Beiträge von Manius Flavius Gracchus

    Schweigend betrachtete Gracchus den Sklaven, legte schließlich den Griffel aus der Hand und lehnte sich zurück. Obwohl die finanzielle Situation der Flavia ausnehmend gut war, war seine Laune nicht die beste, saß er doch bereits den gesamten Tag an leidigen Aufgaben, welche jedoch getan werden mussten, und die Beschäftigung mit Zahlen fadisierte ihn zunehmend.
    "Eine einfache Rechnung, es sind allesamt Senatoren und Patrizier."
    Vor Sciurus brauchte Gracchus weder Dignitas noch Gravitas zu wahren, seine Verärgerung nicht aus seiner Stimme bannen. Er trommelte ungeduldig mit seinen Fingern auf den Schreibtisch, doch es wollte ihm keine Gelegenheit einfallen, durch welche er den Ausschluss aus der Gesellschaft Italias provoziert hätte. Ob Antonia womöglich etwas damit zu tun hatte? Womöglich hatte sie bezüglich seiner Person bei den Claudia negativ gesprochen.
    "Die Welt ist im Wandel, vieles was einst war ist verloren, darunter augenscheinlich auch einige der Grundfeste und Gepflogenheiten unseres Standes, von denen wir doch immer glaubten, sie seien unerschütterlich. Nun denn, der Strom der Zeit ist unaufhaltsam. Vergessen wir das ganze. Hinfort damit."
    Er wischte die gesamte Angelegenheit mit einem Wink beiseite.
    "Du kannst gehen."
    Natürlich war jene Angelegenheit beileibe nicht so einfach beiseite zu wischen, ganz zu schweigen davon, dass Gracchus sie vergessen würde. Er würde sich im geeigneten Augenblick nur zu genau daran erinnern. Unwillig nahm er den Griffel wieder auf, um seine begonnene Arbeit zu beenden, doch jener unheilvolle Gedanke an das unsägliche Mahl blieb.

    Wie ihn seine Base so vehement verteidigte, erkannte Gracchus wieder, dass sie ein völlig falsches Bild von ihm hatte, geprägt von ausschweifend fomulierten und lange perfekt gefeilten Briefen, und er stellte sich die Frage, ob er in jenen Briefen womöglich unwissentlich dieses falsche Bild von sich gezeichnet, oder aber, ob jene Zeilen nur völlig unzureichend gewesen waren und Leontia darum herum sich ihr eigens Bild von ihm aufgebaut hatte. Die Wahrheit über Manius Flavius Gracchus lag vermutlich zwischen beiden Sichten, der ein wenig überzogenen Leontias, und der wenig souveränen Gracchus'. Da er ihr jedoch nicht erneut widersprechen wollte, äußerte sich Gracchus nicht weiter bezüglich des Militärdienstes, seine Gedanken schweiften ohnehin schon weiter zu den unangenehmen Erinnerungen an die letzten Wochen und Monate in Achaia. Außer Aquilius wusste niemand, was dort geschehen war, selbst jener hatte es erst sehr viel später in Rom erfahren. Es waren Dinge, derer Gracchus sich zutiefst genierte, zudem waren sie dazu angetan, ihm kalte Schauer über den Rücken zu jagen, so er ihrer gedachte. Da dies jedoch ohnehin bereits der Fall war, begann er sich zöglicherlich zu erklären.
    "Nun, ich hatte Athenae verlassen, mit einem Teil meines Erbes lukrierte ich eine Landvilla auf Creta, wie bereits angedeutet versuchte ich zu jener Zeit den Eindruck zu erwecken, Achaia noch nicht den Rücken kehren zu können, gleichsam suchte ich Abstand von Caius, da ich befürchtete ihn durch mein Zögern von seinem eigenen Weg abzuhalten. Ich war nicht nur einfältig, sondern geradezu hochmütig, glaubte meine eigene Zukunft selbst in der Hand zu halten, glaubte nicht nur das Leben, womöglich auch mich selbst, überlisten zu können. Ich wusste sehr wohl, dass meine Trägheit in der Familie Aufmerksamkeit erregen würde, eine kleine Villa, Sklaven, Schriften, all das ist nicht umsonst, darum begann ich, um dies auszugleichen, Sesterzen in Geschäfte zu investieren, Handel ohne die Erträge der Erde, manches mal gar ohne Waren, gegen Wort und Pergament. Eine äußerst unrühmlich Episode meines Lebens, ich bedaure dies zutiefst und ich zergehe förmlich in Scham, wenn ich nur darüber nachdenke. Doch ich assekuriere dir, dass ich meine Lektion daraus gelernt habe, denn die Sanktionierung meines Tuns ließ nicht sehr lange auf sich warten. Die Bewohner Cretas sind sehr eigen, sie sind stolz auf ihre kleine Insel, doch dieses gesamte kleine Reich wird von wenigen Mächtigen beherrscht, ihnen gehören die Ländereien, die Geschäfte, die Einwohner als Klientel, allesamt sind sie Emporkömmlinge, rohe Männer, die keine Eindringlinge in ihr Machtgefüge dulden, schon gar nicht in jenes Geflecht aus Gold- und Silbermünzen, in welchem ein Patrizier ohnehin nichts verloren hat. Sie machten mir dies unmissverständlich deutlich, nicht mit Worten, sondern auf ihre eigene Art, und ich konnte dabei nur tatenlos zusehen."
    Noch immer konnte Gracchus dabei zusehen, denn jenes Bild, in welchem alles schlussendlich gipfelte, war in seiner Erinnerung eingebrannt und würde sich niemals daraus lösen. Es war dies das Bildnis seines alten Sklaven Sciurus, seines Lehrers und seiner ersten Liebe. Doch jener blickte nicht ernst, wie er es so oft im Tadel getan hatte, er lachte auch nicht auf seine angenehm ungezwungen und ansteckende Art, noch funkelte die Flamme des Begehrens in seinen Augen. Trübnis lag über seinen Pupillen, der Mund war leicht geöffnet in einem stummen Tadel an seinen unbedachten und törichten Schützling, welcher all seine Bedenken über Wochen hin in den Wind geschlagen und ihn darum einen ängstlichen alten Mann geschimpft hatte. An den Seiten seines blassen Körpers spiegelte sich das frühe Morgenlicht in feinen Tautropfen, die von den saftigen, grünen Grashalmen um ihn herum auf ihn übergegangen waren, und von seinem Rückgrat ein Stück den Rücken hinab lief eine rotbraunfarbene Spur, die sich in einer Kuhle zwischen oberem und untererm Rücken in einen winzigen See aus getrocknetem Blut ergoss. Kein Blick hatte Gracchus für den, trotz seines Alters äußerst wohlgeformten, Körper, einzig das schmucklose, einfache Messer in Sciurus' Rücken war dazu angetan, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er schluckte, um seine Kehle, die trocken war wie der Tiber während der Hundstage, zu befeuchten, und fuhr schließlich fort.
    "Es endete mit einer Drohung und dem Tod meines Leibsklaven. Danach ging alles sehr schnell, noch am gleichen Tag verließ ich die Insel, ließ alles stehen und liegen, brach gen Rom auf mit nichts als mir selbst und unterbrach den Weg nur, um im Tempel des Iuppiter um Vergebung für meinen infamen Dilettantismus zu bitten und den Eid zu schwören."
    Manches mal waren die Wege des Schicksals tatsächlich äußerst verworren, doch es war müßig, darüber nachzudenken, wo er heute stehen würde, wenn er damals nicht jener Unvernunft nachgegeben hätte. Womöglich würde Sciurus, der alte Sciurus, noch am Leben sein, doch schlussendlich hatte sich sogar für ihn ein passabler Ersatz gefunden, wenn auch Gracchus dessen Fehlen in seinem Leben noch immer als äußerst deplorabel erachtete. Doch vielleicht wäre er noch immer in Achaia, hätte noch immer keine Entscheidung getroffen, würde sich träge auf seiner Herkunft ausruhen und langsam in Geistlosigkeit hinabsinken. Trotz all jener Dinge, die ihm unliebsam waren - seine Gattin und Aquilius' Ferne beispielsweise - bevorzugte er es doch stattdessen in diesem Augenblick neben Leontia zu sitzen und sich von ihren Worten schmeicheln zu lassen.
    "Doch dies alles ist vergangen, der Mensch ist dazu geschaffen nach vorne zu blicken, anderenfalls hätten ihm die Götter die Augen nicht vorne an den Kopf gesetzt. Es freut mich, dass dir die Saturnalia gefallen haben. Ich selbst habe sie auch sehr genossen."
    Zumindest für den Anfang, dessen er sich noch erinnerte, war er sich dessen sicher, denn des späteren Abends, als das Thema sich der philosophischen Betrachtung der Liebe annäherte, war er sich nicht mehr gänzlich gewahr. Er konnte sich auch nicht mehr entsinnen, wie er in sein Cubiculum gelangt war, dabei hatte ihm Sciurus versichert, dass er sogar dort noch eine ganze Weile wach gewesen und sich mehr schlecht als recht diversen Schriften gewidmet und dabei noch einige Becher Wein geleert hatte.
    "Vor allem war es eine Freude, die Familie einmal zusammen zu sehen. Natürlich sind wir alle meist sehr beschäftigt, doch es ist ein wenig deplorabel, dass wir selbst für ein einfaches Abendessen so selten zueinander finden. An manchen Tagen kehre ich aus der Urbs nach Hause und begegne bis in die Nacht, wenn ich mich zur Ruhe begebe, keiner einzigen Person."
    Er senkte seine Stimme und brachte seinen Kopf ein wenig näher zu Leontia.
    "Manches mal ist es so still im Haus, dass ich glaube die Lemuren flüstern hören zu können."

    Ohne ein Wort ließ Gracchus die Musterung über sich ergehen, verfolgte, wie Arrecinas Augen einmal an ihm hinab und wieder hinauf wanderten, und verwehrte sich jeglichen Gedanken dazu. Es war sicherlich nicht einfach, nicht mehr sicher zu sein, was man wusste, nicht mehr zu wissen, wessen man sich sicher war, ohne Anfang und ohne Ende in der Welt zu stehen. Obwohl Gracchus seine Familie und seinen Stand in jener in so manch schwachem Moment ausschweifend räsoniert hatte, so war es doch dieser, welcher sein Leben bestimmte, um nicht zu sagen, welcher seine Person bestimmte. Das Bewusstsein darum zu verlieren, dies wäre ebenso, wie sich selbst zu verlieren. Doch Arrecina schien nicht nur das Bewusstsein um ihre Person abhanden gekommen zu sein, so wie sie über die Bedeutung eines Fluches sprach.
    "Mit solcherlei Dingen ist nicht zu Spaßen, Arrecina. Den Kopf angeschlagen, dies hat sich vermutlich jeder der in dieser Villa Wohnenden schon einmal, wahrscheinlich schon mehrere Male, doch alle wissen wir noch um unsere Person und unsere Familie. Sich den Kopf anzuschlagen zieht eine Blessur hinter sich, im schlimmsten Fall eine ernsthafte Wunde, doch um zum Verlust einer Person zu führen, müsste sie schon gewaltig sein."
    Er legte den Kopf ein wenig schief und blickte sie mitfühlend an.
    "Ich wüsste nicht, was ein schlimmerer Fluch sein könnte, als sich selbst zu verlieren."

    Die Tür wurde geöffnet und Gracchus trat resolut in den Raum hinein, verlor nach den ersten Schritten jedoch seine Courage und blieb schlussendlch zögerlich stehen. Er genierte sich immer ein wenig, das Reich einer Frau zu betreten, doch er hatte Arrecina nicht zu sich in sein Arbeitszimmer zitieren wollen, da ihm seine Nichte während der wenigen Zeit, da er sie in den letzten Tagen zu Gesicht bekommen hatte, tatsächlich ein wenig derangiert schien, und er dies nicht weiter vorantreiben wollte. Sie jedoch außerhalb ihres Cubiculums anzutreffen, dies war beinahe ebenso unmöglich, schien sie doch Gracchus' Gattin nacheifern zu wollen und ihr kleines Reich kaum zu verlassen.
    "Salve, Arrecina."
    Man konnte vermuten, dass Gracchus gegenüber Arrecina den Vorteil haben würde, sie zu kennen, während sie selbst sich nicht an ihn erinnerte, doch dem war nicht so. Er erinnerte sich nur an ein einziges familiäres Fest in Italia, während dessen er seine Nichte zur Kenntnis genommen, damals jedoch wegen ihrer Kindlichkeit nicht weiter beachtet hatte, und auch seit sie in Rom angekommen war, hatte er kaum ein Wort mit ihr gewechselt. Während er in seiner üblichen aufrechten Haltung wie ein Pfosten in der Mitte des Raumes stand, musterte er die junge Frau und versuchte zu ergründen, was in ihrem Kopf vorgehen mochte, ob sie eher ihrem Vater glich und das Leben mit einer beneidenswerten Leichtigkeit auf sich nahm, oder ob sie den Ernst ihrer Großmutter geerbt hatte.
    "Dein Vater hat sicherlich mit dir über seine Vermutung bezüglich des Fluches gesprochen. Er hat mich gebeten, dafür Sorge zu tragen, dass dieser Fluch gebrochen wird. Nun, ich habe mich in den letzten Tagen äußerst umfassend mit dieser Materie befasst, und ich erachte den morgigen Abend als günstig, dies anzugehen. Deine Anwesenheit ist das einzig Notwendige deinerseits, weiters wird es für dich nichts zu tun geben."
    Es drängte ihn danach, den Raum zu verlassen, bevor Arrecina auf den Gedanken kommen konnte, ihm Fragen zu stellen, doch er hielt an sich, blickte sie mit jener undurchdringlicher Miene an, welche dazu geeignet war, tausende Opferpartizipienten über die Litatio zu täuschen, und wartete, ob sie sich äußern wollte.

    Es freute Gracchus außerordentlich, dass Serenus seinen Worten mit größter Aufmerksamkeit folgte und schließlich einige Fragen aufwarf, und er bemühte sich, sich jede dieser Fragen zu merken, um schließlich darauf zu Antworten.
    "Do ut des hat nichts mit einem Kauf zu tun, denn im Gegensatz zu einen profanen Geschäft hast du bei der Opferung weder ein Anrecht, noch eine Garantie, dass deine Bitte erhört und deine Gaben angenommen werden. Ob es die Götter tangiert, was dich in Aufruhr versetzt, dies wirst du erst im Nachhinein wissen, wenn dein Opfer angenommen und dein Wunsch erfüllt wurde oder auch nicht. Mit was könnte man dies wohl vergleichen, lass mich einen Augenblick überlegen."
    Nachdenklich hob Gracchus seine Hand und knetete seine Unterlippe. Glücksspiel war seine erste Assotiation, doch damit würde Serenus vermutlich - und hoffentlich - nicht viel anfangen können, zudem mochte dies zwar der tatsächlichen Wahrheit sehr nahe kommen, doch dies war nichts, was ein Kind in Serenus' Alters wissen sollte, nicht einmal eines aus patrizischem Hause.
    "Es ist ein wenig, wie dies sicherlich auch bei deiner Großmutter Agrippina vonstatten geht. Du wünschst dir etwas und sagst es deiner Großmutter. Es kann sein, dass sie es aufnimmt und dir den Wunsch erfüllt, oder aber sie möchte ihn dir nicht erfüllen, oder aber sie vergisst deinen Wunsch. Wenn du ihr eine kleine Aufmerksamkeit schenkst, etwa einen Strauß Blumen, so wird sie den Wunsch sicherlich nicht vergessen, ihn aber vielleicht dennoch ignorieren. Bereitest du ihr eine noch größere Freude, so mag sie dir den Wunsch womöglich nicht ausschlagen. So ähnlich ist es mit den Göttern, nur ungleich schwieriger, da wir sie nicht fragen können, ob sie bereit sind, unsere Wünsche zu erfüllen. Nun, fragen können wir sie natürlich schon, doch sie antworten nur selten. So müssen wir uns denn auf unseren Verstand verlassen, um zu entscheiden, welche Gaben wir opfern. Mit einem Hintergedanken indes ist jedes Opfer verbunden, lass dir in dieser Hinsicht von niemandem etwas erzählen. Selbstlose Opfer gibt es nicht, denn all jene, welche den Anschein dessen erwecken, haben die Gunst der Götter im Allgemeinen im Sinn."
    Er ließ seine Hand wieder sinken, Serenus musste hinsichtlich des Cultus Deorum noch viel lernen, sollte er tatsächlich einmal ein hohes Priesteramt anvisieren wollen.
    "Ich erwähnte doch bereits, dass das körperliche Maß kein rechtes Maß ist. Es ist die Idee dahinter. Hast du dich im Zuge deiner Bildung bereits mit der Ideenlehre Platons auseinander gesetzt? Kurz gesagt geht es dabei um jene Idee der Dinge, welche hinter deren realen Abbildern steht. Die Idee eines Menschen beispielsweise, unabhängig von seinem äußeren Abbild in dieser Welt. Darum ist es völlig unerheblich, ob Lucllus nun größer, breiter oder dicker ist, als du, für dein Wohl wäre ebenso eine Ziege angemessen wie für das Seine. Ein kleines Rind dagegen ist kein Vergleich zu einer Ziege, du wirst dies noch feststellen, wenn du dich eines Tages mit den Preisen auseinander setzen wirst, denn ein Rind ist ein Arbeitstier und wenn du es schon als Jungtier schlachtest, so geht dir seine Kraft verloren."
    Es war nicht einfach, auf alle Fragen einzugehen, doch solange noch ein roter Faden, wenn auch ein wenig blass, sich durch all jene schlängelte, war es nicht unmöglich.
    "Der Kontext der Gesamtheit umfasst weit mehr als unsere Hausgemeinschaft, er umfasst die gesamte Gesellschaft, das gesamte Imperium Romanum und letztlich die allumfassende Welt. Auch wenn deine eigene Welt sich immer auf einen geringen Radius um deine eigene Person beschränken wird, so sollst du immer ein Auge auf die Welt um dich herum haben. Der einzige Mensch, welcher das Recht hat, seine eigene Welt mit der um sich herum gleich zu setzen, dies ist der Imperator Caesar Augustus, denn dessen Genius ist immerhin bereits zu Lebzeiten göttlich."
    Dass Aristides' Mutter die Flavia für die beste und wichtigste patrizische Gens des Imperiums hielt, dies war Gracchus bekannt, immerhin bestand sie auf dieser Ansicht, seit es ihr möglich geworden war, durch die Heirat mit Flavius Corvinus ein Teil dieser Gens zu werden. Obwohl er ihr nicht völlig dabei widersprechen wollte, so konnte Gracchus die öffentliche Bekundung dessen doch nicht gut heißen.
    "Größe zeigt sich Anhand Bescheidenheit, Serenus. Wisse, dass du ein Flavius bist, wisse, dass du etwas Besonderes bist, doch posaune es nicht in die Welt hinaus. Dies ist die Dignitas, das Gespür für das eigene ehrenvolle Ich, das Repräsentieren dieses Ich in der Gesellschaft in angemessener Zurückhaltung, ohne sich dabei in den Mittelpunkt zu heben. Darum opfern wir kein Rind. Ganz zu schweigen davon, dass wir das Opfer im Peristylium durchführen werden und es immer ein gehöriger Aufwand ist, ein Rind durch das Atrium zu schleifen."
    Er nickte zufrieden über Serenus' Antwort bezüglich der Beschaffenheit des Opfertieres. Dann jedoch zog sein Neffe doch wieder zu enge Bande zwischen profaner Wirklichkeit und zu Opfernder Gabe.
    "Nun, das Alter hängt maßgeblich von der Auswahl des Opfertieres ab, dies hat wenig mit dem Zweck der Opferung zu tun. Für den Apollon gilt die Faustregel, dass er junge Tiere bevorzugt, darum opfern wir ein Zicklein."
    Im Grunde spielten rein wirtschaftliche Faktoren die wichtigste Rolle bei dem Alter des Tieres, doch Gracchus wollte Serenus nicht überfordern. So wurden doch die meisten männlichen Tiere, welche sich nicht als Arbeitstiere verwenden ließen, in jungem Alter geopfert, um die Kosten der Haltung gering zu halten, weibliche Tiere dagegen, welche der Milchproduktion und Vermehrung dienten, erst in reifem Alter. Arbeitstiere wie Ochsen wurden herangezogen, wenn sie ihre Lebensaufgabe vor den Gespannen erfüllt hatten, Stiere wiederum, welche ob ihrer Wildheit durch die fehltende Kastration schwer in der Herde zu halten waren, als Jungtiere.
    "Zudem reicht uns ein Opfertier aus, da Apollon gemeinsam mit seinem Sohn Aesculapius eine Kultgemeinschaft bildet. Wie jene das Opfer aufteilen, muss uns nicht interessieren, dies ist Sache der Götter allein. Ohnehin opfern wir nicht die gesamte Ziege, sondern nur die Vitialia, also die lebenswichtigen Organe des Tieres, dies solltest du jedoch bereits wissen. Auf Makellosigkeit des Tieres ist insofern zu achten, als dass es sich um ein Geschenk an die Götter handelt, und du möchtest doch sicherlich selbst auch keine makelbehafteten Geschenke erhalten?"
    Zudem ließ sich vom Äußeren bereits auf das Innere eines Tieres schließen, ein makelbehaftetes oder gar defiguriertes Tier besaß selten ideale Organe, und dies war es immerhin, worauf es letztlich von Außen betrachtet beim Opfer ankam. Die Idee dahinter war natürlich, dass sich die Annahme oder Ablehnung der Götter im Moment der Konsekration in den Organen manifestierte, und obwohl Gracchus manches mal an dieser Idee zweifelte, so war er sich dennoch nicht gänzlich sicher, dass es nicht doch so war. Es war wie mit allem bezüglich der Götter und ihrer Verehrung, natürlich wurden viele Dinge von den Priester so arrangiert, dass sie für Außenstehende anders schienen, als sie waren, doch letztlich konnte man nie sicher sein, dass die Götter nicht doch über all dies wachten und eines Tages ihre Strafe für einen Betrug verhängten.

    In den vorangegangenen Tagen hatte sich Gracchus ausführlich mit Defixiones und Exorzismi beschäftigt, und obwohl er sich noch nicht bereit für solcherlei Tun fühlte, musste der Bann gebrochen werden, denn er hatte dies Aristides versprochen. Die kommenden Tage waren günstig, der Mond schickte sich an, den Himmel gänzlich zu verlassen, zudem würde sich Gracchus ohnhin niemals für solcherlei Tun bereit fühlen, somit war seine eigene Empfindung hierbei belanglos. Um jene, aus deren Geist die bösen Geister vertrieben werden sollten, auf dieses Ereignis vorzubereiten, klopfte Gracchus nun an die Türe des Cubiculums seiner Nichte, obwohl er beinahe bezweifelte, dass auch sie jemals für dieses Ereignis bereit sein würde.

    Nach seinem Besuch im Senat war es Gracchus ein Anliegen, seine Lücken hinsichtlich des Erbrechtes zu schließen, darum beschäftigte er sich umfassend mit eben jenem Themengebiet. Er stellte bisweilen fest, dass Juristen ein feines Gespür dafür zu haben schienen, wie sie Sätze schachteln und ineinanderfügen mussten, so dass außer ihnen niemand den Sinn beim ersten Lesen verstehen konnte, mancher womöglich nicht einmal nach mehrmaligem Nachlesen. Gracchus indes war es gegeben, den Großteil der Sätze doch bald in sich aufzunehmen, und er war eben im Begriff einen einzelnen Paragraphen auseinander zu pflücken, als es an der Türe klopfte und kurz darauf Sciurus den Raum betrat.
    "Es kam Post, Herr."
    Erwartungsvoll ließ Gracchus von der juristischen Schrift ab und blickte auf.
    "Eine Nachricht aus Achaia?"
    Der Sklave verneinte. Nur unmerklich sanken Gracchus Schultern herab. Wieder ein Tag ohne Nachricht von Aquilius, keine einzelne Zeile, kein einziges Wort. Über Umwege des Cultus Deorum hatte Gracchus erfahren, dass sein Vetter an seinem Bestimmungsort wohlauf angelangt war, doch er selbst ließ nichts von sich hören. Gracchus musterte seinen Sklaven und bemerkte erst nun, dass Sciurus keine Tabula und kein Papyrus bei sich trug.
    "Nun?"
    "Es waren Einladungen, Herr. Von Claudius Vesuvianus zu einem Bankett nach Mantua."
    "Ein Bankett in Mantua? Das ist viel zu weit für solch einen Anlass, für soetwas habe ich keine Zeit, nicht so kurz vor der Wahl."
    "Ein Glück, denn für dich war auch keine Einladung bestimmt, Herr."
    In einer Manier, wie nur Patrizier dazu fähig sind, hob Gracchus eine Augenbraue und forschte in Sciurus Gesicht nach einer Regung. Der Sklave wusste nur allzu gut, dass er die Frage würde stellen müssen, wenn er nicht vor Neugier platzen wollte. Gracchus vermutete, dass jene Einladung seinem Vetter Felix oder möglicherweise dessen Sohn Furianus galt.
    "Also, für wen?"
    "Für Felix, Milo, Aristides, Aquilius und Lucullus."
    Irritiert legte Gracchus seinen Kopf schief.
    "Felix, Milo, Aristides, Aquilius und Lucullus? Und ganz sicher nicht für mich ebenfalls?"
    Sciurus bestätigte dies mit einem Nicken.
    "Felix, Milo, Aristides, Aquilius und Lucullus ... das sind alle Flavier, die hier wohnen, von mir abgesehen!"
    "Und Furianus."
    "Furianus ..." Er schob diesen Einwand mit einem laschen Wink bei Seite. "Das ist ein Affront! Claudius Vesuvianus sagst du? Ausgerechnet, ich hielt ihn immer für einen der konziliantesten Claudier. Doch auf diese Weise lasse ich mich nicht desavouieren, ganz sicherlich nicht. Wer ist noch zu diesem Bankett geladen?"
    "Ich weiß es nicht."
    "Finde es heraus, egal wie. Aber unauffällig!"
    Der Sklave nickte und Gracchus scheuchte ihn mit einem Wink aus dem Raum. Sodann fegte er in einer unbeherrschten Geste die Pergamentrolle vor sich zur Seite. Wären nur die flavischen Senatoren geladen, so könnte Gracchus dies verschmerzen, hielt er doch selbst nicht sonderlich viel von seiner Person, doch ihn hinter Aristides, Lucullus, Auqilius und Milo anstehen zu lassen, dies war ...
    "Unerhört!"

    Während Gracchus sich der überaus schmackhaften Zucchinispeise - deren Name er glücklicherweise nicht kannte, er doch sicherlich aber Schwierigkeiten mit der korrekten Aussprache gehabt hätte - widmete, stellte er ein wenig betrübt fest, dass Aegyptus ihm völlig fremd war. Seine Mutter hatte er nur dann getroffen, wenn sie beide für ein familiäres Fest in Italia weilten, ein Besuch in Alexandria hatte sich niemals ergeben. Zudem hatte er nie eigenen Antrieb entwickelt, die Provinz zu besuchen, denn die Seefahrt war ihm ein Graus. Zwar hatte er die Strecke von Corinthus aus nach Brundisium immer jener kürzesten Verbindung von Apollonia aus vorgezogen, doch die Schiffe ruderten dabei nahe der Küste Macedonias und überquerten nur für das letzte kurze Stück das offene Meer. Nach Aegyptus jedoch war man beinahe vier Tage lang völlig dem unbändigen Nass ausgeliefert und Gracchus konnte sich wenig Schlimmeres vorstellen. Reisen war ohnehin nicht seine Leidenschaft, die endlosen Wege durch die Prärie ödeten ihn an, über längere Stecken in einer Sänfte oder gar einem Wagen zu Lesen bereitete ihm Kopfschmerz, und stundenlang auf dem Rücken eines Pferdes zu Sitzen konnte ihn ebenfalls nicht aus dem Haus locken. Nur, dass ihm darum so manch kulturell äußerst reizvolle Stätte verborgen blieb, dies bedauerte er ein wenig. Er spülte das Bedauern mit einem kleinen Schluck des Pharaons hinunter - es klang in seinen Ohren eher wie der Name für einen Fluss, denn für einen Wein, weshalb er sich, im Gedanken daran einen Fluss zu Trinken, beinahe ein wenig elysisch vor kam - und folgte weiter dem Gespräch zwischen Durus und seiner Schwester.


    Sim-Off:

    Die Vorspeise wartet in der WiSim.

    Gracchus wandte sich dem Tiberier zu.
    "Die Bereitschaft ist vorhanden, Senator, doch muss ich gestehen, dass die Änderungen bezüglich des Cursus Honorum mich ein wenig derangierten. Ich enschloss daher, meinen Weg mit Beständigkeit zu gehen, soweit dies noch möglich ist, und auf weitere Abweichungen weitesgehend zu verzichten. Da ein militärisches Tribunat nach dem Vigintivirat folgen soll, will ich dies unabhängig meiner Quaestur auch erst nach einem möglichen Vigintivirat anstreben. Obwohl es für meinen Stand nicht verpflichtend ist und ich zudem der Ansicht bin, dem Imperium in anderen Bereichen denn dem Exercitus weitaus besser dienlich sein zu können, so erachte ich es dennoch als äußerst sinnvoll um einen Einblick in das militärische Leben zu erhalten, der keinem Römer fehlen sollte."

    In einem Gebäude hinter dem Forum Nervae, außerhalb des Templum des Minerva-Tempels und damit schon beinahe der Subura zugehörig, befand sich eine Sammlung von Schriften zu kutlischen und okkulten Angelegenheiten, welche der Cultus Deorum zu Studienzwecken sammelte. Die Schriften waren aufgrund der Brisanz mancher Inhalte nur Angehörigen des Cultus Deorum zugänglich und wurden von einem Freigelassenen verwaltet, welcher schon ein wenig angegraut war - schwer zu sagen, ob dies vom Alter herrührte, oder von mangelndem Sonnenlicht - und mit einer Stimme sprach, die ähnlich klang, als würde man trockenes Pergament aneinander reiben. Sein Name war Lucius Fabianus Papyrus, und somit war zumindest sein Cognomen bezeichnend, ein Andenken an seinen vormaligen Herrn, einen Rex sacrorum, der jedoch bereits seit etlichen Jahren im Elysium weilte. Zwei Nischen mit je einem Stuhl und einem Tisch darin boten dem Wissenssuchenden Gelegenheit, die Schriften, welche Papyrus aus den Regalen suchte, in aller Ruhe zu studieren.


    An einem dieser Tische saß an diesem Tage der Sacerdos Flavius Gracchus. Als er in einer kleinen Denkpause seinen Blick über die unzähligen Papyrus- und Pergamentrollen, welche vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet lagen, schweifen ließ, wurde ihm wieder einmal bewusst, dass ein flexibler Geist niemals ausgelernt hat. Trotz dessen, dass er bereits die zweite Prüfung des Cultus Deorum abgelegt hatte und trotz seiner doch mittlerweile nicht geringen Erfahrung stellte die Materie der Defixiones für ihn ein eher unbekanntes Gebiet dar, war dies doch etwas, was allgemeinhin weder vom Cultus Deorum gelehrt, noch überhaupt öffentlich praktiziert wurde. Glücklicherweise gab es trotz allem ausreichend theoretische Schriften zu diesem Bereich, und nachdem Gracchus dem Bibliothekar hinreichend versichert hatte, dass es um das Wohlergehen einer jungen Frau ging, und dass er sich nur soweit diesem Thema widmen wolle, als dass es für das Brechen eines bereits bestehenden Fluches notwendig war, war ihm der Freigelassene durchaus äußerst erfolgreich behilflich. Papyrus förderte mehr und mehr Schriften zutage, welche womöglich relevant sein konnten, je weiter er durch die Reihen der Bibliothek vordrang. Gracchus wusste bereits, mit welchem Wortlaut Staatsfeinde zu verfluchen waren, mit welchen Mitteln ein assyrischer Bann gelöst werden konnte, was hinsichtlich einer nicht erfüllten Devotio getan werden musste, oder auch wie die Götter im Falle des Verschluckens einer Fischgräte, was ebenfalls unter Fluchauswirkungen behandelt wurde, zu besänftigen waren. Hinsichtlich des Verfluchenden hatte er sich ebenso ein eine dünne Pergamentrolle über germanische Magiekunde eingelesen, doch es war ihm schleierhaft, wie ein einfacher Sklave wie Rutger zu einem solchen Zauber fähig sein sollte, wie er augenscheinlich über Arrecina lag. Womöglich hatte sich Aristides mit dem Germanen doch etwas ganz Besonderes eingefangen. Um so deplorabler war es, dass letztlich alle Hinweise darauf hindeuteten, dass der Germane den seinigen Göttern würde übergeben werden müssen, um seinen Einfluss von Aristides' Tochter zu lösen. Es war wahrlich deplorabel, denn der Sklave gefiel Gracchus zudem außerordentlich gut, und er hätte ihn gerne in der Villa gewusst, obwohl natürlich auch dies ein umöglicher Wunsch war, würde doch Aquilius sicherlich bald veranlassen, dass sein Sklave ihm folgte. Doch es war müßig darüber zu sinnieren, Gracchus nahm das nächste Pergament zur Hand und studierte den darauf beschriebenen Hinweis, wie sich nach einigen Zeilen herausstellte ein solcher, wie das Liebesband zwischen zwei Frischvermählten vom verschmähten Liebhaber gebrochen werden konnte. Vielleicht würde er in all diesen Schriften auch noch etwas Hilfreiches bezüglich seiner Gattin Antonia finden.


    Spät am Abend erst verließ Gracchus das Gebäude, um den Weg nach Hause anzutreten. Trotz der Sänfte und seiner durchaus kräftigen Sklaven befürchtete er an jeder Ecke Hexen, Zauberer und Fluchweiber, und er war froh, als er endlich die Villa Flavia erreichte. Sein Geist indes arbeitete noch immer und langsam stellte er einen Plan auf, wie die Bannung anzugehen sei.

    Bereits wenige Augenblicke, nachdem Gracchus sich seinem Sklaven zugewandt hatte, war er erneut bei ganz anderen Gedanken angelangt, denn spätestens, als Sciurus begann die Vorzüge des Rennwagens aufzuzählen, kam er nicht mehr mit. Wagenrennen konnten ihn noch nie begeistern, acht Wägen, acht Wagenlenker und vierzig Pferde die in und um und rund herum um den Circus fuhren, rund herum Runde um Runde, um am Ende den Schnellsten oder Geschicktesten oder auch nur Brutalsten von allen zu ermitteln. Schon beim Gedanken an die vielen ovalen Kreise wurde Gracchus ganz anders. Die Aussicht in Rom, um Rom und um Rom herum mit Aristides zu ziehen kam da wahrlich verlockender, die Überlegung, ob sein Vetter ihn versuchte auszuschließen, indem er Lesetüchtige von vorneherein ausschloss, schob er bei Seite, denn Aristides würde dies sicherlich nicht versuchen und wenn doch, dann würde er es viel direkter sagen, als mit solch versteckter Botschaft.
    "Vielleicht? Sicherlich ich ... ich ... sicherlich."
    Er bekräftigte diese Bekanntmachung mit einem Prosit. Nicht nur die mangelnde Artikulationsfähigkeit ließ jedoch darauf schließen, dass es Gracchus sicherlich nicht mehr in die Stadt schaffen würde. Ein wenig des Weines schappte beim Anheben aus dem Becher und anschließend fand Gracchus den Tisch zum Abstellen des Gefäßes eher schlecht als recht. Sein Geist wurde zunehmend schwammiger, so schien es ihm, ebenso wie sein klares Gesichtsfeld, welches zwischen Myopie und Hypermetropie zu schwanken schien, obwohl er sich dessen sicher war, dass ihm beides fehlte. Er schwang schwerfällig die Beine von der Kline und quälte sich regelrecht von seinem Sitzkissen auf bis er gerade saß, zumindest vermutete er jenes, obwohl dies ob der leichten Schaukelbewegung der Welt nicht ganz sicher zu sagen war, musste jedoch vor dem endgültigen Aufstehen kapitulieren.
    "Vielleicht auch nicht."
    Er kniff die Augen zusammen, doch die Welt hielt nicht inne in ihrer Bewegung. Möglicherweise wäre es in diesem Zustand fatal, Rom zu erkunden.

    Die Stille, welche für einige Augenblicke im Zimmer herrschte, war dazu angetan, Gracchus den letzten Funken Gravitas zu rauben, und er musste schwer an sich halten, nicht doch wieder aus dem Raum zu fliehen. Ihre Worte schließlich waren es, welche ein wenig dieses Bedürfnisses zurücknahmen, denn sie waren so ganz anders, als er es von ihr gewohnt war.
    "Meine Missgunst? Wie kommst du darauf, dass ich dir dies entgegenbringe, Antonia?"
    Erweckte er tatsächlich diesen Eindruck? Womöglich war die Ursache allen Übels doch letztlich bei ihm zu suchen, wahrlich, so musste es sein. Womöglich war es ihm doch zu deutlich anzumerken, dass seine Sinne nach einem anderen Menschen verlangten, als nach ihr?
    "Es tut mir leid, Antonia."
    Er streckte die Hand aus, zögerte einen Augenblick, legte sie dann jedoch an ihre Wange, um ihr Gesicht wieder zu sich zu drehen, so dass sie ihn anblicken musste.
    "Ich weiß, dass ich nicht perfekt bin, beileibe, ich bin weit davon entfernt. Doch wenn ich schon eine Ehe führen muss, wenn schon eine Frau diese Bürde tragen muss, dann ... ich möchte, dass wenigstens sie dabei glücklich ist ... dass du dabei glücklich bist... Darum sage mir, was es ist, was du dir wünschst, was es ist, das du brauchst, um hier glücklich zu sein? Du sollst all das bekommen, ich will im Gegenzug nicht mehr nehmen, als was mir zusteht, und auf nicht mehr bestehen, als dass du mir ein Kind gebierst."

    Auch Gracchus nickte nur auf jene Worte hin und harrte dann der Fragen, die da noch kommen mochten. Einen Augenblick ließ er sich dazu hinreißen, die überaus interessante Musterung des Fußbodens zu betrachten und sich darüber Gedanken zu machen, ob diese gemäßigten Disputationen eher zu- oder abträglich war. Doch schon einen Herzschlag später war er wiederum voll und ganz auf die Senatoren konzentriert.

    Halbwegs entrüstet winkte Gracchus ab.
    "Aber nicht doch so bescheiden, Tiberius. Was sollte den Imperator daran hindern, dich in den Senat zu berufen? Es haben schon Männer dieses Privileg erlangt, welche weitaus weniger für das Reich geleistet haben, als du. Nun, du wirst sicherlich deinen Weg weiter gehen, als früherer Advocatus Imperialis bist du immerhin geradezu zur Praetur prädestiniert."
    Mit halbem Ohr hörte Gracchus der Frage seiner Schwester zu und harrte der Antwort Antonias. Genau genommen wusste er beinahe eben so wenig über seine Gattin, wie jeder andere hier am Tisch. Sie war die Tochter des Claudius Arbiter und damit Nichte des verstorbenen Senators Macrinius, mehr war für die Hochzeit nicht notwendig gewesen, und seit der Hochzeit hatte es kaum Gelegenheit zu Gesprächen gegeben, genauer genommen hatte keiner von beiden diese Gelegenheit gesucht. Doch andererseits ging es an diesem Abend nicht um Antonia.
    "Minervina, wusstest du, dass unser Gast ebenfalls sehr lange in Aegyptus gelebt hat? Wo genau, Tiberius, Alexandria vermutlich? "
    Der Knoblauch kitzelte bereits verlockend in Gracchus' Nase.

    Eine Sklavin in aegyptischer Kleidung, genau genommen in sehr wenig aegyptischer Kleidung, welche Gracchus nicht etwa wegen der langen Beine auffiel, sondern des eher unrömischen Kaumvorhandenseins der Kleidung wegen, schenkte den ersten Wein aus.
    "In der Tat. Obwohl mich die Änderungen bezüglich des Cursus Honorum ein wenig derangierten, so denke ich, dass dies der angemessenste Schritt ist. Ich bat vor dem Senat darum, als Decemvir litibus iudicandis eingesetzt zu werden, ob es denn soweit kommen wird, wird abzuwarten sein."
    Hinsichtlich dessen, auch seine Schwester von der überaus erfolgversprechenden Zukunftsperspektive des Tiberiers zu überzeugen, hakte er diesbezüglich bei Durus nach, womöglich hatte sich seit ihrem letzten Gespräch tatsächlich bereits eine Neuigkeit ergeben.
    "Hast du selbst schon ein Amt in Aussicht? Ich glaube mich daran zu erinnern, dass du erwähntest, dich um ein Tribunat bemühen zu wollen."

    "Du hast gut daran getan, deine Spiele bereits zum Beginn der Amtszeit auszurichten, auch wenn so manch einer sie nun am Ende womöglich schon vergessen hat. Doch hierfür bleibt dir noch immer die Res gestae, um jenes Ereignis in Erinnerung zu rufen, und seien wir einmal ehrlich, die meisten Menschen erinnern sich kaum mehr länger als eine Amtszeit an irgendwelche Spiele, ist dies doch auch nicht notwendig, da sogleich der nächste Aediles meist in noch pompöserem Ansinnen nachrückt."
    Ob dieser in der kommenden Amtszeit nicht ganz korrekten Aussage, stockte Gracchus.
    "Es ist wahrlich deplorabel, dass sich für die kommende Periode kein Senator fand, welcher dieses Amt besetzen wird, nicht der Spiele wegen, doch ohne geregelte Marktkontrollen wird vor allem die Kleinkriminalität auf den Märkten sicherlich wieder zunehmen, wodurch auch das Diebesgesindel dreister wird."

    Mit beinahe schmerzverzerrtem Gesicht blickte Gracchus auf die Nachfrage nach Wein hin zu einer Kanne, welche von einigen Bechern umringt auf einem Tablett in einer Ecke des Tisches stand. Er nahm einen der Becher, schenkte Aristides ein und stellte das Gefäß vor seinen Vetter. Anschließend füllte er sich selbst ebenfalls seinen Becher wieder auf.
    "Es ist kein Wein, nur Wasser mit etwas Essig. Ein abscheulicher Trunk, doch es erinnert mich daran, dass ich mich so bald nicht wieder dermaßen gehen lassen werde, zudem vertreibt es den andauernden Durst."
    Ohne selbst zu trinken, blickte er seinen Vetter nur verwundert und gleichsam irritiert über die Worte bezüglich der Ehe an und legte seine Stirn in Falten.
    "Was meinst du damit, dass ein Mann nicht dazu geschaffen ist, ein Weib zu ehelichen? Weshalb sollte dies so sein? Du warst doch immerhin sehr erfolgreich in der deinigen Ehe."
    Dass er selbst nicht dazu geschaffen war, dies war Gracchus sehr wohl bewusst, doch Aristides galt diesbezüglich für ihn geradezu als Vorbild, immerhin hatte er zwei Kinder gezeugt. Die Verwunderung nahm auch weiter nicht ab, als sich das Gespräch der Politik zuwandte. Bisher hatte Gracchus immer angenommen, dass Aristides Klient seines älteren Bruders war, denn wer wäre dazu geigneter, ihm Patron zu sein, wenn nicht Felix? Für Gracchus selbst war dies die einzig logische Wahl gewesen und er hatte dies nicht bereut. Doch augenscheinlich war es in Aristides' Fall nicht so.
    "Weshalb hast du keinen Patron, Marcus? Hat dein Bruder dich abgelehnt?"
    Eine beinahe undenkbare Sache, doch immerhin möglich, wusste Gracchus doch kaum etwas über das Verhältnis zwischen Felix und Aristides.
    "Ohne Patron ist natürlich schwerlich in die Politik zu kommen, geradezu unmöglich, vor allem in deinem Falle, da dir der notwendige Ordo fehlt. Dahingehend bräuchtest du einen Fürsprecher vor dem Imperator und dafür kommen nicht viele Männer in Betracht. So deplorabel dies auch sein mag, doch der Weg nach oben fängt unten an, und manches Mal ist es notwendig, über seinen eigenen Schatten zu springen. Doch so lange man dabei nicht sein Ziel aus den Augen verliert, ist daran nicht das Geringste blamabel."
    Ohne darüber nachzudenken griff Gracchus nach dem Becher, denn seine Kehle verwandelte sich langsam aber sicher erneut in eine Röhre aus trockenem Pergament. Doch schon nach den ersten Schlucken verzog er das Gesicht und stellte das Getränk weit von sich.
    "Um dieses Zeug zu mögen, muss man wohl dafür geboren sein. Mich erinnert es immer an den Geschmack von Austern. Wie dem auch sei, ich gedenke mich nach dem Vigintivirat tatsächlich um ein Tribunat zu bemühen. Natürlich ist es für mich nicht verpflichtend, doch so ich gebraucht werde, bin ich bereit dazu."
    Sein Blick verlor sich in der Ferne, getrübt von Schwermut, und die folgenden Worte nuschelte er mehr in seinen nicht vorhandenen Bart, als dass er sie laut aussprach.
    "Wenigstens dies bin ich meinem Vater schuldig."
    Im letzten Augenblick unterdrückte Gracchus ein aufkommendes Seufzen, Aristides musste sonst bald den Eindruck bekommen, er würde den ganzen Tag nichts anderes tun, und sprach weiter.
    "Ich verrate dir sicherlich kein Geheimnis, wenn ich dir sage, dass auch ich einen Sitz im Senat anstrebe, doch nicht nur, um ihm warm zu halten oder meinem Patron eine Stimme zu bescheren, nein, es ist mir durchaus ein ernstes Anliegen, denn wozu sind wir sonst, was wir sind, wenn nicht, um den Staat zu lenken? Doch um dieser Pflicht im besten Sinne nach bestem Wissen und Gewissen nachkommen zu können, ist es natürlich notwendig, sich in allen Belangen der dort getroffenen Entscheidungen Wissen und ein gewisses Maß an Erfahrung anzueignen. Ich bin fern jeglicher militärischer Erfahrung. Natürlich weiß ich um den Aufbau einer Einheit, besitze Grundkenntnisse militärischer Theorie, doch ich habe nicht den blassesten Schimmer vom militärischen Alltag. Wie könnte ich so Entscheidungen treffen über Truppenverlegungen, Einsätze oder Standorte, wo ich nicht einen Tag meines Lebens Teil einer solchen Einheit gewesen bin? Eine Nacht mehr oder weniger im Angesicht des Feindes mag über die Moral der Truppe und damit über Sieg oder Niederlage entscheiden, doch woher soll ich dies wissen, da ich nicht einmal weiß, was überhaupt für die Moral der Truppe ausschlaggebend ist, weder in Kriegs- noch in Friedenszeiten? Verwehrt man mir das Tribunat aufgrund meines Standes, so werde ich mich nicht grämen, denn in diesem Falle muss ich davon ausgehen, dass jene Erfahrung nicht unabdingbar ist. Andernfalls jedoch will ich es als Chance annehmen."
    Sand war zwischen das trockene Pergament geraten, Gracchus kannte dies von den Tagen, die Aquilius und er am Strand verbracht hatten, immer mit einigen Schriftrollen, die sie im warmen Sand liegend zwischen den Ausflügen in das kühle Meer studiert hatten. Doch die feinen Körner mochten noch so viel über das trockene Pergament reiben, Gracchus wollte das saure Wasser nicht so bald wieder anrühren.

    Nachdem er das Cubiculum seines Bruders verlassen hatte, reinigte sich Gracchus die Hände und suchte dann das Atrium auf. Serenus wartete dort, wie er es ihm aufgetragen hatte.
    "Ah, Serenus, da bist du. Eine sehr fachkundige Diagnose war das, sicherlich wird sie dem Medicus bei der Behandlung helfen können. Dennoch wollen wir die Götter um Lucullus' baldige Genesung bitten. Apollon ist derjenige, der uns die Krankheiten bringt, doch ebenso kann er sie von uns nehmen. Seinem Sohn Aesculapius gab er ebenfalls diese Macht. Diese beiden sind es daher, denen wir uns zuwenden wollen. Natürlich könnten wir uns nun zum Lararium begeben, einen Opferkuchen darbringen und hoffen. Doch es ist viel, was wir verlagen, darum wollen wir auch viel geben."
    Da der alltägliche Dienst im Tempel wenig Gelegenheit bot, Serenus in den Cultus Deorum einzuführen, da Gracchus nicht ständig einen Blick auf den Jungen haben konnte, musste diese Gelegenheit im eigenen Hause genutzt werden.
    "Do ut des - ich gebe, damit du gibst, dies ist das Prinzip, nach welchem wir unser Opfer an die Götter richten. In diesem Falle geht es um die Gesundung und damit um das Leben meines Bruders, daher werden wir ein lebendes Opfer darbringen. Das Verhältnis von Gabe zu Bitte indes orientiert sich ebenfalls an den Möglichkeiten, welche uns gegeben sind. Wir sind Flavia, uns ist es in einem solchen Fall durchaus gegeben, eine Ziege darzubringen. Für einen sehr einfachen Mann dagegen wäre beispielsweise schon ein Küken viel, Apollon wäre deswegen für dessen Geflügel nicht weniger empfänglich und gnädig, denn für unser Zicklein. Jeder nach seinem Maß und dem Anlass gemessen, sollst du dir also merken. Ebenso jedoch im rechten Verhältnis. Warum opfern wir nicht ein Rind, wenn es doch um Lucullus' Leben geht? Nun, ganz einfach, weil wir im rechten Maß bleiben wollen und weil wir unser eigenes Leben im Kontext der Gesamtheit betrachten müssen. Lucullus mag uns lieb und teuer sein, doch er ist nur ein Einzelner. Das Wohl des Staates, das des Imperator Caesar Augustus oder etwa der Sieg einer Schlacht, dies sind große Ideen und Anlässe, welche große Opfer bedingen. Wir mögen Flavia sein, doch ein Rind zugunsten des Lucullus, dies würde uns Größenwahn und Überheblichkeit attestieren, und dies ist etwas, was die Götter gar nicht schätzen."
    Mit einem prüfenden Blick vergewisserte sich Gracchus, dass sein Neffe ihm weiter zuhörte und dazu alles, was er sagte, in seinen Geist aufnahm. Zumindest erweckte der Junge den Anschein dessen.
    "Wir entscheiden also die Größe und den Wert der Opfergabe gemessen an unseren Möglichkeiten, an den Beweggründen, welche das Opfer bedingen, und in maßvollem Verhältnis zum Gesamtkontext. Haben wir uns für Größe und Art des Opfertieres entschieden, so gibt es für bestimmte Gottheiten gewisse Vorgaben. Helle Tiere für die Himmlischen, dunkle für die Unterirdischen und rotbraune Tiere für die Götter des Feuers und des Krieges, dazu männliche Tiere für die Götter und weibliche für die Göttinen. Zudem bedingen wirtschaftliche Überlegungen das perfekte Alter eines Tieres, doch um dies brauchst du dich vorerst nicht zu sorgen. Im Einzelfall gibt es weitere Ausnahmen und Besonderheiten für die Opfertiere, doch dies sind ebenfalls Dinge, die dich heute nicht weiter tangieren müssen, dies wirst du mit der Zeit und im Einzelfall speziell lernen. Wir haben uns also für ein Zicklein für Apollon und seinen Sohn Aesculapius entschieden. Wie also sollte es deiner Ansicht nach beschaffen sein, damit ich Sciurus nicht noch einmal fortschicken muss?"

    Verwundert zog Gracchus die Stirn in Falten und blickte zu seinem Bruder, als sein Neffe die ärztliche Diagnose abgab. Er spürte bereits, wie es ihm im Halse kratzte, ebenso fühlte sich sein Mund ein wenig trocken an, doch gerade noch rechtzeitig bevor die Krankheit ihn überkommen konnte, erinnerte er sich daran, die Masern bereits vor langer Zeit selbst durchlebt zu haben. Er war noch nicht lange in Achaia, da hatte es im Hause Exitius seinen Anfang genommen, Philo war der erste gewesen, sein Bruder Sophus folgte direkt, dann einige Tage später hatte Aquilius begonnen zu kränkeln, und schlussendlich war auch Gracchus an der Reihe gewesen. Er erinnerte sich nur äußerst diffus an die schmerzhaften Tage, doch soweit es ihm bekannt war, durchlebte man die Masern nur ein einziges Mal im Leben und mit Blick auf seinen Bruder konnte er dies nur hoffen. Er würde den Medicus dahigehend befragen, sollte Lucullus sich tatsächlich diese Krankheit zugezogen haben, so würde es dringend notwendig sein, dies einzudämmen. Obwohl er sich vor den Masern einigermaßen sicher fühlte, so hatte es Gracchus doch mit einem Mal eher eilig.
    "Nun, du hast deinen Neffen gehört, es wird schon wieder. Ich werde sehen, ob er beim Opfern ebenso geschickt ist, wie bei der Diagnose. Ruhe dich einfach aus, Lucullus."
    Kurz nach Serenus verließ auch Gracchus das Zimmer und begab sich zum Atrium.

    Zufrieden registrierte Gracchus, dass alles ganz wunderbar verlief, etwaige überflüssige Vorstellungen aufgrund bereits bestehender Bekanntschaften und durcheinander geworfene Buchstaben aufgrund vermutlich erhöhter Nervosität einmal außen vor gelassen, denn im Vergleich zu den Dingen, die schlimmstenfalls geschehen konnten, war dies nur marginal. Selbst Antonia war wie angekündigt erschienen und trug ihr übliches Eheverhalten zur Schau, so dass auch ihm selbiges nicht schwer fiel.
    "Nehmen wir doch Platz."
    Er wies auf die Klinen um den Tisch herum. Tiberius kam natürlich der locus praetorius zu, Gracchus selbst würde den traditionellen Gastgeberplatz summus in imo einnehmen. Er hatte lange darüber sinniert, ob jener Platz nicht Minervina zufallen musste, da doch sie das Mahl ausrichtete, doch es war ihm wohler dabei, wenn durch Antonia an seiner Seite, und damit in der Mitte des lectus imus, und ihn eine gewisse Pufferzone zwischen Durus und Minervina lag.
    "Was macht das Amt, Tiberius? Liegen noch viele Arbeiten an, oder kannst du dich bereits ob der getanen Mühen auf das baldige Ende der Amtszeit freuen?"