Gracchus legte seine Fingerspitzen aneinander und nickte. Der Tribun machte eine ausgesprochen gute Figur und Gracchus bedauerte einmal mehr, nicht der Legion beigetreten zu sein, wohl wissend, dass er in diesem Fall nach der ersten Woche in einer Urne nach Hause geschickt worden wäre. Die Tiere, welche Tiberius heranführen ließ, waren tatsächlich von makelloser Güte.
"Ich werde nach einem Popa sehen, welcher die Schlachtung übernimmt, mir selbst ist dies nicht gestattet. Bitte warte solange hier."
Er drehte sich um und machte sich auf den Weg zu den Nebengebäuden. Auf dem Weg dorthin lief ihm bereits ein Tempeldiener über den Weg, welchen er zum Tempel zurück voraus schickte, auf dass jener die Tiere für die Opferung vorbereiten möge. Möglicherweise wäre Gracchus auch einem Sacerdos über den Weg gelaufen, hätte er dies nicht geschickt umgangen. Der Tribun schien wie jeder gute Römer genau zu wissen, was er zu tun hatte, so dass kein Sacerdos notwendig war. So begnügte sich Gracchus einen Popa anzuweisen, dass er ihm folgen solle. Er stand mitnichten über ihm, war er ohnehin im falschen Tempel unterwegs, doch der Popa war noch nicht lange Popa und so folgte er dem Commentarius anstandslos. Zurück vor der Heimstatt der Götter bemerkte Gracchus zufrieden, dass der Tempeldiener bereits an der Arbeit war, die Tiere zu reinigen und zu schmücken. Der Popa eilte zu ihm, um ihm behilflich zu sein, und Gracchus wandte sich an Tiberius.
"Hast du die Gaben für das Voropfer bereit? So du möchtest, steht dem Beginn der Opferung nichts mehr im Weg. Vergiss nicht, deine Hände am Becken neben der Tür zu säubern. Da er der oberste der Götter ist, solltest du in der Cella des Iuppiter mit deinen Bitten beginnen."
Beiträge von Manius Flavius Gracchus
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Mit einem bedächtigen Nicken quittierte Gracchus die Worte. Der Tribun und vielleicht künftige Quaestor tat gut daran, in diesen Zeiten die Gunst der Götter zu suchen. Doch sehr verwunderte es Gracchus nicht nachdem der Mann sich als Tiberius vorgestellt hatte, hatte er die Tiberier doch als ehrwürdige Gens kennen gelernt.
"Du möchtest allen dreien ein Opfer darbringen? Soll es denn ein unblutiges sein, oder hast du ein oder gar mehrere Tiere im Sinn? Der zuständige Sacerdos ist gerade irgendwo hier unterwegs, doch bis er auftaucht werde ich dir nach bestem Wissen und Gewissen helfen." -
Der ihn ausbildende Sacerdos Valerius Victor war mittlerweile in das Collegium der Septemviri erhoben worden und Gracchus fühlte sich ob dieses Ereignisses nicht mehr an den Kult des Mars gebunden. Offiziell gehörte er jenem noch immer an und er versäumte nicht, seinen Dienst dort zu tun, doch mit jedem Tag zog es ihn für längere Zeit hinauf zum Tempel des Iuppiter Capitolinus, vor allem, nachdem er bemerkt hatte, dass dort ebenso wie in vielen anderen Tempeln Roms die Götterdiener rar waren. Nachdem er den Tag bereits für einiges an Arbeit genutzt hatte, betrat er abschließend noch einmal die Cella des Iuppiters und bemerkte dort einen Suchenden, einen recht großen und gut gebauten noch dazu. Mit einer beiläufigen Handbewegung strich Gracchus sein Gewand glatt und trat zu dem Mann.
"Salve! Mein Name ist Flavius Gracchus, ich bin Commentarius..."
Martialis, wollte er schließen, doch dies hätte womöglich nur zu Verwirrungen geführt.
"... des Cultus Deorum. Kann in dir in irgendeiner Weise behilflich sein?" -
Gracchus kam nicht obhin zu bemerken, dass er bei diesem Geist äußerst penibel auf seine Wortwahl achten musste. Ein unbedachtes Wort konnte hier der Funke sein, welcher ein schwelendes Feuer zu einem lodernden Flammenmeer erheben würde.
"Was nutzt es zu streben nach Dingen, die längst gegeben sind? Werde dir dessen bewusst, was du bist, lieber Vetter, und du wirst sein können, was du von anderen erhoffst, das sie aus dir machen. Es ist viel mehr, was du haben kannst, was du sein kannst, als einer von jenen vieren im Cultus Deorum, die im Übringen längst nicht alles sind, was uns allein des Standes wegen offen steht. Was schert dich ein ehemaliger Konsul, was scheren dich seine Worte, die nichteinmal die Luft wert sind, welche sie verdrängen? Du bist ein Flavius, Furianus. Nicht, weil man dich zu einem solchen macht, nicht, weil du einer sein möchtest, sondern weil du einer bist. Deine Wünsche, deine Träume und Hoffnungen mögen dein Eigentum sein, doch du hast keinerlei Anrecht auf ihre Erfüllung. Es ist deine Pflicht zu tun, was du tun musst und dies beinhaltet auch dafür zu sorgen, dass nicht geschieht, was du zu behaupten wagst. Solange wir sind, was wir sind, wird es uns immer geben und nichts und niemand wird uns davon abhalten können, wenn wir sind, was wir zu sein glauben. Wenn wir dies nicht sind, dann sind ohnehin jegliche Gedanken darüber verschwendet."
Ein Blinzeln durchbrach Gracchus Gedankengang und er entschied darüber, dass seinen Worten damit nichts hinzuzufügen war. Aus jenem Grund fügte er nichts weiter hinzu. -
Des späten Abends, es dämmerte bereits, bestieg Gracchus nach Beendigung seines Dienstes im Tempel des Mars Ultor den Kapitolshügel. Er war allein, zumindest so allein, wie ein Patrizier sein konnte, denn wie ein unsichtbarer Schatten folgte ihm sein treuer Leibsklave Scirus in einigen Schritt Abstand, wessen sich Gracchus jedoch nicht gewahr war, gehörte der Sklave doch zu denen, die er zwar nie übersah, die jedoch so eng mit ihm verbunden, dass sie ohnehin nicht wegzudenken waren. Auf der Kuppe des Hügels angelangt verschnaufte er einen Augenblick und sog den Ausblick tief in sich ein. So oft Gracchus auch hier hinauf kam, so oft musste er am Ziel angelagt inne halten und frischen Atem schöpfen, und so oft berauschte ihn der Anblick der ihm zu Füße liegenden Stadt, der Königin aller Städte. Welch unbeschreibliches Gefühl musste es sein auf dem Platz vor dem Tempel ein Opfer darzubringen mit dieser Kulisse als Hintergrund.
Gracchus wartete einen Augenblick, bis Sciurus ihm den leinenen Beutel brachte, betrat den Tempel allein und war im Inneren des Aedes nicht weniger berauscht als dies zuvor davor der Fall gewesen war. Er trat dem Iuppiter entgegen, bedeckte sein Haupt und holte kostbaren Weihrauch aus Tylus aus dem Gabenbeutel hervor. Von einem Haken am Kohlebecken nahm er einen ehernen Schürhaken zur Hand und strich damit den grauen Ruß von den Kohlestücken. Hernach blies er vorsichtig in das Becken hinein, bis dass ein tiefrotes Glühen sich zeigte. Der Schürhaken fand seinen angestammten Platz und Gracchus streute Korn um Korn der Räucherung über die Kohlen. Wohlriechender Rauch steig empor, wirbelte in die Höhe hinauf und umtanzte schlussendlich auch das Bildnis des Höchsten aller Götter.
Als dies getan war, nahm Gracchus den Beutel auf und holte daraus einen Opferkuchen und einige Früchte hervor, welche er nach und nach auf dem Foculus platzierte.
"Iuppiter Capitolinus, Höchster der Götter, einige Gaben bringe ich Dir zum Dank für Deine Gunst und mit der Bitte sie uns weiter zu gewähren. Möge Dein Schutz unseren Augustus, den Dir so nahe Stehenden, weiter bedecken, mögest Du Deine Gunst nicht dem Imperium entziehen. Iuppiter Capitolinus, nimm diesen Dank und diese Bitte."
Nachdem die Gaben gegeben, die Worte gesprochen waren, wandte sich Gracchus nach rechts hin und verließ dei Cella des Iuppiters. Es dürstete ihn, doch er vermochte nicht zu bestimmen wonach mehr, ob nach verdünntem Wein oder danach, an diesem Ort zu sein. -
Mit vorsichtigen Schritten näherte sich Gracchus der Statue des Mars Ultor. Der Sacerdos Valerius hatte den Tempel verlassen und noch hatte der Cultus Deorum keinen anderen Sacerdos hierher abbeordert. Für Gracchus bedeutete dies unendliche Freiheit, nun war er der Herr hier im Tempel. Zumindest der profane, gegen das Besitzrecht des Mars Ultor würde er sich natürlich nicht stellen.
Es war früh am Morgen, viel zu früh, als dass die Tore des Tempels schon geöffnet waren. Denn das, was Gracchus vor hatte, das durfte niemand sehen, davon durfte niemand wissen. In seiner einfachen Tunika sah er zwar nicht anders aus, als ein einfacher Tempelbediensteter, doch es konnte immerhin jemand vorbeikommen, welcher mit ihm bekannt war. Gracchus stellte die hölzerne Leiter an die Seitenwand und das große Gefäß zu Füßen des Mars. Ein wenig bang blickte er zu dem gewaltigen Gott hinauf, doch schließlich straffte er seine Schultern und nahm das Tuch zur Hand. Er tunkte es in das Gefäß, genau genommen in die Flüssigkeit, welche darin war: reinstes Aloeöl. Das Öl verströmte einen angenehmen Duft, welchen er tief in die Nase sog. Gracchus stellt sich die Leiter zurecht und kletterte behutsam die Sprossen hinauf, bis er schließlich auf einer Höhe von Angesicht zu Angesicht mit Mars Ultor stand. Zitternd streckte er das ölgetränkte Tuch nach vorne, hielt einen Moment inne, berührte den Kopf des Gottes und begann in sanften, kreisenden Bewegungen die Statue zu reinigen. Von unten flackerte der Lichtschein der Lampen herauf und Gracchus versank in einer meditativen Stille, ließ das weiche Tuch über den Stein gleiten, bis kaum noch Öl darin war. Langsam kletterte er die Leiter hinab, tunkte das Tuch erneut in das Aloeöl und stieg wieder hinauf.
So ging es viele Male, bis das Gefäß beinahe leer war und Gracchus die Leiter nicht mehr benötigte, da er die Füße des Gottes erreicht hatte. Als auch der linke kleine Zeh des Mars Ultor mit Öl eingerieben war, trat der Commentarius zurück und betrachtete sein Werk. Ein zufriedenes Lächeln kräuselte seine Lippen und ein tiefes Gefühl innerer Befriedigung kehrte in ihm ein. Seit Anbeginn seiner Ausbildung war es ihm ein Gräuel gewesen, dass die rituelle Reinigung hier so schändlich vernachlässigt worden war, immerzu war der Stein stumpf gewesen, hatten sich kleine Staubpartikel auf der Statue gezeigt. Gracchus nahm das Tuch und das leere Gefäß in die eine und die Leiter in die andere Hand, dann verließ er die Cella und den Tempel eilig um das Nebengebäude aufzuschen, die Indizien seiner Tat zu verbergen und sich in ein angemessenes Gewand zu kleiden, um seinen üblichen Tempeldienst aufzunehmen.
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Mit gemischten Gefühlen musterte Gracchus seinen Vetter zweiten Grades und versuchte zu ergründen, ob diese Worte sich gegen den allmächtigen Imperator Caesar Augustus richteten, voll Neid und Gram. Doch er sah darüber hinweg, denn er wollte besser nicht genauer darüber nachdenken.
"Nun denn, ergründen wir weshalb die Gens Flavia nicht so prestigeträchtig ist, wie sie es sein sollte. Weißt du es? Sie mich an. Dann blicke an deiner eigenen Nase herab und betrachte dich selbst. Und letztendlich lass deinen Blick in Gedanken deinem Bruder folgen. Was sind wir? Wir sind die Flavia und was wir darstellen, das kennzeichnet unsere Familie. Nicht gerade viel, selbst ein Aedilen-Amt scheint heute nichts mehr wert."
Er setzte zu einem tiefen Seufzen an, erstickte es jedoch im Keim.
"Rom ist längst nicht mehr, wie es einst war. Niemand kann sich noch auf den Taten seiner Vorväter ausruhen, seien dies Kaiser oder Bauern gewesen. Meine Eltern waren angesehene Senatoren, Furianus. Meine Mutter war Procuratorin und mein Vater Praefectus Urbi, der möglicherweise wichtigste Mann im Imperium nach dem Kaiser. Dein Vater war Legatus Augusti pro Praetore und sein Wort hat noch immer Gewicht an des Kaisers Ohr, so sagt man. Dennoch scheint es, als würden wir, ihre Kinder, dort anfangen, wo jeder beliebige Plebs anfängt. Unten. Und die Gefahr ist groß, dass dann ein Menschenleben nicht ausreicht, bis ganz oben zu gelangen, vor allem, wenn der Plebs einem Steine in den Weg legt, wo er nur dazu fähig ist."
Ein freudloses Lachen bahnte sich den Weg aus Gracchus Kehle herauf.
"Wenn man uns so betrachtet, so besteht wohl die dringende Notwendigkeit, einen patrizischen Volkstribun zu ernennen. Vielleicht sollten wir den Augustus darum bitten. Denn was nützt es, sich selbst auf die Rostra zu stellen, stehen doch nur noch Wortverdreher dort, die geifernd darauf warten, dass einer von uns sich für ihre Spottverse als Ziel aufstellt. Und wenn man sich so manch andere patrizische Familie besieht, so ist es beinahe kein Wunder, wenn wir zum Gespött Roms werden." -
Nickend pflichtete Gracchus ihm bei.
"Exzellieren, wahrlich, wahrlich."
Mit einem letzten Schluck leerte sich das Glas endgültig und Gracchus setzte sich auf.
"Auch ich würde gerne vorankommen, doch scheint es mir, als prallen all meine Bemühungen an dem mich ausbildenden Sacerdos Valerius ab. Wäre ich nicht im falschen Tempel und dazu in dem des Mars, der mir so fern liegt, so wäre alles nur halb so schwer. Doch unter diesen Umständen ist mir die tägliche Arbeit eine regelrechte Quälerei."
Er kam nicht umhin, die Bitterkeit, welche in seiner Stimme lag, gänzlich daraus zu vertreiben.
"Bitte glaube nicht, dass ich mich der Arbeit im Tempel entziehen möchte. Doch mein Herz strebt dem Iuppiter entgegen, verzehrt sich tagtäglich danach ihm zu Diensten zu sein, wie es mein Gelöbnis vorsieht. Es war ein Versprechen an die Götter, Furianus, doch ich sehe mich außerstande, es einzulösen, und dies bedrückt mich außerordentlich und schlägt mir gar fürchterlich auf mein Gemüt."
Er schüttelte mit müdem Blick den Kopf, rang sich jedoch schlussendlich ein feines Lächeln ab.
"Patientia, dies ist es wohl, woran ich am lägsten arbeiten werden muss um in die Fußstapfen meiner Vorväter zu treten." -
In einem Anflug von Verwirrung zog Gracchus die Stirn kraus und sinnierte darüber nach, ob die Furcht vor den Titanen hier tatsächlich eine reale war, oder ob es sich um einen Scherz des Schülers handelte. Da er jedoch in sich keine Antwort auf diese Frage fand, blickte er zum Sacerdos hin, welcher die Frage - diejenige des Schülers, nicht die Gracchus' - pflichtgetreu beantwortete, und lauschte diesem. Gracchus notierte sich einen Stichpunkt auf seiner Wachstafel und folgte weiter aufmerksam dem Unterricht.
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"Die Kaiser genau wie jeder einzelne. Ohne den Augustus wäre Rom nichts, doch ohne den einzelnen wäre auch der Kaiser nur ein einfacher Mann auf einem Thron mitten im Sumpf und die einzigen, welche zu ihm aufblickten wären ein paar quakende Kröten. Nein, Furianus, du bist Rom, wie ich es bin, wie jeder einzelne. Agieren wir nicht danach, reißen wir ein Imperium mit uns ins Verderben. Das ist es, was unsere Ahnen uns lehrten, nur indem wir uns selbst in Perfektion verdingen und uns gleichzeitig als Teil des Ganzen sehen, können wir Großes schaffen. Der wahre Römer sieht Rom in sich und nicht, was das einzelne Leben betrifft, nein, was Rom zum Vorteil gereicht, dies muss in uns an vorderster Stelle stehen. Wie könnte es sonst sein, dass wir der unbedingten Treue zum Imperium, zu unserer Gens folgen, jeglichen Gefühlen entgegen?"
Er griff nach seinem Glas und spülte seine Gefühle die Kehle hinab. -
Am Abend, so schien es Gracchus, strahlte die Cella im Tempel des Mars Ultor immer eine merkwürdig bedrückende Atmosphäre aus. In seiner Vorstellung kehrte Mars dann von seinen Schlachtfeldern, auf welchen er am Tag über sein Werk getan hatte, nach Hause zurück und war voller Agressivität und Zorn. Auf Gracchus Armen bildete sich eine Gänsehaut, als er die Cella betrat und nur der gütige Blick der Venus machte ihm die Arbeit erträglich. Wie sehr sehnte er sich doch nach dem friedlichen Tempel des Iuppiter, der ihm noch immer verwehrt blieb. Doch bis er demjenigen zu Diensten sein konnte, musste er seine Arbeit verrichten, es blieb ihm wenig anderes übrig. Im Grunde könnte er natürlich für das Abräumen der Gaben einen Tempelsklaven schicken, doch wenn Gracchus eine Arbeit erledigte, so tat er dies sorgfältig, mit ganzem Herzen und vollständig.
So blickte er bang zur Statue des Mars Ultor auf, darauf vertrauend, dass dieser auch einen Commentarius verschonene würde, der doch eigentlich im falschen Tempel saß. Schließlich kniete er sich hin und machte sich dann ans Werk die Votivgaben von dem Opfertisch vor der Statue abzuräumen. Mit größter Sorgfalt nahm er Gabe um Gabe und platzierte sie in der Kiste, welche er mitgebracht hatte. Es war ein guter Tag gewesen, viele Opfergaben lagen auf dem Tisch und die Priester würden sich über reichlich Kuchen freuen. Auch einige Münzen lagen dem Mars zu Füßen, versteckt unter einem Blumenkranz.
Als alles bis auf eine kleine Statue, welche vor wenigen Tagen erst auf dem Opfertisch ihren Platz gefunden hatte, abgeräumt war, wischte Gracchus noch einmal mit einem weichen Tuch über den Tisch und legte dann einen frischen Opferkeks darauf, so wie jedes Mal, wenn er die Votivgaben abräumte.
"Es sei Dir gedankt, Mars Ultor, mögest Du eine geruhsame Nacht verbringen."
Gracchus hob die Kiste auf und machte sich auf den Weg in die Nebengebäude, um dort die essbaren Gaben in der Küche abzugeben und anschließend die Geldspende für die Tempelkasse zu verzeichnen. -
Ein leises Lachen löste sich aus Gracchus' Kehle.
"Weiß es überhaupt jemand, Sacerdos? Kann es überhaupt jemand wissen? Wer würde sich anmaßen zu behaupten, das Wissen über das zu besitzen, was vor dem war, was niemand weiß?"
Er blickte den Sacerdos abwartend an, setzte dann jedoch zu einer Antwort an.
"Unter Berücksichtigung der Meinung der Geschichtsschreiber jedoch gab es nichts vor dem Chaos. Und dennoch ist es entstanden, so lehrt uns Hesiod, doch entstand es nicht aus etwas heraus, sondern höchstens aus sich selbst." -
"Welch faszinierende Begebenheit."
Gracchus fixierte Furianus in Erwartung dessen, dass er die Trauben in seinen Mund schieben würde.
"Wie unterschiedlicher könnte unsere Vergangenheit sein, wie unterschiedlicher das, was um uns lag? Dennoch führte unser aller Erbe uns hier zusammen. Auch um deiner Zukunft Willen bleibt zu hoffen, dass es dieses ist, was dich leitet."
Ein amüsiertes Lächeln kräuselte Gracchus' Lippen.
"Du überschätz Rom, mein Lieber, und doch verkennst du es. Rom ist eine billige Dirne für eine Nacht und zugleich die strahlendste Königin der Welt. Und dennoch ist es nicht der Mensch, der sich anpasst. Rom ist es, das sich unter Biegen und Brechen seinen Einwohnern unterordnet. Nicht Rom gebiert den Verfall der Sitten, er wird hineingetragen und vergiftet die Wurzeln des Daseins. Die Dignitas schreiben sich die Menschen dann auf die Fahne, gleich neben der Pietas, doch die Honestas, die Humanitas und Veritas vergessen sie in ihren billigen Reden. Die Anderen werden zu Feinden Roms abgestempelt, anstatt sich selbst an die eigene Nase zu fassen, werden Prozesse geführt um der Schlechtheit des Anderen genüge zu tun. Doch ich frage dich, Furianus, wer ist Rom, wenn nicht ich?" -
Eine leere Kanne stand auf dem Tisch, Gracchus lümmelte sich halb quer über einen Sessel wie es keinem Patrizier gut zu Gesicht stand und der Sklave Sciurus beäugte dies alles aus wachen Augen von seinem Stuhl nahe der Tür. Gracchus hatte sich nach dem Abendmahl dem Falerner hingegeben wie es nur selten geschah, er war darin ertrunken und versuchte nun verzweifelt an die Oberfläche seiner selbst zu schwimmen.
"Die Götter treiben ein gar undurchschaubares Spiel, Sciurus, und wir sind nur billige Figuren in ihrem Plan. Mich, treuer Sciurus, mich haben sie erschaffen, um mich zu verspotten. Sieh mich an, Unglücklicher der ich bin, verzagt und verzweifelt, angefüllt mit dem besten Wein der Welt, wo soll es hingehen mit mir? Es scheint, als hätten die Götter mir nichts zugedacht als meinen Namen, den Namen mit welchem sie mich straften, verlangt er doch von mir, was ich nicht geben kann. Aus Achaia getrieben, oh geliebtes Achaia! Geliebter Nikomachos, oh, geliebter Sciurus! Alles und jeden haben sie mir entrissen, doch der Agonie scheint kein Ende angedacht! Wie dem Tantalos die nährenden Früchte, so setzen sie mir meine Vettern voran, welch Qual durchfährt mich bei ihrem Anblick, welch süßes Verlangen. Es dürstet mir nach Liebe, geliebter Sciurus, der Hunger nach ihren Körpern verzehrt meine Seele, doch wann immer ich mich aufrecke, meine Hand nach den süßen Früchten erstrecken möchte, so umstürmt mich die Claudia, und sei es nur in Gedanken. Ist dies denn zuviel verlangt, sage es mir, ist es zu viel verlangt einen warmen Körper neben mir auf meinem Lager zu wünschen?"
Sein schwammiger Blick versuchte den Sklaven zu fixieren. Dieser sprach leise, unbestimmt.
"Nach eurer Hochzeit wird sie bei euch sein, Herr."
Gracchus griff sich mit den Händen an den Kopf.
"Bewahren mich die Götter davor! In ihrem eigenen Bette wird sie nächtigen, Nacht um Nacht. Den Vertrag der Ehe werde ich erfüllen, für einen Erben wird sie bei mir liegen und noch zwei Mal für weitere Nachkommen. Danach nie wieder, es sei denn die Notwendigkeit besteht, sollte einer von den Knaben zu früh diese Welt verlassen. Was böte mir schon ihr Körper, zerbrechlich und fein wie er ist? Mich verlangt nach einem starken Leib, denn nichts, was dieser bieten kann, findet sich an einer Frau. Oh, Sciurus, geliebter Sciurus, wie ein Felsbrocken hängt das Unheil über mir an einem feinen Haar. Welch Ungerechtigkeit, oh ihr Götter, auf dieser Welt zu sein! Welch fataler Irrtum!"
Er griff nach seinem Glas, doch nur wenige Tropfen des Falerners fanden sich noch darin.
"Welch fataler Irrtum, dem wir blindlings erliegen..."
Achtlos ließ er das Glas auf den Boden fallen, wo es in zwei Teile zersprang. -
Welch überaus verlockende Aussicht. Was konnte eine Familie enger zusammenhalten, als ein gemeinsamer Thermenbesuch? Andererseits würde es schwer werden, sich dort keine Blöße zu geben und beim Anblick der von den Göttern geformten Körper an sich zu halten. Dies wäre noch äußerst genau zu überdenken.
Gracchus wandte sich Furianus zu und bedachte ihn mit einem langen, durchringenden Blick.
"Baiae," sprach er schließlich gedehnt. "Welch farbiger Ort. Frauen, die sich für einen Becher billigen Weins verkaufen und Männer, welche ihr Gemach mit Männern teilen. Was meinst du, Vetter, werden wir geprägt von jenem, was um uns liegt? Oder werden wir geprägt von dem Erbe, welches wir in uns tragen?" -
Wieder einmal vernachlässigte Gracchus seinen Dienst im Tempel des Mars Ultor um fremd zu gehen. Doch so sehr es ihm auch ein schlechtes Gewissen bereitete, dem Mars untreu zu sein, es zog ihn doch immer mit aller Kraft zum Tempel des Iuppiter Capitolinus, denn diesem gehörte sein Herz, gehörten all seine Sinne, sofern sie den Göttern gehörten. Es war nicht so, dass er den kämpferischen Mars nicht achtete, auch nicht den Stadtvater oder den Beschützer der Herden, doch dem Iuppiter war er verbunden, dem Caelestis, dem Himmlischen, dem Lucetius, dem Lichten, dem Optimus Maximus, dem Besten und Größten und dem Homoscus Maximus, dem, der die Götter liebte. Selbst dem Fulgurator, dem Tonans und dem Summanus war er verbunden, gab es doch nichts erregenderes, als ein Gewitter, ob bei Tag oder Nacht. Den Pluvius verehrte Gracchus ebenfalls, liebte er doch den Regen, vor allem, wenn dieser in heftigen Schauern auf die Erde herniederfuhr und allen Abschaum und Unrat von den Straßen hinfort spülte.
Es war früh am Morgen, als Gracchus den Tempel des Iuppiter Optimus Maximus auf dem Capitolium erreichte, dementsprechend leer war es auf dem Berg, trotz des anbrechenden Monats. Gracchus öffnete die Tür zur Cella des Iuppiters und atmete tief durch, es war ihm, als könnte er die Präsenz des Gottes durch seinen Atem in sich aufnehmen. Die Kerzen, welche den Weg bis zur Statue des Iuppiters säumten, flackerten durch den Luftzug der geöffneten Tür auf, und die Schatten an den Seiten der Cella begannen zu tanzen. Gracchus trat in den Raum ein und schloss die Tür wieder, so dass nur noch das warme Licht der Kerzen die Cella erleuchtete. Als er auf das Abbild des Iuppiters zutrat, mutete es ihm an, als bewegte sich das Bündel Blitze in dessen Hand, und auch die Augen schienen kurz aufzuleuchten, doch es mochte ein Trugbild der Beleuchtung sein. Den Zipfel seiner Toga über den Kopf gezogen, trat Gracchus vor Iuppiter hin, streute ein wenig Kassia über die Räucherkohlen und wandte seinen Blick zu ihm auf.
"Der Monat welchem Du seinen Namen gabst, hat seinen Anfang genommen, Iuppiter Maius, und ich bitte Dich daher, uns mit Deiner Kraft zur Seite zu stehen. Schenke uns Wachstum und Fruchtbarkeit. Ich bitte Dich, lass diese Deine Stadt, dieses Dein Reich wachsen, es erblühen in altem und in neuem Glanz."
Er hob den Kranz frischer Frühlingsblumen, welchen er bei sich trug, und legte ihn dem Iuppiter zu Füßen. Schließlich hob er auch seinen Beutel und zog daraus einen Opferkuchen hervor, welchen er frisch am Fuße des Berges erst erstanden hatte und der daher noch warm war. Er legte ihn auf den Gabentisch vor Statue und blieb noch kurze Zeit andächtig stehen. -
Ungeachtet derer, die ebenfalls warteten, ruckte Gracchus mit seinem Arm und gab Antonia damit zu verstehen, dass sie ihm folgen möge. Die Gelegenheit der gerade davongehenden Gratulanten wollte genutzt sein und auch, wenn die Höflichkeit gebot, das Ende der Reihe nicht zu stören, so gebot sie in diesem Falle doch nicht, sie nicht ein wenig umzusortieren und sich selbst ans Ende zu befördern.
"Tiberia, Vinicius, welch wundervoller Anblick euch an diesem Tag in Harmonie der Ehe vereint beieinander zu sehen. Claudia und ich sind natürlich nicht mit leeren Händen gekommen, auch wenn ein Ereignis wie dieses sich kaum durch Materielles würdigen lässt. Doch nehmt diese Gaben zum Anlass euch bei ihrem Anblick noch in vielen Jahren freudig an diesen Tag zurückzuerinnern."
Auf einen Wink eilten die Sklaven mit der Kiste herbei, nahmen den Deckel ab und schnitten die haltenden Seile durch, um auch die Seitenwände zu entfernen. Zum Vorschein kam eine makellose Statue der Göttin Abundantia, der Göttin des Überflusses, des Reichtums, des Erfolgs und der Schönheit. In der einen Hand hielt sie ein Füllhorn, aus welchem sie Münzen ergoss, in der anderen reife Ähren. Gracchus hatte es sich nicht nehmen lassen, den marmornen Blumenkranz auf dem Haupt der Göttin für den heutigen Tag mit einem Kranz frischer Blumen bekränzen zu lassen.
"Möge Abundantia euch immer reichlich segnen, auf dass ihr niemals irgend etwas Not leiden oder es euch an etwas mangeln solle. Möge sie euch Erfolg schenken und durch Schönheit erfreuen."
Er wandte sich der Tiberia zu und ein feines Lächeln kräuselte seine Lippen.
"Einer Statue Schönheit wird zwar die deine niemals übertreffen, doch möge diese Statue dein neues Heim bereichern, auf dass die Schönheit aus ihm auch dann nicht schwindet, wenn du das Haus verlässt."
Doch damit nicht genug. Auf einen weiteren Wink trat ein weiterer Sklave herbei. Gracchus nahm eines der in Tuch geschlagenen Pakete und reichte es Tiberia.
"Schönes sollte mit Schönem umhüllt werden, auf dass sein Reiz nicht verborgen bleibt."
Als er das zweite Paket nahm und es Vinicius gab, blitzte einen Moment lang reinstes Vergnügen in seinen Augen auf. -
Wiederum war am Morgen des Tages eine Sänfte von der Villa Flavia zur Villa Claudia getragen worden, wiederum hatte Gracchus dort seine Verlobte mit enigen Worten begrüßt, wiederum waren die beiden Sänften schweigend hintereinander durch die Straßen Roms befördert worden. Doch gegenteilig zum Vortag war das Ziel am heutigen Tage die Casa Vinicia und gegenteilig zum Vortag transportierte der Tross Sklaven zudem eine große Kiste und zwei kleinere Geschenke, welche in feines Tuch eingeschlagen waren, aus dem sich mancher Plebeier bereits eine Tunika schneidern würde.
Als sie die Casa Vinicia betraten blickte sich Gracchus interessiert um. Die Casa war nicht übermäßig groß, doch eines Senators würdig und ein wahrhaftiges kleines Schmuckstück. Einige Details stachen Gracchus ins Auge und er erfreute sich an dem Gedanken, dass sie das etwas magere Ensemble durch das Geschenk bereichern würden können.
Vor dem Brautpaar hatte sich eine regelrechte Schlange gebildet und Gracchus war wenig geneigt, sich mit dem einfachen Volk in eine Reihe zu stellen. Da dies jedoch ein halb plebeischer Haushalt war, sah er vorerst keine andere Möglichkeit und trat, Antonia führend und gefolgt von den Sklaven, die sich mit den Geschenken abmühten, auf das glückliche Paar zu. -
In seiner geschwungenen Schrift schrieb Gracchus recht lange und recht viel, obwohl er sich bemühte, sich nur auf die Antworten zu den gestellten Fragen zu beschränken. Schließlich jedoch klappte er die letzte der Wachstafeln zu, gab sie ab und nahm wieder Platz, um dem Ergebnis und der sicherlich folgenden Nachbesprechung zu harren.
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Aufmerksam hatte Gracchus dem Gespräch gelauscht und dabei mal den einen, mal den anderen Flavius beobachtet. Ein wenig rührselig war dies alles, doch Gracchus schluckte seine Ergriffenheit wacker mit einigen Bissen Fisch und etwas Obst hinunter und spülte mit reichlich Falerner nach. Er selbst hatte nur einen Bruder, dessen er sich wahrhaft schämte, und eine Schwester, die durch ihr Leben bei den Vestalinnen faktisch nicht mehr zu seiner Familie gehörte, und er musste sich eingestehen, dass er diesem Zusammentreffen mit einem geringen Funken Neid im Herzen beiwohnte. Zwar war er selbst, im Gegensatz zu den beiden Söhnen Felix', in dieser Villa und immer mit dem Wissen um seine Herkunft aufgewachsen, doch die Fügungen des Schicksals hatten dazu geführt, dass er sich nun selbst manches mal mehr als Gast in diesem Haus fühlte, denn als Mitglied einer Familie.
Während er seine Finger in einer Schüssel mit warmem Wasser reinigte und sie schlussendlich langsam mit einem weichen Tuch trocknete, malte er sich in Gedanken aus, wie er seinen Söhnen eine perfekte Erziehung zukommen lassen würde, so dass die Linie des Flavius Vespasianus in der nächsten Generation wieder mehr hervorbringen würde, als in seiner eigenen. Sie würden bei ihren Onkeln, den Censoren Furianus und Milo die Politik kennen lernen und erfahren, was es bedeutet, ein Staatsmann zu sein.
Einzig die Aussicht darauf, was vor den Erben und Söhnen noch anstand, nämlich die Hochzeit und ein Eheleben mit Antonia, trübten Gracchus diese träumerischen Gedanken ein wenig.