"Lass uns den Consul im Auge behalten, doch nichts überstürzen. Womöglich bieten sich vorher noch andere Gelegenheiten."
Die erste davon würde Gracchus trotz allem in die Wege leiten. Minervinas Interersse an den Praetorianerpraefecten registrierte er nur nebenbei, seine Acht galt vornehmlich der möglichst neutralen Betrachtung der potentiellen Kandidaten.
"Du vergisst dabei eines, Vinicius Hungaricus ist Consular und er war es bereits, als Tiberia sich an seine Seite stellte. Es hat seiner Position in keinster Weise geschadet, als er sein Amt aufgab, gegenteilig. Caecilius dagegen ist ein Niemand, er ist nichts außer Praefect der Praetorianer. Im ersten Augenblick mag dies viel erscheinen und um ehrlich zu sein traue ich ihm sogar zu, dass er eines Tages einer von jenen wird, die man gemeinhin Kaisermacher nennt. Doch dies ist keine Bezeichnung, derer sich ein rechtschaffener Mann rühmen könnte, zudem fehlt ihm politisches Feingefühl und was er auch ist, er wird immer im Schatten des Augustus stehen, bis jener sich seiner Dienste entledigt. Dennoch verachte ich Caecilius Crassus nicht."
Er blickte Minervina an wie ein unverständiges Kind.
"Vermittle ich denn tatsächlich immer wieder den Anschein solch starker Emotionen? Wenn ich jemanden hasse oder verachte, so wirst du dies sicherlich bemerken, denn dann werde ich kaum mit der gebührenden Gelassenheit von ihm berichten, sondern mich mehr echauffieren, als du es bisher erlebt hast. Der Praefectus Praetorio hätte dies womöglich verdient, doch darüber kann ich kaum urteilen, und insofern hinsichtlich seiner Person nicht meine Gleichgültigkeit angebracht ist, so wird er von mir kaum mehr als seichte Missbilligung ernten."
So mächtig Caecilius Crassus im Staatsgefüge auch sein mochte, Gracchus wollte nur ungern einen Mann wie ihn in seinem Bekanntenkreis, geschweige denn in seiner Verwandtschaft wissen.
Beiträge von Manius Flavius Gracchus
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Seine Schwester meinte es wahrlich nicht gut mit ihm, ausgerechnet auf Vinicius Lucianus fiel ihre Wahl. Gracchus verbog seine Gedanken in alle möglichen Richtungen, doch ein passabler Vorwand für eine Einladung wollte ihm nicht in den Sinn kommen. Tiberia Livia wäre ein leichtes, samt ihrem Gatten, doch wie brachte man dabei den Bruder ins Spiel? In einer kultischen Vereinigung war er ebenfalls nicht, soweit Gracchus informiert war, auch von einer Factiozugehörigkeit oder sonst einem Verein war ihm nichts geläufig. Während seiner eigenen Amtszeit war Lucianus Praetor gewesen, doch außer zu den Amtseiden hatte er ihn kaum gesehen. Würde er sich an Tiberia oder Vinicius Hungaricus wenden, so musste die Verbindung schon so gut wie sicher sein, doch bei seiner Schwester war vermutlich nichts sicher, bis zu dem Augenblick, da sie auf dem Widderfell saß. Womöglich kannte Furianus den Consul, dies war zumindest ein Ansatzpunkt. Nun denn, sie hatte angekündigt, sich nicht mit wenig zufrieden zu geben, und so war es auch, denn was konnte sie mehr verlangen, denn einen Consul? Zumindest konnte Gracchus sich damit sicher sein, dass es ihr nicht um solch profanen Dinge wie Liebe oder die äußere Erscheinung ging, denn obwohl Lucianus durchaus ein äußerst großes Anziehungspotential bot, so war er als Consul sicherlich um einiges älter als Minervina und wer wusste schon, wie lange er sich noch in den besten Jahren befinden würde? Gracchus hielt einen Augenblick inne, abgelenkt durch einen abschweifenden Gedanken. War es einzig dies, was die Frauen wollten? Ungeachtet dessen, wie der Mann selbst sich gab, ungeachtet dessen, wie seine Zukunft abzusehen war, wenn er denn nur weit genug oben stand, war er für sie erstrebenswert? Hatte auch Antonia sich einen Consul an ihrer Seite ausgemalt? War sie deswegen so abweisend ihm gegenüber, so lange, bis er eines Tages selbst des Reiches höchsts Amt besetzen würde? Mit leichtem Entsetzen ob der vor ihm liegenden Jahre schüttelte Gracchus diesen fürchterlichen Gedanken ab.
"Nun, soweit ich mich recht erinnere, so erwähnte der Consul bisher keine Zeit für eine Frau gefunden zu haben. Ein wenig sonderbar ist dies natürlich allemal, und es stellt sich die Frage, ob er zukünftig die Zeit finden wird, zumal eine Ehe keine Angelegenheit von zeitlicher Aufwendung ist. Zudem ist es ebenfalls möglich, dass der Imperator oder der Senat ihn nach seiner Amtszeit in eine der Provinzen entsendet. Die politische Zukunft eines Consuls kann sich in alle Richtungen wenden, womöglich wäre es daher klug zuerst seine Res Gestae abzuwarten und dahingehend seine weiteren Pläne. Andererseits läuft seine Zeit natürlich bereits und ein zu langes Zögern könnte ebenso verhängnisvoll sein, wie zu frühes Handeln."
Einen Augenblick spielte Gracchus mit dem Gedanken, sich einen verdünnten Wein reichen zu lassen, um den bitteren Nachgeschmack des Gedankens an Antonia herunter zu spülen, doch seit den Saturnalia lag ihm schon die geringste Menge Wein schwer im Magen und an Wasser hatte er sich längst satt getrunken.
"Über den Praefectus Praetorio brauchen wir im Übrigen nicht zu sprechen, er kommt nicht in Frage. Er ist ein skrupelloser Mensch, was ihm fehlt ist eine Frau, die ihm jene Bereiche der Gesellschaft eröffnet, in welche er selbst aus eigener Kraft nicht vordringen kann. Wahrscheinlich würde er nicht zögern, ein Angebot anzunehmen, denn bei Aristides ist es ihm nicht gelungen, ihm ein solches abzuringen, doch ich bezweifle, dass er sich so leicht von etwas abhalten lässt. Vermutlich geht er jede Frau des patrizischen Standes oder der Nobilität durch, bis schlussendlich eine von ihnen oder ihr Vater in sein Angebot einwilligt."
Er strich diesen Mann, welcher der Flavia nur immer Schwierigkeiten bereitete, mit einer laschen Handbewegung bei Seite. -
Es geschah so unvermittelt und subtil, dass Gracchus nicht einmal bemerkte, wie sich seine linke Augenbraue langsam in die Höhe hob um dort oben zu verharren. Er legte seinen Kopf leicht schief und und die Strin schließlich in leichte Falten, was auch die Braue wieder auf ein normales Niveau hinab senkte.
"Die Männer, die ich dir vorschlage, sind keine unbedeutenden, dahergelaufenen Bürger, denen Fortuna einen Sprizter patrizisches Blut in die Adern gemengt hat. Du bist meine Schwester, Minervina, und wenn du mir die Chance lässt, so werde ich dafür Sorge tragen, dass diese Verbindung dich an die Seite eines Mannes stellt, dem Fortuna eine bedeutende Zukunft zugedacht hat, eine Zukunft, auf welche du nicht unbedeutenden Einfluss nehmen werden kannst, so dies in deinem Interesse liegt, denn die Begabung dazu hast du allemal. Arroganz hat damit nicht das Geringste zu tun, auch wenn du dir eines Tages womöglich wünschen wirst, dass dem so wäre, denn Arroganz ist eine persönliche Eigenschaft, von welcher man sich lösen kann."
Ein wenig hatte Gracchus das Gefühl, dass er fortwährend an Minervina vorbei redete, denn obwohl ihm nichts ferner lag, so schienen seine Worte die Offensiven ihrer impulsiven Art geradezu zu provozieren. Doch ebenso wenig, wie er die Auslösung jener beabsichtigte, war er in der Lage, die Geschosse dieser Angriffe zu deuten.
"Niemand in dieser Familie ist unabhängig, es sei denn, er verleugnet Rom, und in diesem Falle ist er nicht länger Teil dieser Familie." -
Obwohl Gracchus in den verborgenen Winkeln seiner selbst natürlich bereits bei ihrem ersten Anlauf nur allzu deutlich verstanden hatte, worauf ihre Frage abzielte, so traf ihn ihre erneute Nachfrage dennoch wie ein Schlag ins Gesicht. Seine Hand wanderte ein Stück hinauf, und er knetete nunmehr seine Nasenwurzel und unterdrückte nur schwerlich ein Seufzen. Sie war eine Flavia, entstammte einer confarreatischen Ehe, ihre Ahnenreihe ging weit zurück bis zur Königszeit des römischen Imperiums, und dennoch schien sie sich dessen nicht bewusst zu sein, gegenteilig trachtete sie danach, diese Linie zu durchbrechen. Gracchus blickte seine Schwester an und bemühte sich, die verblassende Hoffnung aus seinen Augen zu verbannen.
"Du weißt, dass dies allein deine Entscheidung ist, Minervina. Ich kann dich weder zwingen, noch dir verbieten. Ich kann diese Entscheidung vorantreiben und mittragen, doch die Entscheidung zugunsten eines Plebejers werde ich nicht mittragen. Ich will dir keine Illusionen bieten, eine solche Ehe, wie dein Name sie dir auferlegt, mag nicht einfach sein, für eine Frau vermutlich noch weniger, als für einen Mann, der sein Verlangen und seine Sehnsüchte jederzeit auf andere Art und Weise denn seine Ehe stillen kann, wie auch immer diese aussehen mögen."
Nicht alle natürlich, dessen war sich Gracchus nur allzu bewusst, doch in diesem Gespräch ging es nicht um seine Situation.
"Doch eine Ehe ist nicht dazu da, Verlangen oder Sehnsüchte zu stillen."
Andernfalls wäre er selbst kaum mit Claudia Antonia verheiratet.
"Dass dein Vater tot ist mag dir einige Freiheiten einräumen, unter anderem auch jene, dich über jegliches Plflichtgefühl und Verantwortung gegenüber deines Namens hinweg zu setzen, doch überlege gut, Minervina, ob es diese Freiheiten wert sind, Sicherheit, Beständigkeit und deinen Stand aufzugeben."
Natürlich klang dies theatralischer, als es war, zumindest als es sein musste. Ein Plebejer aus der Nobilitas bot bisweilen bessere Beziehungen, als so mancher Patrizier, doch Gracchus größte Befürchtung galt der Situation, dass Minervina irgendeiner Art von Liebe verfallen und eine Ehe mit einem namenlosen, bedeutungslosen Mann eingehen mochte. Um des guten Willens wegen ließ er sich dennoch zu einem weiteren Vorschlag hinreißen. Natürlich war die Aussicht dessen in gewisser Hinsicht auch für ihn verlockend, doch in diesem Augenblick galt sein Bestreben einzig einer passablen Verbindung seiner Schwester.
"Der amtierende Consul, Vinicius Lucianus, ist ebenfalls noch unverheiratet, ein wenig blamabel für seine Position, dennoch akzeptabel. Sein Bruder ist der Consular Vinicius Hungaricus, jener ist bereits mit einer Tiberia verheiratet. Vinicius Lucianus diente vor seiner Laufbahn im Cursus Honorum bei den Cohortes Urbanae." -
Schon nickte Gracchus zufrieden, die Sache war beinahe so gut wie beschlossen. Dann jedoch rückte Minervina zögerlich mit einem 'aber' heraus. Da er nicht um ihre eigentlichen Beweggründe wusste, konnte er nur auf das reagieren, was er hörte, doch was er hörte, war etwas, was er ganz sicherlich nicht hören wollte, was völlig unmöglich war zu hören, und was er darum als Sinnestäuschung ab tat und darüber hinweg ging. Wahrscheinlich war es nur ein Lufthauch gewesen, der ihm den Streich gespielt hatte, ihm die schlimmste aller Möglichkeiten vor Ohren zu führen.
"Sicherlich kommen weitere Gentes in Frage. Zum einen natürlich die Claudia."
Ein wenig überrumpelt versuchte sich Gracchus passable Junggesellen der Gens Claudia in Erinnerung zu rufen. Vitulus womöglich, doch jener schien in der vergangenen Zeit keinerlei Ambitionen zu entwickeln, daher war eine Verbindung eher widersinnig. Vesuvianus kannte Gracchus nur von den Salii, seines Wissens nach fehlte jenem noch immer der passable Erbe, doch dass er seine Tochter in den Cultus Deorum geschickt hatte, dies war ein unübersehbares Anzeichen dafür, dass die Tradition in seiner Familie verkam, und damit ein Makel. Womöglich stand dem Quaestor Consulum, Marcellus, eine angemessene Zukunft in Aussicht.
"In deren Reihen sind Claudius Marcellus, der derzeitige Quaestor Consulum, und Claudius Vesuvianus, ein Tribunus der Legio I, relevant. Beide werden früher oder später ihren Weg im Cursus Honorum fortsetzen müssen."
Nachdenklich hob Gracchus seine Hand und knetete an seiner Unterlippe, bevor er schließlich fortfuhr.
"Mit den Aurelia lassen sich derzeitig keine passablen Verbindungen knüpfen. Diejenigen Familienzweige, die in Italia sesshaft sind, haben in letzter Zeit nur wenig auf sich aufmerksam gemacht, und wenn doch, so nicht gerade in positivem Sinne."
Die mäßige Arbeit des Cicero an der Chronicusa Romana hatte Gracchus jenem immer noch nicht ganz amnestiert, zudem wusste er noch immer nicht genau, ob Cicero nicht bereits verheiratet war, denn auch wenn man ihn üblicherweise nur allein antraf, so mochte dies nicht sonderlich viel bedeuten.
"Wenn es an der Person des Durus liegt, so magst du womöglich andere Tiberia in Betracht ziehen? Tiberius Vitamalacus ist meiner Ansicht nach ein wenig steif, er diente augenscheinlich bereits lange Zeit im Militär, doch er ist mittlerweile Senator und seiner Zukunft steht so gut wie nichts mehr im Weg. Es ist natürlich nicht nötig, dass du heute bereits eine Entscheidung triffst. Wir können jeden Mann in Rom in unsere Villa laden, ein Vorwand findet sich immer."
Mit hoffnungsvollem Blick lauerte Gracchus auf die Erwiderung seiner Schwester und ärgerte sich, dass Sciurus nicht in der Nähe war. Viel mehr Kandidaten würden ihm nicht mehr in den Sinn kommen, denn solcherlei Wissen um patrizische Junggesellen gehörte nicht unbedingt zu jenem, welches er in seinem Kopf zur späteren Memorierung aufbewahrte. -
Die Worte, welche der Pontifex Maximus wählte, um die Göttin um Eintracht zu bitten, verwunderten Gracchus ein wenig. Man hörte wenig aus Hispania, es wurden kaum übermäßig viele Neuigkeiten auf dem Forum verbreitet, einzig in der Acta Diurna wurde ab und an über den Aufstand, die Abspaltung oder was auch immer es sein mochte, berichtet. Da die ganze Angelegenheit jene der Praetorianergarde geworden war, konnte man in Rom sicher sein, dass sie sich damit erledigt hatte, doch dass der Imperator dieses Geschehen nun bei seinem Opfer mit Aufmerksamkeit bedachte, dies ließ Gracchus doch ein wenig nachdenklich werden, bedeutete es doch entweder, dass die Situation tatsächlich schlimmer war, als es allgemein den Anschein hatte, oder aber, dass die Situation bereits unter Kontrolle war, ohne dass dies groß in Rom verbreitet wurde. Wie auch immer es letztendlich war, es blieb in Gracchus' Augen merkwürdig, wie ohnehin alles, was jener Provinz entsprang, inklusive der dortigen Verwandtschaft. So verfolgte er weiterhin mit größtmöglicher Aufmerksamkeit das Geschehen am Opferaltar und war wenig verwundert, als die Opferung durch den Pontifex Maximus von den Göttern angenommen wurde.
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Er war sich nicht sicher, was er erwartet hatte, doch Minervinas Bekenntnis, dass er ihre einzige Bezugsperson in Rom war, sicherlich nicht. Dachte man jedoch genauer darüber nach, so musste man schlussendlich zu diesem Schluss gelangen. Minervina war lange Zeit von Rom fort und die Bindungen zwischen den Geschwistern nie sonderlich stark gewesen, doch da Gracchus nach dem Tod ihrer Eltern und Animus' Zerwürfnis mit der Familie versucht hatte, seiner Rolle als nachrückender Erstegeborene gerecht zu werden und damit verbunden pflichtbewusst zumindest brieflich ab und an den Kontakt zu seinen Geschwistern gesucht hatte, um sich ihres Wohlergehens zu versichern, so hatte seine Schwester wohl tatsächlich mit ihm noch den engsten Kontakt gehalten. Doch was den übrigen Mitgliedern der Familie wenig Bedenken bereitete, schien Minervina beinahe zu Verunsichern.
"Hast du Agrippina bereits aufgesucht? Sie hat eine wichtige Aufgabe inne, nicht nur für unsere Familie, sondern für das gesamte Imperium Romanum. Ihr Dienst erlaubt es ihr nur selten, das Haus der Vestalinnen zu verlassen, doch Besuch empfängt sie meines Wissens nach immer gerne."
Er legte seine Hände ineinander und lehnte sich zurück.
"Doch ich verstehe, was du meinst. Der Zusammenhalt unserer Familie scheint bei erster Betrachtung nicht sonderlich ausgeprägt. Vermutlich liegt es an dem, was ... "
Zögerlich stockte Gracchus. Er wusste nicht, wie viel Minervina über die Verfehlungen ihres Bruders Animus wusste, doch vermutlich wusste sie nichts über jenen inneren Zwist, welchen dies bei ihren beiden anderen Brüdern ausgelöst hatte, und vermutlich war dies besser so. Gracchus konnte selbst noch nicht überblicken, in wieweit er mit Lucullus bisweilen überein gekommen war, doch unzweifelhaft standen sie weiterhin in direkter Konkurrenz. Daher winkte er mit einer unbestimmten Handbewegung ab.
"Nun, die Vergangenheit ist vorrüber. Wie auch immer, du solltest eines wissen, Minervina, wenn du deine Familie brauchst, so wird sie für dich da sein."
Nach diesen pathetischen Worten widmet sich Gracchus auch sogleich ihrem dringlichen Anliegen, erleichtert darüber, das vorige Thema damit abschließen zu können. Ein Platz bei den Vestalinnen würde Minervina sicherlich offen stehen und auch zur Ehre gereichen, doch da Agrippina der Familie dort bereits alle Ehre machte, wäre es unsinnig, Minervina in eine eben solche Richtung zu drängen. Für ihn selbst vorteilhafter war es ohnehin zudem, wenn sie eine angemessene Ehe eingehen würde, darum kräuselten sich Gracchus Lippen in einem feinen Lächeln, um seinen folgenden Worten den Ernst zu nehmen.
"Du lastest mir eine schwere Bürde auf, Minervina. Es wird nicht einfach sein, einen geeigneten Ehemann zu finden, welcher eine Frau wie dich verdient hat."
Ungleich schwerer würde es ohnehin sein, einen seiner Schwester angenehmen Gatten zu finden, schien sie doch in dieser Hinsicht durchaus eigenwillig zu sein. Gracchus dachte an seine eigenen Ehe und fragte sich, an welchen Vorzeichen das Gelingen oder Scheitern einer Verbindung abzusehen war, wenn selbst die Auguren ohnehin nur verkündeten, was jene hören wollten, welche die Fäden im Hintergrund zogen.
"Ich habe mir bereits einige Gedanken gemacht und wie Fortuna manches mal mit uns spielt, so war ich vor den Saturnalia im Hause Tiberia zu einem Mahl geladen. Sagt dir der Name Tiberius Durus etwas? Er ist der amtierende Aedilis Curulis, ein intelligenter Mensch, traditionsverbunden, pflichtbewusst, strebsam und äußerst angenehm im Umgang. Die Tiberia sind die derzeit aufstrebendste patrizische Gens - neben der unsrigen natürlich, mit großer Verganenheit und unzweifelhaft weiterhin großer Zukunft. Tiberius selbst strebt für die Zeit nach seinem Amt den Militärdienst an, zudem ist nur eine Frage der Zeit, bis er in den Senat berufen wird. Wenn du einverstanden bist, so werde ich ihn zu einem zwanglosen Mahl laden."
Er würde Antonia dazu nötigen, an diesem Abend am Essen teil zu nehmen, so dass Minervina nicht gar so alleine war, denn auch wenn sich Gracchus selbst in Anwesenheit seiner Gattin meist einsamer vor kam, als ohne sie, so würde eine weitere Frau am Tisch Minervina das Gespräch sicherlich erleichtern. -
Nur kurz vermochte er ihrem Blick stand zu halten, dann wandte er den seinen ab.
"Ich habe sie nie gehasst. Hass ist ein ... viel zu starkes Wort."
Er wies auf einen der beiden Stühle, welche dem seinen am Tisch gegenüber standen.
"Nimm Platz, sofern du es möchtest."
Es würde ein längeres Gespräch werden, denn es gab einiges zu besprechen, auch wenn Gracchus gerade in diesem Moment entfallen war, was dies alles war. Doch beizeiten, wenn nur erst dieser erste, schwierigste Teil überwunden wäre, würde er sich dessen sicherlich wieder erinnern, sofern dann überhaupt noch die Notwendigkeit dazu bestand, dann nämlich, wenn Minervina noch immer im Zimmer weilte und sie es nicht wutentbrannt verlassen hatte. Im Grunde gab es für sie dazu keinerlei Anlass, doch Gracchus befürchtete ohnehin meist das schlimmste aller möglichen Enden.
"Ich kann nicht hinter ihrer Entscheidung stehen, dass sie den Freitod wählte. Doch ich ... "
Er zögerte.
"... ich denke, ich kann ihre Beweggründe nachvollziehen. Der Wind der Verzweiflung und der Ausweglosigkeit treibt uns manches mal an Ufer, die wir kaum noch aus eigenem Antrieb wieder verlassen können. Manch einem helfen die Parzen, manch einem haben sie dort sein Ende zugedacht. Ich danke dir, Minervina, dass du mir ihren Brief übergeben hast, denn ich habe immer geglaubt, dass sie ... dass wir alle ihr nichts mehr bedeuteten. Doch ich tat ihr Unrecht, das weiß ich nun." -
Der perfekte Platz war noch immer nicht gefunden und Gracchus schob das Kästchen gerade wieder ein Stück von sich fort, als es erneut an der Tür klopfte. Obwohl er Minervina natürlich erwartet hatte, hatte er womöglich in seinem Innersten gehofft, dass sie auswärts in Rom unterwegs oder auf andere Art unpässlich wäre, wie er dies so oft vor unangenehmen Gesprächen tat. Wieder dachte er an die Worte seiner Mutter, ihre Schwäche, und daran, dass der Pöbel womöglich wahrer sprach, als er ahnte, wenn er von der Degeneration der Patrizier sprach. Gracchus hatte noch keinen Mann seines Standes kennen gelernt, der seine Härte aufrecht erhalten konnte, wenn man nur lange genug hinter seine Fassade blickte. Selbst hinter der Person seines Vetters Felix vermutete Gracchus eine Unzulänglichkeit, auch wenn er sie bislang noch nicht gefunden hatte. Da er jedoch seinen Sklaven nach Minervina geschickt hatte, konnte Gracchus nun schlecht vorgeben, nicht im Raum zu sein.
"Ja, bitte."
Selbst die Türe zu öffnen war zu viel verlangt, wollte er die Sicherheit, welche der Schreibtisch als Barriere bot, doch nur ungern aufgeben. Mit einem Mal wurde Gracchus bewusst, dass er die Worte seiner Schwester fürchtete, welche den Briefen noch folgen mochten. Er straffte die Schultern und hob seinen Blick zur Tür. -
Sollte Gracchus im Laufe des Tages die Pflicht seiner Ehe vergessen haben, so erinnerte ihn sein Vetter freundlicherweise noch einmal daran, als würde die gesamte Misere nicht erst aus dem Ausbleiben der natürlichen Folge eben dieser Pflichten erwachsen. Doch vermutlich war es genau dies, was Felix mit seinen Worten bezweckt hatte und es verfehlte seinen Zweck somit nicht.
"Ich weiß."
Er stand steif auf und rückte den Stuhl zurück an den Tisch.
"Ich wünsche dir noch einen angenehmen Tag, Vetter."
Gracchus verließ den Raum, nicht schlauer als zuvor, ein wenig trübsinniger als zuvor, doch immerhin mit der Aussicht auf eine baldige Amtszeit, während der er der zwar nicht direkten, doch stets präsenten Nähe seiner Gattin zumindest noch ein wenig mehr durch Arbeit und Pflichten entfliehen konnte. -
In Gedankenleere versunken hatte sich Gracchus dazu angeschickt, ein Loch durch den Tisch und den dahinter liegenden Grund hindurch zu starren. Er mochte etwa bis zu den ersten Ausläufern des Hades vorgedrungen sein, als es sachte an der Türe klopfte, diese sodann geöffnet wurde, und sein Leibsklave Sciurus den Raum betrat. Gracchus hatte den Sklaven in die Stadt gesandt, um Abschriften einiger Dokumente anzufertigen. Als Sciurus näher trat, faltete Gracchus die Briefe seiner Mutter und seiner Schwester wieder zusammen und legte sie sorgsam zurück in das hölzerne Kästchen. Die Tabulae, welche Sciurus auf dem Tisch ablegte, bedachte er nur mit mäßigem Interesse, galt seine Aufmerksamkeit doch nun von den zuvor gelesenen Worten geleitet gänzlich anderen Gedanken.
"Geh und sag Minervina, dass ich mit ihr sprechen möchte. Sag ihr ..."
Er zögerte kurz und klappte das Kästchen zu.
"Nein, sag nichts weiter als das."
Der Sklave nickte, wandte sich um und verließ das Zimmer wortlos. Unschlüssig schob Gracchus das Kästchen ein wenig vor, dann wieder zurück, als suche er den perfekten Platz vor sich auf dem Tisch, und wartete darauf, dass seine Schwester erscheinen würde. -
Einfühlsam legte Gracchus seine Hand auf Leontias Schulter.
"Du musst ihn verstehen, Leontia, du bist deines Vaters einziges Erbe an diese Welt und indem du dich dem Cultus der Vesta anschließt, nimmst du eurem Familienzweig die Möglichkeit, fort zu bestehen."
Obwohl Aetius ein äußerst unbeherrschter Mann mit vielen banalen Freuden war, so konnte Gracchus nachvollziehen, dass er seine Tochter nur ungern an die Göttin verlieren würde. Obwohl bekannt war, dass Leontias Vater neben ihr weitere Nachkommen gezeugt hatte, so waren dies allesamt Bastarde, und mit seiner Gattin waren ihm keine weiteren Kinder vergönnt gewesen. Da es jedoch zudem seit längerem in dieser Hinsicht still um ihn geworden war und Aetius auch keine Anstalten mehr machte, noch einmal zu heiraten, war zu vermuten, dass seine hohe Zeit vorüber war und Leontia somit sein einziges Kind bleiben würde. Natürlich bestand noch immer die Möglichkeit, dass er sich einen Sohn adoptierte, doch seiner Tochter sein Erbe zu hinterlassen war nicht die schlechteste Möglichkeit. Wer wusste zudem schon, was Leontias Vater auf sich genommen hatte, um zu seiner Tochter zu kommen, möglicherweise hatte er die selbe Odyssee zurücklegen müssen wie Gracchus dieser Tage und sollte Gracchus' Nachkomme einzig und allein eine einzelne Tochter sein, so würde auch er sie nicht in den Cultus der Vesta eintreten lassen, sondern dafür Sorge tragen, dass zumindest sie seine Linie fortführte. Doch andererseits mochte er Leontia nicht im gleichen Gram versinken sehen, wie er ihn selbst durchlebte.
"Natürlich wäre auch der Eintritt in den Kultus der Vesta keine schlechte Alternative, doch bedenke, dass auch dieser Weg nicht immer einfach ist."
Er wusste jedoch nicht, welcher Weg einfacher sein würde, derjenige einer Hochzeit oder derjenige in den Tempel des Vesta. Es war unvermeidlich, dass ein einzelner nur immer eine der beiden Seiten kannte.
"Wie wäre es, wenn du Agrippina auf- und sie um ihren Rat ersuchst. Sollte dich dies in deiner Entscheidung stärken, so wird womöglich ein Brief von ihr als höchste Priesterin der Vesta an deinen Vater ein angemessenes Gewicht haben, um ihn umzustimmen. Anderfalls fürchte ich, wird höchstens Felix' Wort noch bis zu Aetius hindurchdringen."
Er zog seine Hand wieder zurück, lehnte sich an der Wand an und ließ seinen Blick über die Einrichtung schweifen. Das tiefe Blau war wirklich beruhigend, ein wenig kam er sich vor wie ein Fisch im Meer. Womöglich war dies der Grund, weshalb Fische solch ruhige Zeitgenossen waren, womöglich lag es jedoch auch einfach nur an ihren für das menschliche Ohr nicht hörbaren Lauten, falls sie denn überhaupt zu solchen fähig waren. Gracchus hatte sich nie eingehender mit Fischen und deren Zucht beschäftigt, obwohl es als äußerst schick galt, doch er verabscheute es, einer Mode zu folgen, hinter deren Ideen man nicht stehen konnte, ohne sich vor sich selbst zu schämen. Als er den nachdenklichen Blick seiner Base auf sich ruhen fühlte, wandte er ihr wiederum sein Angesicht zu und lauschte ihren Worten über die Romantik.
"Du meinst also, ich sollte womöglich Ovid bemühen?
Du hast mein Herz entzündet,
Nun Flamme, liebe mich!
Weib, nimm mich zu leibeigen!
Das bitt' ich flehentlich."
Womöglich war dieser Gedanke nicht einmal abwegig. Was lag ihm näher, als die Worte?
"Nun, immerhin, sollte es mit der Liebe nicht klappen, so gibt er in seiner Liebeskunst schlussendlich auch zahlreiche Hinweise, wie sich der Ungeliebten wieder zu entledigen ist."
Ein schmales Lächeln umspielte seine Lippen und er nickte leicht.
"Du bist nicht nur wunderschön, Leontia, du bist dazu auch noch scharfsinnig und klug. Und das, liebste Base, ist mein Ernst." -
Zitat
Original von Flavia Leontia et Hannibal
Wie gebannt lauschte Gracchus den Worten seiner Base und nickte ab und an in stiller Zustimmung zu jenen wahren Worten des Platon, denen er zwar nicht mehr mit ganz ungeteilter Aufmerksamkeit folgen konnte, doch er erinnerte sich daran, sich einst sehr intensiv mit jenen Schriften auseinander gesetzt und sie dabei für durchaus stimmig befunden zu haben. Oder war es gar anders gewesen, waren Zweifel in ihm erwachsen und er hatte dem nur bedingt zustimmen können, da er, obwohl Platons Ideenlehre durchaus überzeugend schien, gerade bei der Liebe anderer Ansicht war? Wie dem auch war, aus Leontias Mund zumindest klangen die Gedanken wie der Weisheit letzter Schluss, wie beinahe alles, was aus ihrem Munde kam. Warum konnte nicht Antonia ein wenig mehr wie seine Base sein, denn wäre Leontia seine Gattin, womöglich wäre Gracchus dazu fähig sie zu Lieben. Nachdenklich und überaus angestrengt, einen Augenblick auf seiner Unterlippe kauend, musterte Gracchus seine Base. Nein, er würde auch Leontia nicht lieben können, es machte keinen Unterschied. Doch zumindest konnte er ihre Gegenwart genießen, sich mit ihr unterhalten, ihr zuhören, ohne dass es ihm ein kalter Schauer über den Rücken zog. Auf die Worte Hannibals hin fiel Gracchus nun endlich ein, dass ihm Aristides' Sklave doch bereits einmal aufgefallen war. Sofern er sich korrekt erinnerte, war er eine Zeit lang mit Aristides in Achaia gewesen, möglicherweise hatten sie bereits das ein oder andere Mal den gleichen Tisch geteilt, in den abendlichen Runden Achaias waren die diesbezüglichen Sitten meist ein wenig lockerer gewesen. Nachdem er sich mit einem Schluck Wein gestärkt hatte, setzte auch Gracchus erneut zu einer Erwiderung an, obwohl ihm die Gedankengänge langsam schwerer erschienen, als üblich.
"Mag die Liebe nur dem Schönen gelten, doch wer bestimmt über Schönheit? Das Gute? Da mag ich dir Recht geben. Doch dass Liebe nur dem reinen Guten gelten kann, dem möchte ich beileibe nicht zustimmen. Gerade die wahre Liebe vermag uns über Dinge hinweg sehen zu lassen, welches andernfalls unmöglich ist."
Waren dies nun noch philosophische Ideen, oder brach zu sehr sein eigenes Empfinden aus Gracchus heraus? Er hielt einen Moment inne, um sich dessen gewahr zu werden, doch musste er erfolglos kapitulieren.
"Der Hass ist denn ein sehr guter Ansatzpunkt, sofern du ihn zum Gegenpol einzig der Liebe erklärst. Ist es möglich ein wenig zu Hassen? Nur ein bisschen zu Hassen? Hass ist ein starker Ausdruck, ebenso wie die damit einhergehende Empfindung, und ebenso wenig, wie es möglich ist ein wenig zu Hassen, so möchte ich es zumindest behaupten, ist es möglich nur ein wenig zu Lieben. Rausch ist beides und keines von beiden kann versiegen, wie der Tropfen im Sand, nicht Hass, nicht Liebe, denn wenn es so ist, war es weder Hass, noch Liebe, sondern Abneigung oder Zuneigung."
Er wollte darauf einen weiteren Schluck Wein nehmen, doch sein Becher war leer, hatte er ihn doch während seiner Rede in den Händen gehalten, so dass kein Freier herangekommen war. So hob er den Becher denn vor sich.
"Der Wein jedoch kann zur Neige gehen, um auf den Ursprung dieser Diskussion zurück zu kommen, und dann scheint manches mal das Versiegen des letzten Tropfens im sandigen Rachenraum wahrlich deplorabel.
Junge, schenke Falernerwein aus, an die Alten!
Mit herbem Weine fülle jetzt die Becher,
Wie Postumia es befiehlt, die Herrin,
Die, genau wie die trunkene Traube, abgefüllt mit
Wein ist! Fort mit dem Wasser, das ja doch nur den Wein verdirbt!
Mag es fließen zu Philistern!
Nicht gemischt ist hier des Bacchus' reines Geschenk!
So drückte es bereits Catullus aus mit Worten, die zwar derb sind, doch in Anbetracht der niederschmetternden Begrenztheit des Daseins möchte ich in diesem Augenblick darüber hinweg sehen. Sciurus, nimm dir ein Beispiel an Postumia und befiehl! Hätte ich geahnt, was für ein dürftiger Rex Bibendi du bist, ich hätte dafür Sorge getragen, dass Aristides gekrönt wird. In Achaia nannten wir ihn den Amphorenkönig, denn keiner konnte so schnell so viele Amphoren hintereinander leeren und sie schließlich an die Wand stellen, dass sie nicht umkippten, wie Aristides."
Mit einem hintergründigen Grinsen prostete Gracchus seinem Vetter mit dem nun endlich wieder gefüllten Becher zu.
"Kannst du dich daran noch erinnern, Marcus? Bei Bacchus, es scheint mir schon eine Ewigkeit her zu sein, dabei ist es nicht einmal ein Jahrzehnt." -
Je mehr mehr Worte Gracchus las, desto mehr verkrampfte sich alles in ihm. Etwa nach der Hälfte der Zeilen begann sein Kinn leicht zu zittern und er biss seine Kiefer aufeinander und schloss für einen Moment die Augen, um dem aufkommenden Verlangen Einhalt zu gebieten. Es war ihm zum Weinen zumute, doch er gestattete sich keinerlei Tränen, nicht einmal in seinem Alleinsein. Höchstens wenn Aquilius in seiner Nähe war, konnte es soweit kommen, denn in Aquilius' Gegenwart waren Gracchus' Gefühle immer ein wenig zu sehr verworren und er hatte dann mehr als sonst mit ihnen zu kämpfen. Gracchus hatte seine Eltern nie wirklich gekannt und wahrlich stellte sich nun heraus, dass er dies noch weniger tat, als er ohnehin schon glaubte. Schon früh hatten sie all ihre Kinder hinfort geschickt, damit jene all das lernten, was für ihr Leben und ihre Zukunft wichtig war. Animus hatten sie nach Aegyptus entsandt, wo er letztendlich dem Christentum verfallen war, Agrippina übergaben sie in die Obhut der heiligen Jungfrauen, Gracchus wurde nach Achaia geschickt, wo er als erstes seinem Vetter, später dem Trotz, dann der Dummheit und schlussendlich Furcht und Feigheit verfallen war, Lucullus wuchs auf den Landgütern im Norden auf, einzig Minervina hatte das Privileg der zweitgeborenen Tochter zumindest einige Zeit lang bei ihrer Mutter zu verweilen, länger als alle anderen. Seinen Vater hatte Gracchus als strengen, pflichtbewussten Mann in Erinnerung, hart, aber gerecht, und auch wenn er ihn ob seines Strebens um die Zukunft seiner Kinder oft verdammt hatte, so wusste er doch im Nachhinein, dass dies alles tatsächlich nur zu ihrem Besten geschehen war, und auch, dass er selbst eines Tages ebenso handeln musste und würde. Seiner Mutter jedoch wollte Gracchus nicht verzeihen, dass sie ihren Erstgeborenen in die Fänge einer Sekte führte, woraufhin jener sein ganzes Leben, seine Pflichten und seine Zukunft hinter sich ließ, um dem Hirngespinst eines Gottes nachzujagen, welcher ohnehin nicht existent war, und somit jegliches Streben seiner Brüder mit Missachtung strafte, sie gleichsam mit in den Abgrund riss, da er sie zu Pflichten zwang, die das Schicksal ihnen nicht vorgesehen hatte. Nicht nur dass seine Mutter dies an der Quelle nicht verhindert hatte, sie hatte auch ihr eigenes Leben zudem im Irrglauben beendet, völlig grundlos und völlig sinnlos, wie Gracchus bisher angenommen hatte. Sie hatte ihm nie gesagt, nie geschrieben, dass sie ihn liebte. Liebe - dies war etwas, was Gracchus einzig bei Aqulius gefunden, was ihn noch niemals mit seiner Familie verbunden hatte, eine Idee, deren Existenz sich ohnehin nur allen Pflichten und Verpflichtungen entgegen stellte. Und doch hatte ihn seine Mutter geliebt, dort stand es, dort vor ihm, unauslöschbar, in dunkler, anthrazitfarbener Schirft auf hellem, leicht fleckigem Pergament. Er berührte die Worte vorsichtig mit den Fingerkuppen, als könne er das beschriebene Gefühl dadurch spüren und in sich aufnehmen. Ihre Schwäche war auch seine Schwäche, ihr Erbe war es, welches er in sich trug. Sie zu verachten würde bedeuten, sich selbst zu verachten. Mit einem leichten Zittern in den Händen legte er den Brief beiseite und las nun die Zeilen seiner Schwester. Schließlich griff er wieder den Ring auf, hob ihn gegen das trübe Licht des Tages und las den Schriftzug, welcher in ihn eingraviert war.
Omnia mea mecum porto.*
Er streifte den Ring über den kleinen Finger der rechten Hand und drehte ihn ein wenig. Seine Stimme war nur ein Flüstern, ohnehin nicht für jene bestimmt, welche die Laute hören mochten.
"Verzeih mir."*Meine ganze Habe trage ich bei mir.
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Mit seiner Ehe schien Felix tatsächlich nur gute Erinnerungen zu verbinden. Verwunderlich war dies nicht, hatte er anscheinend tatsächlich die Gelegenheit erhalten, zu heiraten, wen er liebte. Gracchus unterdrückte ein langsam aufsteigendes Seufzen. Das Konzept der Liebe hatte ihn letztenendes nur immer in Gram versinken lassen, doch es schien, als wolle dies kein Ende nehmen. Wenn es tatsächlich so war, dass er Antonia lieben musste, damit diese Ehe auch nur im Ansatz funktionierte, so sah er kaum noch Hoffnung für sie beide, mehr noch, so sah er kaum Hoffnung für jetwede Ehe. Nicht, dass er damit gerechnet hatte, dass die Ehe eine angenehme Form des Existierens wäre, doch in solcher Art, wie er sie zur Zeit führte, war sie zudem äußerst belastend.
"So wird es wohl sein."
Gracchus straffte die Schultern, er hatte seinen Vetter lange genug belästigt.
"Ich danke dir für das Gespräch, Felix, doch ich möchte dich nicht länger von deiner Arbeit abhalten."
So schickte er sich an, den Raum zu verlassen, sollte sein Vetter nicht auf Gegenteiliges bestehen. -
Erschrocken blickte Gracchus auf.
"Mehrmals täglich?!"
Als er sich dessen gewahr wurde, wie absurd diese Frage auf seinen Vetter wirken musste, senkte er wiederum den Blick und er murmelte leise.
"Natürlich."
Dies war nicht die Antwort, welche er erwartet, geschweige denn erhofft hatte. Alles lief darauf hinaus, dass er sich mit Antonia würde auseinandersetzen müssen. Womöglich war dies doch nur alles sein Fehler, sicherlich sogar. Leontia, Felix, er mochte fragen, wen er wollte, die Tatsache, dass sein Eheleben völlig unmöglich war, blieb bestehen, ebenso, wie die Tatsache, dass er selbst völlig ungeignet dafür war, sich dem allerdings dennoch fügen musste, wie allen anderen Pflichten, so deplorabel dies auch sein mochte. Er tippte seine Zeigefinger aneinander, ließ seine Hände sodann sinken. Zögerlich setzte er noch eine weitere Frage hernach.
"Kanntet ihr euch bereits vor der Ehe?" -
Dass der Kaiser selbst nicht nur am Opfer zu Ehren der Concordia partizipieren, sondern es sogleich selbst durchführen wollte, hatte im Cultus Deorum einige Pläne umgeworfen. Doch der Pontifex Maximus war er, der er war, und so stand ihm jedes Recht zu, den Cultus Deorum zu leiten, wann immer er wollte. Für Gracchus bedeutete dies die Gelegenheit an einem Festtag teilzunehmen, ohne selbst eine tragende Rolle zu spielen, denn ob der Bedeutsamkeit des Opferherren bestanden auch die sonst einfachen Funktionsträger nur aus ausgewählten Priestern, vorwiegend jenen, welche höhere Collegiumsämter bekleideten, so dass es für die einfachen Sacerdotes publici wie Gracchus selbst einer war, nichts zu tun gab. So stand er denn in der Menge der Zuschauer, einige Reihen hinter den Magistraten und Honoratioren, wo sich einige Sacerdotes zusammengefunden hatten, und bedachte das noch unspektakuläre Geschehen am Tempel mit seiner Aufmerksamkeit.
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Tage waren vergangen seit den Saturnalia, Wochen, selbst die Jahreszahl hatte sich geändert, und so erinnerte beinahe nichts mehr an jene außergewöhnliche Feierlichkeit. Beinahe nichts. Denn als Gracchus an diesem Tage eine kleine Schublade an seinem Schreibtisch auf zog, um daraus einen frischen Block Siegelwachs zu entnehmen, da fiel ihm jenes kleine Kästchen in die Hände, welches seine Schwester Minervina ihm an jenem Saturnalienfest als Geschenk, mit der Bitte es erst später zu öffnen, überreicht hatte. Erst nun, da er es sah, erinnerte er sich wieder daran, und er konnte sich nicht erklären, wie das hölzerne Kästchen in die Schublade gekommen war. Da er sich jedoch nicht einmal daran erinnern konnte, wie er an jenem Abend zu seinem Bett gekommen war - vermutlich nicht mehr an jenem Abend, sondern erst früh am nächsten Morgen, doch immerhin war er am folgenden Tag darin erwacht - war dies nicht weiter verwunderlich. Im Zweifelsfalle hatte sein guter Geist Sciurus, Agenda und Bettgenosse gleichermaßen, dafür Sorge getragen, dass das Geschenk sicher verwahrt worden war. Langsam nahm Gracchus das Kästchen aus der Schublade, stellte es behutsam vor sich auf den Tisch und fuhr vorsichtig mit den Fingerspitzen über die feinen Schnitzereien, welche die Oberfläche zierten, und den türkisen Edelstein, welcher auf der Oberseite eingelassen war. Es war ihm unglaublich unangenehm, dass er das Geschenk nicht längst geöffnet hatte, ebenso, wie nicht längst mit Minervina gesprochen zu haben, nicht nur bezüglich ihrer Mutter, auch hinsichtlich einer Ehe, denn vermutlich würde dies nun noch mehr dazu beitragen, dass sie ob seiner Person weiter erzürnt war. Da dies ohnehin seiner Befürchtung entsprach, war es jedoch nicht weiter verwunderlich, dass er dieses anstehende Gespräch dererlei aus seinen Gedanken schob und so immer wieder darauf vergaß. Mit den weiblichen Wesen schien er dieser Tage kein Glück zu haben, von Leontia einmal abgesehen, in welcher er jedoch weniger eine Frau, sondern vordergründig einen hochintelligenten Geist sah, obwohl sie rein äußerlich betrachtet selbst seiner Gattin in nichts nachstand, welcher Gracchus in Gedanken den Platz einer Statue im Atrium zugedacht hatte. Diesbezügliche Gedankengänge näher beleuchtet war es vermutlich ebenfalls nicht weiter verwunderlich, woher das mangelnde Glück rührte, doch so eingehend beleuchtete Gracchus seine Gedanken wohlweislich nicht. Er fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und klappte den Deckel der Holzschatulle auf. Den beiliegenden Brief nahm er heraus, legte ihn vorerst ungeöffnet zur Seite, und nahm stattdessen den Ring in die Hand. Es war ein äußerst schlichtes Schmuckstück, doch gleichsam edel und da das Material aus Weißgold bestand sicherlich auch wertvoll. Gracchus schluckte, ohne näher zu wissen weshalb schien ihm die Luft mit einem mal dünner, und er legte den Ring neben den Brief, welchen er sodann aufnahm und umsichtig entfaltete. Da nichts geschah, sah er sich schließlich dazu gezwungen, die Zeilen zu lesen.
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Der Abend hatte sich für Gracchus als äußerst erquickend herausgestellt, nicht nur in kulinarischer Hinsicht, sondern auch hinsichtlich der äußerst tiefsinnigen Diskussionen. Anregend auch in anderem Aspekt, doch jenes Prickeln hatte sich im Laufe des Mahls ein wenig gelegt, was nicht unangenehm war, da es doch der durchdachten Artikulation meist entgegen stand. Erst kurz bevor die Sänften der Besucher sich erhoben, um jene zu ihren Villen zu bringen, durchfuhr Gracchus noch einmal das wohlige Schaudern, als sein Blick dem scheidenden Consul galt. In der Villa Flavia würde Gracchus' Sklave in dieser Nacht trotz der fortgeschrittenen Stunde seiner Pflicht nachkommen müssen, dies war sicher. Von einigen kräftigen Männern mit Schlagstöcken, und sicherlich im Verbrogenen auch mit Messern, begleitet, setzten sich die beiden flavischen Sänften in Bewegung und brachten ihre Herren sicher nach Hause.
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"Ich danke dir, Felix."
Obwohl Gracchus bereits zuvor sehr detailliert darüber nachgedacht hatte, ein weiteres Thema anzusprechen, so zögerte er nun dennoch. Er presste die Lippen auf- und legte schließlich die Fingerspitzen aneinander, sodann räusperte er sich kurz und begann schließlich zögerlich. Das Gespräch mit Leontia hatte kaum einen Weg aufgezeigt, die Misere auf weniger unangenehme Weise denn der Konfrontation zu beenden, so wollte er doch den Rat seines Vetter suchen, der immerhin mehr Erfahrung aufwies als sein Base, sowohl, was die Thematik der Ehe, als auch diejenige der Nachkommen betraf, vor allem und besonders aus Sicht des Gatten.
"Es gibt da noch etwas ... sehr ... privater Natur. Wenn du mir diese Frage gesattetst ... es geht um ... nun, als du verheiratet warst ... wie oft hast du deine Gattin gesehen?"
Die Angelegenheit war Gracchus äußerst unangenehm, weshalb er es tunlichst vermied, seinem Vetter in die Augen zu sehen, und stattdessen genauestens seine Fingerkuppen betrachtete.