einzig er allein, da er für die Welt schon seit zwei Jahrzehnten nicht mehr hatte existiert.
"Der Tod ist die Befreiung und das Ende von allem Übel, über ihn gehen unsere Leiden nicht hinaus, der uns in jene Ruhe zurückversetzt, in der wir lagen, ehe wir geboren wurden - ich setzte dies Zitat des Seneca während meines Vigintivirates unter meine Briefe, wenn ich Anverwandte der Verstorbenen über ihr Erbe benachrichtigte, als Trostschrift, wie schon Seneca dies an Marcia wandte. Wie hohl und leer diese Worte sind, dies begreife ich erst nun, denn keine Worte vermögen dies zu fassen und keine Worte vermögen Trost zu spenden, mögen sie noch so von Wahrheit durchdrungen sein."
Stille legte sich über den Raum, nur die Flammen der Öllampen im Raum flackerten leise als ein Windhauch von Draußen herein durch das Zimmer strich, und vereinzelt flogen Geräuschfetzen von der nimmermüden, unendlichen und stets lebendigen Stadt vor dem Fenster hinein, denn dort draußen ging das Leben weiter, so wie es dies immer tat. Ein anderes Zitat strich Gracchus durch die Sinne, aus Lukrez' Schriften über die Natur der Dinge: 'Ja, dass es grade so ist, als wären wir nimmer geboren, wenn der unsterbliche Tod uns das sterbliche Leben genommen.' So würde Quintus' Existenz enden, als wäre er nimmer geboren, ausgelöscht noch ehe er auferstanden war, all die Sorgen über die Unmöglichkeit seines Lebens nichtig, all die Zweifel an sich selbst und der Einzigartigkeit des Seins. Es war ein hoher Preis gewesen, zu hoch.
"Ich werde für eine Bestattung Sorge tragen. Mag auch ihr Körper längst fort sein, doch ihr Geist wird keine Ruhe finden, so die Riten nicht vollzogen sind. Wie lange wirst du noch hier in Rom sein?"
Beiträge von Manius Flavius Gracchus
-
-
Ein wenig Sorge breitete sich ob Furianus' Worte über Zwischenfälle in Gracchus aus, denn hatte nicht der vorherige Proconsul Matinius gerade erst einen Aufruhr der halben iberischen Bevölkerung hinter sich gebracht? Es blieb nur zu hoffen, dass damit das Aufstandspotential der Hispanier für die nächsten Jahre gedeckt war, denn jegliche anderen Zwischenfälle wie Naturkatastrophen und ähnliches ließen sich bisweilen sogar gut in eine Karriere eingliedern, während Aufstände in der eigenen Bevölkerung nur zu Unmut führen konnten.
"Nun, so du Unterstützung aus Rom brauchst, hoffe ich, weißt du, dass deine Familie dir im Rücken steht. Ich mag nicht immer mit der unkonventionellen Art, welche dir zu eigen ist, gänzlich einverstanden sein, doch vielleicht ist ein wenig jener Art nicht verkehrt, um die flavische Starre zu durchbrechen, und dass dies weder dir noch der Familie maßgeblich geschadet hat, mag uns zu Denken geben."
Für sich selbst war jene Art zwar keine Alternative, denn zu tief waren die Grundfeste des althergebrachten flavischen Gedankengutes in ihm verwurzelt worden, doch war auch die Duldsamkeit eine Tugend.
"Was meine eigenen Ziele anbelangt, so muss ich gestehen, dass ich derzeit ein wenig unentschlossen bin."
Genau genommen hatte Gracchus seine Ziele ob der Geschehnisse der vergangenen Wochen gänzlich aus den Augen verloren. Er hatte völlig überstürzt seinen Dienst im Cultus Deorum quittiert, da der Gedanke ihm zuwider gewesen war, in den Diensten der Götter zu stehen, doch gleichsam jene Aufgaben nicht wahr zu nehmen während er seinem Bruder nachjagte und versuchte seine Base vor ihm zu bewahren. Dabei hatte er ob der Furcht all seine Prinzipien vergessen und keinen Augenblick seiner Gedanken an jene Tage gedacht, welche darauf würden folgen, er hatte nicht einmal bis zu jenem Tage gedacht, an welchem er Quintus würde gegenüber stehen. Es war der gleiche Fehler gewesen wie damals in Achaia, gleichsam wie es die gleiche Art der panischen Furcht gewesen war, welche jegliche Sinne ihm hatte geraubt. Damals hatte er sich hernach vor seinem Vetter Felix rechtfertigen müssen, heute saß er vor dessen Sohn, schluckte hart und haderte mit sich selbst ob einer Rechtfertigung.
"Du weißt vermutlich, dass ich meinen Dienst im Cultus Deorum quittiert habe. Nun, um ehrlich zu sein bin ich nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, dorthin zurück zu kehren. Andererseits ..."
Ein militärisches Tribunat war derzeit keine Alternative, ein Amt in der Verwaltung undenkbar, so dass er sich beinahe schon gleich seinem Vetter auf einer Insel sitzen sah mit dem Unterschied, dass gegenteilig zu Felix niemand ab und an auf seine Anwesenheit in Rom würde bestehen. Für einen schwachen Moment gab er sich der trügerisch friedvollen Illusion hin, dann schüttelte er langsam den Kopf.
"Es sind ohnehin zuvor familiäre Angelegenheiten zu regeln. Es wird Zeit, dass meine Schwester Minervina eine Ehe eingeht, sie bat mich um meine Unterstützung und die Wahl eines geeigneten Gatten. Ich sprach bereits mit Tiberius Durus, er war nicht abgeneigt, doch Minervina überwarf alle Pläne mit ihrer Reise nach Hispania, welche schlussendlich ganz andere Gründe hatte, als die Reise an sich. Nun, wie dem auch sei, nach ihrer Rückkehr aus Aegyptus wird sie einer Ehe zustimmen."
Wenn nicht auch diese Reise gänzlich andere Absichten verfolgte denn die Reise an sich, schoss es Gracchus durch den Sinn, doch er verwarf den Gedanken eilig wieder. Minervina hatte aus eigenem Antrieb heraus ihre Zukunft in seine Hand gelegt und dem zugestimmt, dass er eine favorable Ehe für sie würde arrangieren.
"Zudem ... nun, weshalb ich eigentlich mit dir sprechen wollte ..."
Zögerlich hielt er inne, sammelte die Worte und versuchte sie in eine passable Form zu gießen, scheiterte jedoch an ihrer Aussage und musste sie in eben jenem Sinne bar und ohne Beschönigung aussprechen.
"Leontia ist tot."
Mit jedem Mal, da er die Tatsache aussprach, schien sich die Wahrheit mehr und mehr zu verdichten, schien sie schwerer und schwerer auf seine Schultern und vor allem auf sein Gewissen herab zu drücken. Seine Stimme war rau und farblos als er fortfuhr, sein Blick in die endlose Ferne gerichtet und doch gleichsam tief in sich selbst.
"Du weißt vielleicht, dass sie nach Ravenna zu ihrem Vater aufbrach, welcher erneut eine Ehe für sie arrangiert hatte. Doch dies ist nur die halbe Wahrheit. Zwar brach sie auf, doch nach Aegyptus, um vorerst den Plänen ihres Vaters zu entgehen. Ich selbst bin nicht ganz unschuldig daran, ich sprach ihr zu und versprach ihr, sie zu geleiten sobald es meine Pflicht zuließe, doch sie wollte nicht warten und reiste bereits allein ab."
Mit jedem Mal, da er die Lüge aussprach, schien auch diese sich mehr und mehr zur Wahrheit zu verdichten.
"Ich folgte ihr, sobald es mir möglich war. Jenes Schiff jedoch, auf welchem Leontia die Reise angetreten hatte, erreichte nicht sein Ziel. Das Mare Internum hat es verschlungen und mit ihm unsere Base."
Wieder hielt Gracchus inne, bemüht darum an sich zu halten und nicht das aufwallende Gefühl der Ohnmacht in sich die Oberhand gewinnen zu lassen, das übermächtige Gefühl der Trauer und der schwer lastenden Schuld am Tod seines Zwillings und seiner Base. -
Vergeblich mühte sich Gracchus mit den Worten auf dem Pergament vor sich ab, doch ein Ergebnis, mit welchem er zufrieden war, wollte ihm nicht gelingen. Er zerriss das Pergament, hob es schließlich über die Flamme der Öllampe vor sich, auf dass es Feuer fing, und hielt es bis dass die Flammen beinahe seine Finger erreicht hatten. Den Rest ließ er achtlos in den Becher mit Wein zu seiner Seite fallen, wo das Feuer zischend verglühte. Sich zurücklehnend betrachtete er sodann die Decke über sich als könne er dort jene Worte finden, welche in seinem Geiste fehlten, als könne er dort die Wahrheit über die Welt entdecken. Noch immer starrte er in solcher Weise hinauf als sein Sklave erneut den Raum betrat und sich mit einem leisen Räuspern ankündigte. Gracchus nickte.
"Deine Schwester befindet sich augenblicklich nicht in der Villa, sie ist nicht einmal in Italia, sondern weilt in Aegyptus."
"Aegyptus? Was macht sie in Aegyptus? Ist denn alle Welt von diesem Lande besessen?"
"Erinnerst du dich nicht, Herr? Sie wollte nach Aegyptus reisen und nach ihrer Rückkehr einen passablen Ehemann heiraten."
Gracchus' Miene hellte sich ein wenig auf, nur um einen Herzschlag später erneut von Defätismus überschattet zu werden.
"Ja, ich erinnere mich. Ich werde mit Tiberius Durus sprechen müssen, er wird nicht ewig warten. Aber nicht vor der Bestattung."
"Wäre es nicht ohnehin besser, die Rückkehr deiner Schwester abzuwarten?"
"Nicht der Hochzeit wegen, sie selbst hat dies in meine Hände gelegt. Doch sie wird ohnehin zuvor der Bestattung wegen zurückkehren."
Gedankenverloren kaute Gracchus auf seiner Unterlippe herum und überlegte, welchen Brief er sich sparen konnte, denjenigen an Serenus oder denjenigen an Minervina, kam jedoch zu dem Schluss, dass er beiden einige Worte würde schreiben müssen.
"Wie steht es um Antonia?"
Eine Spur von Bangen schwang in seiner Stimme mit.
"Sie ist noch immer nicht guter Hoffnung, Herr, doch bei gutem Befinden."
Ein schweres Seufzern echappierte Gracchus' Kehle. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen, gab sich den Gedanken hin, wie wunderbar es wäre, wenn zumindest dies aus der Welt geschaffen wäre.
"Leontias Leibsklavin, dieses dunkelhäutige Wesen, ist sie in der Villa?"
"Salambo? Nein, deine Base hatte sie nach Ravenna zu ihrem Vater gesandt. Vermutlich ist sie noch dort."
"Zu Aetius?"
Gracchus stöhnte leise auf. Vielleicht war es besser, eine andere Sklavin zu suchen. Andererseits war sie perfekt, geradezu prädestiniert für sein Ansinnen. Er würde auch Aetius einen Brief senden müssen, ohnehin.
"Caius?"
"Derzeitig in der Stadt, vermutlich verrichtet er seinen Dienst im Tempel." 'Oder vergnügt sich mit einer Frau', dachte Sciurus, sprach dies jedoch nicht aus und wusste darum nicht, dass ähnliche Gedanken - Befürchtungen geradezu, denn mit Vergnügungen in Bezug auf einen anderen Mann - sich kurzzeitig im Geist seines Herrn hatten manifestiert.
"Nun denn, so bleibt mir auch hier eine Schonfrist."
Von einem dünnen Stapel nahm Gracchus ein neues Blatt Pergament und begann erneut mit dem Brief an seinen Vetter. -
Bevor sein Vetter, welcher eigentlich sein Neffe war, hereingeführt wurde, legte Gracchus den Brief an seinen Vetter in Parthia zur Seite, die richtigen Worte fehlten ihm ohnehin, so dass er über die kleine Störung froh war.
"Salve, Furianus. Bitte nimm Platz, wenn es deine Zeit erlaubt."
Gracchus' Lippen kräuselten sich zu einem feinen Lächeln während er Furianus musterte. Er sah gut aus, selbst in seinem schlichten Gewand, die Reife und die Würde des Amtes verliehen ihm einen Anklang von Autorität. Womöglich hatte Agrippina Recht, zumindest hatte Furianus sie tatsächlich alle bereits überflügelt, und obgleich sich Gracchus ob dessen kaum Gedanken zu machen brauchte - zwar war Furianus sein Neffe, doch dennoch einige Jahre älter als er - so war es trotz allem veritabel. Gleichsam zweifelte Gracchus jedoch ohnehin wie eh und je daran, dass er jemals selbst in einigen Jahren annähernd dort stehen konnte, wo sein Vetter dies tat, womöglich auch nicht dort stehen durfte, da er in so unverantwortlicher Weise seine Base und seinen Bruder in den Tod getrieben hatte und kaum noch jedweder Ehre würdig war. Zudem machte es ohnehin keinen Unterschied, wo man stand, das Schicksal traf jeden gleichermaßen, ob Plebeier oder Patrizier, ob Scriba oder Consul. All jene leicht devastativen Gedanken vermischten sich in Gracchus im Anblick seines Vetters mit einer Gefühlswallung, welche er zwanghaft und leicht panisch zu unterdrücken suchte, denn sie erinnerte ihn allzu sehr an jene unmögliche Anziehung, an welcher er gut tat, sie zu unterdrücken. Er blinzelte, versuchte Furianus in die Augen zu blicken ohne gleichsam daran zu denken, darin zu versinken. Vermutlich war er zu lange fort gewesen, hatte zu lange sein Begehren unterdrückt, welches nun mit Erstarken von Körper und Geist ebenfalls wieder seinen Tribut forderte und ob des Gefühlschaos in seinem Inneren ein leichtes Spiel hatte, sich in den Vordergrund zu drängen. Doch er musste an Leontia denken, Leontia, die vom Mare Internum verschlungen worden war.
"Ich hörte von deiner Berufung nach Hispania. Lass mich dir vor allem anderen gratulieren, Vetter. Ich zweifle nicht daran, dass du Hispania in eine goldene Zukunft führen wirst. Die Provinz hat es verdient."
Ob Furianus allerdings dies verdient hatte, dies stand auf einem anderen Pergament - nicht etwa, da die Ehre für ihn zu groß wäre, sondern deswegen, da Hispania am Ende der Welt lag und Gracchus seinem Vetter lieber ein wichtiges Amt in Rom gewünscht hätte. Doch gleichsam war auch das Proconsulat ein Schritt auf der Treppe nach oben und daher der Mühen und Entbehrungen wert. -
Müde und ausgelaugt ließ sich Gracchus auf den hölzernen Stuhl mit der ledernen, dunkelrotfarbenen Bespannung hinter dem großen Schreibtisch sinken und die Schultern hängen. Obgleich er froh darüber war, endlich in der flavischen Villa zu Rom angelangt zu sein, so lasteten doch die vergangenen Wochen schwer auf seinem Gemüt. Zudem schmerzte sein Steiß ob des langen Rittes von Baiae her, denn obgleich es seiner noch immer ein wenig geschwächten Kondition wäre zuträglich gewesen, in einer Sänfte zu reisen, so hatte sich Gracchus doch gegen dies entschieden, da ihm bereits der Gedanke an das kontinuierliche Schaukeln wahrhaft degoutant erschienen war. Es war die Handlung des Reisens an sich, an welcher sich Gracchus hatte noch nie goutieren können, doch so es notwendig war, so schien ihm sogar ein solch langer Ritt zu Pferd nur agreabel im Vergleich zu Sänfte oder Schiff, welches er von Vorneherein als völlig unmöglich hatte ausgeschlossen. Tief durchatmend sann Gracchus über die Widrigkeiten des Reisen nach, als er sich erstaunt der Füße seines Sklaven gewahr wurde, welche sich langsam in den unteren Rand zur Rechten seines Blickfeldes hatten geschoben. Manches mal ängstigte es ihn, dass Sciurus gleich den Laren und Penaten beinahe lautlos an ihn herantreten konnte, nicht etwa des Sklaven wegen, doch eher aus der Befürchtung heraus, dies wäre das Versäumnis seiner eigenen Sinne, so dass auch jeder anderen Person dies mit ein wenig Mühe nur möglich sein könnte.
"Sieh nach, ob meine Schwester Minervina im Hause ist und ob sie ein wenig Zeit erübrigen kann."
Nachdenklich hob er seine Hand und begann an seiner Unterlippe zu kneten, versuchte seine Gedanken zu Ordnen und eine Reihenfolge in all jene Dinge zu bringen, welche getan werden mussten.
"Doch sie soll nicht hierher kommen. Ich werde sie aufsuchen, so es ihr genehm ist. Und Caius, sieh nach ob Caius da ist. Er soll jedoch ebenfalls nicht hierher kommen."
Unter allen Umständen wollte er vermeiden, dass Aquilius ihn würde überraschen können und dass es erneut zu einer solch desaströsen Situation wie zuletzt würde kommen.
"Antonia benachrichtigst du nur, dass ich wieder hier bin, ihr wird dies ohnehin nur von marginalem Interesse sein. Gib dabei Acht auf ihren Körper und unterrichte mich davon, wenn es noch immer notwendig ist, sie am Abend aufzusuchen. Solltest du dagegen eine Gravida vorfinden, so finde heraus, ob ihre gegenwärtigen Umstände mit der Zeit meiner Abwesenheit in Übereinklang zu bringen sind. Es muss nur annäherungsweise passen. Doch wenn es unmöglich ist ..."
Er ließ den Satz unbeendet. Jeder Erbe würde ihm derzeitig halbwegs genehm sein, selbst wenn Antonia ihn wenige Tage nach seiner Abreise mit irgendwem gezeugt haben sollte, doch ein Kind, welches ganz offensichtlich - vor allem vor Rom offensichtlich - nicht von ihm stammen konnte, dies würde er unmöglich annehmen können und dafür Sorge tragen, dass jene Schmach nicht erst das Licht der Welt würde erblicken.
"Anschließend finde heraus, was geschehen ist - in der Villa, in Rom und in der übrigen Welt, sofern es mich tangieren könnte."
Nachdem Sciurus den Raum hatte verlassen, wandte sich Gracchus der leeren Tischfläche vor sich zu. Er würde Briefe versenden müssen - an Aristides, um ihm von den deplorablen Umständen zu berichten, und an Serenus, aus gleichem Grunde und anderen. Welch wahrhaft formidabler Junge Marcus' Sohn doch war - er hatte ihm völlig Unrecht getan, da er nach Aristides' Äußerungen angenommen hatte, Serenus würde sich trotzig nach Baiae absetzen oder eigensinnige Gedanken entwickeln, wie etwa der Legion beizutreten oder ähnliches. Dabei saß Serenus längst in Aegyptus und widmete sich philosophischen Studien - so denn Agrippina in dieser Hinsicht zu trauen war, doch gab es keinen Anlass Gegenteiliges anzunehmen.
"Marcus ist wahrlich zu beneiden"
, sprach er zu sich selbst und ließ seine Hand sinken. Einzig die Aussicht, den armen Jungen aus seinen Studien reißen und ihm jene gefährliche Reise über das Mare Internum zumuten zu müssen, betrübte Gracchus. -
Agrippina ignorierte die Worte ihres Neffen, denn Schwäche hatte keinen Platz in ihrer Welt.
"Was macht deine Karriere, Gracchus? Deine Absichten für die Familie in Ehre, doch Rom regiert sich nicht von selbst. Wie lange liegt deine letzte Amtszeit zurück?"
"Die Familie steht vor Rom, Agrippina, denn in Rom ist sich jeder selbst der nächste. Vigintivirat und Quaestur liegen hinter mir, und obgleich ich durchaus geneigt bin, meine Pflicht ein weiteres mal zu tun, so wirst du mir sicherlich zustimmen, dass eine erneute Quaestur einem Flavier kaum gut zu Gesichte steht."
"In der Tat. Weshalb also ist nicht die Gegebenheit für ein Aedilat vorhanden? Ist Felix' Einfluss dahin?"
"Sein Einfluss ist stark wie eh und je. Doch, ... nun, es scheint, dass er sich dazu entschieden hat, einzig seinem Zweig, nein, einzig seinem Favoriten den Weg zu ebnen. Selbst Milo hat er aus Rom hinfort gesandt, damit Furianus' Zukunft nichts im Wege steht, selbst sein eigener Bruder nicht. Die anderen Familienzweige finden Felix' Unterstützung wenn es ihm dienlich, wenn es ihm nicht hinderlich ist oder wenn ihm die Sinne danach stehen, doch wer kann schon die Gedanken hinter seinem Tun erkennen? Wie du weißt befindet sich der Imperator auf einem Feldzug, so dass er um so mehr auf jene Nachrichten seiner Vertrauten aus Rom angewiesen ist, doch wo keine Nachricht, da auch keine Entscheidung. Daneben, nun, ohne den Zusammenhalt der Familie ist es indes schwer, in Rom noch irgendwohin zu gelangen. Die patrizischen Familien verlieren noch immer an Einfluss, homini novi drängen weiter in alle Ämter vor und kaum bemüht sich ein Mann aus unserem Stande um etwas, so ertönen sogleich die Stimmen, dass unserem Stand noch immer alles würde in den Schoss fallen, auf der anderen Seite können wir nach Ansicht des gemeinen Volkes gar nicht genug tun, um unseren patrizischen Pflichten gerecht zu werden. Bei Iuppiter Stator, ein Patrizier muss sich dieser Tage drei mal rechtfertigen, wenn er ein Amt anstreben will, während ihm gleichsam vorgeworfen wird, dass er nicht genügend für das Imperium würde leisten und sich auf den Taten seiner Vorfahren würde ausruhen."
"Andere Männer hat dies nicht aufgehalten."
Agrippina bedachte ihn mit einem unzufriedenen Blick. Sie hob ihr Weinglas an ihre sinnlich roten Lippen, trank einen Schluck und tupfte sich sodann mit der Serviette einen Tropfen des roten Rebensaftes von ihrem Mund.
"Ich sehe, du reihst dich direkt in die Reihen der flavischen Taugenichtse ein. Es ist deine gesamte Generation, ich habe es schon früh prophezeiht. Man kann euch aus den Analen dieser Familie streichen, angefangen bei deinem Vetter Felix, welcher sich auf seinem Senatorentitel ausruht, es nicht einmal dauerhaft in den Senat zu schaffen scheint, geschweige denn über das Aedilat hinaus. Gefolgt von deinem verdorbenen Bruder, welcher seinem Christengott hernach eilte, deinem Bruder Lucullus, welcher sich von einem gemachten Nest in das nächste flüchtet, von den Hispaniern will ich besser erst gar nicht sprechen. Als du in den Cursus Honorum eintratest, hegte ich tatsächlich die Hoffnung, zumindest du würdest diesen Weg noch einmal zu Ende gehen und das Ansehen dieser Familie hoch halten. Dabei jammerst du nur hier herum, bleibst ebenso auf deinem angewärmten Polster sitzen wie deine Vettern, anstatt voran zu gehen."
Ihren eigenen Sohn und seine ebenso unstandesgemäße Lage erwähnte Agrippina nicht, doch Gracchus war sich sicher, dass sie sich gerade seiner Person im Besonderen bewusst war. Doch er hatte keine Gelegenheit, ihrem Vorwurf zu entgegnen, denn sie fuhr in direkter Art fort.
"Es ist völlig unnütz und überdies Verschwendung, noch Mühe, Kraft oder Ressourcen in eure Zukunft zu stecken. Ihr habt versagt. Die Zunkunft der Flavier liegt in Händen der nächsten Generation, Furianus hat es bewiesen. Ich beobachte ihn genau und er ist der einzige von euch, der den Willen, das Durchsetzungsvermögen und die Stärke der Flavier aufweist. Er hat euch alle überflügelt und er wird längst Consul sein während ihr euch noch darüber Gedanken macht, wie ein Senator sich zu verhalten hat. Marcus hätte meinen Enkel besser in seine Obhut gegeben als in die deine, Serenus wäre auf dem besten Wege in die Politik, statt in Alexandria philosophischen Schwätzern zu lauschen."
"Schweig, Weib!"
fuhr Gracchus nun endlich auf und echauffierte sich regelrecht, so dass gar die Blässe aus seinem Gesicht wich und durch eine leichte Röte ersetzt wurde. Schon immer hatte er sich durch die Ansprüche seines Vaters selbst als unzulänglich wahrgenommen - ob zu Recht oder Unrecht sei dahingestellt, doch so sehr er sich selbst demütigen ließ ohne dem etwas entgegen zu setzen, so sehr erzürnte ihn die Demütigung seiner Familie.
"Es ist genug! Du magst mich erniedrigen, du magst meine Person durch den Schmutz ziehen, vielleicht sogar zu Recht, doch ich dulde nicht länger, dass du meine Familie und unsere Gens auf derart insolente Art und Weise desavouierst!"
Ob seiner ohnehin schon aufgewühlten Gefühlslage hatte sich gar eine Spur von Zorn in Gracchus' Stimme manifestieren können.
"Nur weil dein eigener Sohn nicht deinen überzogenen Ansprüchen gerecht werden kann, hast du kein Recht uns alle zu verurteilen. Jeder von uns kennt seine Pflichten und jeder von uns nimmt seine Pflichten wahr wie es sein Wesen ihm ermöglicht. Du sitzt fern allen Geschehens in deinem kleinen Palast, weißt nichts, absolut nichts über die Gründe, die dazu führen, dass wir stehen, wo wir stehen. Und dennoch, Agrippina, wo wir auch stehen - als Sacerdos in einem Tempel, als Centurio in Parthien oder auch als Civis in Rom - wir stehen dort als Flavier. Niemand kann uns dies nehmen und wir sind uns dessen nur allzu bewusst. Wenn dir der Sinn nach Tadeln steht, so solltest du bei deinen eigenen Fehlern beginnen. Nur hüte künftig deine Zunge, wenn du Gäste bewirtest, denn ich werde nicht dulden, dass du uns zum Gespött des Imperium machst. Magst du über Rom, magst du gar über den Kaiser und selbst über die Götter spotten soviel du willst, doch sei vorsichtig in Bezug auf die Flavia!"
Indigniert stand er auf ohne darauf zu warten, dass ein Sklave ihm zuvor die Sandalen an die Füße zog.
"Es wird Zeit zu gehen. Ich danke dir für deine Gastfreundschaft und ich danke dir für deine Mühen, doch ich werde in Rom gebraucht, gleich ob du dies goutierst oder nicht. Ich werde morgen früh abreisen. Einen angenehmen Abend wünsche ich dir."
Ohne eine Antwort abzuwarten, dreht sich Gracchus um und verließ den Raum, so stolz und würdevoll wie dies ohne Schuhe möglich war. Flavia Agrippina blieb allein im Triclinium zurück, einen undurchsichtigen Ausdruck in ihrem Blick. Als Gracchus am nächsten Morgen wie angekündigt die Villa verließ, ließ sie sich als abwesend entschuldigen, und Gracchus wusste, dass er einen Fehler begangen hatte und sich besser nicht in allzu naher Zukunft sollte in Baiae blicken lassen. -
Schließlich durchbrach Gracchus das Schweigen, denn es drängte ihn eine Frage, welche nur noch wenige Mitglieder der flavischen Familie würden beantworten können.
"Du warst schon immer über die Geschehnisse in der Familie informiert, nicht wahr?"
Interessiert blickte Agrippina auf. Sie zog ihre Finger durch eine Schale mit warmem Wasser um sie zu reinigen und tat dies mit einer solchen Sinnlichkeit in ihrer Bewegung, dass Gracchus hätte tatsächlich schwach werden können, wäre er dem weiblichen Geschlechte zugeneigt gewesen.
"Schon immer", entgegnete sie ihm.
"So wirst du von meinem Bruder wissen, von meinem Zwilling. Wie war sein Name?"
Für einen Augenblick verlor Agrippina die Kontrolle über ihre Miene, Erstaunen und Verwunderung zeigte sich darauf, bevor ihr Antlitz erneut zu einer Maske der Neutralität erstarrte.
"Sein Name war Quintus Flavius Gracchus. Doch er ist schon lange tot. Wie hast du von ihm erfahren?"
Erneut nahm Gracchus das Glas vor sich und goss einen Schluck daraus in den Becher für die Geister der Flavier.
"Quintus Flavius Gracchus - was hätte nur aus ihm werden können. Ich habe dies von einer ehemaligen Sklavin erfahren, doch sie konnte sich an seinen Namen nicht mehr erinnern. Was ist mit ihm geschehen?"
Agrippina lehnte sich auf ihrer Cline zurück und sann einige Augenblicke nach, in ihrer Erinnerung die Zeit zurück drehend, ein halbes Leben aus ihrer eigenen, beinahe ein gesamtes Leben aus Gracchus' Sicht.
"Er wurde entführt, von einer übereifrigen Amme und - ich glaube, es war ein Stallbursche. Sie wollten sich ihre Freiheit erpressen und gleichzeitig ein kleines Vermögen, um ihr neues Leben zu beginnen. Doch etwas ging bei der Lösegeldübergabe schief. Ohne schlecht über ihn sprechen zu wollen, so war es vermutlich dein Vater, welcher die Kontrolle verlor, es hatte mich ohnehin gewundert, dass er das Geld überhaupt bezahlen wollte. Er tötete den Sklaven, doch das Mädchen konnte mit deinem Bruder entkommen. Die Jagd auf sie dauerte mehrere Tage, schlussendlich vollstreckten die Götter selbst das Urteil. Man fand nur noch ihre Leichen in einem abgebrannten Schuppen draußen auf dem Land, eine Frau und ein Kind, um das Handgelenk der Frau lag noch ein silbernes Armband, welches sie aus dem flavischen Haushalt geraubt hatte. Deine Mutter hat es später einschmelzen und einen Ring daraus gießen lassen, dein Vater hat ihn bis zu seinem Tod immer bei sich getragen. Natürlich ließen Vespasianus und Nyreti diese Geschehnisse nicht an die Öffentlichkeit vordringen. Sie gaben an, dass dein Bruder an einer Krankheit verstorben war, ich weiß nicht mehr genau was, irgend eine von diesen Kinderkrankheiten. Es war nicht schwer, dies zu vertuschen, denn wen kümmert Aufenthalt und Befinden der Kinder, so es nicht die eigenen sind?"
Augenscheinlich war Quintus' vermeintliche Mutter tatsächlich ein wenig gewitzt gewesen, vielleicht durch ihre Angst zu diesem Einfall getrieben, zudem in gewisser Hinsicht skrupellos. Dies erklärte zumindest, weshalb niemand versucht hatte Quintus zu finden. Gracchus' Gedanken kreisten noch um seinen Zwilling und dessen Schicksal, da Agrippina jene Gedanken jäh unterbrach, da sie augenscheinlich bei ihren eigenen Kindern und Kindeskindern angelangt war.
"Wie geht es meinem kleinen Schatz Serenus? Weshalb hast du ihn nicht mitgebracht?"
Verwundert hob Gracchus eine Augenbraue. Agrippina wusste um das Malheur bei Aristides' Verlobung, sie wusste, dass dessen Junge aus Rom entwichen war, ebenso wie sie wissen musste, dass Gracchus nicht wissen konnte, wo er war.
"Seit seinem Verschwinden aus Rom bin ich ihm nicht begegnet."
Nun war es an Agrippina eine Augenbraue in preziöser Indignation zu heben.
"So? Du warst nicht einmal in der Villa in Alexandria?"
"Alexandria? Serenus ist in Alexandria?"
Hätte er nicht befürchten müssen, durch seinen Zwilling doppelt in Aegyptus zu erscheinen, so hätte er womöglich die Villa aufgesucht, doch dazu war es nicht gekommen.
"Nein, ich war nicht dort. Da Leontia nicht in Alexandria angekommen war, entschloss ich mich für die direkte Rückreise. Wie ist sein Befinden?"
"Wie bedauerlich. Da du jedoch ohnehin schon am Herumreisen und Zeit verstreichen lassen bist, wird es dir sicher nichts ausmachen, noch einmal nach Alexandria zu reisen und ihn zurück nach Rom zu bringen. Es geht ihm den Umständen entsprechend gut, doch ich will nicht, dass mein Junge zu einem Pröpstling heranwächst, die Genusssucht Alexandrias ist immerhin sprichwörtlich."
Die Farbe wich aus Gracchus' Gesicht und hinterließ eine ungesunde Blässe um seine Nase, sein Magen rebellierte bereits ob der überaus degoutanten Reminiszenz an die zurückliegende Überfahrt, ohnehin schon, doch mit Leontias und Quintus' Schicksal im Hinterkopf noch mehr.
"Nein."
Langsam schüttelte er den Kopf.
"Verzeih, doch dies kannst du nicht von mir verlangen, Agrippina. Ganz davon abgesehen, dass meine Rückkehr nach Rom indispensabel ist, so ist das letzte, was ich nach dieser grauenvollen Reise tun werde, all zu bald erneut ein Schiff zu besteigen."
Agrippinas vernichtender Blick bohrte sich bis tief in seine Seele.
"Du würdest in deiner larmoyanten Art wahrhaft noch Eurylochos in den Schatten stellen, Manius Flavius Gracchus."
Schon ihr Blick allein war bereits dazu geschaffen, einen Mann in sich zusammen schmelzen zu lassen wie alpines Gletschereis in der Sonne Roms, doch die despektierliche Stimmlage ihrer Worte ließ das aus der Schmelze zurückbleibende Wasser gleichsam noch im selben Augenblicke verdampfen. Nur zu gerne wäre Gracchus ein kleiner Wassertropfen in diesem Dampfe gewesen, hätte sich in Luft aufgelöst, alles, um nur nicht ihr gegenüber sitzen, ihr antworten zu müssen, denn das vernichtende Urteil aus ihrem Munde verlangte nach einem Wort ebenso unumstößlich, einem festen Gegenwort oder gar einer Apologie, mutig ausgesprochenen aus dem Mund eines wahren Flavius.
"Ich weiß."
Es war nicht ganz ein Gegenwort, von einer Apologie ganz zu schweigen, genauer war es gar eine blamable Bestätigung Agrippinas Aussage, doch Gracchus konnte nicht aus seiner Haut heraus und fühlte sich zur Wahrheit verpflichtet, selbst wenn dies ihn in ungutes Licht rückte, vielleicht auch gerade dann. Ihre Antwort hierauf bestand aus Stille, ihr starrer Blick fixierte Gracchus, der ob dessen den seinen beugen musste, ihrer Präsenz nicht konnte standhalten und um so mehr sich nicht mehr nur zu einem Wasserpartikel wünschte, denn direkt zu einem bedeutungslosen Staubkorn in der Luft. Da die bedrückende Stille nicht wollte enden, räusperte sich Gracchus schließlich leise und durchstieß sie selbst.
"Der Scham in mir ob dessen ist außerordentlich groß, dessen sei dir versichert." -
Agrippina war eine äußerst traditionsbewusste und sehr konservative Patrizierin, genau genommen bestimmte sie nicht nur für einen Großteil der flavischen Familie Tradition und Sitte, sondern für alle Familien, welche etwas auf sich hielten, in halb, womöglich gar in ganz Baiae und der Bucht, welche daran anschloss. Da Agrippina nicht in einem Korbsessel zu sitzen pflegte, war es seit Jahren in Baiae verpönt für Frauen, selbst oder aber gerade auch für jene aus den besten Häusern, auf Korbstühlen zu sitzen wie es in vielen traditionellen Familien noch immer der Fall war, denn Agrippina lag für gewöhnlich auf einer Cline, genauer gesagt immer auf jener Cline des Hausherren und tatsächlich lag sie nicht einfach nur darauf, sie thronte. Ihre gesamte Erscheinung war dazu angetan die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen, die Reife ihres Alters hatte nicht dazu beigetragen, ihre Schönheit zu mindern - obgleich böse Zungen munkelten, dass sie schon seit einigen Jahren jedes Jahr erneut ihren fünfzigsten Geburtstag feierte - gegenteilig schien sie mit jedem weiteren Jahr mehr und mehr zu erblühen. Die Fältchen um ihre Augen und den Mund waren durch geschickte Kosmetik verborgen, um die Augen herum schimmerten dezente Farben. Das Haar Agrippinas war noch immer glänzend schwarz - graue Strähnen womöglich künstlich überdeckt worden - und in strenger Weise um den Kopf gesteckt, wie es dieser Tage im römischen Reich getragen wurde. Nur wenig Schmuck war an ihrem Körper zu finden, doch jenes Geschmeide dafür um so exklusiver, aus reinstem Gold und mit strahlenden, rotfarbenen Schmucksteinen. Ihre schlanke, wohlproportionierte Gestalt hielt die angeheiratete Flavierin aufrecht, ihren Kopf erhoben, das Kinn immer ein wenig in die Höhe gereckt, ihre Augen blickten stets klar und konzentriert, wichen nie dem Blick ihres Gegenübers aus. Sogar Angehörige der flavischen Familie und damit ihrer eigenen Verwandtschaft fürchteten sich vor ihrem bösen Blick und taten für gewöhnlich alles, um nicht das Ziel jenes zu werden. Agrippina beherrschte den Raum derart, dass sich Gracchus selbst dann noch in eine Ecke gedrängt fühlte, als er bereits auf der Cline des Gastes zu ihrer Seite lag. Da sein Befinden in den zurückliegenden Tagen sich gebessert hatte, hatte Agrippina darauf bestanden, dass er endlich mit ihr würde Soupieren, und Gracchus war weder zu dieser Zeit, noch zu jeder anderen in der Lage, dieser Forderung nicht nachzukommen. Ein wenig unsicher ob seiner selbst hielt er die übliche Maske der Höflichkeit aufrecht und hoffte einen suffizient aufmerksamen Eindruck zu erwecken. Agrippina indes scherte sich weder um das Gemüt ihres Neffen, noch um seine Bemühungen, ihre ganze Aufmerksamkeit galt wie üblich ihrem umspannenden Netz aus Information, Intrige, politischem und familiärem Kalkül.
"Weshalb warst du in Aegyptus, Gracchus?"
Den Kopf ein wenig schief gelegt sammelte Gracchus einen Augenblick seine Gedanken. Er hat diese Frage erwartet, sich die Lüge zur Wahrheit zurecht gelegt, denn die tatsächliche Wahrheit musste verborgen bleiben, auch jetzt noch nach Quintus' Tod.
"Sicherlich weißt du um Aetius' Absichten, Leontia erneut in eine Ehe zu geben. Leontia jedoch war demgegenüber abgeneigt, sie bat mich um meine Hilfe, um ein wenig Zeit zu gewinnen. Sie wollte sich nicht offen gegen ihren Vater auflehnen, doch sie sehnte sich nach Ruhe, um ihre Gedanken ordnen zu können. Du weißt, wie Aetius ist - impulsiv, drängend, unüberlegt. Darum sprach ich ihr zu, erklärte mich bereit, sie zu unserem Landsitz nach Aegyptus zu begleiten, wo sie die Gelegenheit würde finden, in sich zu kehren. Doch hielten mich vorerst meine Aufgaben in Rom. Leontia wollte nicht warten, sie befürchtete, ihr Vater würde sie aus Rom fortholen lassen, so trat sie den Weg bereits ohne mich an. Sobald mir dies möglich war schiffte auch ich mich nach Alexandria ein."
Ein Augenblick des Schweigens entstand während dessen Gracchus bemüht war um seine Selbstbeherrschung.
"Doch Leontia ist nie dort angekommen."
"Weshalb nicht? Wo ist sie denn?"
Missbilligung lag in Agrippinas Blick, denn solcherlei törichte Abenteuer um einer Ehe zu entgehen, welche womöglich durchaus mehr Nutzen aufwies, als ein junges Ding wie Leontia dies sehen würde, hatte sie noch nie gutheißen können, zudem hatte sie Leontia bisherig für durchaus vernünftig gehalten.
"Das Schiff versank im Sturm. Ich blieb kaum in Alexandria, es drängte mich zurück nach Ostia, um dort mehr in Erfahrung zu bringen, doch Fortunas Launen brachten mir das Fieber und mich hierher. Sciurus zog Erkundigungen über die Pegasus ein, jenes Schiff, mit welchem Leontia aus Osita aufbrach. Nichts blieb übrig, kein Schiff, keine Waren, keine Überlebenden, keine Hoffnung."
Schweigen legte sich über den Raum, senkte sich schwer auf Gracchus hinab, zerriss ihm das Herz, schnürte ihm die Kehle zu.
"Leontia ist tot. Wir müssen uns damit abfinden."
Obgleich er sich um Ruhe bemühte, zitterte seine Stimme. Die Wahrheit ausgesprochen drückte erneut heftig auf sein Gemüt, es drängte ihn danach den Raum zu verlassen, sich zurück zu ziehen, zu flüchten in eine Welt, in welcher Würde nicht gefordert war. Selten zuvor hatte er so sehr bedauert zu sein was er war.
"Ist dies sicher?"
"Zu viel Zeit ist bereits vergangen als dass es könnte anders sein. Ich werde in Rom dafür Sorge tragen, dass ihrem Geiste Ruhe gegönnt sei. Obgleich kein Körper zurück blieb, um ihn den Riten gemäß dem Feuer zu übergeben und beizusetzen, so können wir doch ihre Gaia nicht rastlos darben lassen. Unsere Traditionen kennen viele Beispiele, um das Fehlen des Stofflichen auszugleichen, sicherlich finden sich in den Bibliotheken gar Vorgehensweisen für solch einen Fall."
Obgleich es durchaus häufig war, dass den Anverwandten weder Körper noch Asche von ihren Verstorbenen blieb, so hatte Gracchus eine solche Beisetzung bisherig in seinem Leben nicht selbst erlebt. Einzig sein Bruder Animus war in der Ferne verschollen und verstorben, doch da jener bereits zuvor aus der Familie verstoßen worden war, hatte niemand sein Dahinscheiden betrauert. Nachdenklich nickte Agrippina, ihr Blick war nicht mehr ganz so hart wie noch zuvor, doch hiervon abgesehen gestattete sie sich keine Regung ob des Todes ihrer Nichte. Stille breitete sich erneut über den Raum aus, erst durchbrochen als Gracchus sein Glas mit Wein anhob und einen Schluck daraus in den Becher für die Ahnen und Götter gab. Agrippina griff zu einem der Fleischkügelchen, welche auf ihrem Teller ruhten, tunkte es in eine leichte Knoblauchsauce und eröffnete damit das Mahl. Ob des erst kürzlich zurückliegenden Unwohlseins hielt sich Gracchus jedoch generell und mit scharfem Essen im Besonderen zurück, gleichsam verspürte er ohnehin nur spärlichen Appetit, folgte jedoch den Regeln der guten Sitten und schwieg solange sich Agrippina dem Essen widmete. -
Obgleich die Wahrheit um nichts an ihrer Bitterkeit verlor, so musste doch schlussendlich das Fieber Gracchus aus seinen Klauen entlassen, so dass jener sich dem musste stellen, was jenseits von trügerischem Traumreich ihn erwartete. Obgleich selten er aus den Fängen des Morpheus entkommen war, so erinnerte er sich doch mit schmerzhafter Deutlichkeit an die Kunde seines Sklaven, welche mehr noch mit all den Bildern der Dunkelheit ihren niederschmetternden Sinn ergab. Denn kein Traum war Trug allein, kein Traum war geboren nur aus Hoffnung und Wunsch, kein Traum gar, dessen Bilder sich so deutlich in die Seele hatten gebrannt, war einzig Ausgeburt des Geistes. Ungehindert wandelte der Traumfürst durch seine Welten, keine Grenzen für ihn unüberwindbar, so dass alles Geschehen sich in seinen Gaben konnte vermengen, so dass ferne Gestade sein Reich waren gleich den heimischen Gefilden.
Leontia war tot.
Quintus war tot.
Von den unbarmherzigen Tiefen des Meeres waren sie verschlungen, ihr Leben verloren an die wilden Gestalten des Schiffe-verzehrenden Neptun. Eine eisige Hand legte sich um Gracchus' Herz und drückte es langsam zusammen, Tränen stiegen in seine Augen, nichts konnte ihr Emporkommen verhindern. Er stand am Fenster und blickte über die felsigen Klippen hinaus auf den Golf von Neapolis, die friedfertig schaukelnden Wellen, das heimtückische Meer, welches so friedvoll in türkisfarbenem Blau im Licht der mittäglichen Sonne schimmerte. Gleich wie er es drehte und wendete, gleich wessen Sinne er in seiner Gestalt sah, Manius Flavius Gracchus hatte seine Base in den Tod gesandt - er höchstpersönlich selbst oder sein Bruder, dem er bereitwillig sein Selbst hatte überlassen - schlimmer noch, ebenen jenen Bruder hatte er ebenfalls mit ins Verderben gerissen. Obgleich ihn der Verlust seines eben erst gefundenen Zwillings tief schmerzte, mehr noch, da all dessen Tun mit dem Ende seiner Existenz nichtig war und einzig die Verbundenheit blieb, die verlorenen Chancen und das Band des Blutes, trotz dessen war jene Trauer nichts im Vergleich zu dem grenzenlosen, qualvollen Schmerz ob des Todes seiner Base und der unendlichen Last seiner eigenen Schuld daran. Wie alle wahrhaften Römer war Gracchus jederzeit bereit, einem Feind ins Auge zu sehen und ihn durch eigene Hand ins Jenseits zu befördern - obgleich sich dies theoretisch natürlich einfacher darstellte, als es würde tatsächlich sein, doch würde es nicht an Bereitschaft und Entschlossenheit mangeln, wenn auch womöglich an Mut und Durchsetzungsvermögen - doch seine eigene Base, jene unschuldige, reine Person in den Tod geschickt zu haben, ihr Verderben in seiner Schuld zu wissen, dies ließ Gracchus mehr als alles um ihn herum in tiefem Defätismus versinken. -
Erneut stieg in den kommenden Tagen das Fieber in Gracchus' Körper, als wolle er damit die unveränderliche Wahrheit aus sich heraus brennen, als würde die Hitze den Schmerz wenn nicht vertreiben, so doch zumindest verdrängen. Unermüdlich wachte Sciurus an der Lagerstatt seines Herrn, schickte weiter Boten aus, um Neuigkeiten über den Verbleib der Pegasus zu sammeln, doch vergeblich - nicht ersteres, doch letzteres. Tage zogen sich dahin in gleicher Eintönigkeit wie Nächte, vergeblich wandelte Gracchus in des Morpheus' Gefilden, fiel von einem wirren Traum in den nächsten ohne je seinem Ziel näher zu kommen, wachte nur selten auf, nur um nach einigen Schlucken Wasser erneut sich zu flüchten in die realitätsferne Fremde, in welcher längst die Hoffnung nicht so vergeblich war wie in Baiae, wo noch immer Leontias Spur zu finden war, zumindest ab und an.
~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~
Wüste ward im fahlen Mondschein,
Stille ward und Zeit zerran.
Einsam stand das Ich als Monster,
in der Hand den wilden Fang."Teuerste Base", säuselt's leise,
"komm mit mir in meine Welt.
Trau' den Worten aus meinem Antlitz,
zeig' ich dir was mir gefällt.""Teuerster Vetter, könnt' ich niemals dir
nicht Glauben schenken und deinem Wort.
Zeig sie mir, geliebter Vetter,
zeigt sie mir und nimm mich fort."Nahm das Ich die Bas' behände,
die ihm reicht die eig'ne Hand,
riss das Maul auf, zeigt die Zähne,
riss sie fort in fremdes Land.Trän' um Trän' fällt fort vom Himmel,
doch im Sande keine Spur.
Kaum noch Hoffnung in der Wüste
bleibt am End Verzweiflung nur.
~~~ -
~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~
Obgleich niemals so wenig Schiffe im Hafen Ostias vor Anker lagen - im Detail trieb nur ein einziges allein im großen, durch goldene Mauern eingefassten Hafenbecken - so war dies doch unzweifelhaft die Hafenstadt im Südwesten Roms. Eine orangefarbene Sonne bedeckte mit ihren wärmenden Strahlen das blühende Land, leckte über die sich kräuselnden Schaumkronen auf den sanften Wellen hinweg und ließ das endlose Meer türkisfarben schimmern. Ein Lächeln umspielte Gracchus' Lippen als er seine Base zu dem weißen, geflügelten Pferd hin führte, welches darauf wartete jene zu dem gewaltigen Schiff hinüber zu transportieren.
"Hab keine Furcht, Leontia."
sprach Gracchus mit sanfter Stimme.
"Es wird dir nichts geschehen. Vertrau mir."
Zärtlich drückte Leontia seine Hand zum Abschied, lächelte entzückt, stieg auf das Pferd und ließ sich durch die Luft auf das wartende Schiff tragen. Winkend stand Gracchus am Hafenbecken als die Segel sich blähten und die weißen Schwingen des Pegasus sich tief in das Wasser gruben. Auch Leontia winkte an der Reling stehend als er selbst neben sie trat und ihr den Arm um die Schultern legte. Hämisch grinste er und winkte sich selbst zu, doch war er nicht er selbst, war es Quintus, der bei Leontia war. Am Ruder stand er und steuerte das Schiff, war Kapitän zugleich und blies den Wind in die Segel, auf dass sie sich unter seinem Atem aufbäumten. Unendlich wurde die See und graufarben, düster der Himmel, wolkenverhangen. Grelle Blitze durchzuckten die Nacht und erleuchteten sie für Bruchteile eines Herzschlages taghell, so dass das Schiff wie ein Gerippe vorm Himmel erschien. Haushohe Wellen schlugen hart über die Reling, begruben Leontia unter dem schweren Nass, spülten über die hölzernen Planken und umtanzten Tullius' Füße, welcher noch immer am Steuer stand. Ein gewaltiger Abgrund tat sich mit einem Male vor dem Schiff auf, ein gewaltiger Schlund öffnete sich und sog das Wasser in sich ein, riss das Schiff einer Nussschale gleich über die Wellen. Verzweifelt klammerte sich Leontia an den Mast, Furcht stand in ihren Augen geschrieben, flehentlich streckte sie ihre Hand aus und rief nach ihm. "Hilf mir, Gracchus! So hilf mir doch!" Quintus nahm sie in seinen Arm, drückte sie mit der einen Hand an sich, während er mit der anderen das Steuer umgriffen hielt. Doch der Sog war unbarmherzig, unaufhörlich zog er das Schiff in sich hinein in kreisenden Bewegungen, erst langsam, doch schließlich schneller und schneller wurde es hinab gerissen in die Tiefen des Meeres, wurde sie hinab gerissen, Leontia, wurde verschlungen von den Gewalten der See, an ihrer Seite Quintus, der Spieler, der im Spiel mit den Gewalten des Meeres seinen Meister fand. Als die Sonne sich goldfarben glühend über das Meer erhob glitzerte feiner Schaum auf den sanft schlafenden Wogen und einzig ein weißer Flügel, welcher einsam auf den unendlichen Weiten der See trieb, kündete von dem, was einst gewesen war.~~~
Im Lichte silbrig glänzende Schweißperlen standen auf Gracchus' Stirn als die Lider seiner Augen sanft auseinander drifteten und er mit verklärtem Blick die Decke des ihm fremden Raumes so intensiv musterte, als könne er aus der Struktur der Bemalung dort oben ablesen, welches Haus dies war. Sein Atem ging flach und seine Glieder waren schwer, sein Körper schwach durch das Fieber. Er starrte noch immer zur Decke hin als Sciurus an das Bett herantrat und seine Stirn mit einem feuchten Tuch abtupfte. Gracchus wusste nicht, seit wann er hier war, wusste nicht weshalb und ebenfalls nicht, wo hier war, doch all dies war belanglos.
"Wo ..."
, keuchte er leise, im Ansinnen nach seiner Base sich zu erkundigen. Er erschrak ein wenig ob der Tonlage und der Farblosigkeit seiner eigenen Stimme, denn an jenem heißeren Flüstern war kaum mehr etwas von seiner tiefen, sonoren Stimme, welche im Bedarfsfall bei einer Opferung fest über einen großen Platz hinweg schallen konnte. Sein Leibsklave Sciurus jedoch missverstand jenes einzelne Wort, strich seinem Herren die feuchten Haare aus der Stirn und blickte ihn sorgenvoll an. "Du bist in Sicherheit, Herr. Dies ist die Villa Flavia in Baiae, das Heim der Flavia Agrippina. Erinnerst du dich, dass wir Aegyptus verließen? Die See war rau und dein Zustand verschlechterte sich mehr und mehr. Erst glaubte ich es wäre die Kumulierung der erneuten Fahrt über das Meer, so kurz nach jener ersten Überfahrt von Ostia aus. Doch bald musste ich erkennen, dass dein Zustand weit über die einfache Seekrankheit hinausging. Der Kapitän war erst nicht bereit wegen eines einzelnen Mannes seine Fahrt zu unterbrechen, denn ein nächtlicher Sturm hatte uns ohnehin schon beträchtliche Zeit gekostet. Doch als mir dein Zustand so bedenklich erschien, dass ich bald befürchten musste, du würdest dein Leben auf See lassen, konnte ich ihn schlussendlich überzeugen in Misenum vor Anker zu gehen." Sciurus' Überzeugung hatte in gewaltigen Drohungen bestanden, was geschehen mochte, wenn ein Flavier aus dem Zweig des Flavius Romulus auf seinem Schiff dahin scheiden würde, ohne dass er als Kapitän etwas unternommen hatte, um dies zu verhindern, und nicht zuletzt auch aus einer Menge Münzen, mehr als der Seemann in einem ganzen Monat üblicherweise in Händen hielt. "Von dort war es nicht weit bis Baiae und die ehrenwerte Agrippina setzte alle Hebel in Bewegung als sie von deiner Ankunft erfuhr." Langsam und träge blinzelte Gracchus und schluckte schwer.
" Wo ... ist Leontia?"
Ausweichend mied der Sklave seinen Blick, begann die Arme seines Herren mit dem feuchten Tuch ab zu reiben. "Ich habe alles mögliche versucht, um über den Verbleib des Schiffes etwas zu erfahren, Herr. Es erreichte Alexandria nicht, bis heute nicht, und es landete auch in sonst keinem Hafen im gesamten Imperium. Ich war selbst bei den Händlern in Ostia, es war ein großes, wertvolles Schiff. Die Händlervereinigung setzte einiges daran, um über seinen Verbleib mehr zu erfahren, doch nirgendwo gab es einen Hinweis, keine Überlebenden, die irgendwo an Land gespült wurden, keine Kisten mit Waren, die irgendwo auftauchten. Es scheint als hätte das Mare Internum die Pegasus mit Mann und Maus verschlungen. Doch wir werden deine Base finden, Herr, wir werden sie finden."
"Nein!"
Gracchus' Körper bäumte sich auf und er keuchte, sein Atem beschleunigte sich und sein Innerstes krampfte sich zusammen als wolle es sich nach außen kehren, jegliche Farbe wich aus seinem ohnehin schon blassen Gesicht und seine geröteten Augen füllten sich langsam mit Flüssigkeit.
"Nein"
,keuchte er wieder in mühevollem Blinzeln versuchend, die Tränen aus seinem Antlitz zu vertreiben. Qualvoll zog sich der Schmerz der Erkenntnis durch seinen gesamten Körper.
"Sie ist tot ... sie ist tot. Ich habe es gesehen ... in meinen Träumen ... das Meer hat sie verschlungen!"
Die Last der Wahrheit drückte auf Gracchus' Schultern, drückte auf seine Brust, so dass er kaum atmen konnte, seine Glieder waren längst nicht mehr zu spüren, die Kehle schien ihm abgeschnürt. Leontia - sie war ihm gefolgt und er hatte sie in den Tod geführt. Quintus - seinetwegen hatte er Rom verlassen und er hatte ihn in den Tod geschickt. Im nächsten Augenblicke schob sich die Dunkelheit in Gracchus' Blick, zog das Licht sich zu einem winzigen Punkte zusammen, seine Pupillen wandten sich nach oben als wollten sie das Kissen unter seinem Kopfe erblicken, die Lider zitterten kurz, dann war sein Geist erneut umfangen von der stillen, befreienden Dunkelheit der Bewusstlosigkeit. -
~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~
Düsternis am Himmel zog,
darüber eine Möwe flog.
Ein Tropfen fiel vom Boden her,
im Sand der Wüste lag ein Speer.
Davor ein Schatten sich erstreckte,
der böse Ahnung in Gracchus weckte.Es war sein Umriss, es war sein Ich,
und dennoch war es widerlich.
Er war es selbst vom Fuße bis zum Schopfe,
ein Lächeln auf dem hoch gereckten Kopfe.
Ein Lächeln - doch bösartig und gemein,
dies Ich wollt Gracchus selbst nicht sein.So war's denn Quintus, der elend'ge Köter,
der räuberische Pirat und Basentöter.
Er hob den Speer und legte an,
um Gracchus' Herzen wurd' es bang.
Zum Ziele er sich sah auserkoren,
glaubte sich alsbald verloren.
Denn rings umher nur Treibsand lauerte,
da Gracchus noch sich selbst bedauerte.So stand er denn nur still und bangte
als des Speeres Spitze an ihn angelangte.
Sie bohrte sich tief bis in sein Herz,
doch Gracchus spürte keinen Schmerz.
Sein Zwilling war's in dem die Spitze steckte
und er war's der ihn niederstreckte.
So wars am Ende er allein,
denn zwei von einem, dies konnt' nicht sein.
~~~
"Quintus ..."
In quälender Langsamkeit hob Gracchus die Lider und blinzelte in dämmriges Kerzenlicht hinein, Hitze umfing seinen Geist wie seinen Körper, seine Kehle war ausgedörrt und seine Gedanken leer. Es dauerte einige Herzschläge bis er sich der schattigen Gestalt wurde gewahr, die neben dem Bett auf einem Stuhl saß, das ebenmäßig schöne Gesicht vom Schein der hinter ihr flackernden Flammen umrahmt, eben ein feuchtes Tuch über seine Stirn tupfend. Als sie Gracchus' Erwachen bemerkte, umrahmte ein mildes Lächeln ihre Lippen und sie sprach leise einige Worte, Worte die so fern waren, dass Gracchus kein einziges davon verstand. Der sanfte Klang ihrer Stimme jedoch erinnerte ihn an etwas, das wichtig war, doch je intensiver er versuchte, sich auf jenen Gedanken zu konzentrieren, desto weiter entfernte er sich von ihm. Es war die beruhigende Stimme der Frau an seiner Seite, welche schlussendlich dazu führte, dass er erneut in einen haltlosen Dämmerzustand hinfort driftete und von Träumen umfangen wurden, welche so wirr waren, dass er selbst am wenigsten ihren Sinn begreifen konnte. -
Ein kleiner Tross erreichte die Villa von Misenum her, wenige Sklaven um eine Sänfte herum, an ihrer Spitze Sciurus, der Leibsklave des Flavius Gracchus. In der Sänfte lag sein Herr gebettet, fiebrig von der Seereise aus Alexandria her, kaum bei Bewusstsein, in seinen Träumen noch immer seinem Zwilling und seiner Base nachjagend. Ein Bote, aus Misenum gesandt, hatte das Anwesen schon eine Stunde zuvor erreicht, so dass das Eintreffen des Flavius bereits angekündigt war. Es sekierte die Hausherrin ein wenig, dass jener nicht bereit war, ihr zu berichten, was ihn nach Baiae trieb, mehr noch, dass sein Sklave kaum Auskunft gab, doch da der Gast zu diesem Zeitpunkt ohnehin nicht bereit war, das Leben in der Villa mit seiner Anwesenheit zu tangieren, geschweige denn zu bereichern, ignorierte Agrippina seine Anwesenheit vorerst, und überließ ihren Neffen gänzlich dem Personal. Gracchus wurde in eines jener Zimmer gebracht, welche jederzeit für die Familie bereit standen, der griechische Leibarzt der Agrippina wurde aus dem nahen Baiae geordert, konnte jedoch nicht mehr als Ruhe, kalte Umschläge, und Schwitzen verordnen, um das Fieber aus Gracchus heraus zu treiben, welcher noch immer zwischen Traum und Realität schwebte, ohne zu wissen, wo die Grenze lag. Wabernd und wogend bewegte sich der trübe Schleier aus nebulöser Unwissenheit um ihn herum als einen Tag später seine Augen sich langsam öffneten, die Lider waren schwer als würden bleierne Anker an ihnen haften, die tief auf dem Grunde des Mare Internum im felsigen Grunde steckten. Er wusste nicht wo er war und er wusste nicht wer er war. Immer wieder sah er sich in seinen Träumen, sah sein Antlitz deutlich vor sich und doch war es das Antlitz zweier Personen, waren zwei unterschiedlichen Namen ihm zugeordnet, stritten zwei Seelen um die Oberhand. Gegensätzlich wie Jupiter und Dispater, und doch gleichsam zwei die zueinander gehörten, zwei die eins waren, vielleicht mehr noch gar wie die Gesichter des Janus - doch welcher von beiden war er? War er Anfang oder Ende? War er Sieg oder Niederlage, Verheißung oder Verderben, Scheitern oder Versagen, Schuld oder Sühne? Zweifel erfüllten seinen Kopf, obgleich ohne Anfang und ohne Ende, ohne Sieg und ohne Niederlage, Zweifel ob der Sinnhaftigkeit, ob dem einen oder dem anderen. Schweiß stand ihm auf der Stirn und die Hitze machte das Denken ihm unerträglich, das helle Licht, welches durch die weit geöffneten Fenster fiel, blendete ihn in seinen Augen und die schwere Ungewissheit in seinem Geiste drückte unbarmherzig auf jede Überlegungen hernieder. Nur eines, dessen war er sich sicher, er musste seiner Base folgen, er musste sie finden und sie vor dem Unheil der Welt bewahren.
"Leontia"
, keuchte er heiser ob des Fiebers bevor ihn erneut die tiefe, warme Dunkelheit umfing, er für wenige Augenblicke in die erlösenden, befreienden Arme des Somnus fiel, nur um bald darauf jenen durch dessen Bruder Morpheus erneut entrissen zu werden.~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~
Friedlich lag das Peristylium der Villa Flavia im Schein der nachmittäglichen Sonne, welche honigfarben durch die Öffnung des Daches auf den reich gedeckten Tisch und die Clinen darum herum hinab fiel und das gesamte Arrangement in ein harmonisches Licht tauchte. In einem goldenen Käfig auf einem Tisch an der Seite zirpte ein buntfarben gefiederter Vogel fröhlich vor sich hin und untermalte somit das goldfarbenen Lachen Leontias, welche im fröhlichen und unbeschwerten Scherzen inbegriffen war. Stillschweigend tat sich Gracchus an ihrem Humor und und ihrem Esprit gütlich, ließ sich von ihrer Entzückungen anstecken, von ihrem reinen, unschuldigen Wesen hinfort tragen, sich seine Gedanken von ihren Worten beflügeln und sich in diesem Augenblick perfekter Harmonie zufrieden dahin treiben, denn jegliches Zögern und Zaudern war vergessen. Als es an der Pforte klopfte erhob sich Gracchus, ließ sich von Leontia diskulpieren, trat durch das Vestibulum zur Türe hin und öffnete sie.
"Salve, Quintus."
begrüßte er den anderen in seiner eigenen Gestalt und zog die Türe weiter auf.
"Tritt herein, Leontia erwartet dich bereits in Peristyl."
Mit einem dankbaren Nicken verschwand Quintus zum Peristyl hin, von wo ein erfreutes "Teuerster Vetter, wie entzückend!" erklang, und Gracchus veriließ die Villa, schloss die Türe hinter sich und trat barfuß in die Kälte hinaus. Er wandte sich um und blickte wartend zur Villa, viel zulange bereits waren Quintus und Leontia alleine dort. Viel zulange tat sich nichts, bis dass endlich die Türe sich öffnete und auf einem wilden Strom blau-graufarbener Wellen ein Schiff aus dem Haus hinaus fuhr. Oben auf Deck, am Steuer, stand Quintus Tullius in schmutziger Kleidung, bärtig und hielt eine Sica schwingend, ein Pirat durch und durch. Verzweifelt ließ Gracchus seinen Blick über das Schiff wandern, suchend, bis er schlussendlich gefunden hatte, nach was er suchte. Vorn am Bug hing der Körper seiner Base, aufgespießt als Galionsfigur, ihr Gesicht graufarben starrten die leeren Augen ihn vorwurfsvoll an.~~~
Mit einem entsetzten Keuchen erwachte Gracchus aus seinem Alptraum, starrte in die Dunkelheit und sah noch immer die Augen seiner Base vor sich, bis er endlich zurück in den fiebrigen Schlaf fiel, nicht bemerkend, wie die Tage an ihm vorüber zogen.
-
~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~
Er schloss die Augen, berührte die Hand seiner Base, berührte die Realität, schloss die Türe und ließ seine Furcht zurück. Er wollte ihr geben, was sie ihm gegeben hatte, denn sie war die einzige, welche die Flamme in seinem Herzen hatte entzünden können, jene, welche seine Entschlossenheit zum Flackern hatte gebracht. Er hatte sie genommen und in sich getragen, doch als er nun in der Düsternis stand und nach ihr rief, kam niemand, um die Glut zu entflammen, niemand um sie zu retten. Er hoffte, alldem entkommen zu können, doch es gab kein anderswo, gab kein irgendwo in dieser Welt. So viel von all dem was gesagt wurde, war wahr, ebenso wahr wie der blasse Körper Leontias, eine epiphane Erscheinung nur Bruchteile eines digitus vor ihm. Niemals wieder würde er solch eine Stille finden, niemals wieder wollte er sie ziehen lassen, jenen halbgöttlichen und hungrigen Geist. Er sah in ihre Augen und sah eine Welt, welche nicht existierte, er sah in ihre Augen und sah in eine Welt, in welcher er leben wollte, denn niemals wieder würde er eine solche Stille finden wie in ihr. Doch er konnte nur durch sie hindurch blicken auf die Dinge, welche er nicht sehen konnte. Er horchte tief in sie hinein und konnte einen Traum hören, einen sterbenden Traum. Umhüllt vom Zorn eines unversöhnlichen Geistes flüchtete er in eine andere Zeit, in ein Land aus Nebel und Asche, ein Welt, die er sein eigen nannte, eine Welt, welche sich nicht nach Heimat anfühlte und doch gleichsam jene war, in einen sterbenden Traum, dorthin wo jeder flüchtete, wenn die Zukunft gestorben war. Alleine wandelte er auf gesichtslosen Straßen, bestieg die Tiefen desolater Höhen und sandte seine tonlosen Rufe aus in die karge Finsternis.
~~~
Mehr noch als auf der Überfahrt von Ostia her hatte Gracchus auf der Rückreise das Gefühl, sich mehr und mehr der See anzugleichen, welche unbarmherzig die Ariadne in ihren Fängen hielt, das Schiff sanft auf seinen Wellen wiegte, was Gracchus jedoch mehr wie ein wildes Herumschaukeln erschien. Trübe waren seine Gedanken, wie die aufgewühlte See, kalt war ihm alsbald, wie das Wasser fern der Ufer, doch gleichsam begann er zu schwitzen, so dass sich ein salziger Film über seine Haut legte als hätte er im Sturm zu lange an der Reling gestanden. Hin und her warf er sich auf der schmalen Pritsche im Bauch des Schiffes, fiebrige Träume rissen ihn alsbald wieder und wieder in einen unruhigen Schlaf hinab, bald konnte er selbst jene wenigen wachen Momente der Realität nicht mehr von jenen des Traumes unterscheiden. Es drängte Sciurus alsbald, seinen Herrn an Land zu bringen, denn längst war dies mehr als das übliche Unwohlsein auf See, doch gerade erst kam die Küste Sicilias in Sicht und da das Schiff zwei Nächte zuvor auf hoher See durch einen Sturm ein wenig vom Kurs abgekommen war und so fast einen gesamten Tag hatte verloren, war der Kapitän nicht bereit, einen anderen Hafen anzulaufen denn seinen Heimathafen Ostia, wo die nächste Warenlieferung bereits auf ihn wartete. Sciurus jedoch, seinem Herrn treu ergeben, begann alsbald dem Kapitän zu drohen, gleichsam ihn mit den Verlockungen des Geldes zu ködern, so dass das Schiff schlussendlich den Hafen Misenums ansteuerte. Ob der glücklichen Fügung, dass eine der flavischen Villen nicht weit entfernt war gelegen, sandte Sciurus eine Botschaft dorthin und trug dafür Sorge, dass Gracchus zum Landsitz der Flavia bei Baiae gebracht wurde. -
Nahe der Hafenstadt Baiae thront auf den karg bewachsenen Klippen jener Landzunge, welche zwischen Puteoli und Cumae in das Mare Tyrrheneum hinausleckt, eine Villa, welche dort bereits zur Zeit des Kaisers Titus Flavius Vespasianus des Älteren, genannt Vespasianus, erbaut wurde. Seit jeher ist jene Villa im Besitz der flavischen Familie, derzeit in den Händen Flavia Agrippinas, der letzten Frau des Lucius Flavius Corvinus. Umgeben von einem weitläufigen Gelände werden der Hortus der Villa und das Gebäude selbst von schlanken Zypressen eingerahmt. Zum Meer hin öffnet sich das Gebäude zu großzügigen Terrassen, auf welchen Sitzgruppen, Clinen und Bänke zwischen allerlei wohlgestalteten Statuen und bunt blühenden Blumen und Büschen in großen Tontöpfen zum Verweilen einladen. An jene Terrassen angeschlossen sind in der einen Hälfte des Hauses Peristyl und Triclinium, in der anderen Hälfte ein kleiner Thermenbereich mit Kalt- und Warmwasserbecken und einem Dampfraum. Neben den weitreichenden Räumlichkeiten für die flavischen Familie stehen im Obergeschoss zahlreiche Gästezimmer und Suiten bereit, um jederzeit Besucher empfangen zu können. Ein Stamm von Sklaven und Bediensteten, dessen Größe gar dem Kaiserpalast Roms zur Ehre gereichen würde, sorgt dafür, dass das Haus jederzeit wohnlich und angenehm erscheint und den Bewohnern jeder Wunsch bereits von den Augen abgelesen wird. Durch die strenge, auf Sitte, Tradition und Anstand bedachte Führung des Haushaltes durch Flavia Agrippina lässt sich hier leicht vergessen, dass das ungezügelte Leben und bunte Treiben des Vergnügungsortes Baiae nicht weit entfernt sind.
-
Der herbeigesehnte Morgen kam später als erhofft, und Sciurus noch viel später hernach. Von Deck aus, doch immer der Sicht vom Hafen aus verborgen, betrachtete Gracchus die weiße Stadt, das glänzende, gleißende Juwel, Hort von Wissen und Weisheit, zum Greifen nahe, doch unerreichbar. Es hatte ihn nie danach gedürstet, die Bauwerke der Stadt zu entdecken, selbst die Bibliothek hatte nie bewirken können, dass er die qualvolle Seereise hatte tatsächlich antreten wollen, doch nun, da er hier war, wie verlockend war da das Rascheln von Papyrus, das Reiben der pergamentenen Blätter aneinander, der Odeur rusiger Öllampen, die Tag und Nacht wissbegierigen Männern und Frauen die Gelegenheit boten, uralte Schriften zu studieren - und doch waren es nur nebensächliche Gedanken, welche an all dies verschwendet waren, galt alle Sorge doch allein dem Wohle Leontias.
"Sie sind nicht hier, Herr, nie angekommen." Keine Regung sprach aus den Augen des Sklaven, seine Worte klangen nüchtern wie immer.
"Nie angekommen? Aber ... wo?"
"Man hat keine Nachricht von der Pegasus erhalten, Herr. Doch sie hätte längst hier sein müssen. Vielleicht hatten sie Schwierigkeiten und sind zurück nach Ostia gekehrt. Es hat keinen Sinn zu warten, Herr. Dieses Schiff legt noch vor Mittag ab, ich habe bereits mit dem Kapitän verhandelt. Wir können bis nach Ostia mit zurück segeln."
"Nach Ostia? Gibt es denn keine Möglichkeit ...? Vielleicht gab es einen Sturm, sie ankerten an einem anderen Ort und treffen später ein."
"Selbst mit Verspätung hätten sie längst hier ankommen müssen. Es hat keinen Sinn, Herr. Wenn es eine Nachricht der Pegasus gibt, so wird sie in Ostia auf uns warten. Am Handelsstützpunkt werden wir mehr herausfinden können."
"Bist du dir ganz sicher, dass sie nicht hier sind, Sciurus? Ich will meine Füße auf Land setzen, will endlich diesem schwankenden Ungetüm, dieser wogenden Bestie entkommen, will nur Leontia ihrem Verderben entreißen. Mehr will ich nicht, Sciurus, mehr nicht."
"Sie sind nicht hier, Herr. Ich hätte sie gefunden, Herr. Vertraue mir."
"Ja."
Leer wandte sich Gracchus' Blick dem Hafen zu, bevor er sich abwandte, um sich im Bauch des Schiffes zu verkriechen. Alsbald sank er erneut auf die Pritsche, erschöpft vom Nichtstun, von der Qual der See, von der Tortur der Gedanken, verschlief gar in unruhigem Halbschlaf das Auslaufen der Ariadne aus dem Hafen Alexandrias, kam erst weit auf dem Mare Internum wieder zu sich, nur um erneut in einen Zustand geistiger Düsternis zu fallen.~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~
Noch niemals war er in Aegyptus gewesen, dennoch wusste Gracchus, dass dies das Land jenseits des endlosen Oceanos war. Es war die unendliche, unbarmherzige Wüste, in vielen Worten besungen, welche er vor sich sah, welche er neben sich, überall um sich herum sah. Feine, granulöse Sandpartikel hatten sich zwischen den ledernen Sohlen seiner Sandalen und der weichen Haut seiner Fußsohlen verfangen, stachen bei jedem Schritt in seinen Körper, selbst nun, da er keinen Schritt tat, nicht vor, nicht zurück, da er nur stand ohne sich überhaupt die Frage zu stellen, wie er an jenen unwirtlichen Ort gelangt war. Denn er war hier und wie so oft im Traum schien all dies seine Notwendigkeit und seine Richtigkeit zu haben. Es schien ihm ebenso wenig merkwürdig, dass über ihm am grau-blaufarbenen Himmel keine Sonne hing, dennoch es mehr als taghell war und ihm die heißen, sengenden Strahlen auf den Körper brannten. Er war in Aegyptus, weit hinter der weißen Stadt Alexandria, weit hinter dem blauen Wasser des Königshafens, weit entfernt von Tempeln, Bibliotheken und Palästen, selbst von den Pyramiden stromaufwärts am Nil. Doch womöglich gab es in diesem Aegypten ohnehin all dies nicht, so dass ein Nachsinnen über Positionierung mit festen Gegebenheiten ohnehin sinnlos war. Ein leichtes Flirren in seinem Augenwinkel zog mit seinem Erscheinen Gracchus' Aufmerksamkeit gänzlich auf sich, führte ihn dazu, die Augen zusammen zu kneifen, um besser in die Ferne blicken zu können. Die stockende Luft über dem sandigen Grund tanzte, die beigefarbene Landschaft dahinter verschwomm und Gracchus war sich mit einem Male sicher, dass er hier sterben würde, denn ohne Wasser musste er verdursten, qualvoll und elend in der Wüste, nichts als eine ausgedörrte Leiche im bleichen Sand würde bleiben, ein Körper, von welchem sich unter Einwirkung der Sonne die Haut abschälen würde, von seinen Knochen sich schälen würde wie altes Pergament im Wind. Ein gar ungustiöser Anblick würde dies sein und mehr noch, als die Aussicht auf den Tod beunruhigte Gracchus die Aussicht auf jene triste Hinterlassenschaft, welche seine geliebte Base Leontia, welche sich gar eben aus dem Flirren zu lösen begann, gar sicherlich aufs heftigste würde schrecken. Er hatte sie wahrlich vermisst, ihren Esprit, ihre epiphane Leichtigkeit, ihre unschuldige Neugier - all dies strahlte sie aus, mit einem unschuldigen Lächeln, bei welchem ihre Zähne weiß hervorblitzen, mit einem freudig erregten Glänzen in ihren Augen, und Gracchus winkte ihr mit der Schriftrolle über die Gleichnisse des Platon zu, welche er extra als Gesamtauflage, bis zum letzen Blatt komplettiert, aus Achaia hatte hierher gebracht, auf dass sie mit eigenen Augen der Schönheit der Worte, der Erhabenheit des Satzbaues, der Wahrhaftigkeit der Konstruktion und des unumstößlichen Glanzes der Wahrheit konnte habhaftig werden. In sich spürte Gracchus die leichte Aufregung, als würde er verbotenes tun, jene Aufregung, welche sein Herz die Dauer, welche ein Tropfen benötigte, um aus dem Kelch in das Wasserglas zu fallen, schneller schlagen ließ, und womöglich rührte dies daher, dass er tatsächlich in verbotenem Tun inbegriffen war, denn hatte nicht längstens Leontias Vater jener untersagt, ihre Nase all zu tief in theoretisches Schriftgut zu stecken? Dennoch, sie mochte nicht davon lassen, ebenso wenig wie Gracchus dies vermochte, wie er nicht vermochte von ihr zu lassen, von ihrem unberührten Geist und ihrem feinsinnigen Humor, wie der alte Sciurus nicht hatte vermocht von ihm zu lassen, so dass der Kreis sich mit ihr schließen mochte obgleich dies gar ebenso unmöglich war wie jenes zuvor. Mit freudigem Lächeln schwebte Leontia auf ihn zu. "Manius," hauchte sie in erfreuter Entzückung, breitete die Hände aus um ihn in einer Umarmung zu empfangen, zu begrüßen, und ein freudiges Lächeln kräuselte darum auch Gracchus' Lippen als er die Begrüßung erwidern wollte, seine Base jedoch an ihm vorbei schwebte. Die leichte Aufregung wandte sich in Furcht, der Gedanke an den bevorstehenden Tod drängte sich Gracchus' erneut auf, und genau wissend, was ihn würde erwarten, drehte er sich langsam um - womöglich stand auch er fest verwurzelt im Sand und nur die Welt um ihn herum, die Wüste in ihrer Gesamtheit schob sich - er folgte seiner Base mit dem Blick und kam darob nicht umhin, mit anzusehen, wie sie seinem Abbilde um den Hals fiel. "Wir werden Alexandria bestaunen, die große Bibliothek!" Aufgeregt funkelten ihre Augen. Auch Quintus' Augen funkelten, doch aus ihnen sprachen einzig Boshaftigkeit, Grausamkeit, Verderbtheit und devastative Sinne. "Ja, das werden wir." Gracchus hörte seine eigene Stimme ihr antworten, und doch war es nicht die seine, war es die seines Zwillings. Quintus Tullius umarmte Leontia, umfing sie mit seinen Klauen und lachte hämisch.
"Nein! Leontia!"
In einem Aufbäumen waghalsigen Mutes, dessen Gracchus kaum im wahrhaftigen Leben wäre je fähig, hechtete jener in einem gewagten Sprung nach vorn, um seine Base zu ergreifen, Leontia zu befreien, zu erretten aus den Klauen des Grauens. Doch Quintus und Leontia zerfielen zu Sand, lösten sich auf, so dass der leichte, aufkommende Wind die Körner ihrer Existenz mit sich hinfort trug. Verzweifelt fiel Gracchus auf die Knie, grub im Sand unter sich, vor sich, schob ihn bei Seite, durchwühlte ihn, doch es gab nur mehr Sand zu finden, unendlich viele winzige Steine und keine Spur von seiner Base. Heiß brannte die nicht vorhandene Sonne auf ihn hinunter und Schweiß lief ihm von der Stirne. Er würde in dieser Wüste sterben. Allein.~~~
-
~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~
Der Frühling wehte ein einzelnes blass-rosafarbenes Blütenblatt vom großen Mandelbaum aus dem Garten der Villa Flavia durch das Fenster des Arbeitszimmers ins Innere der Villa heran, ließ es durch die Luft schweben, im Hauch der Stille tanzen und sich langsam, in sanften Wogen hin und her schwingend auf Gracchus' Schreibtisch hinabsinken. Ob dessen, die Reminiszenz an den süßen, verlockenden Odeur der Mandelblüten augenblicklich in seiner Nase verspürend, legte Gracchus den Griffel aus seiner Hand und stand auf, getrieben von vager Hoffnung, von einer sehnsuchtsvollen Ahnung geleitet als würde er einem unhörbaren Rufe folgen. Suchend trat er an das Fenster heran, welches nun einer freien Fläche wich, trat hinaus in die Wildnis der sabbatiner Berge, ein Gewirr aus Zweigen und Reisern, Gestrüpp auf dem Boden, grüne Verheißung, wohin immer der Blick sich wandte, selbst der Himmel war verdeckt durch mit gewaltigen Blättern beladene Äste. Nichts hier war wie in den Hügeln nördlich der imperialen Hauptstadt, und doch bestand für Gracchus kein Zweifel daran, wo er sich befand. Als er den Tiber erreichte schmerzten ihm die Füße, denn er war unendlich weit gelaufen, obgleich er sich keinen Schritt hatte bewegt. Doch selbst als er nun vom flachen Ufer hinein in das seichte, leise dahinplätschernde kühle Nass trat, konnte er keine Kühlung verspüren. Bis zu den Knien watete er in das Wasser hinein, um sich schlussendlich über die im gleißenden Sonnenlicht silbrigfarben glitzernde Oberfläche zu beugen. Auf dem völlig still vor ihm dahinfließenden Wasser konnte er wie in einem Spiegel sein Antlitz sehen, jenes, welches ihm gleichsam so vertraut und ebenso fremd war, die dunklen Haare, die braunfarbenen Augen, welche ihn immer ein weinig an seinen Vater erinnerten, obgleich so wenig dessen Härte in ihnen lag, die gerade Nase und die dünnen Lippen, die sich nun bei diesem Anblick an den Enden leicht hoben. Leontia trat neben ihn und ergriff seine Hand, auch ihr Spiegelbild zeigte sich auf der Wasseroberfläche, ihr befreiendes, ehrliches Lächeln, ihre epiphane Erscheinung, durchdrungen von Leichtigkeit, welche nun auch auf ihn überging als sie in so unendlich vertrauter Geste seine Hand leicht drückte. Er betrachtete ihrer beider Bildnis auf dem Nass - zwei Menschen in perfekter Harmonie - bis ihm das verräterische Blitzen in seinen eigenen Augen gewahr wurde. Er beugte sich ein wenig tiefer zum Fluss hin und betrachtete sich dabei, wie ein Lächeln auf seinem Gesichte erschien, ein hintergründig, hinterhältiges Lächeln, bei welchem schließlich gar die Zähne aufblitzten. ein wahrlich seltener Anblick in seinem eigenen Gesicht. Doch längstens war es nicht mehr die Spiegelung seines Antlitzes, welche er im Wasser vor sich gewahrte, es war gar ein Mensch dahinter, unter der Oberfläche, welcher nun langsam daraus hervortauchte, schließlich die gespannte Oberfläche durchstieß und mit einem nun bereits unflätigen Grinsen emporstieg, während Gracchus nichts anderes blieb, als zurück zu weichen und langsam im Wasser zu versinken. Quintus Tullius verbeugte sich formvollendet vor Leontia und bot ihr galant seine Hand dar, so dass Gracchus' Base ihn selbst keines Blickes mehr würdigte, den Halt seiner Hand löste und die seines Zwillings ergriff. "Oh, Manius, teuerster Vetter!" säuselte sie leise. "Wie entzückend." Unfähig zu einer einzigen Bewegung stand Gracchus auf dem harten, steinernen Untergrund und versank langsam darin. Er wollte schreien, brüllen und rufen, seine Base auf sich aufmerksam machen, wollte ihr zurufen, dass er Manius sei, nicht Quintus, dass er ihr teuerster Vetter war, Quintus nur ein Betrüger sei, doch obgleich er den Mund weit öffnete konnte kein einziger Ton seiner Kehle echappieren. Langsam ging er im Wasser unter, das kühle Nass füllte seinen Mund, füllte Nase und Ohren, schwappte bis über seinen Kopf hinweg, doch noch immer hörte er nicht auf in stiller Verzweiflung lautlos nach seiner Base zu rufen.
~~~
Als Gracchus die Augen aufschlug blickte er in die nächtlich graufarbenen Augen seines Leibsklaven Sciurus, welcher ihn an den Schultern gepackt hatte und heftig schüttelte.
"Leontia!"
keuchte Gracchus atemlos. Der Sklave ließ nun von seinen Schultern ab und strich Gracchus mit einem kühlen Tuch über die Stirn. "Es war nur ein Traum, Herr. Du hast nach ihr im Schlaf gerufen, immer wieder. Schlaf weiter, Herr, bis zum Morgen sind es noch einige Stunden."
"Leontia ..."
"Es war nur ein Traum, Herr, nur ein Traum."
"Nein,"
stöhnte Gracchus leise.
"Nicht nur ein Traum. Er hat sie mitgenommen, hat sie mir entrissen, mit meiner Person. Erwachen will ich, nur erwachen aus diesem Alptraum, doch dieser Alptraum ist das Leben selbst und daraus gibt es nicht Erwachen, nicht Entkommen."
Mit einem leisen Seufzen drehte sich Gracchus zur Seite und zog die dünne Decke eng um seinen Körper. Er konnte den Wind hören, der durch die Segel strich, er konnte das Schaukeln spüren, mit welchem das Schiff ihn umfangen hielt und es dauerte lange, bis endlich er wieder zurück in den Schlaf fand. Das gewaltige Schiff indes durchpflügte weiter die Wellen des Mare Internum und jene der Zeit, langsam jedoch nur, denn die Winde waren schlecht, bei Tag und bei Nacht, stellten sich dem Schiff entgegen und verzögerten das Eintreffen in Alexandria immer mehr. Als sie schließlich nach endlosen Tagen und Nächten in der Hauptstadt Ägyptens einliefen, wusste Gracchus längst nicht mehr wie lange sie unterwegs gewesen waren, wussten nur, dass festes Land auf seine Füße wartete, und nichts Schöneres konnte er sich vorstellen, denn vorstellen konnte er sich seit Tagen nichts mehr, war sein Geist, sein Kopf doch völlig geleert durch die Seereise, gleich seinem Magen, durch das beständige Schwanken, in welchem kein klarer Gedanke fassbar gewesen war. Doch Sciurus hielt ihn davon ab, das Land zu betreten. Die Einreise nach Aegyptus war kompliziert, jede Person, welche das Land betreten wollte wurde mit Namen auf einer Liste vermerkt. Manius Flavius Gracchus war in Person des Quintus Tullius vermutlich bereits in Alexandria angekommen, weshalb sein neuerliches Auftauchen im Hafen einige Fragen würde aufwerfen. Da das Handelsschiff, auf welchem sie gereist waren, ohnehin bis zum nächsten Morgen im Hafenbecken würde liegen bleiben, überzeugte Sciurus seinen Herren, dort zu warten, während er Erkundigungen einholte über den Verbleib des Quintus Tullius und der Dame Flavia Leontia. Nur widerwillig stimmte Gracchus dem zu, doch sah er selbst kaum eine andere Wahl, zudem er sich nicht konnte sicher sein, dass nicht Quintus Tullius für die Eventualitäten seiner Verfolgung hatte Sorge getragen, so dass er geradewegs in eine von seinem Bruder im Zuge dessen Spieles aufgestellte Falle hinein tappen mochte. Die Nacht kam schneller als herbeigesehnt, denn die Sonne erreichte den Horizont in Aegyptus früher als in Rom, doch sie brachte kaum weniger Erleichterung denn der Tag, denn noch immer schwankte das Schiff unter Gracchus, auch wenn es nur das leichte, seichte Auf und Ab des Hafenbecken war, in welchem es schwamm. Der Mast knarzte leise bei jeder Bewegung, die Takelage surrte im Wind und beständig trieben die Gesprächsfetzen, fernes Gelächter und leiser Gesang aus dem Hafen herüber. Rom war das Zuhause Gracchus' Geist, Achaia war das Zuhause seines Herzens, doch beides schien ihm so unendlich weit fort, weiter noch als dies in Seemeilen auszudrücken war, weiter noch als je ein Mensch dies mit Worten fassen konnte. Sein Magen fühlte sich leer an, doch kein Hunger brachte ihn um den Schlaf, denn obgleich auch sein Geist leer war, so waren es die Gedanken an seine Base und seinen Zwilling, welche ihm die Nacht raubten, bis er endlich in traumlose Dämmerung fiel. -
Von Beginn an war die Reise Gracchus wahrhaft ein Graus. Bereits kurze Zeit nach Auslaufen aus dem Hafen Ostias begab er sich schwankend, von Sciurus gestützt, hinab in den Bauch des Schiffes, um sich dort auf die Pritsche zu legen, welche für ihn bereitet worden war. Obgleich die See ruhig lag, schienen sich in seinem Inneren die Wellen zu überschlagen, die schäumenden Wogen bäumten sich auf, rumorten in seinem Magen, und es dauerte nicht lange, bis sie schließlich in seinem Kopf angelangt waren und dazu führten, dass ihm blümerant vor Augen wurde und er alsbald zwischen den Welten von Tag und Nacht pendelte, sich versuchte in das Reich Morpheus' und Somnus' zu flüchten, in welchem die Welt zwar nicht aufhörte zu schwanken, das endlos tiefe Meer jedoch weit in trüber Gräulichkeit entfernt war. Die meiste Zeit dessen wachte Sciurus neben seinem Herrn, versuchte ab und an ihn zum Trinken und Essen zu bewegen, letzteres vergeblich, nur ab und an begab er sich an Deck.
~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~
Feiner, graufarbener Nieselregen hing wie ein Schleier vor Gracchus' Augen und ließ ihn die Umgebung nur als verschwommenes, diffuses Bildnis wahrnehmen. Einzig Leontia und Quintus stachen in klaren, deutlichen Konturen aus der wabernden Masse hervor.
"Leontia!"
Obgleich er seinen Ruf konnte in seinen eigenen Ohren hören, so durchdrang kein Laut die dichte, diffuse Stille. Seine Base hörte ihn nicht, schritt Hand in Hand mit Quintus auf ein gähnend schwarzfarbenes Loch hin zu und drückte dabei in freudiger Erwartung die Hand ihres nicht nur vermeintlichen und doch falschen Vetters wie sie es so oft bei jenem, welchen sie vermutete, hatte getan. Bevor Düsternis die beiden verschluckte drehte Quintus den Kopf und blickte über seine Schulter zu Gracchus hin, grinste breit, zwinkerte und winkte ihm hämisch zu. Schließlich legte er seinen Arm um Leontias Schulter und trat mit ihr in die Höhle hinein. Als würde er in tiefem Wasser waten kämpfte sich Gracchus langsam voran.
"Leontia! Nicht!"
rief er noch einmal verzweifelt, doch es war längst zu spät, konnte sie ihn nicht mehr hören. Er erreichte die Höhle und stürzte hastig seiner Base und seinem Zwilling hinterher. Es war jene Höhle in den Bergen Italias, in welcher Quintus ihn hatte gefangen gehalten. Gracchus erkannte die karge Lagerstatt wieder, auf welcher er einige Nächte verbracht hatte, sah den klapprigen Tisch, in welchem Quintus' Messer steckte, und auch die Türe, durch deren vergittertes Fenster der gelbfarbene Schein der Fackeln auf dem Gang vor ihr in das Zimmer leckte. Es war kalt in diesem Raum, kälter noch als in der Höhle je gewesen, ein schwarzer Käfer, ein Skarabäus, krabbelte eilig über den felsigen Fußboden und verschwand unter der Tür hindurch. Von Leontia und Quintus jedoch kündete keine Spur, keine Menschenseele war in diesem Gewölbe, denn womöglich war es die falsche Höhle. Gracchus drehte sich um, um sie wieder zu verlassen, doch hinter ihm fand sich nur eine steinerne Mauer aus schwarzfarbenem, schroffen Granit. Panisch legte er seine Hände an den kühlen Stein, doch nirgends wich die Mauer zurück, nirgends tat sich eine Öffnung auf. Wieder drehte er sich, um an der Türe zu rütteln und nach Hilfe zu rufen, doch hinter ihm war keine Tür mehr. Eine Mauer, so starr und fest wie jene auf der anderen Seite, schwarzfarben und kalt, stand vor ihm. Schweiß trat auf Gracchus' Strin als er sich hastig um die eigene Achse drehte, jede Richtung inspizierte, nach einem Ausweg suchend. Doch nirgendwo um ihn herum fand sich ein Weg hinaus, fand sich keine noch so winzige Öffnung, nur dunkles Gestein, welches durch die Flamme der Kerze in seiner Hand spärlich nur wurde beleuchtet. Beklemmung erfasste Besitz von Gracchus' Gemüt, verzweifelt tastete er die Mauer ab, denn das Licht in seiner Hand verlor beständig an Leuchtkraft. Im Schatten der Kerze sah er erneut den Skarabäus über den Boden huschen, doch als er sich hinabbeugte, um das Tier zu beleuchten, war es bereits mit der Wand verschmolzen. Langsam zog sich der Kreis des Kerzenscheines immer enger zusammen, gleichsam wie der dunkle Käfig sich um Gracchus zusammenzog. Leise knisternd erlosch schlussendlich das Licht und ließ ihn allein in der Dunkelheit zurück.~~~
Mit einem Aufschrei schreckte Gracchus von der Liege hoch, schwer atmend, die Haut von Schweiß überzogen. Er war im Bauch des Schiffes, welches ihn Leontia nachtrug, ihr fern und doch voller Hoffnung. Sein geduldiger Leibsklave zwang ihn, ein wenig Wasser zu sich zu nehmen, beim Anblick einer Schüssel voll Puls jedoch übergab sich Gracchus und sank hernach erneut von Defatigation überwältigt auf der Liege hernieder, in Gedanken eine Bitte an die Götter sendend, der Reise ein rasches Ende in Form des ersehnten Hafens zu machen. -
~~~ Den vorangegangenen Geschehnissen nachfolgend, vom gegenwärtigen Zeitpunkt aus betrachtet bereits Wochen zuvor~~~
Den Weg aus der Hauptstadt des Imperium Romanum bis zur Hafenstadt Ostia hatte Gracchus schweigend zurückgelegt, nachdem er die Villa Flavia völlig überhastet hatte verlassen, um seinem Zwilling Quintus Tullius und seiner geliebten Base Leontia nachzufolgen, seinen Befürchtungen und Gedanken in der sanft wogenden Sänfte nachhängend. Einzig Leontias Brief wies die Hoffnung einer Spur, jener Spur nach Aegyptus, gleichsam konnte sein Zwilling Leontia bis an den Rande der Welt verschleppt haben - doch Gracchus würde ihnen beiden auch bis dorthin folgen, obgleich er noch nicht den leisesten Schimmer einer Ahnung hatte, was im Anschluss daran zu tun war, von jener Tatsache einmal abgesehen, dass er Leontia zurück nach Rom würde geleiten. Noch im Lichte des verblassenden Tages erreichten sie die Hafenstadt, wo sich Sciurus auf die Suche nach Informationen über den Verbleib der beiden Flavier machte, während Gracchus selbst verborgen blieb, da möglicherweise sein erneutes Auftauchen für Auffälligkeit sorgen mochte - Quintus reiste immerhin unter seinem Namen, gepaart mit seinem Gesicht. Die Zeit verrann zäh wie flüssiger Honig - Sekunden, Minuten und Stunden zogen sich in endlos quälender Langsamkeit dahin, bis endlich der Sklave den Namen jenes Schiffes hatte herausgefunden, auf welchem der vermeintliche Manius Flavius Gracchus und Flavia Leontia gen Süden aufgebrochen waren, vor nicht langer Zeit, doch für Gracchus' Geschmack schon viel zu lange her. Pegasus, das geflügelte Pferd, welches Bellerophon in seinem Kampfe gegen die Chimäre und die Amazonen so treu getragen hatte, würde nun seine geliebte Base immer enger in die Fänge seines Bruders treiben, doch zumindest schien Aegyptus tatsächlich ihr Ziel. So machte sich denn auch Sciurus wiederum auf, um ein Schiff mit Zielhafen Alexandria ausfindig zu machen, welches sie dem Wolf und seiner Beute nachtragen würde, doch deplorablerweise bot sich nicht sonderlich viel der Auswahl, so dass die Wahl schließlich auf das Schiff Ariadne fiel, ein großes, träges, schweres Handelsschiff, welches die verschiedensten Waren zwischen Rom und Alexandria austauschte. Es war nicht zu erwarten, dass sie mit gleicher Geschwindigkeit gen Süden würden vordringen wie die Pegasus dies vermutlich zu tun vermochte, doch ob des verheißungsvollen Namens klammerte sich Gracchus an die Hoffnung, dass Ariadnes Faden auch ihm auf seinem Weg durch das Labyrinth des Lebens würde helfen, um das Scheusal in seinem Inneren - kein Minotauros erwartete ihn, doch längstens war Quintus Tullius für seinen Bruder zu einem weit schlimmeren Übel erwachsen - zu finden, zu vernichten - obgleich Gracchus diesen Punkt nicht ohne Zweifel bedenken konnte - und schließlich als siegreicher Theseus zurückzukehren. Die Modalitäten der Reise waren bald ausgehandelt, so das Gracchus mit seinem kleinen Gefolge alsbald das Schiff betrat. Schon beim Anblick der schwankenden Planke, der im Takt der Wogen leicht schaukelnden Masten, der im Wind flatternden Fahne und das endlos blauen, schäumenden Meeres hinter der Hafenmole überkam Gracchus eine leichte Übelkeit, welche sich nur mehr verstärkte, je mehr Schritte er auf dem Schiff tat. Während noch die letzten Waren im Bauch des Ungetüms verschwanden und an Deck gestapelt wurden, klammerte sich der unglückliche Passagier an die Reling und hielt seinen Blick starr zum Hafen und seinem festen Boden hin, doch da das Schiff auf dem Wasser getragen wurde und somit auch die Häuserfassaden vor Gracchus' Augen auf und ab schwankten, gereichte dies nicht unbedingt zur Besserung seines Befindens. Bis das Schiff endlich den Hafen Ostias verließ - es schien Gracchus länger als die Ewigkeit - umspielte bereits eine ungesunde, leicht grünliche Färbung Gracchus' Nasenwurzel und die Knöchel auf seinem Handrücken traten weiß hervor, da er sich noch immer beständig an der Reling festhielt. -
Ein wenig eingeschränkt noch, doch zumindest zurück, und Dank den Errungenschaften der Technik zu gewohnter Beitragslänge bereit.