Es dauerte einige Augenblicke bis Gracchus die Bedeutung Durus' Worte gänzlich in seine Sinne vordrangen. Sogleich hob er abwehrend die Hände.
"Nein, nein, nicht etwa einer Hochzeit zwischen unseren Familien wegen ..."
Er stockte.
"... nicht, dass mir dies gerade im Sinn wäre, möchte ich damit andeuten, obgleich es sicherlich den ein oder anderen Verwandten gäbe, welchem eine solche Ehe nicht schlecht zu Gesicht stehen würde. Doch es ging mir viel mehr um viel profanere Dinge, die Prozedur der Ehefindung an sich. Es ist mir ein Anliegen, herauszufinden, ob dies in allen Familien ähnlich vonstatten geht, denn meine Gattin Antonia stand noch unter Patria Potestas, als unsere Verbindung vereinbart wurde, darum bin ich nicht gänzlich sicher, ob sie andernfalls ebenfalls zu diesem Schritt bereit gewesen wäre, obgleich ihre Beständigkeit auch nach dem Verlust ihres Vaters natürlich für ihren Sinn um Familie und Stand spricht. Wiewohl ich meiner Schwester Minervina diesen Sinn in keinem Falle absprechen möchte, so scheint sie doch bisweilen zu eilig darüber hinweg zu sehen. Ist es mir bereits ein Rätsel, was Frauen im Allgemeinen sich wünschen, so kann ich mir doch sicher sein, den Ansprüchen meiner Gattin allein aufgrund meines Namens und meiner Herkunft zu genügen, doch sobald eine Frau dies übergeht, so sehe ich mich außer Stande, auch nur im Entferntesten zu erahnen, was denn sie von einer Ehe erwartet, was sich gleichsam als schier unüberwindbares Hindernis bezüglich meiner Schwester herausstellt."
Nicht, dass es einfacher wäre, abseits von Name und Herkunft mit seiner Gattin in Einklang zu kommen, ganz zu schweigen davon, dass auch Name und Herkunft augenscheinlich nicht ausreichten, um einen Erben aus dem Nichts hervor zu zaubern. Nachdenklich griff Gracchus zu seinem Becher, drehte ihn in seiner Hand, nur um ihn schließlich zurück auf den Tisch zu stellen, ohne einen weiteren Schluck davon zu nehmen.
"Es sollte die Pflicht eines jeden Vaters sein, seine Töchter so früh wie möglich zu verloben, anstatt seine Söhne schließlich vor solche Hindernisse zu stellen. Als wäre das Leben hinsichtlich der Weiblichkeit nicht ohnehin schon komplex genug."
Beiträge von Manius Flavius Gracchus
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"Vater?
Augenblicklich zogen sich Gracchus' Brauen zusammen und ein despektierlicher Blick traf seinen Sklaven, durchbohrte diesen regelrecht. Eine einzige Erbangelegenheit mit Rückfragen und ausgerechnet bei dieser waren die Unterlagen fehlerhaft! Dies würde Konsequenzen für Sciurus nach sich ziehen. Vorerst jedoch galt es, die Angelegenheit ins Reine zu bringen, darum nahm er eine frisch geglättete Wachstafel zur Hand, um sich die Änderungen zu notieren.
"Verzeih meine Verwunderung, doch in diesem Falle liegen mir fälschliche Angaben vor. So du die Tochter des Gnaeus Helvetius Tranquillus bist, wird sich die gesamte Berechnung der Aufteilung der Erbmasse ändern, da Kinder natürlich des gültigen Intestat-Erbrechtes nach den gradnächsten Agnaten vorzuziehen sind, allerdings nur, insofern sie nicht bereits zum Todeszeitpunkt emanzipiert waren. Standes du zu diesem Zeitpunkt noch unter seiner Patria Potestas?" -
Mit stechendem Blick verfolgte Gracchus eine dicke Hummel in ihrem Flug, welche sich erdreistet hatte in sein Arbeitszimmer einzudringen und ihn nun unbotmäßig laut vor sich hinsummend von der Arbeit abhielt. Er mochte den Frühling, er mochte ihn tatsächlich mit all seiner bunten Blütenpracht, dem aufkommenden Gezwitscher der Vögel, den warmen Sonnenstrahlen, dem Duft nach nassem Gras nach einem leichten Nieselregen und er mochte auch das Gesumme der Bienen und Hummeln - solange sie dies vor den Fenstern in der freien Natur taten, nicht jedoch in seinem Arbeitszimmer. Eben fasste er nach einem Glas um das Tier einzufangen und aus seinem Reich hinaus zu befördern, als es an der Türe klopfte und ein Sklave 'Die Dame Helvetia Severina in einer Erbschaftsangelegenheit.' ankündigte. Endlich! Nicht, dass Gracchus wahrhaftig persönlichen Besuch erwartet hatte, doch dass sie hier war, dies bedeutete immerhin, dass seine Nachrichten ihre Empfänger erreicht haben mussten und die mitunter doch ennuyante Tätigkeit als Vigintivir ein wenig aufgelockert wurde. Er stellte das Glas zurück auf den Tisch, richtete sich auf und bedeutete dem Sklaven, die Dame einzulassen. Seinem Sklaven Sciurus, der untätig, doch aufmerksam seinen üblichen Platz im Hintergrund eingenommen hatte, gabe er durch ein tonlos ausgesprochenes 'Die Akte!' zu verstehen, dass jener die schriftlichen Aufzeichnungen bezüglich der Erbangelegenheit 'Helvetia Severina' herbeischaffen sollte. Als die junge Dame eintrat, erhob sich Gracchus, um sie zu begrüßen.
"Salve, Helvetia. Ich bin Flavius Graccus, Decemvir litibus iudicandis. Bitte nimm doch Platz und sei dir noch einmal meines tiefen Mitgefühles bezüglich deines Verlustes versichert."
Er nahm eine Wachstafel von Sciurus entgegen und überflog sie mit schnellem Blick. Helvetia Severina, Schwester des verstorbenen Gnaeus Helvetius Tranquillus, berechtigt zu einem Erbe über 59.99 Sesterzen, insofern ihr Bruder Helvetius Gabor seinen Anspruch auf die restlichen 59.98 Sesterzen erheben würde, von welchem eine Nachricht bisweilen jedoch ausstand. Gracchus erinnerte sich noch sehr gut an die nicht lange zurückliegende Bearbeitung dieser Erbsache, da die Gesetze bezüglich der Verteilung nicht eindeutig waren und keine Anweisung gaben, was mit den verbleibenden 0.01 Sesterzen in diesem Falle geschehen mochte. Schlussendlich hatte Gracchus sie Helvetia Severina zugeschlagen, denn ihr Bruder würde für diesen Bruchteil einer Sesterz weniger tun müssen als sie.
"Wie bereits in meinem Schreiben erläutert, betrifft die Erbsache einen Gegenstand von 59.99 Sesterzen. Bisweilen sind noch keine Antworten der übrigen Erbberechtigten eingetroffen, daher wird sich die Angelegeneheit der Verteilung noch ein wenig hinziehen. Hast du Fragen die Erbschaft betreffend?"
Es war nur eine Frage der Höflichkeit, denn hätte sie keine Fragen, wäre sie vermutlich nicht extra zur Villa gekommen um ihn persönlich zu sprechen, hätte eine kurze schriftliche Mitteilung doch ausgereicht, das Erbe anzunehmen oder abzulehnen. -
Ein feines Lächeln begann Gracchus' Lippen zu kräuseln, auf denen noch immer der leicht salzige Geschmack seines Vetters haftete, doch es war freudlos, gleich wie sorgenvolle Falten sich über seine Stirne schoben, denn letztlich stellte sich nur ein weiteres Leben als Trug heraus, ein Leben, von dem er über alle Maßen gehofft hatte, dass es glücklich würde verlaufen, denn nichts anderes hatte er sich je für Aquilius gewünscht.
"So gibt es für uns in dieser Zeit womöglich keinen Weg der richtig und gleichsam angenehm wäre, nur einen Weg, der uns leer und hohl werden lässt, was immer wir auch tun. Welch deplorable Aussichten, mein Freund, welch Misere aus uns selbst heraus geboren."
Das Lächeln erweiterte sich jedoch alsbald, wurde überdeckt von ehrlicher Erleichterung.
"Doch mit dir an meiner Seite bin ich bereit, noch jeden Weg zu gehen. Und wer weiß, eines Tages, Caius, eines Tages ... vielleicht ... "
Aquilius mochte Recht haben mit seiner Einschätzung, der tarpeische Felsen hatte sich längst vor Gracchus' Füßen aufgetan, allfällig war er ebenfalls bereits gesprungen, doch obwohl er tiefer und tiefer in den Abgrund stürzte, gab es kein Sterben, gab es nur endloses Fallen ohne das erlösende Aufschlagen auf den Grund. Doch womöglich gab es ein Seil, welches um seine Hüften geschlungen war, ein Seil welches just in diesem Moment angezogen wurde. Nicht nur Auqilius war nach Hause zurück gekehrt, gleichsam mit ihm fand auch Gracchus ein Stück seines Zuhause wieder, vielleicht auch ein Stück Marcus Antonius, als er nun in die dunklen, tiefgründigen Augen des Freundes blickte, die warme Hand auf seiner Schulter spürte. Vielleicht konnten sie eines Tages den Lauf der Geschichte verändern und die Schlacht bei Actium verhindern.
"Geh nicht wieder aus Rom fort, ich bitte dich. Nach was auch immer es dich drängt, es wird eine Möglichkeit geben, dies in Rom zu tun. Willst du Fischer sein, ich werde dir einen Fluss durch den Garten graben lassen, wenn es sein soll auch einen Hafen bis zum Meer hin. Willst du Politiker werden, ich werde dafür Sorge tragen, dass du den notwendigen Status erreichst und man dich wählt, willst du Rosen züchten, so schwatze ich Felix einige Büsche ab. Nur verlass mich nicht, Caius, nicht wieder ohne ein Wort des Abschieds, ohne die Gewissheit der Wiederkehr."
Er zog seinen geliebten Vetter zu den bequemen Korbstühle hin und drängte ihn mit ihm Platz zu nehmen.
"Setze dich zu mir, und erzähle, wo du gesteckt und was du getrieben hast. Wo bei allen Göttern hattest du dich überhaupt vergraben? Hast du meine Briefe nicht erhalten?" -
Da Durus emanzipiert war, nahm Gracchus an, dass auch dessen Schwester nicht mehr unter der Patria Potestas ihres Vaters stand, allein aus dem Grunde, da es in patrizischen Familien nicht üblich war die Kinder vor dem Tod der Eltern zu emanzipieren, schon gar nicht im Falle einer Tochter, es sei denn, sie verband sich durch ein Ehegelöbnis.
"Nein, wahrlich, im Grunde ist niemand für Roma geboren, nur manch einer kann nicht ohne sie. Sie ist eine Hure, die ihre Freier verdirbt, nicht umsonst flüchten sie alle im Alter hinaus aufs Land."
Gracchus selbst war einer jener Römer im alten Sinne des Wortes, Bürger einer Stadt auf ein paar Hügeln am Ufer des Tibers, die durch eine erstaunliche Verkettung von Umständen Herrin der Welt geworden war, Königin über all die anderen Huren des erdumfassenden Lupanargewerbes. Er war einer jener Freier, die glaubten, der Königin dienen zu müssen, die gleichsam nicht von ihr lassen konnten, die bereit waren für sie notfalls in den Kampf zu ziehen, und die das Etablissement erst dann verlassen würden, wenn ihr Samen versiegt, ihr Phallus verschrumpelt und ihre Virilität vergangen war.
"Ist sie bereits vermählt?"
Auf seine Gedanken bezogen war dies ein äußerst merkwürdiger Sprung, doch erfreulicherweise würde Durus jene nicht würde bemerken.
"Ich meine deine Schwester. Ich muss feststellen, dass es sich als ungemein schwierig herausstellt, einen geeigneten Ehemann für Minervina zu finden, nicht etwa, weil es keine passablen Männer gäbe, sondern da sie solch eigene Vorstellungen hat, dass kaum ein Mann jemals dazu passen wird. Sie erwartet von mir einerseitig, dass ich eine passable Partie für sie auftue, andererseits hört sie jedoch weder auf das, was ich sage, noch nimmt sie an, was ich ihr vorschlage. Schwestern sind wahrlich nicht einfach, es sei denn, sie sind Vestalinnen." -
Kaum war die neue Lectio verlesen worden, so machten sich die zehn Decemviri litibus iudicandis bereits an ihre Aufgabe, die Güter der Verblichenen an deren rechtmäßige Erben zu verteilen. Es erschien Gracchus ein wenig makaber, mit welch kindlicher Freude er diesen Tag herbeigesehnt hatte, mit welchem Enthusiasmus er die Namen der Verstorbenen durchforstete, doch er beschloss dies einzig und allein auf seinen Amtseifer zu schieben. So führte ihn dieses Amt, nachdem er aus jenen zu nicht mehr Lebenden gehörenden Namen diejenigen der Bürger Roms herausgesucht hatte, erneut zum Haus der Vestalinnen. Zu seinem eigenen Leidwesen war auch auf dieser Liste kein bekannter Name, so dass wiederum keine größeren Angelegenheiten zu erwarten waren. Einer der Sklaven klopfte und meldete ihn in offiziellem Anliegen.
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Zitat
Original von Flavia Arrecina
Bei seiner Erzählung bekam sie eine leichte Gänsehaut denn das erinnerte sie wieder daran wo sie gewesen war als das alles passierte. Das Blut, die Frau, der Mond der hin und wieder zwischen den Wolken durchgeschaut hatte. Wie sollte sie nur jemals diese ganzen Bilder und Eindrücke aus ihrem Kopf bekommen? Das konnte doch nicht gut gehen und sie würde das ganz bestimmt niemals schaffen.
Sie konnte nicht sagen warum aber es tat einfach gut von ihm in die Arme genommen zu werden, vielleicht weil sie wusste, dass hier die Erwartungen ganz anders waren als bei den anderen Flaviern. Hier kannten sie sich auch nicht wirklich und es war alles einfach ander. Vorsichtig lehnte sie ihre Stirn an seine Brust und schloss ihre Augen. Sie wollte einfach mal nur einen kleinen Moment an rein gar nichts denken, einfach nur einen freien Kopf haben mehr nicht, das war alles was sie grade in diesem Moment wollte. Gerne wollte sie einmal mehr über diesen Mann erfahren der sie nun in seinen Armen hielt. Es war schon irgendwie seltsam wenn man bedachte, dass alle Flavier für sie irgendwie Fremde waren udn doch lag immer wieder etwas sehr vertrautes in der Luft.
"Ich danke dir dafür was du für mich tust. Im Moment weiß ich einfach nicht weiter, auch nicht was ich machen soll, denn ich habe Angst etwas falsches zu machen oder zu sagen. Ihr seid alle Fremde für mich, ich kenne eigentlich niemanden, zumindest nicht in meinen Gedanken. Ich werde bereit sein und warten, dass ich geholt werde, versprochen."
Arrecina hoffte wirklich, dass er mit seinen Methoden Erfolg haben würde und ihr hier wirklich nichts geschehen konnte. Sie wollte tapfer sein und sich ihre Angst nicht ganz so schlimm anmerken lassen, deswegen versuchte sie leise und lange ein und aus zu atmen während sie sich immer noch in der Umarmung fest hielt.
Wäre Gracchus ein wenig mehr wie sein Vetter Aquilius, womöglich auch nur ein wenig mehr wie die meisten anderen Männer dieser und aller übrigen Zeiten, und dem weiblichen Geschlecht ein wenig mehr, oder überhaupt nur ein wenig zugetan, so hätte ihn die Nähe zu seiner Nichte, zu jener ihm selbst doch so fremden jungen Frau, womöglich ein wenig in Bedrängnis gebracht. Doch wie ihn die Natur und die Götter geschaffen hatten, löste ihre ein wenig klammernde Umarmung zwar eine reflexbedingten Beschützerinstinkt in Gracchus aus, jedoch eher ob der eigenen Erfahrung mit Furcht und Fluch wegens, andererseits auch noch immer ob der Tatsache wegen, dass er seinem Vetter Aristides versprochen hatte, für das Wohl seiner Tochter Sorge zu tragen und er solch familiäre Pflichten überaus ernst nahm, wodurch letztlich ohnehin ein anderes Interesse als jenes Wohlergehen in stillem, beharrlichen Schweigen übergangen worden wäre, wäre dies notwendig geworden, was es ob der vorgenannten Gründe jedoch nicht war. Gracchus strich Arrecina beruhigend über ihr dunkles Haar und bedachte dabei, wie kindlich sie doch in diesem Augenblick wirkte, obgleich er mit ihrem Vater nur wenige Tage zuvor bereits über dessen Absichten eine Vermählung betreffend gesprochen hatte.
"Niemand hegt Erwartungen dir gegenüber und niemand wird dir zürnen, wenn du etwas Falsches tust. Die Erfahrung, Fehler zu begehen, gehört leider zu unserer Existenz wie das Atmen und Schlafen, wir können sie nicht rückgängig machen, wir können sie nur bedauern und aus ihnen lernen, was wiederum unseren Charakter festigt, wodurch wir bei genauer Betrachtung unserer Fehler sogar bedürfen. Doch für heute brauchst du keine charakterliche Festigung, Atem und Schlaf sollten genügen, darum bereite du dich für die Nacht, und ich werde für Milch, Bohnen und Öl Sorge tragen." -
Schmerzhaft drangen die Worte seines Vetters in seine Gehörgänge ein, obwohl er nicht sicher gewesen war, dass Aquilius in Rom bleiben würde, so hatte er es doch mit jedem Herzschlag mehr gehofft, und um so bitterer war es nun, das Schwanken in der Stimme des Freundes zu hören. Doch jener erste Satz war längst nicht das Schlimmste von allem, was er sprach. Vergessen, dies war es, was Gracchus sich so oft wünschte, vergessen was war, Sehnsüchte und Wünsche vergessen. Wieder sprach Caius aus, was nicht sein durfte, nach dem sie sich beide so sehr sehnten, die Worte, die Gracchus in den letzten Monaten mehr herbei gesehnt hatte, als alles andere, und doch waren sie vergangen und die Gegenwart war vergessen. Gracchus hörte die Worte über einen Peregrinus, einen verlorenen Patrizier, einen Fischer, einen einfachen Mann, er konnte nichts damit anfangen, verstand nicht den Sinn hinter den Sätzen, denn letztlich blieben ohnehin nur zwei Bruchstücke in seinem Kopf hängen. Wie ein gewaltiger Herbststurm fegten sie durch sein Hirn, hallten an den Wänden seines Schädels wider und ließen ihm Schwarz vor Augen werden. Er schloss die Augen, kurz nur, atmete tief durch um den tarpeischen Felsen aus seinen Sinnen zu vertreiben, doch der Stein war zu schwer, um zu weichen, zu schwer, um ihn zu bewegen. Caius war dort gewesen - seinetwegen. Er presste die Kiefer aufeinander, öffnete die Augen und trat zu seinem Vetter, jeder einzelne Schritt ließ die Sehnsucht in ihm wachsen, jene Sehnsucht, welche ohnehin schon über alle Maße hinaus war. Ohne ein Wort umfasste er Caius' Genick mit der hohlen Hand, mit der anderen um dessen Rücken und drückte den Freund an sich, allen Widrigkeiten zum Trotz. Er sog den Geruch seines Vetters in sich ein, der ungewohnt und doch gleichsam so unendlich vertraut war, und mit jedem Zug wuchs das Verlangen nur mehr, die Sehnsucht, welcher er niemals würde nachgeben können, obgleich er sich nichts sehnlicher wünschte. Einem Flüstern gleich bahnten sich seine Worte ihren Weg zu Aquilius' Ohr.
"Ich habe dich immer geliebt, Caius, und ich werde dich immer lieben, mehr als jeden anderen. Du weißt, dass es niemals anders sein wird, ebenso wie du weißt, dass ich dem niemals werde nachgeben können. Es tut mir leid, Caius, es tut mir so unendlich leid."
Er drückte seine Lippen auf den Hals seines Gegenübers, hielt diesen noch immer fest, küsste ihn lange auf seinen Hals, knapp unterhalb des Ohres, bis sein eindringliches Flüstern sich fortsetzte.
"Leidenschaft darf die Bande unserer Freundschaft strecken, doch lass nicht zu, dass sie sie zerreißen, Caius, lass es niemals zu."
Jählings ließ Gracchus von seinem Vetter ab, wandte sich um, wissend, dass er keine Sekunden länger in dieser Nähe verharren würde können, ohne dass geschah, was nicht geschehen durfte. Er trat die Flucht an, wie immer, trat zum Fenster, wandte Aquilius den Rücken zu, und wäre ein unbedarfter Beobachter in diesem Augenblick in das Zimmer getreten, nichts an Gracchus hätte auf die letzten Minuten schließen lassen. Er wischte sich beiläufig über die Wange, womöglich war nur eine jener kleinen Fliegen in sein Auge geraten, welche der Frühling gleich der aufkommenden Wärme mit sich brachte. Seine Stimme war nicht fest, als er, nun etwas lauter, sprach, doch sie brach nicht entzwei, wie er befürchtet hatte. Er hatte viel über Caius und sich nachgedacht, nachdem dieser so plötzlich aus seinem Leben verschwunden war, nachdem dieser ihn ohne ein Wort, ohne eine Nachricht des Abschiedes verlassen hatte.
"Du hast immer das Leben genommen, wie es kam, du hast dir nicht den Kopf zerbrochen, hast angenommen, was in deinem Weg lag, wenn du es gebrauchen konntest, hast es umrundet, wenn dir das Hinforträumen zu müßig war; und niemand hat je etwas anderes von dir erwartet."
Gracchus entdeckte draußen im Garten einen kleinen Vogel mit braunem Kopf, ein Spatz augenscheinlich, der vor einem von Vetter Felix' Rosenbüschen im Boden pickte. Unweit lauerter Leontias Katze, jenes samtweiche, sanfte Tier, die Ohren angelegt, die Beute keine Sekunde aus den Augen verlierend.
"Ich weiß nicht, wann dies war, doch es muss einen Punkt gegeben haben, einen genau bestimmbaren Zeitpunkt, an welchem ich den Anschluss an dich verlor. Womöglich als ich das Messer aus Sciurus' Rücken zog, vielleicht auch schon früher oder erst später, hier in Rom, doch es muss einen Punkt gegeben haben. Kannst du dich noch daran erinnern, wie wir als Jungen uns wünschten Legionäre zu sein, große Feldherren zu werden? Wir fochten die Schlachten der Geschichte aus, du Iulius Octavianus, ich Marcus Antonius, du Hannibal, ich Scipio, wir beide gemeinsam gegen den übermächtigen Feind. Wir tobten über die Hügel, vergaßen Raum und Zeit, bis wir endlich erschöpft keinen einzigen Schritt, keinen einzigen Hieb noch ausführen konnten. Schließlich verlagerten wir die Schlachten auf Pergament, nur allzu genau kann ich mich der vielen Spottgedichte erinnern, welche wir verfassten, uns gegenseitig zu übertrumpfen versuchten. Jeder wahrhaftige Dichter hätte sich die Hände über dem Kopfe zusammen geschlagen, doch wir spotteten ihres Gelächters und lachten selbst am lautesten mit. Die Abende waren gelöst von Ausgelassenheit und Wein, bei mir mehr Ausgelassenheit, bei dir mehr Wein. Doch irgendwann hörte ich auf zu sein, wie ich war, irgendwann fügte ich mich dem, was von mir erwartet wurde, nicht widerwillig, ganz wie von selbst, wie ich im Nachhinein mit Erschrecken feststellen muss. Mein Leben gilt dem Staat, mein Leben gilt meiner Familie und Gens, und erst danach finden meine eigenen Wünsche Berücksichtigung, was kaum überhaupt noch geschieht. Ich frage mich manches mal, was geschehen würde, wenn dies nicht so wäre, wenn ich tun würde, wonach es mir beliebt, ob der Lar meines Vaters tatsächlich randalieren, meine Familie sich echauffieren, die Öffentlichkeit überhaupt Notiz nehmen würde. Ich bin zu feige, dies heraus zu finden, Caius, und wer wüsste dies besser, als du; darum sinke ich weiter und weiter in dieses Sein hinab und es assimiliert mich mit jedem Atemzug mehr und mehr. Ich werde nicht abenteuerlustiger Legionär werden, nicht großer Philosoph oder Dichter, und gehen lassen kann ich mich schon lange nicht mehr, ohne am nächsten Tag dafür zu büßen. Ich werde als knochentrockener Politiker enden, mit ausgedörrtem Geist. Du jedoch, Caius, wirst immer deinen eigenen Weg gehen, Philosoph, Legionär, Dichter, Träumer oder auch Fischer, und es wird dich immer zufrieden stellen, gleich was die Welt darüber denken mag. Was du auch getan hast, was du auch tun wirst, Caius, es wird immer das Richtige sein."
Endlich spannte die Katze ihre Muskeln und setzte zum Sprung an. Mit einem Satz war sie bei den Rosen, der Vogel jedoch spürte die Gefahr und flog rechtzeitig hinfort, ließ das Tier erfolglos zurück. Gracchus drehte sich zu seinem Vetter um, das Antlitz von Trübsal überschattet.
"Ich bin noch da, Caius, noch immer, und doch ist womöglich kaum mehr etwas übrig. Doch gleich wieviel, nichts davon ist es wert, ob dessen zum tarpeischen Felsen zu gehen ... nichts daran." -
Der Nachklang seiner eigenen Worte hallte einmal ausgesprochen bitter im Raum wider, wie Milch, die über Nacht ob der Lemuren sauer geworden, wie Wasser, das mit zu viel Essig verdünnt worden war. Leontias Schweigen drückte schwer auf Gracchus' Schultern hinab, er glaubte in ihrem tonlosen Hauch ersticken zu müssen. Er hatte nicht erwartet, dass sie Verständnis zeigen würde, er hatte nicht erwartet, dass sie seine vergeudeten Tage im Nachhinein würde gutheißen, hatte auch keine tröstlichen Worte erwartet, wie Aquilius sie gegeben hatte, doch ebenso wenig hatte er ihr Schweigen erwartet und auch nicht jenes leichtfertige Übergehen, mit welchem sie schließlich Jahre seines Lebens hinfort wischte, als hätte es sie niemals gegeben. Tatsächlich hatte er von einer Frau wie Leontia Empörung erwartet, nicht über die Maßen ausdgedrückt, doch einen leichten Tadel, etwas in diese Richtung. Es lag nicht in seiner Intention, ein falsches Bild von sich zu zeichnen, nicht ihr gegenüber, aufgrund deren unbefleckter Unschuld er sich zur Ehrlichkeit verpflichtet fühlte, doch ihr Desinteresse verletzte ihn gar ein wenig, kränkte ihn, auch wenn er sich dies nicht würde eingestehen. Dass er sie mit jenen, in ihren Augen augenscheinlich marginalen, Erinnerungen belästigt hatte, dies beschämte ihn nun geleichermaßen ein wenig. Er sehnte sich nach Caius, denn durch dessen Oberfläche hatte er meist mühelos hindurch blicken können, hatte immer gewusst, was in jenem vor ging, und immer hatten sie füreinander die rechten Worte, Worte, welche ihm nun gegenüber Leontia fehlten. Er wollte den Raum verlassen, sein Heil in der Flucht suchen und ihr entkommen. Wie einfach war die Welt doch in Briefen, tagelang hätte er jenen mit den zuvor ausgesprochenen Worten bei sich behalten, ihn mit sich getragen, wieder und wieder korrigiert, ausformuliert, Worte kombiniert, womöglich am Ende verworfen, im Feuer verbrannt. Doch gesprochene Worte konnten nicht ausgelöscht, nicht aus der Erinnerung getilgt werden, nicht seine, nicht ihre, nicht aus der ihren, nicht aus der seinen. Nachdenklich zog er jeden weiteren Satz bedächtig in die Länge, wie ein Stück geschmolzenen Käse, obgleich es sich bei Käse selten lohnte, jenen genauer zu bedenken oder ihn abzuwägen, wie dies nur Aufgabe der Sklaven war.
"Nun, ich denke nicht, dass die Lemuren dieses Hauses rastlos oder gar rachsüchtig sind, doch wir sollten ihrer niemals vergessen."
Er erhob sich.
"Ich möchte dich nun nicht länger stören, ohnehin habe ich bereits genug deiner Zeit verschwendet. Ich danke dir für das offene Ohr und auch für die Ratschläge, ich werde sie beherzigen, und ich bin guter Hoffnung, dass sie mir hinsichtlich meiner Gattin weiter helfen werden." -
"In der Tat,"
pflichtete Gracchus bei und spülte den schalen Geschmack dieser Aussage mit einem großen Schluck Wein die Kehle hinab. Die tief rotfarbene Flüssigkeit umspielte seinen Gaumen mit einem weichen Nachhallen, hinterließ nicht den leicht bitteren Nachhall eines billigen Weines, sondern jenes innere Aroma der Zufriedenheit, welches einem Wein seiner Qualität nur angemessen war. Es war ein Setinier, wie Gracchus mit seiner Zunge zu ertasten glaubte, ein edler Wein von vollmundiger Milde, gerade recht für den Ausklang eines langen Tages, gerade recht um die Zunge schwer werden zu lassen.
"Hast du eine Schwester, Tiberius?"
Er fragte dies aus einer Laune heraus, um sich endlich von den Pflichten zu lösen, wenn auch nur jenen der Politik, so dass jene denen der Familie gegenüber Platz schaffen konnten. -
Die Dunkelheit, welche Gracchus auf dem Weg in jene Gefilde umfasst hielt, war weitaus schlimmer zu ertragen, als jene, welche ihn nach dem Schlag auf weichem Vergessen hatte gebettet. Er konnte die Welt um sich herum hören, doch gleichsam nicht sehen, er konnte sie riechen und manch feinen Lufthauch spüren, und doch war es ihm, als stecke sein Geist in einem Gefängnis, als wäre ein Spiegel alles, was ihm noch blieb, als würde ihm jener nur fortwährend seine Unzulänglichkeiten vor Augen stellen. Quintus Tullius hatte Recht, keinen Tag hätte er in der Subura überleben können, doch dies wäre auch nicht im Geringsten von Nöten gewesen, und je mehr er darüber nachdachte, so kam er zu dem Schluss, dass Quintus womöglich nichts unmöglich war, dass er sich geirrt hatte in seiner eigenen verblendeten Selbstgefälligkeit, dass es mitnichten schwer war, Manius Gracchus zu werden und dass dies womöglich jene bittere Tat würde sein, welche das Schicksal einmal mehr von ihm würde verlangen, um dem Wohl seiner Familie dienlich zu sein. Er wusste nicht, was ihn mehr erschreckte, der Gedanke daran, dass es für Quintus Tillius würde einfach sein, Manius Gracchus zu sein, oder der Gedanke, dass dies mitnichten so schlimm wäre, wie er zuerst geglaubt hatte, dass dies womöglich gar die beste Alternative wäre, welche ihnen blieb. Irgendwann war Gracchus aufgrund der Eintönigkeit seiner eigenen Gedanken von einem wenig erholsamen Dämmerzustand übermannt worden, wenig erholsam, obleich er von den weiten Fluren Italias träumte, vom Duft der lieblichen Natur in seiner Nase und dem feinen Hauch des Windes, der über seine Wangen strich, doch als er wieder zu sich kam, war er noch immer in Dunkelheit gehüllt und seine Glieder schmerzten. Dem Reisen hatte er noch nie Freude abgewinnen können, nicht einmal ohne einen Sack über dem Kopf, ohne die Fesseln um seine Gelenke und mit weichen Polstern unter seinem Hinterteil. Er wusste nicht, wie lange er die Zeit vergessen hatte, wusste nicht einmal, wieviel Zeit bei Bewusstsein vergangen war, doch als er erneut wie ein Sack Mehl über der Schulter transportiert wurde - von einem überaus robust gebauten Mann, wie Gracchus auch ohne seine sehenden Sinne auffiel - gefiel ihm dies noch minder. Er harrte aus, was blieb ihm überdies anderes übrig, und versuchte sich von den ihn nun wie Furien umkreisenden, völlig unpassenden Gedanken an Aqulius zu lösen, als ihm endlich das hinderliche Stück Stoff vom Kopf entfernt wurde. Noch während der Parther in der Dunkelheit verschwand, welche jedoch nicht nur um Gracchus' Kopf existierte, sondern vielmehr im halben Raum vorherrschend war, blinzelte Gracchus in jene Schwärze hinein im Versuch, seine Augen an die Beleuchtungsverhältnisse zu gewöhnen und ein wenig mehr zu erkennen. Es war ein überaus merkwürdiger Ort, an welchem er sich aufhielt, und er erschien Gracchus viel zu surreal, als dass er ihm Sorge bereiten konnte. Auch jener Mann, der schließlich vor ihn trat, erschien ihm viel zu surreal, denn dies war er selbst.
"Bei den Göttern, mein Geist ist aus meinem Körper gewichen!"
Vielleicht war dies tatsächlich die wahrhaftige Erklärung, womöglich war dies nicht mehr die wirkliche Welt, sondern ein Trug.
"Dies ist des Platons Höhle, ich bin die Idee und du mein Abbild."
Gracchus konnte nicht verhindern, dass er auflachte, dies alles, dies alles geschehen war völlig absurd. Es hätte ihm längst früher auffallen müssen, allein der Gedanke daran, dass all dies wirklich war, war völlig verrückt.
"Famos, wirklich Famos, Quintus! Der Sohn, den unser Vater sich immer wünschte, wahrhaftig!"
Er freute sich wie ein kleines Kind und lachte noch immer, einzig dass er seine Hände nicht frei hatte, um sich den Bauch zu halten, störte Gracchus an dem gesamten Trugbild. Er atmete tief durch, doch noch immer ließ sich das vergnügliche Lächeln nicht von seinem Antlitz vertreiben.
"Mein lieber Bruder - doch, ich glaube, wir sind nun soweit - ich muss gestehen, du siehst atemberaubend aus. Den linken Arm etwas höher, dann läufst du nicht Gefahr, dass der Stoff über den Boden schleift."
In einem Reflex wollte er die Hand heben, um dies anzuzeigen, doch seine Hände waren noch immer gefesselt und der Strick schnitt schmerzhaft in Gracchus' Handgelenke. Dass dies alles real war, dass dies alles wahrhaftig war, er wusste nicht, ob dies schrecklich oder erheiternd, oder tatsächlich schrecklich erheiternd war. Von einem Augenblick zum anderen wurde Gracchus Tonfall nachdenklich und ernst.
"Du hättest es auch auf andere Weise haben können, Quintus, du hättest mich nicht einmal darum bitten müssen. Ich hoffe, es wird dir Freude bereiten, mehr als mir."
Wieder zog sich ein unpassender Gedanke durch seine Sinne und Gracchus' Blick durchbohrte Tullius.
"Dir mag es gerecht erscheinen, dass nun ich hier unten sitzen, während dir dies jahrelang beschieden war, und ich mag dir nicht widersprechen. Doch deine Gastfreundschaft lässt wirklich zu wünschen übrig, Bruder, und dies ist es, was ich dir übel nehme. Darum lass mich dir einen Gefallen abringen, diese Schuldigkeit fordere ich. Wenn du die Villa Flavia betrittst, so nimm dir, was dir beliebt, selbst meine Gemahlin mag dir in meinem Namen gehören- was du auch tust, sie könnte ohnehin nur positiv überrascht werden, wenn du dies wünschst, so werde ich sogar meinen Sklaven anweisen, dich zu begleiten, doch ich bitte dich darum, deinen Körper von jedem anderem im Hause fern zu halten."
Ein unbedarfter Geist mochte vermuten, dass Gracchus die weiblichen Mitglieder der Gens Flavia vor seinem Zwilling bewahren wollte, doch Gracchus Befürchtungen galten einzig und allein seinem Vetter Caius, denn er könnte nicht ertragen, dass was geschehen mochte ohne ihn geschah, dass er am wichtigsten Ereignis zwischen ihnen beiden nicht würde Teil haben. -
Die Minuten bis zu Aquilius' Ankunft erschienen Gracchus endlos. Obwohl er nicht den Anschein des Wartens erwecken wollte, saß Gracchus nur da, hielt nichts als die Türe im Blick und wartete, dass sein Vetter endlich durch sie hindurch treten mochte. Er schaffte es nicht einmal, seinen Kopf abzuwenden und beiläuft in den Schriftrollen zu kramen, als Aqulius schließlich in das Zimmer trat, denn sein Kopf wollte ihm nicht mehr gehorchen, seine Sinne waren gefüllt mit Caius und nichts würde sie davon ablenken können, jenen mit all ihrer Aufmerksamkeit herbeizusehen und in sich aufzunehmen.
"Caius, ..."
Mehr brachte er nicht hervor, aus der Befürchtung heraus, jedes weitere Wort würde ihm in der Kehle stecken bleiben, oder könnte, wenn es denn in die Welt hinaus entlassen war, den Vetter erneut dazu bewegen, ihn zu verlassen, wortlos, wie zuletzt. Zudem hatten sie noch nie viele Worte füreinander gebraucht, abgesehen natürlich von jenen langen, tiefgründigen Diskussionen über politische, philosophische, kultische oder weltbewegende Themen. Aquilius' Kleidung war einfach, ausgebleicht und schmutzig, doch Gracchus schob dies auf den langen Reiseweg, welcher hinter ihm lag. Sein Haar war ein wenig heller geworden, die Haut indes dunkler, was ihm einen soldatischen Anschein gab, oder auch den eines Eremiten. Zwei Briefe hatte Gracchus ihm nach seinem hastigen Aufbruch gesandt, doch Auqilius hatte sie nicht bentwortet. Irgend ein Scriba hatte Gracchus auf drängendes Nachfragen schließlich mitgeteilt, dass Aquilius anscheinend wohlbehalten an seinem Ziel angekommen war, doch was genau er dort getan hatte, dies konnte ihm niemand sagen. Es war sicherlich nicht nur die Wiedersehensfreude, nicht nur die Lange Zeit des Sehnens, sondern auch der ungewohnte Anblick, der Aquilius noch begehrenswerter erscheinen ließ. Gracchus erhob sich und trat um den Schreibtisch herum, ein leises Zittern lag in seiner Stimme, von der er sich nur einmal im rechten Augenblick Festigkeit wünschte.
"Es ist gut, dass du wieder hier bist."
Womöglich war es das nicht, denn vielleicht war Aquilius auch nur hier, um sich endgültig zu Verabschieden. Doch Gracchus glaubte nicht daran, er konnte nicht daran glauben, er musste hoffen, dass all das, was zwischen ihnen gewesen war, nicht einfach weggewischt werden konnte, mit oder ohne Ehefrau, dass nicht ihr Verlangen, ihre Sehnsucht über die tief in ihnen verwurzelte Freundschaft entscheiden und sie für nichtig erkären würde. -
Eine Augebraue erhob sich von ihrer Position über Gracchus' Auge und strebte der Decke entgegen.
"Senator Purgitius ist der Patron des Terentius? Faszinierend."
Die Unkenntnis darüber ließ Gracchus wieder einmal darüber nachdenken, dass es notwendig wurde, sich genauer mit solchen Dingen auseinander zu setzen. Zwar überließ er dies allgemeinhin seinem eigenen Patron, seinem Vetter Felix, da seine eigenen Symathieen ohnehin maßgeblich von dessen Wort abzuhängen hatten, doch sollte er sich in die weiteren, höheren Gefilde der Politik vorwagen, so wäres es unumgänglich jenes Wissen aufzubauen.
"Die Finanzierung der Spiele ist sicherlich mit ein gewichtiger Grund, beachtet man, welche Kosten bereits die Quaestur und nun auch das Vigintivirat verursachen, so dürfte das Aedilat einem Emporkömmling sehr schnell seine Grenzen aufzeigen. Nicht einmal die Geldverleiher sind bereit, einem angehenden Politiker ihre Münzen in den Rachen zu werfen, was sie sonst in Hinblick auf ihre Gewinne doch nur all zu gerne tun. Doch war es nicht jener Terentier, der bereits in seinen Wahlreden das Patriziat diffamierte? So ist das Deplorabelste an dieser gesamte Geschichte, dass er dennoch gewählt wurde; und es sollte uns nachdenklich stimmen." -
Obwohl sie ausgesprochen gute Plätze hatten, wären jene ganz hinten Gracchus um einiges lieber gewesen, obgleich diese nicht im Geringsten standesgemäß wären. Doch er fühlte sich viel zu nah am Geschehen, beim Vorbeidonnern der Wagen glaubte er jedes Mal den mitreißenden Luftzug zu spüren und er hoffte nur, es würden sich keine Wägen direkt vor ihnen in die Quere kommen. Zumindest würde bei einem Wagenrennen kein Blut spritzen, wie bei den von Gracchus noch ungeliebteren Gladiatorenspielen. Deplorablerweise schien sich Gracchus auch als Sympathisant einer Factio nicht im Geringsten zu eignen, denn ein jedes Mal, wenn die roten Wägen sich dem Bahnabschnitt vor ihren Sitzplätzen näherten und er gerade die Hände hob, um zu Applaudieren, da waren sie auch schon an ihnen vorbei gezogen. Es bedurfte wohl eines bei vielen Wagenrennen geschulten intuitiven Gepüres für den richtigen Augenblick, oder aber einer komplexen mathematischen Berchnung, zu welcher sich Gracchus im gegenwärtigen Umfeld jedoch nicht fähig sah. Doch genau betrachtet war dies auch nicht notwendig, denn Serenus neben ihm jubelte der Russata so überaus enthusiastisch zu, dass dies durchaus für zwei Personen ausreichen und damit seine Passivität ausgleichen mochte. So gab sich Gracchus denn dem kühlen Getränk hin und versuchte zumindest einen Überblick über das Wagenrennen zu behalten. Für die rote Factio sah es jedoch nicht allzu gut aus, soweit er dies beurteilen konnte, doch selbst Gracchus wusste, dass das Ziel eines Wagenrennens darin bestand, sich vor alle anderen Wägen zu setzen und darin war die Russata augenscheinlich nicht sehr erfolgreich.
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Mit einem ersten prüfenden Blick taxierte Gracchus das junge Zicklein, welches sein Leibsklave auf den Armen trug. Dabei überlegte er, ob wohl Serenus nIch doch womöglich bereits das passende Alter erreicht hatte, um sich als Opferherr zu versuchen.
"Heute werde ich den Opferschnitt durchführen. Du siehst genau dabei zu und bei der nächsten Opferung kannst du diese Aufgabe übernehmen. So wird auch deine Tunika nicht beschmutzt werden, auch wenn dies eine deiner geringsten Sorgen sein sollte. Jeder Mensch kann ein Opfer durchführen, das priesterliche Amt zeichnet nur diejenigen aus, welche in der Öffentlichkeit dafür prädestiniert sind. Im anderen Falle wären viele unserer häuslichen Feste undenkbar, erinnere dich nur an die Saturnalia."
Das ein wenig hastig durchgeführte Opfer trug Gracchus seinem Sklaven bisweilen noch immer nach, denn gegensätzlich zum Ende des Festmahles war ihm der Beginn desjenigen noch sehr genau in Erinnerung geblieben, doch er musste Sciurus andererseits auch sein Tun nachsehen, schließlich hatte er selbst ihn mit jener Aufgabe betraut, und obgleich die Sklaven an jenen Tagen nominell freien Bürgern gleich gestellt waren, so konnte man dennoch keine menschlichen Pflichten von ihnen verlangen.
"Sklaven können zugegen sein oder auch nicht, darum brauchst du dir noch weniger Gedanken zu machen, als um deine Tunika."
Als hätten sie nur auf jene Erlaubnis gewartet, traten nun zwei weitere, von Sciurus beauftragte Sklaven in den Garten, trugen einen kleinen Foculus, einen tragbaren Altar, herbei und stellten ihn am Rand des Weges ab. Eine schmale Sklavin tippelte ihnen hernach und stellte ein kleines Tischchen daneben, auf welchem sie zwei Schüsseln, eine mit Weihrauch, eine mit Weintrauben, balancierte. Einer der Sklaven verließ das Peristyl um eine Feuerschale zu holen. Währenddessen winkte Gracchus seinen Leibsklaven herbei.
"Für den Opferherren ist es wichtig, sich selbst vor dem Zeremoniell von der Makellosigkeit des Tieres zu überzeugen, ganz besonders, wenn du jenes erst eben von einem der Stände rund um die Tempel erworben hast."
Er zog dem Zicklein die Lider auseinander, ein Blick in die geweiteten Pupillen verriet, dass das Tier bereits vorbereitet war, anschließend besah er die Zähne des Tieres, schließlich den Bauch und die Läufe, bevor er noch einmal, beinahe zärtlich ein Ohr zwischen Daumen und Zeige- und Mittelfinger hindurch zog.
"Im Rahmen einer großen Zeremonie zieht der Opfernde vor Beginn sich eine Falte seiner Toga über den Kopf, so dass seine Sinne vor jeglicher Ablenkung geschützt sind, zudem wird ein solches Opfer aus gleichem Grunde vom Spiel eines oder mehrerer Tibicines oder Fidicines begleitet, doch dies ist in unserem Falle nicht notwendig. Wenn du also bereit bist, so können wir beginnen. Der Ablauf gestaltet sich folgendermaßen: wir geben ein wenig des Weihrauchs über die Kohlen, so dass der aufsteigende Rauch die Götter auf uns aufmerksam macht, sodann wenden wir uns mit dem Voropfer an Apollon und Aesculapius mit der Bitte unser Opfer zu beachten und anzunehmen. Das eigentliche Gesuch um Lucullus' Genesung formulieren wir schließlich zum blutigen Opfer." -
Seit einigen Tagen schon blühten draußen im Garten der Villa Flavia die ersten Bäume, streckten ihre zart weiß-lilafarbenen Blüten dem Himmel verführerisch entgegen. Auch in Gracchus' Arbeitszimmer hatte der Frühling Einzug gehalten, ein heller, warmer Sonnenstrahl schob sich mit jeder verstreichenden Stunde ein Stück weiter durch den Raum über den Boden, doch gleichsam würde er den Schreibtisch aufgrund dessen Positionierung im Raume niemals erreichen. Nicht nur ob dieser Tatsache wegen schien der Tag Gracchus von Düsternis verhangen, nicht eintönig, sondern geradezu farblos. Am Morgen war ihm der Brief seiner Mutter wieder in die Hände gefallen, welcher noch immer in der Schublade verborgen ruhte, und jener Anblick hatte ihm ins Gedächtnis gerufen, dass eine Nachricht seiner Schwester Minervina längst Rom hätte erreichen müssen. Gleich nach ihrer Ankunft in Hispania, so hatte sie ihm versichert, wollte sie einen Brief schreiben. Natürlich gab es unzählige Possibilitäten, weshalb jene Nachricht noch nicht in der Villa Flavia eingetroffen war, beginnend mit einem Versäumnis des Cursus Publicus, welches selten aber dennoch bisweilen vorkommen mochte, über eine Verzögerung der eigentlichen Reise in Ostia oder durch schlechte Witterung bedingt durch einen Zwischenhalt in Gallia und der Tatasche, dass Minervina sich wortgetreu an das Gesagte hielt und tatsächlich erst dann schrieb, wenn sie in Hispania angekommen war, bis hin zu vielen weiteren Möglichkeiten, von welchen Gracchus keine einzige weitere einfallen wollte, deren Existenz er sich jedoch gänzlich sicher war. Keinesfalls hatte das Ausbleiben einer Nachricht jedoch zu bedeuten, dass Minervina etwas geschen sein mochte, dass sie nicht bis nach Hispania gelangt war, nicht, dass ihr Schiff einem Sturm erlegen oder von jenen unzähligen Piraten zum Grunde des Meeres gesandt worden war, welche das Mare Nostrum befuhren, gleichsam wie es nicht vermuten ließ, dass sie jenen aufständigen Iberern in die Hände gefallen war, von welchen man erst in der letzten Ausgabe der Acta Diurna wieder lesen musste. Stand dort nicht etwas von Entführungen geschrieben? Bei allen Göttern, er hätte sie niemals gehen lassen dürfen, er hätte sie bedrängen müssen, die Reiseabsichten aufzuschieben, nachdem er sie nicht von der Unsinnigkeit der Reise hatte überzeugen können. Niemals würde er sich verzeihen können, wenn ihr etwas geschehen war, ganz abgesehen davon, dass er neben dem ruhelosen Geist ihres Vaters nicht auch noch den ihren würde ertragen können. Bereits jetzt konnte er den kalten Hauch in seinem Nacken spüren, das leise Flüstern, die missbilligende Stimme ihres Vaters in seinen Ohren hören, wie unfähig er als Bruder doch war, wie verantwortungslos er sich wieder einmal hinsichtlich seiner Familienpflichten gezeigt hatte und welche Enttäuschung er gleichermaßen für die Familie darstellte. Aus diesem Grunde war Gracchus ein wenig in sich zusammen gesunken, als der Sklave den Raum betrat, jene Zeilen auf der Schrift vor sich nahm er gleichsam längst nicht mehr wahr. Das Räuspern ließ ihn aufmerken und den Worten des Sklaven folgen.
'Caius!'
Der Name durchflutete augenblicklich jede Faser, jede Zelle seines Körpers, löste eine Kette von Empfindungen in Gracchus aus, beginnend mit ungläubigem Erstaunen, über erschöpfende Sehnsucht, aufwallende Erregung und freudige Erwartung hin, bis zu überschwänglicher Freude. Nichts jedoch spiegelte sich auf Gracchus' Antlitz wieder, er richtete sich auf und griff nach dem Becher, da ihm seine Kehle mit einem Male ausgedorrt wie eine getrocknete Pflaume schien. Unmerklich zitterte seine Hand als er das Gefäß zu seinem Mund führte, ein Schluck daraus trank und wieder abstellte. Seine Zunge glitt kurz über die Lippen um sie zu befeuchten, schließlich nickte er.
"Führe ihn her."
Welch profane, unverfängliche Weisung, und doch konnte Gracchus spüren, wie sie untrüglich jenen Moment herbei führten, an welchem das sich anspannende Seil mit einem lauten Knall würde reißen. Unzählige Fragen lauerten in Gracchus Geist, doch eine einzige davon überschattete alle anderen, ließen sie völlig nichtig erscheinen, jene eine über das, was noch zwischen ihnen war. -
Zuerst spürte Gracchus nur das dumpfe Pochen hinter seiner Stirn, ein alles überlagerndes Pochen, sein Empfinden, sein Gespür, jegliche Wahrnehmung. Gedämpfte Stimmen drangen zu ihm hindurch, matt und glanzlos, als hätte er eine Decke bis über beide Ohren gezogen und sie zudem mit Wachspropfen gefüllt. Sein erster Gedanke war, dass er womöglich schon wieder den Fehler begangen, und mit Caius und Marcus zu viel Wein am Vorabend genossen hatte, für diese Theorie sprach auch das merkwürdige Gefühl des nicht Liegens aber dennoch auch nicht Stehens, sondern eher des völlig unnatürlich schlaff in der Gegend Herumhängens. Dennoch, es fehlte jener unangenehme, säuerliche Geschmack, welcher am nächsten Tage nach solch einem Abend den ganzen Rachenraum ausfüllt und durch nichts, keine Flüssigkeit und keine Speisen, mehr zu vertreiben war, ebenso wie das rumorende Gurgeln um die Magengegend herum. Langsam öffnete er die Augen und nun, im Angesicht des ihm so vertrauten und gleichsam so fremden Gesichtes, wurde ihm schlagartig wieder das Ausmaß der Misere bewusst. Sein Bruder, sein eigener Bruder, hatte ihn zu Boden geschlagen und hielt ihm zu allem Überfluss nun auch noch ein Messer an den Hals, sein eigener Zwilling, Fleisch seines Vaters und seiner Mutter! Es schlug ihm wie ein Blitz durch die Sinne, alles war aus den Fugen geraten. Tullius hatte er vorgeworfen, das Geschenk der Götter nicht anzunehmen, doch er selbst hatte es leichtfertig aufs Spiel gesetzt, hatte es achtlos zu Boden geworfen, hatte sich zu Drohungen hinreißen lassen, seinem eigenen Bruder gedroht, eine Reaktion die aus Furcht geboren worden war, dies immerhin, doch dennoch war sie darum weder ungeschehen zu machen, noch zu verzeihen. Wie war es da verwunderlich, dass er nun in dieser Situation steckte, nah am Körper seines Bruders, was ihn unter anderen Umständen wohl in größere Schwierigkeiten gebracht hätte, als alles andere, doch augenblicklich eher belanglos war.
"Hngh ..."
Gracchus' Körper versteifte sich ein wenig, als er seinen Beinen sein eigenes Gewicht anvertraute und versuchte seine übliche gerade Körperhaltung einzunehmen, ohne dabei seine Kehle zu nah an die blitzende Klinge zu bringen, was durch das Pochen in seinem Kopf und einen etwas aus den Fugen geratenen Gleichgewichtssinn nicht unbedingt einfach war. Zudem überkam ihn erneut Bedauern und eine tiefe, unliebsame Erkenntnis. Niemals wäre er zu dem fähig gewesen, was Tullius tat, mochte er diesen Mann nicht kennen, doch niemals würde er sein Blut vergießen können, nicht einmal im Ansinnen, und doch war dies gleichsam einer jener charakterlichen Züge, welche bisweilen im Lauf der Geschichte notwendig werden konnten, welche schon manch großen Staatsmann hatten groß werden lassen, was Gracchus darumhin niemals geschehen würde, Quintus Tullius jedoch möglicherweise weiter vorangebracht hätte, als er jemals gelangen würde. Quintus Tullius - Quintus Flavius Tullius hätte jener Flavius sein können, der dieses Leben so viel besser ausgefüllt hätte, hätte seine Ziehmutter nicht zwischen ihm und Gracchus entscheiden müssen. Gracchus wollte dies alles vergessen, er wollte diesen Mann nicht kennen, nicht einmal um dessen Existenz wissen, er wollte sich nicht noch eines Bruder schämen müssen, nicht noch einen Namen für immer unausgesprochen lassen, er wollte nicht noch einen Bruder verlieren, wollte sich nicht der Erkenntnis stellen müssen, dass das Leben, so wie es war, nicht in seinen geordneten Bahnen verlief, dass sein Leben nicht das seine hätte sein sollen, noch weniger, als bisher angenommen. Doch was Gracchus wollte, dies war völlig unerheblich, denn wann hätten die Götter sich je darum geschert, was er wollte?
"Mich hätte sie nehmen sollen, nicht dich ..."
Es war nur ein Flüstern, nur ein Hauch, und doch lag der tiefe Schmerz der unumstößlichen Erkenntnis darin. Gracchus wandte den Blick von Tullius ab zu Boden und sehnte sich danach, dass die Klinge endlich in sein Fleisch schneiden und dieses unrühmliche Leben beenden möge. -
Ein wenig ruhelos glättete Gracchus eine verworfene Falte seiner Toga und versuchte an etwas anderes zu denken, als den Pöbel in seinem Rücken, dessen heißen Atem er nur all zu deutlich zu Spüren glaubte. Glücklicherweise begann bald das Opfer und brachte ein wenig Ruhe in die von der Pompa aufgebrachte Masse, doch Gracchus konnte auch dies beeindruckende Zeremoniell kaum genießen, denn viel zu schnell war es vorüber und hinterließ die Menschen in Freude über den wohlgesonnenen Gott wieder so ausgelassen, wie zuvor. Erneut fragte Gracchus sich, wie er sich hatte dazu überreden lassen können, seinen Neffen zu begleiten. Vermutlich mochte es an dessen so unschuldig, flehentlichem Blick gelegen haben, der ihn ein wenig an seine eigene Kindheit erinnert hatte, wenn er in Sehnsucht auf eine Schriftrolle entflammt war und sich um so mehr einen Gönner herbeigewünscht hatte, der ihm jene gewähren würde. Des weiteren war es sicherlich auch Serenus' Zusage, sich im Gegenzug endlich seine Haare ein wenig kürzen zu lassen, denn obgleich es durchaus üblich war, dass Kinder ihr Haar länger trugen, so war das Gezotte Gracchus doch ein Dorn im Auge. Er drehte seinen Kopf leicht zurück und suchte seinen Leibsklaven, um diesem aufzutragen, ihm einen stark verdünnten Wein und etwas für den Jungen zu besorgen, anschließend wandte er seine Aufmerksamkeit der Startaufstellung zu. Glücklicherweise kam es bei den Wagenrennen nicht auf einen Fahrer, sondern gleich eine gesamte Factio an, und jene waren immerhin deutlich an ihren Farben zu erkennen. Da sein Neffe neben ihm völlig in Rot eingekleidet war, würde denn auch Gracchus nicht vergessen, welchen Wägen er bei der Vorbeifahrt Applaudieren müsste.
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Da bereits genügend Zeit nach dem Mahl verstrichen war, brachte ein Sklave nun eine Schale mit herzhaft gefüllten Oliven, sowie eine gemischt mit Trauben, Feigen und Datteln, und verschwand so unbeachtet, wie er gekommen war, nachdem er diese auf dem Tisch abgestellt hatte. Der Wein indes war weit weniger verdünnt, als noch zur Mahlzeit, denn selbst wenn die Anzahl der Gäste gering ausfiel, so schloss sich doch an jedes ordentliche Mahl ein kleines Symposion an, und auch Gracchus war nicht gewillt mit dieser Tradition zu brechen, obwohl er sich nicht sicher war, ob dies für ein aegyptisches Gastmahl ebenfalls angebracht war. Da Minervina jedoch ohnehin bereits in ihren Gemächern weilte, sprach sicherlich nichts dagegen.
"Diese sind wahrlich die übelste Hinterlassenschaft der Republik, es ist ein Glück, dass der Imperator deren Emporkommen nun um einiges erschwert hat. Den Tribunus Plebis sollte man weiter in seinem Recht beschneiden, womöglich ihn gänzlich aus dem Cursus Honorum ausnehmen, doch ich fürchte, das Volk würde solcherlei nicht zulassen, obwohl er doch längst ohnehin kaum mehr Rechte genießt und das Amt selten mehr als ein Sprungbrett in den Senat für jene ist, welche zu träge sind, das verantwortungsvolle Amt des Aedilis auf sich zu nehmen, und in ihrem Amte nicht das Geringste leisten. Manches mal jedoch könnte man beinahe glauben, das Volk hätte dies nicht längst erkannt, so wie es manch einem Tribunus hinterher läuft in der Hoffnung, er würde ihnen das saturnische Zeitalter wieder bringen."
Solcherlei Damagogen waren natürlich nicht nur unter den Volkstribunen zu suchen, jeder, der nur laut genug Schreien konnte und genügend Geschenke an das Volk zu verteilen hatte, reichte diesem auch heute noch aus. Seit der Zeit der unrühmlichen Gracchen, deren Namen er trug, obwohl er nie herausgefunden hatte, was seinen Vater nur zu solcherlei Tat verleitet haben mochte, hatte sich daran nur kaum etwas geändert. -
Ein Bote aus dem Hause Flavia überbrachte eine Nachricht für die ehrenwerte Helvetia Severina.
Helvetia Severina, Casa Helvetia, Roma
Decemvir litibus iudicandis Manius Flavius Gracchus Helvetiae Severinae s.d.
Tiefes Mitgefühl über den Verlust deines Bruders Gnaeus Helvetius Tranquillus sei dir mit diesem Schreiben versichert. Die Erinnerungen an jene Zeit, welche wir mit ihnen teilen durften, sind sicherlich das Wertvollste, was die Verstorbenen uns zurücklassen. Doch obwohl es dir im Augenblicke womöglich unerheblich erscheinen mag, so hat dein Bruder gleichsam weltliche Güter hinterlassen, deren Verteilung unter den Erben meine Aufgabe als Decemvir litibus iudicandis ist. Nach den gesetzlichen Richtlinien kommt dir als Bruder des Verstorbenen ein Anteil von 59.99 Sesterzen zu, welchen es dir gestattet ist, abzulehnen.
Ich bitte dich, mir bis zum Tag vor den Kalenden des Aprilis DCCCLVII A.U.C. (31.3.2007/104 n.Chr.) mitzuteilen, ob du gewillt bist, dieses Erbe anzutreten, welches gleichsam keinerlei weitere Verpflichtungen nach sich zieht. Solltest du diesen Termin versäumen, so wird dein Anteil dem zu verteilenden Erbe hinzugefügt werden, ebenso wie sich der deinige Anteil durch den Verzeicht eines der anderen Erben erhöhen kann.
Zum Trost über den erlittenen Verlust bleiben letztlich einzig die Worte der Weisen unserer Welt, so sprach denn schon Seneca: »Der Tod ist die Befreiung und das Ende von allen Uebel, über ihn gehen unsere Leiden nicht hinaus, der uns in jene Ruhe zurückversetzt, in der wir lagen, ehe wir geboren wurden.«
M.F.G.