Als die Türe sich öffnete und Faustus eintrat erhob sich Gracchus - beinahe ein wenig erschrocken, dass es tatsächlich Serapio war, welcher dort in den Raum und gleichsam in sein Leben schritt, dass er tatsächlich gekommen war. Der Flavier trug eine Tunika aus edler Wolle in Farngrün, in Wellenform durchwoben und gesäumt von goldfarbenem Garn, darüber ein Pallium gleich edlen Stoffes in passendem, eine Nuance tiefer gefasstem Grün, denn schlussendlich war dies - auf gewisse Weise zumindest - ein gänzlich informelles Aufeinandertreffen.
"Faustus, ... salve"
, retardierte er die Begrüßung nicht minder vage und fasste die dargebotene Hand. Serapios Griff war ein wenig kühl, indes noch immer klar und fest, wiewohl in dieser Berührung mehr als eine Reminiszenz an die Sanftheit und Zärtlichkeit mitschwang, zu welchen diese Hände, diese Finger imstande waren, die Gracchus darob einen halb wohligen, halb fröstelnden Schauer über den Rücken gleiten ließen.
"Ich ... freue mich ebenfalls, dich zu sehen."
Wo war nur all die Contenance hin, welche seit seiner Kindheit Gracchus war doziert worden, jene sichere Fassade der kühlen Distanz, hinter welcher es sich so trefflich verstecken ließ, jene Farce der eigenen Präsenz, welche alle Emotionalität hinter sich barg? Mochte der Flavier Teile davon zweifellos auch durch die Konspiration und die daraus erwachsenen Ereignisse eingebüßt habe, Serapios nahe Präsenz und der Effekt seiner Berührung führten dazu, dass Gracchus sich fühlte als würde er gänzlich nackt im Raume stehen, verwundbar und intim verbunden zugleich. Dass der Handschlag nicht augenblicklich sich wieder löste realisierte er kaum, kam ihm gegenteilig mehr als zupass, denn obgleich es nur eine gebührende Geste war, eine Konvention zwischen alten Freunden, so war es doch eine Berührung - das Zusammentreffen zweier Körper ohne jegliche Barriere, das Verdrängen jeglicher Distanz, das kurze Verschmelzen zweier Leben, und da nur die Parzen wussten, ob und wann es jemals wieder eine solche Gelegenheit würde geben, schien dies beinahe wie ein kleines Zugeständnis an Gracchus' tiefstes Sehnen.
"Bitte"
, rang er sich schlussendlich dennoch durch, löste den Händedruck und wies auf die Klinen um den kleinen Tisch. Er nahm Platz - ein wenig hölzern in seinen Bewegungen - und blickte hernach in Faustus' Antlitz. Die spröde Auszehrung war daraus gewichen und obgleich die Spuren der Vergangenheit noch immer sichtbar waren, so verliehen sie dem Decimer doch mehr einen Hauch der Verwegenheit als der schattigen Tristesse. Selbst der Ansatz einiger grauer Strähnen im dunklen Haar an den Schläfen konnten seine Attraktivität nicht mindern, welche ob ihrer gemeinsamen Vergangenheit - und allfällig auch wegen der augenblicklichen Unerreichbarkeit - Gracchus nur noch adorabler schien als bei ihrer ersten Begegnung. Damals noch hatte er geglaubt der jugendlichen Ästhetik und athletischen Kraft eines Leibes verfallen zu sein, doch wusste er längst, dass er weitaus mehr in Faustus hatte gefunden, dass dort auf der Kline neben ihm - und doch unendlich fern - der verlorene Teil seiner eigenen Seele lag. Anmutig und edel schimmerten noch immer die blaufarbenen Augen, ruhig und ungestüm zugleich, similär dem endlosen Oceanos, und das Wissen, dass dies der Oceanos war, welcher nicht nur trügerische Sicherheit ihm vorgaukelte, sondern in welchem er tatsächlich sich konnte verlieren, schmerzte Gracchus so sehr, dass er seinen Blick abwandte und nach einer Antwort auf Serapios Frage suchte.
"Nun ..."
Zweifelsohne war die Frage nach seinem Befinden nicht gänzlich unvorhersehbar, wenn auch trotz allem ein wenig unerwartet, gleichsam war ihre Verbindung doch zu stark als dass Gracchus sie als Zeichen der Höflichkeit würde abwiegeln können. Keine Lügen mehr, dies hatte er sich fest vorgenommen.
"Um ehrlich zu sein ist die gegenwärtige Situation für mich überaus … abominabel."
Nun suchte er doch wieder den trauten Blick.
"Neuerlich steht Rom am Rande des Abgrundes und noch immer ist dies … eine Konsequenz meines Handelns. Ich verstehe schli'htweg nicht, wie Palma derart … unbesonnen konnte sein. Es geht hierbei doch nicht etwa um die widerspenstige Zurückweisung eines Begehrs aus ver..letztem Stolz oder gekränkter Eitelkeit - es geht um Rom, um das Schicksal tausender Menschen! Einmal diesen Fehler zu begehen … war doch bereits mehr als gräulich, doch ein weiteres Mal dies … mutwillig zu riskieren … ! Wenn dies … erneut zu einem Bürgerkrieg führen wird …"
Er schüttelte den Kopf als versuche er damit dies Schicksal abzuschütteln. Noch einmal das Blut tausender Römer an seinen Händen würde Gracchus nicht überleben, würde er nicht überleben wollen, nicht überleben können. Er hatte bereits die Grenzen dessen überschritten, was einem Menschen an Irrtum und Schuld konnte zugestanden werden, balancierte beständig am Abgrund und würde er noch einmal die Augen verschließen müssen vor dem, was er hatte verursacht, würde sein nächster Schritt ihn endgültig in die endlose Leere führen.
"Zudem … nun, du weißt selbst, dass ich jede Wahrheit eingebüßt habe. Einige Male mag ich ihr Antlitz schlichtweg supprimiert haben, doch … doch die Abkunft aller späteren Ent..scheidungen basierte auf einer Überzeugung, welche … welche wahrhaftiger, welche veritabler und wahrer mir nicht hätte sein können, und ... welche doch am Ende schlechterdings … als gänzlich falsch sich erwies."
Einige Augenblicke presste Gracchus seine Lippen fest aufeinander, ehedem er offen eingestand:
"Zum einen drängt es mich, diese Verantwortung für Roms Schicksal nicht von mir zu weisen, den wie ich überzeugt bin unheilvollen Vorgängen, welche sich augenblickli'h offenbaren, Einhalt zu gebieten, doch gleichsam … wie könnte ich je wieder mir anmaßen, eine gewichtige Entscheidung für Rom treffen zu wollen, wie könnte ich je wieder meiner Überzeugung Ver..trauen schenken? Ich habe nicht nur jede Wahrheit eingebüßt, Faustus, ich habe mit ihr auch jede Ermä'htigung, mit ihr jede Sicherheit meiner selbst verloren."
Und darüber hinaus jedes Anrecht, dies entgegengebracht zu bekommen. Mit einem schwachen Lächeln suchte Gracchus dies von sich zu weisen, realisierte er doch, dass das sonderbare atmosphärische Gemisch aus alter Familiarität und Unsicherheit über den Status quo ihn dazu verleiteten, sich in übermäßige Wortkaskaden zu flüchten. Keine Lügen mehr, doch gleichsam wollte er nicht die kostbare Zeit mit Faustus mit Lamentieren vertändeln, war dies doch zweifelsohne kaum, weshalb Serapio gekommen war.
"Verzeih ... ich ... habe nicht das geringste Recht, mich zu beklagen. Umso erfreuli'her ist es, dass du aus diesen Konsequenzen meines Handelns endlich entlassen bist, zumindest in primärer Hinsicht. Ich bin deinem Vater zu tiefem Dank verpflichtet."
Obgleich Gracchus' politische Achtung des Decimus Livianus zweifelsohne derzeit an einem Tiefpunkt war angelangt, so änderte dies doch nichts daran, dass jener es geschafft hatte, Serapio zurück auf eine veritable Position in die Gesellschaft zu integrieren - wenn auch dies politisch zweifelsohne neuerlich nicht gänzlich ohne Brisanz war.
"Ich hoffe, du konntest dich wieder etablieren in der Garde … und auch sonstig?"