Selbst in dem Falle da sie ihn gestört hätte, da ihre Anwesenheit ihm wäre unangenehm oder aufdringlich gewesen, Manius hätte - als der Fremde, welcher er hier war - niemals die Decima ihrer eigenen Bibliothek verwiesen, ob dessen ihm erfreulicherweise ein Sinnieren darüber erspart blieb, denn tatsächlich hätte er wohl in diesem Augenblicke nicht mit Bestimmtheit sagen können, ob ihre Gesellschaft ihn störte oder nicht. Einerseits drängte es ihn, über die Erkenntnisse des vorangegangenen Gespräches zu reflektieren, denn noch immer oszillierten die reagiblen Saiten seines Innerstes, angeregt durch etwas, das Seiana hatte gesagt, oder auch nicht gesagt, etwas das er nicht zur Gänze hatte apperzipiert, allfällig auch nur latent wahrgenommen, was jedoch von eminenter Bedeutsamkeit zu sein schien. Gleichwohl sah er sich einem inneren Zwang verpflichtet, sich neu zu definieren oder zu redefinieren, denn dass das fragile, hässliche Konstrukt der Lüge um ihn herum in sich war zusammen gebrochen, bedeutete gleichsam nicht, dass die Wahrheit in ihrem observablen Schimmer nun alles vermochte zu erleuchten, blieb ein diffuses, dissoziatives Zwielicht in ihm bestehen, und sofern er nicht Manius Aton war, so musste er spornstreichs eruieren, wer hinter all dem stand, musste gleichwohl entscheiden, ob er die abominable Chimäre, welche im Untergrund seines Gedankengebäudes hauste und nun sich quälend langsam regte, mochte die Herrschaft über sein Leben gewinnen lassen, oder ob allfällig es angebracht war, sie wieder zurückzudrängen - wenngleich er nicht im geringsten wusste, wie dies sollte oder konnte zu bewerkstelligen sein. Andererseits jedoch wurde Manius in diesem Moment ebenso von einem seiner primären Charakterzüge beherrscht - der Furcht und dem daraus erwachsenden Reflex zur Flucht -, und mochte ob dessen sich nur allzu bereitwillig in Ablenkung flüchten, welche die Anwesenheit der Decima zweifellos ihm würde bieten können, auf zudem recht angenehme Art, sofern er nicht sich dazu würde bemüßigt fühlen, jedes seiner Worte nun besonders gedankenvoll zu überdenken, um nicht mehr Wahrheiten noch von sich preis zu geben - wobei auch dies innere Diktat die Ablenkung nur würde noch steigern können.
"Im Gegenteil, ein wenig Gesellschaft wäre mir dur'haus angenehm."
Er folgte mit seinem Blick ihrer Bewegung zu dem Tisch hin, brauchte jedoch einige Herzschläge lang, um sich dessen zu entsinnen, an was er hatte gearbeitet, schien dies ihm doch nun beinahe wie aus einem anderen, vergangenen Leben. Nachdenklich trat er auf den Tisch zu, schob die Pergamente, welche einen Großteil des Textes abdeckten, bei Seite, und als er den Titel des Stückes vor sich sah, schob sich letztlich wieder ein Anschein von Wohlgefallen über sein Antlitz.
"Aischylos - Die Sieben gegen Theben."
Wie er den Titel des Stückes aussprach mochte dies klingen wie ein wahrhaft großartiges Abenteuer, an welchem er selbst hatte teilgenommen. Er wandte sich wieder zu Decima Seiana um.
"Kennst du es? Ich habe gerade erst be..gonnen, es zu studieren, doch bin ich bereits nach wenigen Passagen verzückt von der erhabenen Klangmelodie der Worte, wiewohl auch von deren augenscheinli'her Wahrhaftigkeit."
Sein Blick schweifte entrückt in die Ferne, durchdrang die Wände des Hauses um ihn her, blieb haften an der Komposition des Aischylos, welche einem sanft dahinplätschernden Fluss aus Nektar gleich die Worte ihm in die Sinne trug, dass er nurmehr begierig aus den Strom musste trinken, ihrem Klang musste Form verschaffen durch die Kraft seiner Stimme, die trotz der Lücken in seinen Worten - welche nicht dem Fluss selbst entstammten, sondern auf dem Weg zur lautmalerischen Umsetzung in ihm entstanden, welche gleichwohl er selbst nicht einmal perzipierte - noch immer von der extensiven rhetorischen Ausbildung zeugte, welche er in jungen Jahren hatte genossen und deren Kraft er weitaus lieber zur Rezitation von Gedichten oder Bühnenstücken aufwandt als zur Proklamation politischer Inhalte.
"Ihr Kadmosbürger, sagen, was die Zeit gebeut, muss, wer am Ruder wacht des Staates, Wohl und Weh be..denkend, niemals schlafberückt sein wa'hend Aug."
Obgleich der Fluss der Worte weiter floss, entzog Manius sich seinem Sog und kehrte mit seiner Aufmerksamkeit zurück in die Realität.
"Ist es nicht bemerkenswert, dass diese Zeilen bereits vor über fünf Jahrhunderten wurden abgefasst, und dennoch bis anhin regel..mäßig Staatslenker an eben diesem doch so simplen Gedanken scheitern?"
Beiträge von Manius Flavius Gracchus
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~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~
Goldfarbene Flammen loderten in den dürren Ästen der Bäume, tauchten die Welt in einen gierig züngelnden Widerschein und überzogen die ferne Stadt mit einer feinen Dunstwolke schimmernder Partikel aus Asche und Staub. Erst der grelle Schein der Sonne, welche in einem gleißenden Wagen über das Firmament hinwegrollte, erlöste das Fieber der Nacht mit tiefem Schlafe, ließ selbst seinen Abschied verblassen zu Bedeutungslosigkeit. Schatten erhoben sich, fielen in sich zusammen, doch seine Ohren verschlossen sich taub dem Ruf der Sirenen, denn Jahre schienen vergangen seitdem er zuletzt seinen Namen hatte ausgesprochen. Brennend im hellen Blau stieg das Licht kalt empor, doch wie in seiner Erinnerung lag auch in der Wintersonne keine Wärme verborgen, bot nur das reinigende Feuer den Schutz, nach welchem er so sehr sich sehnte. Er wollte verbrennen, verglühen, wollte gehen, sein Herz mit sich nehmen, zurück zu sich selbst, Seite an Seite mit den Flammen die Welt durchwandern, jene Orte suchen, an welchen die verborgenen Fragmente seines Lebens ihn erwarteten, die Sonne begraben samt ihrer Geschichte, die verlorenen Tage verbrennen lassen in der Hitze des Feuers, denn Licht und Schatten des Tages bekümmerten ihn nicht mehr.
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Als Manius am Morgen erwachte, stieg die kalte Wintersonne allmählich am Horizont empor, denn kein Feuer vermochte das Himmelsgestirn zu löschen, so dass auch in ihm weiter das fremde Leuchten alles überdeckte. -
Selbst Manius, welchem die Gedanken anderer, die Empfindungen und Emotionen seines Gegenübers oftmals rätselhaft und unergründlich waren, bemerkte, dass Decima Seiana genau zu realisieren schien, wer er war und was dies bedeutete, und einen marginalen Augenblick fühlte er sich versucht, sie zu fragen, was im Details sie wusste. Doch das Chaos in ihm selbst war zu groß, das Mosaik seines Leben ein zerwühlter Haufen, die fahrigen Schlieren des Nebels um die Reste seines Gedankengebäudes zu dicht als dass er dazu würde befähigt sein, im Angesicht eines anderen dort Ordnung hinein zu bringen. Er sehnte sich nach einem Ort der Stille, dem Garten der Musen allfällig, um seine Gedanken zu sortieren, um zu prüfen, was übrig blieb von der Wahrheit nach Abzug aller Lüge, um eine Struktur zu finden, welche ihm Halt bot. Die Sprachlosigkeit der Decima war ihm darob nur angenehm, gegenteilig waren es ihre Worte, welche ihn aus seinem eigenen Sinnieren wieder aufstörten.
"Danke"
, war schlussendlich alles, was ihm sinnvoll erschien auf ihre Worte hin, obgleich zeitgleich der Gedanke in ihm vorherrschte, dass dieses Haus nur ein besseres Gefängnis für ihn war, ein goldener Käfig womöglich, aber letztlich doch ein Käfig, und ohne Faustus im Grunde nicht einmal mehr golden. Dennoch bedeutete ihre Zusage weit mehr für ihn als einige simple Worte konnten ausdrücken, denn letztlich ging es nicht nur um sein profanes Wohl, sondern eher wohl um das nackte Überleben.
"Sofern es etwas gibt, das ich im Gegenzug tun kann ..."
Er stockte, denn es gab wohl kaum etwas, das er tun konnte. Er besaß weder materielles, noch ideelles Gut, im Augenblicke nicht einmal eine vollständige Existenz, da die Hülle des Aton um ihn her gefallen war und eine diffuse Leere hatte hinterlassen. Er hatte nichts zu bieten außer sich selbst, und dies mochte wahrlich wenig sein.
"Ich mag Alexandria nie gesehen haben, doch tatsä'hlich habe ich viele Werke studiert und dazu in diesem Raume in den letzten Wochen beinahe jedes Schrift..stück bereits in Händen gehalten und situiert. Falls du also noch ein Werk suchen solltest ..."
Er versuchte sich an einem schwachen Lächeln, welches ob der Absurdität des Augenblickes und der daran geknüpften Schmach jedoch ein wenig misslang.
"Es gibt vermutli'h inkompetentere Bibliothecarii als mich." -
~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~
Jede Hoffnung hinfortgeschwemmt von der Unbarmherzigkeit der Zeit, jede Zuversicht verloren in den dunklen Winkeln des Lebens, jede Aussicht auf Zukunft vergraben in der Vergangenheit. Schwarzfarben zog schweres Regengewölk über einen Himmel, welcher in Asche und Kohlestaub getaucht schien, dass jeder noch so winzige Schimmer verschluckt wurde von seiner Düsternis. Kalt und scharf schnitt das Geröll unter seinen Füßen ihm in die Haut, bohrten die Spitzen der Steine sich in sein Fleisch hinein, dass der dunkle Lebenssaft den Grund benetzte, zerrte ein eisiger Wind an seinem Leib, überzog ihn mit klirrender Kälte - doch längst spürte er keinen Schmerz mehr, längst spürte er nicht das leiseste Raunen noch in sich, hatte jegliches Gefühl aus sich verbannt in Furcht, dem Anblick seiner Existenz erliegen zu müssen. Weit war der Weg und trostlos, knorrige, verdorrte Bäume mit welken Blüten aus Pergament säumten das devastierte Land, boten den einzigen Anhaltspunkt der Entfernung, welche hinter ihm lag, welche vor ihm lag. Er mochte nicht sich dessen erinnern, was er zurückgelassen, was er verloren hatte, gleichsam nicht darüber sinnieren, was an seinem Ziel ihn erwartete, denn zu grausam war die Erinnerung, zu grauenvoll die Aussicht. Er mochte sich darniederlegen und zerfallen zu Bedeutungslosigkeit, doch sein Leib schleppte sich weiter, gönnte ihm nicht Rast, noch Ruhe, noch Erlösung, nur sein Geist driftete in apathischer Sinnlosigkeit dahin, dass er längst nicht mehr bemerkte, dass Steine und Äste sich beständig wiederholen, dass die rotfarbenen Spuren im Staub vor ihm von seinen eigenen Füßen stammten, dass er gefangen war in einem nie endenden Kreis.
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Es war eine wahrlich sonderbare Frage, welche Decima Seiana in den Raum warf, im Grunde gänzlich überflüssig, denn schlussendlich war er Aton aus Alexandria, Alexandria lag in Aegyptus, und jemand der einem Land entstammte, war zweifelsohne auch schon einmal dort gewesen. Quod erat demonstrandum. Doch durch die Belanglosigkeit der Frage, durch den offenen Blick, mit welchem sie ihn bedachte, die Art, in welcher sie die Worte unverblümt aussprach und wie sie dadurch mit Gewicht wurden versehen, schien sie das Abbild seines Gewissens zu sein, welches ihm bisweilen selbst diese und ähnliche Fragen stellte, trotz oder gerade wegen ihrer Belanglosigkeit. Letztlich mochte die Ausführung des Beweises durchaus tadellos sein, doch die Prämisse war schlichtweg falsch. Jeglicher Rest von Leichtigkeit wich von Manius' Antlitz, und von einem Augenblicke zum nächsten schienen die Spuren, welche die letzten Monate an ihm hatten hinterlassen, wieder deutlich zu sein, die Entbehrungen und Verluste, die Desperation ob allen Geschehens, der beständige Schatten über seinem Gemüt.
"Nein"
, bekannte er tonlos und weitaus freimütiger als es allfällig gut für ihn war. Doch Manius war seit jeher ein schlechter Lügner, im Grunde war er zumeist selbst der einzige, welcher bisweilen seine Lügen ihm abnahm, wiewohl die Lüge an sich ihm bereits derart zuwider war, dass sein Herz, sein Gewissen und sein Charakter ihn sogleich dazu drängten, das falsche Wort im erstbesten Augenblicke, welcher sich anbot, zurück zu nehmen.
"Es ist mir nicht gestattet"
, fügte er hinzu ohne näher darüber nachzudenken. Doch diese Antwort war seit langem der Grund auf die Frage des weshalb - schlussendlich träumte er seit langem davon, einmal Alexandria zu besuchen -, so dass es ihm nur plausibel erschien, dies zu erwähnen. Während im Äußeren indes nur wenige Augenblicke verronnen, führte das Eingeständnis in Manius' Innerstem dazu, dass jenes filigrane Geflecht seiner Existenz, welches in den letzten Wochen und Monaten sich mehr und mehr um ihn hatte verdichtet, welches letztlich womöglich ihn am Leben, zumindest aber davon abhielt, seinen Verstand dem Willen der Furien zu unterwerfen, in sich zusammenstürzte. Als würde die Zeit sich dehnen, flüssigem Honig gleich fließen, bröckelte die Fassade des ägyptischen Tempels, zogen sich Risse durch das Mauerwerk - zuerst feine, schmale Linien, dann unter dem Beben der Erde immer breitere Spalte -, bis dass schlussendlich das Konstrukt barst, einem Glas gleich, welches am Boden zersprang, in abertausende Stücke. Trist und düster erhob sich aus den Scherben der Lüge die Wahrheit, ein sich sukzessive zersetzender Palast, bleiche, stumpfe Farbe und verfallende Zier, dessen Dimension und Konstanz einzig von einstiger Pracht noch zu berichten wussten. Aton, die Sonne Ägyptens, versank - liquidiert durch eine einzige, simple Frage - hinter dem fernen Horizont, nahm allen Schein, alle Helligkeit mit sich, dass die dunklen, düsteren Wolken der Realität leichtes Spiel hatten, seine Welt wieder einzunehmen. Mochte auch das gesamte Ausmaß seiner Misere ihm nicht bewusst sein, doch wurde Manius in diesem Augenblicke gewahr, dass die dräuende Düsternis nicht nur sein Innerstes bedrohte, sondern die Wahrheit in diesem Hause aus gutem Grunde war verborgen gehalten worden, da die offenkundig ersichtliche Gefahr ihr inhärent war. Durchdringend wurde sein Blick als er suchte die Intentionen der jungen Frau vor ihm zu erahnen, ohne den ob der möglichen Fährnis in ihm aufsteigenden Wahn zu beachten zu entscheiden suchte, ob diese Situation aus einem aleatorischen Gespräch war erwachsen oder willentlich durch sie herbei geführt worden. Manius trat einige Schritte auf sie zu und obgleich er nicht übermäßig groß gewachsen war, die Decima dazu nicht übermäßig klein, so mochte die geringe Distanz zwischen ihnen allfällig ein wenig bedrohlich, zumindest jedoch konspirativ wirken, insbesondere da die Couleur seiner Stimme von großer Ernsthaftigkeit war geprägt - wenn auch der desolate Anblick ihres Antlitzes aus dieser Nähe ihn durchaus ein wenig irritierte.
"Es ist von eminenter Relevanz, dass du über dieses Faktum Dis..kretion wahrst, Decima Seiana. Faustus wird dies alles erklären können sobald er zurück kehrt."
Sofern er überhaupt je würde zurückkehren.
"Bis dahin ... bis dahin musst du darüber schweigen - nicht um meines Wohles willen, sondern ins..besondere auch um Faustus'."
Sein eigenes Wohl - das Wohl eines ihr Fremden, eines Lügners dazu - würde Decima Seiana wohl kaum tangieren, doch hoffte er, dass sie nichts würde unternehmen, ihren Bruder in Gefahr zu bringen - obgleich Manius sich nicht einmal sicher war, ob für Faustus seinetwegen überhaupt ein Risiko bestand, ob er nicht nur daran wollte glauben, um nicht sich eingestehen zu müssen, dass diese Bedrohung einzig für ihn gegeben, dass einzig sein eigenes Wohl in Bedrängnis war. -
Wie viele Stunden, Tage, Monate oder Jahre mochte lange andauern? Wie viele Stunden, Tage, Monate oder Jahre mochte zu lange definiert sein? Es war bereits lange her, dass die Absenz Faustus' Manius zu lange erschien, zu lange her allfällig, doch jede Stunde, jeder Tag änderte nichts mehr daran, dass es zu lange war, jeder Tag, jede Stunde, jeder Augenblick war nur ein weiterer Tropfen im endlosen Ozean der Zeit. Endlosigkeit, Ewigkeit - welcher Mensch mochte von sich behaupten, dieses Prinzip auch nur im Ansatze zu erfassen in der Lage zu sein, der er doch dazu war verdammt nur eines Bruchteiles der Zeit überhaupt sich entsinnen zu können - und doch glaubte Manius allmählich, eine Ahnung davon sich erlauben zu können, wie es mochte sein, zu endloser Ewigkeit des Wartens verdammt zu sein. Seine Sehnsucht nach Faustus stieg ins Unermessliche, hatte längst jede Stufe der Realität überschritten, war zu einer metaphysischen Sehnsucht erwachsen nach einem Ideal der Liebe, welches in dieser Art zweifellos in einem nahen Menschen niemals zu finden war. Würde irgendwer ihm Gewissheit bringen, dass Faustus womöglich längst gefallen war im Kriege, würde er seinen toten Leib vor sich sehen, die kalte, bleiche Haut berühren können - ohne Zweifel würde Manius ihm ohne Zögern, ohne Zaudern in den Tod folgen in der Überzeugung, dass ein Leben ohne Faustus wäre kein Leben mehr. Die Ungewissheit indes ließ ihm keine Wahl, verdammte ihn zu Leben und Warten, zu Sehnen und Wünschen, zu Hoffen und Bangen - jeden Augenblick, jede Stunde und jeden Tag auf ein Neues, stets gequält von der Frage, wie lange dieses lange noch mochte andauern.
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Im Norden nichts Neues - dies mochte alles oder nichts bedeuten, dass es schlichtweg noch nichts zu berichten gab, oder dass es bereits zu spät war, zu berichten, dass Faustus nichts berichtenswertes wusste, dass er keine Zeit hatte zu berichten, inmitten von Kämpfen steckte, oder nicht mehr konnte berichten, da er verwundet, gefangen oder tot war. Alles oder nichts. Und dennoch legte sich eine kalte Hand um Manius' Herz, presste es zusammen, dass ein eisiges Frösteln sich über seinen Leib hin ausbreitete, denn aus der Art seines Charakters und der darob in seinem Leben augenscheinlich angesammelten Erfahrung heraus vermutete er selten hinter dem Schicksal friedliebende oder vorteilhafte Gedankengänge, sah die Gefahr neuerlicher Desillusion stets viel ausgeprägter. Seianas Räuspern indes riss ihn aus den schlimmsten Befürchtungen heraus, zurück in die trübe Realität, welche zwar nicht sonderlich ergötzlich mochte sein, doch letztlich auch nicht überaus widrig, wiewohl ihre Frage schlussendlich gar erreichte, dass ein Lächeln sich über sein Antlitz legte, er in Erinnerung an jenen magischen Abend, welcher so bedeutsam war für ihre zwei Seelen, für einige Augenblicke gänzlich alle Sorgen vergaß.
"Wir haben uns auf einer Meditrinalienfeierli'hkeit kennen gelernt, in Transtiberim"
, gab er voller Enthusiasmus preis, eingedenk des Amüsements, der Pläsier und Verzückung, welcher das Ende dieser Feierlichkeit hatte für sie bereit gehalten.
"Wir teilten eine Kline und es wurde ein sehr ..."
Erst in diesem Augenblicke bemerkte Aton, dass die ausführlichen Details dieses Zusammentreffens kaum wohl dazu gereichten, vor einer letztlich ihm fremden Person ausgesprochen zu werden, mochte sie auch die Schwester Faustus' sein - oder gerade eben deswegen.
"... ein sehr ungewöhnli'her Abend."
Ohne sich dessen gewahr zu sein, dass zudem auch Transtiberim nicht zu der Geschichte seiner Herkunft mochte passen, suchte er die Aufmerksamkeit von jenem Abend wieder fort zu lenken, da eine nähere Betrachtung des Geschehens unweigerlich Dinge würde offen legen, welche besser im Verborgenen blieben.
"Seit dieser Zeit schreiben wir uns Briefe und teilen unsere Leidenschaft - "
Er stockte, denn obgleich er durchaus im Sinne hatte, diesen Satz durch eine Beifügung weiterer Worte zu anderer Bedeutung zu führen, verselbstständigte die Aussage sich zur Wahrheit, indem sein Innerstes einen Fortgang ihm verweigerte, so dass sie letztlich die Intimität ihrer Beziehung skizzierte, dass ein wenig Hitze Manius den Halse empor kroch, und der nachfolgende Augenblick der Stille - welcher in seinem Innersten angefüllt war mit einem Schwall von Emotionalität beginnend mit der endlosen Sehnsucht, und endend mit dem körperlichen Verlangen, welche ihn jeden Augenblicke fern seines Heroen quälten - maß dem weit mehr Bedeutung noch bei als es hätte sein müssen.
"Für Literatur"
, fügte Aton schlussendlich abrupt an, so dass es durchaus manieriert klang.
"Unsere Leidenschaft für Li..teratur."
Auch die Wiederholung des hastig konstruierten Tatbestandes ließ diesen nicht realitätsnaher klingen, so dass Manius suchte, sich in weitere Worte zu flüchten, die Mehrdeutigkeit seiner Aussagen dabei nicht unbedingt abmildernd.
"Und andere Dinge. " -
Zitternd stieß Manius Aton die Türe zu seinem Cubiculum auf, drückte sich in den Raum hinein, sobald der Spalt gerade breit genug war, und lehnte sodann sich gegen das Holz, dass niemand würde eintreten können. Aus dem tönerne Becher voll Wein, welchen er in der Küche hatte erhalten, war bereits die Hälfte des rotfarbenen Nass auf dem Weg zurück hinaus geschwappt, Brot und Käse auf dem Teller lagen ob der andauernden Vibration bereits gefährlich nahe am Rande. Langsam sank Manius in die Knie, ließ sich auf dem Boden nieder, dass Teller und Becher nurmehr aus geringer Höhe aus seinen Händen auf den Boden hinab fielen, doch während beide Geschirrteile unversehrt blieben, rutschte sein Abendmahl über den Tellerrand auf den Grund, gleichwohl der Becher kippte und der Wein in eine kleine Lache sich ergoss. Irrrelevant indes schien dies Manius, der verzweifelt suchte das Zittern seines Leibes unter seine Herrschaft zu stellen, das Umherirren seiner Gedanken dazu, ebenso die Furcht, welche in seinem Nacken sich hatte festgesetzt. Kurze Zeit zuvor hatte er gerade sein Essen in der Küche in Empfang genommen, hatte bereits sich angeschickt, den Raum wieder zu verlassen, als der Sklave Icarion triumphierend mit einer Tabula war erschienen und lauthals hatte verkündet, dass er eine Abschrift der letzten Meldung der Acta Diurna hatte erhalten können, in welcher der Hausherr Serapio über den Mord an Kaiser Valerianus war befragt worden.
Wer tötete den Kaiser?
hallten die von Icarion effekthascherisch in Szene gesetzten Worte in Manius' Geiste wider. Als wollte er ein Theaterstück aufführen war der Sklave durch die Küche stolziert, hatte die Frage zigfach wiederholt - in empörtem Tonfall, in Flüstern und Wispern, in zürnender Ernsthaftigkeit. Dann - Auftritt des Hausherrn, angekündigt durch ein Loblied mannigfaltiger positiver Charakteristika, in hochtrabender Couleur, ehedem er sich wieder der Abschrift hatte zugewandt.
Decimus - unser Herr Serapio! -: Eine Gruppe von Verschwörern aus den Reihen des Senates hat diesen Mord begangen.
Wie in Trance hatte Manius der weiteren Vorlesung beigewohnt, unfähig den Raum zu verlassen, in Furcht jede noch so kleine Bewegung würde dazu gereichen, ihn den Halt verlieren zu lassen, dabei nicht einmal dessen bewusst, weshalb die Worte ihn derart in Bedrängnis versetzten, doch mit jedem Satz hatte er mehr und mehr Zuversicht verloren, war mehr und mehr Beklemmung in ihm empor gestiegen bis das Martyrium nach einer gefühlten Ewigkeit endlich ein Ende hatte gefunden.
Das kann und darf, und sobald dieser Aufstand niedergeschlagen ist wird das auch nicht, ungesühnt bleiben. Das war's, Ende der Vorstellung und zurück an die Arbeit!
Als wäre nichts gewesen waren die Sklaven zu ihren Aufgaben zurückgekehrt, hatten ein wenig über ihren Herrn und die Geschehnisse im Imperium getratscht, doch Manius hatte nichts davon noch in sich aufnehmen können. Hastig hatte er die Küche verlassen, war durch die Gänge des Hauses geflohen und hatte mit jedem Schritte, mit jedem Tropfen Wein, welcher über den Rand des Bechers war geschwappt, auch ein Stück mehr seiner Contenance verloren.
"Ich"
, beantwortete Manius wispernd die essentielle Frage, welche in seinen Gedanken umherspukte, fürchtete sich dabei vor sich selbst und wusste doch nicht weshalb. Wo war er gewesen als der Kaiser war ermordet worden? In Alexandria? Auf der Überfahrt nach Italia? In Italia? Wie war er nach Rom gelangt? Allein? Zu Fuß? Mit einem Gefährt? Weshalb konnte er dessen sich nicht entsinnen? Weshalb zerrten und rissen die Antworten Faustus' derart an seinen Grundfesten? Weshalb hielt Faustus ihn seitdem versteckt? Es musste ein Bindeglied geben zwischen ihm, Faustus und den Geschehnissen um ihn her. Wer war er, Fremder aus Alexandria, dass dies alles ihn derart tangierte?
"Manius"
, flüsterte er als könnte dieser Name seine Existenz erklären und wohl rüttelte der Klang dieses Namens an seiner Erinnerung. Etwas war nicht richtig, etwas war falsch an seinem Leben, seiner Existenz, seiner Erinnerung. Er suchte es zu greifen, zu fokussieren allein mit seinem Willen, emporzuzerren aus der tiefen Dunkelheit an das Licht der Wahrheit.
"Aton."
Er war es, der dem Zweifel entgegen stand, er war es, dessen Klang ein Konstrukt aus Gedanken erschuf, welches ausreichend schien, ein Leben zu füllen, denn Aton war das Bindeglied seiner Existenz. Womöglich war er noch auf dem Schiff gewesen als der Kaiser starb, allfällig bereits in Italia. Vielleicht war er zu Fuß unterwegs gewesen, möglicherweise auch als Mitreisender auf einem Wagen. Weshalb sollte dies relevant sein? Er war Manius Aton aus Alexandria, er war nur zufällig in diese Wirren des römischen Imperiums hineingeraten. Er hatte nichts damit zu tun. Nichts. Zweifellos war es so. Musste es so sein. Konnte nicht anders sein. Denn letztlich war es ohnehin ein reichlich einfältiger Gedanke.
"Nichts"
, bestätigte er sich selbst, ehedem er sich – sein Leib noch immer beherrscht von leisem Zittern - anschickte, die Überreste seines Abendessens zu beseitigen. Er hatte nichts mit alldem zu tun. Nichts. Der Hunger indes war ihm dennoch vergangen. -
Gänzlich belanglos und selbstverständlich klang es als sie seinen Namen aussprach, ganz so als wäre nichts daran merkwürdig - was für Seiana letztlich wohl auch zutraf -, doch gerade diese Belanglosigkeit ließ die Nennung in Atons Ohren mehr als nur seltsam tönen, setzte eine Spur von Aversion in ihm frei, da tief in seinem Inneren sein Selbst sich ein jedes mal neuerlich sträubte gegen die Anerkennung dieser feindlichen Übernahme durch eine weitere Person seines Umfeldes.
"Ich danke dir, doch mangelt es mir in diesem Hause an ni'hts"
, erwiderte er der puren Höflichkeit halber, der infamen Lüge nur allzu schmerzlich bewusst, denn letztlich mangelte es ihm an allem, was auch nur den Hauch einer Essenz in sich trug - an einer Existenz, einem Sinn, einem Leben -, gleichwohl war dies zweifelsohne nicht das, was sie meinte, noch ihm hätte geben können. Nervös schlossen sich sodann Atons Finger um die Schriftrolle in seinen Händen, unbewusst sog er die Unterlippe zwischen die Zähne, während er nach einer Antwort auf ihre Frage suchte.
"Irgend... irgendeine Bib..liothek"
, suchte er schlussendlich eine länger währende Stille zu vermeiden, da keine passable Antwort ihm mochte einfallen.
"Ich ... habe vermutli'h schon … zu viele Bibliotheken be..sucht."
Die eigenen Worte bestätigend - mehr vor sich selbst als vor der Decima - nickte er.
"Ja, ver... vermutlich ist es so."
Schlussendlich war er der bibliothecarius. Aton. Der bibliothecarius. Aus Alexandria.
"Hier"
, hielt er ihr die Schriftrolle entgegen ohne ihr dabei in die Augen zu blicken. Er wollte fliehen in diesem Moment, da die Leere seiner Existenz sich derart deutlich abzeichnete, wollte nicht weiter mit Seiana sprechen aus Furcht keine Worte zu finden, doch gleichsam sehnte er sich nach nichts mehr als mit ihr zu sprechen. Zu tief war die Stille, welche in diesem Hause ihn sonstig umfangen hielt seit Faustus' Aufbruch, zu endlos und erdrückend, wenn auch gleichsam bisweilen tröstlich. Selten sprach er mehr als notwendig mit den Sklaven - allfällig wenn er seine Mahlzeit aus der Küche holte -, denn jenen Themenkreisen, welche dort vorherrschten, konnte er nicht nur nicht das geringste abgewinnen - etwa dass es noch immer nicht hatte aufgehört zu regnen, dass der Getreidepreis am Markt erneut gestiegen war, oder dass eine der Cubicularia sich regelmäßig mit einem Burschen aus dem Nachbarhause traf -, es fehlte ihm auch jegliches Geschick daraus ein andauerndes Gespräch zu formen, und wann immer er selbst suchte ein anderes Thema zu initiieren - etwa über den erhebenden Anblick des morgendlichen Wolkengetürmes, in welchem das Dunkel der Nacht war verschluckt worden vom gierigen Schlund des orangefarbenen Sonnenhofes, in dessen Mitte die goldfarbene Scheibe hatte gethront einer schimmernden Perle im Inneren einer Muschel gleich; über das diffizile Klangkonstrukt der Eklogen des Calpurnius Siculus und seine Theorie, dass der Dichter durch den darob in einem Leser evozierten Nachhall aus Exaltation hatte versucht, die geistige Auseinandersetzung mit den Worten weit über den Augenblick des Begreifens andauern zu lassen; oder angeregt durch eine unbedachte Äußerung des Koches (Bei Lateranus und Caca, wann schafft ihr es endlich, mir ein ordentliches Feuer zu schüren!?) über die Personifikation der göttlichen Prinzipien und die Möglichkeit eines durch die dadurch angenommene Körperlichkeit eingeschränkten Wirkradius eben dieser -, so hatte es stets den Anschein als würde er einer anderen Welt entstammen oder etwa eine Fremdsprache sprechen, denn die einzigen Reaktionen auf einen solchen Versuch waren Achselzucken, Kopfschütteln oder Nicken, letztlich gefolgt vom Abwenden seines Gesprächspartners.
"So dir Epyllia zusagen, findet allfällig auch die Batrachomyomachia, der Froschmäusekrieg, dein Gefallen"
, suchte er an ihre Auswahl anzuknüpfen, denn dass sie in die Bibliothek gekommen war mochte schließlich durchaus darauf schließen lassen, dass ein solches Thema ihr lag. Der Alltag jedoch, die Realität der Welt um sie her ließ sich nicht aussperren, wie er feststellen musste, nicht einmal aus diesem goldenen Käfig, welcher ihn fern der Welt hielt.
"Andererseits ist Krieg derzeit womöglich kein sonderlich er..bauliches Thema, selbst wenn es sich um einen solchen zwischen Fröschen und Mäusen handeln mag."
Was mochte Serapio wohl sein in diesem Krieg - Frosch oder Maus?
"Gibt es ... gibt es Nachri'hten von Faustus?"
Ein Funke von Hoffnung lag in der Couleur seiner Stimme, ein Funke von Bangen gleichwohl. -
~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~
Ein unwirkliches Gewühl von ineinander verkeilten, graufarbenen Wolkenfetzen bedeckte die weite Fläche, welche üblicherweise überzogen war von Himmel, aber auch von sonstiger Welt umher, ließ nur Raum für den schmalen Pfad vor ihm, und wich erst mit Ankunft an der weitläufigen, kolossalen Villa vor ihm hinfort. Ein wenig zaghaft, eingeschüchtert durch die schiere Größe und den Glanz des Gebäudes klopfte er schlussendlich an das hölzerne Tor. Das Geräusch eines Riegels war zu vernehmen, welcher beiseite wurde geschoben, fern und dumpf, sodann ein weiterer auf der anderen Seite der Porta, dann erschien das Antlitz des Alexandriners in einem Spalt, hinter ihm nur Dunkelheit.
"Salve, ich bin auf der Suche nach Manius Flavius Gracchus"
, erläuterte der Gast sein Begehr.
"Gibt es hier nicht"
, entgegnete Aton nur knapp.
"Aber er muss hier sein"
, beharrte der Gast.
"Bedaure, nein."
Atons Antlitz blieb unbewegt, einer Maske gleich.
"Aber ich bin ganz sicher, dass dies der rechte Ort ist."
"Der rechte Ort womöglich, doch die falsche Zeit. Hier lebe nur ich, Aton aus Alexandria."
"Kannst du allfällig nachsehen, ob er nicht doch hier ist?"
drängte der Besucher.
"Hier ist niemand außer mir!"
blaffte Aton nun seinerseits und schloss verärgert, ohne ein weiteres Wort die Pforte. Hastig trat er durch den schmalen Spalt aus Niemandsland, welcher zwischen der alexandrinischen Fassade und dem eigentlichen Gedankengebäude klaffte, zurück in das Innere der Villa. Düster und bedrohlich schienen ihm die Masken der Ahnen im Atrium, von welchen er kein einziges Antlitz mochte wiedererkennen, welche doch gleichsam schauerlich und bedrohlich jede seiner Regungen beobachteten, fremd waren ihm die Erinnerungen, Eindrücke und Empfindungen, welche im Rest des Hauses waren kultiviert worden, welche er nun achtlos an sich vorüberziehen ließ, die Flure mit schnellem Schritte zu durchqueren. Nurmehr der schwache Schein einer schmalen Kerze, deren heißes Wachs ihm beständig auf die Hand tropfte, leuchtete den Gang aus, an dessen Ende er die schwere, eherne Türe aufschloss, welche hinab zum Keller führte. Feuchtigkeit und Moder schlug ihm entgegen je tiefer er eindrang in das Labyrinth, dass beinahe ihm der Atem fehlte als er schlussendlich im hintersten Gewölbe den Riegel löste, welcher die grob gearbeitete Falltür geschlossen hielt. Vorsichtig hob er das schwere, eisenbeschlagene Holz an, lugte im klammen Schein der Kerze in das Verlies hinab, in welchem nichts zu erkennen war als Dunkelheit und eine Anhäufung von etwas.
"Manius Flavius Gracchus?"
flüsterte er, da jeder Laut dröhnend von den Wänden widerhallte, doch nichts änderte sich an dem tristen Bild.
"Manius Flavius Gracchus?"
widerholte Aton darob noch einmal ein wenig lauter, wagte jedoch nicht nachzufragen, ob er noch am Leben war. Träge kam ein Hauch von Bewegung in die Anhäufung von etwas, geleitet von einem unwirschen Brummen, bis im Schwarz der Tiefe zwei Augen waren zu erkennen, von welchen schwerlich zu sagen war, ob sie nur den Schein der Kerze reflektierten oder ob ihnen selbst ein Glühen immanent war. Eilig ließ der Alexandriner die Klappe der Falltüre zufallen und verschloss sie, zufrieden mit dem Wissen, dass dort unten noch Leben sich regte, und entfernte sich mit schleichendem Schritte. Die Dunkelheit umfing Gracchus nun wieder, hüllte ihn ein in den trauten Klang der stillen Einsamkeit, dass nur der Funke des Wahnsinns ihm blieb, welcher sein Herz noch wärmte. Irgendwann würde dieser zu einem Feuer entfachen, einem Inferno gleich alles um sich herniederbrennen, die fragile Fassade zerfressen und den falschen Aton gleich mit. Bis dahin schloss Gracchus wieder die Augen, schlief weiter in seinem Gefängnis aus dissoziativer Verdrängung und Vergessenheit.~~~
Als Aton in der Dunkelheit erwachte fröstelte, zitterte er am ganzen Leibe. Kalt war es geworden im Herzen des Imperium, kalt war es ihm um sein eigenes Herz, dass kaum die Decke ihn zu wärmen vermochte, dass er nicht einmal mehr noch den Funken konnte in sich verspüren, welcher ihn am Leben hielt.
"Faustus"
, flüsterte er in larmoyantem Tonfalle leise in die Nacht hinein, denn Faustus war das Bindeglied, das seine Existenz zusammen hielt, Faustus war die Erinnerung, welche ihm fehlte. Doch Faustus war im Krieg, weit fort, und hatte zweifelsohne weit gravierendere Sorgen als einen klandestinen Geliebten, welchem sein Leben war abhanden gekommen. Obgleich ihm schien, dass sein Wachen ewig währte, war Aton alsbald wieder in Schlaf versunken, hatte alsbald wieder vergessen, was ihn umtrieb. -
Ihren Namen, Seiana, hatte Serapio zwei oder dreimal beiläufig in Hinblick auf seine Schwester erwähnt, so dass Aton nun ihr Antlitz genauer betrachtete im Ansinnen, Similaritäten zu dem ihm so trauten Anblick Faustus' zu entdecken, um so fundamentieren zu können, dass dies tatsächlich jene Seiana war und nicht nur eine entfernte Verwandte gleichen Namens, so dass er nicht mehr umhin kam, der Spuren der Gewalt gewahr zu werden, welche er zuvor für ein unvorteilhaftes Spiel aus Licht und Schatten hatte gehalten, schon alleine deswegen, da ihm der Tatbestand einer handgreiflichen Aktion gegen eine Frau wie die Decima überaus absurd erschien. Es schien gleichwohl unbezweifelt, dass dies ein Werk von Menschenhand war, ob dessen in ihm der Impuls aufkam, zu Seiana heranzutreten, dies näher in Augenschein zu nehmen und Auskunft von ihr zu verlangen, wer für diese Blessuren war verantwortlich, und ob in Anbetracht der Absenz ihres Bruders bereits einer ihrer anderen Verwandten hatte für adäquate Satisfaktion Sorge getragen. Doch letztlich entsann Aton sich beizeiten, dass er nur ein Gast war in diesem Hause, ein unbedeutender Gast zudem, und mehr noch ein im Verborgenen gehaltener Gast, dass wohl kaum ihm derartiges Gebaren zustand, ob dessen er froh war, Seianas Frage zur Ablenkung nutzen zu können, obgleich auch dies zuerst ein gewisses Maß an Derangierung in ihm evozierte.
"Orosius?"
Im ersten Augenblicke wusste er nicht, worin dies sein Vorgänger mochte gewesen sein, denn letztlich war das, was er augenblicklich darstellte, in ihm nicht derart fest definiert, dass es allzeit ihm präsent war, zudem er selbst darin stets uneins, so dass es einige Herzschläge dauerte bis er im Geiste sich über seine eben erst geäußerte Vorstellung und dem Ort seines gegenwärtigen Wirkens zu dem bibliothecarius zurück hangelte, von welchem Serapio nur hatte angedeutet, dass es von eminenter Wichtigkeit war, dass er ihm nicht von Angesicht zu Angesichte gegenüber trat.
"Ah, ja, Orosius. Faustus hat ihn gen Westen entsandt, nach Massilia oder Arelate, sofern ich mich recht ent..sinne, um eine Abschrift der Tarpeia zu erstellen."
Da dies noch immer nicht seine eigenen Anwesenheit erklärte, fuhr er nach einem kurzen Zögern fort.
"Faustus und ich haben uns in Alexandria kennen gelernt, in jener Zeit als er bei der dortigen Legion stationiert war. Er sprach damals eine Invitation nach Rom aus, und als ich hier eintraf entbot er mir, die Schriften dieses Hauses zu studieren und glei'hsam für einige Zeit die Obhut über die Bibliothek zu übernehmen, so dass er Orosius mit der Aufgabe der Abschrift konnte betrauen. Dass auch Faustus alsbald Rom würde verlassen müssen, war zu diesem Zeitpunkt nicht vor..herzusehen, und er bat mich, zu verweilen bis er wieder zurückkehrt. "
An diesem Punkt glaubte Aton die Erklärung über seine eigene Person zur genüge ausgeführt zu haben, denn letztlich gab es ohnehin nicht mehr in seinem Leben, so dass er sich Seianas Anliegen zuwandte.
"Für vergnügli'he Kurzweil während langer Abende ist zweifelsohne ein Epos adäquat, allfällig die Argonautica, sofern du sie nicht bereits kennst. Ist dir Valerius Flaccus ein Begriff? Er hat die Argonautica neu verfasst - selbstredend anhand der Originalversion des Apollonios von Rhodos, doch nicht als bloße Übersetzung in das Lateinische, sondern in ganz eigener, er..frischender Art. Einen Augenblick ..."
Er trat an eines der Regale heran, suchte es von oben nach unten ab, stockte sodann jedoch in seiner Suche.
"Ich ... ich fürchte, es war eine andere Bib..liothek, in welcher ich es gelesen habe."
Eine Art von Melancholie lag in der Couleur seiner Stimme, denn es war seine eigene Bibliothek gewesen, welcher er sich entsann, und nicht etwa in Alexandria, sondern an einem Ort, an welchen eine tiefe Sehnsucht ihn zurück zog auch ohne dass er dessen sich bewusst war.
"Womögli'h in einem anderen Leben"
, murmelte er vor sich hin, dass es für Seiana wohl nurmehr ein Flüstern war. Sodann fiel der Schatten der Vergangenheit wieder ab von ihm als er sich zu ihr umwandte.
"Den Schild des Herakles habe ich indes unzweifelhaft in diesen Bestand situiert, ein Eypllion des Hesiod. Wäre dies all..fällig eine Alternative für dich?" -
Zunächst glaubte Manius ein Echo der Muse Calliope in seinen Sinnen zu vernehmen, allfällig auch seine eigenen Wunschgedanken, welche beiden - Faustus und Aton - die unwahrscheinliche Rettung wollten zugedacht wissen, doch während seine Wunschgedanken nicht in einer derart wohlklingenden Stimme in ihm widerhallten, so war es nicht der Calliope Art, sich für etwaige Unterbrechungen seines Gedankenflusses zu entschuldigen - schlussendlich war sie eine Muse und dies ihre Aufgabe! Als ihm ob dessen wurde gewahr, dass nur ein Gespinst der Larven oder aber eine Person der Realität verantwortlich konnte sein für die Unterbrechung, drehte er seinen Oberkörper ein wenig abrupt, erhob sich indes sogleich als er Decima Seiana entdeckte - seine Rolle mochte die des alexandrinischen Gelehrten sein, doch sein Habitus und seine Präsenz waren noch immer jene eines Patriziers, Pontifex und Senators, insbesondere da er sich dessen nicht mehr bewusst war, dass sein Leib die lebenslange Prägung seines Daseins nicht konnte verhehlen - und ließ ein feines Lächeln seine Lippen umspielen. Er kannte Seiana nicht, nicht nur da sie selbst es vermied mit der Familie zu speisen, sondern ebenso da auch er dies scheute - obgleich es nicht ungewöhnlich wäre gewesen, dass ein freier Gast des Hauses ab und an teilhatte an der familiären Cena. Doch war ihm stets in Sinnen, dass Faustus ihn vor allem anderen in diesem Hause versteckt hielt, wenngleich er den Grund dafür längst aus seiner Aufmerksamkeit hatte verdrängt, so dass er zumeist seine Mahlzeiten sich aus der Küche mit in sein Cubiclum nahm, darob nicht einmal genau wusste, welche Decima derzeit überhaupt das Haus bewohnten. Doch die junge Frau gab nicht den Anschein einer Sklavin, so dass sie entweder ebenfalls ein Gast oder aber eine Decima musste sein.
"Es ist nichts geschehen, das eine Verzeihung würde be..dingen."
Zum einen hatte sie zwar sein Studium der Schrift unterbrochen, andererseits jedoch war er schlussendlich der Bibliothekar - zumindest stellte er dies augenblicklich dar, obgleich wohl mittlerweile jeder in der Casa wusste, dass er hauptsächlich aufgrund seiner Liaison zu Faustus in der Casa weilte -, so dass es unter anderem seine Aufgabe war, lesewilligen Decima entsprechende Schriften zu suchen oder diese zurück zu nehmen.
"Mein Name ist Aton"
, begann er ob dessen, zögerte einen Augenblick, ehedem er hinzufügte:
"Manius Aton. Ich bin der ... bibliothecarius ... dieser Bibliothek."
Laut ausgesprochen klang es überaus seltsam.
"Suchst du eine Schrift? Einen speziellen Titel, etwas Kurzweiliges oder ein sp..ezifisches Genre?"
Außer Sklaven, welche Schriften hatten zurückgebracht, die in den Cubicula waren liegen geblieben, hatte bisherig noch niemand ihn in seiner Funktion als Bibliothekar angetroffen, doch Aton hatte sich diesen Augenblick bereits des öfteren in Gedanken ausgestaltet - similär zu seiner Vergangenheit -, so dass seine Frage tatsächlich ein wenig einstudiert klang. -
Der Posteingang von »Decima Seiana« ist leider zur Gänze befüllt, dass nicht einmal noch ein kurzer Satz dort Platz findet.
-
Versonnen blickte Manius Aton in das Licht der Öllampe auf dem Tisch voller Pergament - der Winter schien ihm selbst am Tage zu trist als dass der trübe Schein des wolkenverhangenen Himmels ihm genügte - und rezitierte leise.
"O Zeus und Gaia und ihr Götter dieser Stadt! Erinnys meines Vaters, allgewaltger Fluch! Nicht tilgt mir so die wurzelaufhinsterbende Kadmeerfeste, feindbewältigt, mitgewohnt der Griechenspra'he, nicht der Heimat Herd hinweg!"
Ein kurzer Augenblick der sammelnden Stille folgte, ehedem er noch einmal repetierte, ein wenig mehr Couleur diesmalig in seine Stimme legend.
"O Zeus und Gaia und ihr Götter dieser Stadt! Erinnys meines Vaters, allge..waltger Fluch! Nicht tilgt mir so die wurzelaufhinsterbende Kadmeerfeste, feindbewältigt, mitgewohnt der Griechensprache, nicht der Heimat Herd hinweg!"
Sodann blickte er wieder auf das Pergament vor sich, schob die beiden leeren Blätter darüber eine Zeile weiter und las, die Worte dabei murmelnd:
"Dies freie Land darf, diese teure Kadmosburg das Joch der Kne'htschaft nun und nimmermehr umfahn ... Dies freie Land darf, diese teure Kadmosburg das Joch der Knechtschaft nun und nimmer..mehr umfahn."
Neuerlich blickte er empor, die Worte nun klar und deutlich vor Augen in seinem Innersten ablesend.
"O Zeus und Gaia und ihr Götter dieser Stadt! Erinnys meines Vaters, allge..waltger Fluch! Nicht tilgt mir so die wurzelaufhinsterbende Kadmeerfeste, feindbewältigt, mitgewohnt der Griechensprache, nicht der Heimat Herd hinweg! Dies freie Land darf, diese teure Kadmosburg das Joch der Kne'htschaft nun und nimmermehr umfahn."
Ein sublimes Lächeln umschmeichelte seine Lippen beim Klang der Worte, umfingen sie ihn doch mit einer warmen Wonne beinahe schon vergessen geglaubten Genusses. Es war an den Meditrinalia gewesen als Manius begonnen hatte, den anmutigen Liebreiz längerer Texte wieder für sich zu entdecken. Noch immer war es ihm unmöglich, Zeile um Zeile eines Blattes in sich aufzunehmen ohne dabei beständig in der Folge dieser Zeilen zu verrutschen, dass die Bestandteile des Textes wahllos sich vermengten zu gänzlich absurdem Inhalt. Doch Faustus' Gedicht in seiner Gänze hatte er nicht einfach nur sich vorlesen lassen wollen, er wollte es in sich verschlingen, tief in sein Herzen aufnehmen, dass niemand je wieder es ihm würde nehmen können. So hatte er ein leeres Pergament zu Hilfe genommen und den Text damit abgedeckt bis auf die erste Zeile. Am ersten Tage hatte er diese verinnerlicht, am nächsten sodann das leere Pergament eine Zeile nach unten verrückt, wiewohl die oberste mit einem weiteren Blatt verdeckt, so dass er in Ruhe die zweite Zeile hatte auswendig lernen können. Erst am dritten Tag war der Gedanke ihm gekommen, dass dies nicht nur zum Verinnerlichen so würde gelingen müssen, sondern gleichsam auch, um längere Texte schlichtweg nur zu lesen, ohne dass dabei seine Aufmerksamkeit würde derangiert werden. Voller Elan hatte er darob in der Bibliothek sich ein Stück gesucht, welches inhaltlich ihm noch nicht geläufig war - Aischylos, die Sieben gegen Theben - und rückte seitdem die beiden Pergamente Zeile um Zeile. Zwar war dies mühsam, denn obgleich er den Text nicht wollte auswendig lernen, musste er doch ihn abschnittsweise verinnerlichen, da einzelne Zeilen herausgerissen aus dem Kontext selbstredend längstens nicht derart ästhetisch sich präsentierten wie in ihren Kontext eingebunden, gleichwohl bereitete ihm das Studium der Schrift eine derartige, lange vermisste Pläsier, dass er gerne diese Mühe auf sich nahm, beinahe sogar darüber die Misere seiner Existenz, der Abwesenheit Faustus' und des Bürgerkrieges konnte vergessen.
"Gönnt Rettung; beiden, uns und euch, frommt, was ich bat, des Glückes froh ehrt ihre Götter auch die Stadt!" -
Aus seinem Cubiculum schlich Manius mit dem Messer in seiner Hand durch die Gänge des Hauses, welche zumeist in schummriges Flammenlicht waren getaucht, bis zu dem kleinen Hausaltar, an welchem die Decima ihre Ahnen und die Götter verehrten. Obgleich es nicht seine Ahnen waren, so waren es doch seine Götter - hoffte er doch, dass sie nicht alle ihn hatten verlassen -, wiewohl es keinen Altar oder Tempel gab, welcher sonstig ob seines Exils inmitten Roms für ihn wäre erreichbar gewesen. Vor dem Schrein verharrte er einige Herzschläge, ehedem er leise sein Gebet sprach.
"Mens aeterna, gütige Göttin, Wä'hterin über Verstand und Bewusstsein, ich bitte Dich, schenke mir Deine Aufmerksamkeit für diesen Augenblick. Mit leeren Händen stehe ich vor Dir, denn nichts ist mir ge..blieben, nichts besitze ich noch an materiellem Wert, selbst die Klinge und Flamme für meine Gabe muss ich entlehnen."
Er hob ein wenig die Klinge in das goldfarbene Kerzenlicht.
"So bleibt mir nichts, als Dir ein Teil meiner Selbst zu geben, doch tue ich dies mit Freude, große Mens, dass Du mir Deine Gunst gewährst und mir zurückgibst die Herrschaft über meinen Ver..stand und mein Bewusstsein."
Er hob das Messer und begann langsam, ein wenig ungeschickt sich eine Strähne seines Haares damit abzutrennen.
"Mens aeterna, Wächterin über Verstand und Bewusstsein, dieser Teil meines Leibes sei Dir gegeben aus freien Stücken, gütige Göttin, Dein Wohlwollen und Deine Gunst zu erbitten, dass Du mir die Ma'ht zurückgeben magst über meinen Verstand."
Vorsichtig hob er das Büschel Haare über die Flamme der Kerze, dass alsbald ein abominabler Geruch nach Verbranntem sich um den Altar herum ausbreitete. Beinahe versenkte Manius sich noch seine Finger, zog sie hastig zurück und unterdrückte einen in sich aufsteigenden Fluch. Mit der Linken fasste er sodann wiederum das Messer fest, hob die Rechte und schnitt mit einer schnellen Bewegung in deren Handfläche. Ein wenig wurde ihm blümerant vor Augen, wiewohl er vermied auf seine Hand hinab zu blicken, fühlte nur die warmen, zähen Tropfen, welche hinab in die Opferschale perlten.
"Mens aeterna, … Wächterin über Verstand und Bewusstsein ..."
Er musste seinen Geist zwingen, sich auf die Worte zu konzentrieren, allein ob des Gedankens an den Fluss seines eigenen Blutes nicht eben das Bewusstsein zu verlieren, um welches er bat.
"Dieser Teil meines Lebens ... sei Dir ge..geben aus freien Stücken, gütige Göttin, ... Dein Wohlwollen und Deine Gunst zu er..bitten, dass Du mir die Macht zurück eben magst ... über mein Bewusstsein."
Tief sog Manius Luft durch seine Nase, jene Luft welche noch immer erfüllt war von verbranntem Duft, und augenscheinlich schien der Einfluss der Göttin bereits zu wirken, denn mit der Beendigung seiner Bitte wurde ihm bewusst, dass er letztlich ein wenig überfordert war mit der Wunde in seiner Hand, dass er nicht einmal ein Tuch hatte mit sich genommen, den Schnitt zu schließen oder zu säubern, so dass ihm nichts übrig blieb, als die Hand noch ein wenig länger über die Schale zu halten in der Hoffnung, dass die Tropfen von selbst würden versiegen. -
II - III
Es war bereits dunkel vor dem Fenster, nur eine einsame Öllampe tauchte den kleinen Raum in ein honiggoldfarbenes Licht, ließ indes die Schatten des Raumes in ihrer dumpfen Düsternis verharren. Ein Teller mit Fladenbrot, einem kleinen Stück kalten Hühnerfleisch und einigen Oliven stand unangetastet auf dem dreibeinigen Tisch, ein noch unbenutztes Messer daneben, wiewohl ein leerer Becher, in dessen Bauch nurmehr einige rotfarbene Tropfen Wein schimmerten. Manius saß auf dem Bett, in sich versunken, der Leib eingesunken, den Blick hohl auf den Fußboden gerichtet und doch nicht im gegenwärtigen Geschehen verhaftet. Als er seine Augen schloss konnte er noch immer die Bewegungen des Tages fühlen, einem Nauta gleich welcher an Land stets das Schwanken der Schiffsplanken unter sich konnte spüren, konnte noch immer das Rascheln der Schriftrollen und Pergamente in seinen Ohren vernehmen, das Flimmern des Staubes in seiner Nase perzipieren. Er sehnte sich nach Stille, nach der bedingungslosen Stille traumlosen Schlafes, doch schon ein einzelner Tropfen Regen auf die Ziegel des Daches, ein einziger Lufthauch in den kahlen Ästen des Baumes vor dem Haus, nur das Seufzen eines Borkenkäfers in dessen Rinde gereichte ihm bereits dazu, die Stille gleich sich selbst zu verlieren. Nurmehr das Aufbegehren eines Sturmes, eines gewaltigen Unwetters würde noch ihn bewahren können vor Unheil und Schmerz, doch nichts dergleichen geschah, nichts dergleichen ließ er geschehen. Er verschwand einfach, erlosch. Er würde seine Schuld ertragen können, mit einem sublimen Lächeln im Gesicht, den Kopf erhoben im Wissen um die sonderbaren Grausamkeiten der Götter, denn letztlich war auch der Narr, welcher im Namen der Götter handelte, nur ein Narr. Doch er hatte seinen Weg verloren, er verschwand einfach, erlosch, ohne ein Wort, ohne eine Zeile, ohne ein Lächeln des Abschieds, denn längst konnte er nicht mehr darauf vertrauen, dass seine Füße noch verlässlich einen Pfad fanden. Eine leere Hülle nahm seinen Platz ein, ein Gesicht ohne Vergangenheit, ohne Leben und Erinnerung, welches nur eine Fassade konnte präsentieren, um die Welt zu täuschen - doch nicht sich selbst. Bisweilen versuchte Manius sich selbst zu erwecken, suchten in seinem Inneren die Reflektionen seiner Vergangenheit ihn wach zu rütteln, die Mauern einzureißen, welche er sich selbst hatte geschaffen, doch stets triumphierte sein Gemüt über diese Schatten, verbannte sie zurück in tiefe Versenkung, um nicht über die Wahrheit der Realität den Verstand zu verlieren, bemerkte dabei nicht, dass er selbst dabei verschwand, erlosch. Ohne Faustus, welcher ihn an seinen letzten Sinn gemahnte, welcher diesem trostlosen Dasein noch seine letzte Daseinsberechtigung verschaffte, begann jedoch sukzessive auch Atons Existenz zu bröckeln, blieb ein ratloser Manius zurück, welcher nicht mehr wusste, was an sich er noch konnte glauben, was überhaupt noch von ihm wahrhaftig war und was nur ein Trug. Als ein fernes, undefinierbares Wispern ihn zurückholte in die Gegenwart, erhob er sich, nahm das Messer vom Tisch und verließ den Raum.
-
Ein weiteres Schriftstück aus dem Korb voller noch nicht sortierter Schriften fand seinen Weg in Atons Hände. Er drehte das kleine Schild, welches an der Rolle befestigt war, und las den Namen des Autors - Gaius Plinius Caecilius Secundus.
"Ah"
, bemerkte er beifällig.
"Plinius Minor."
In diesem Augenblicke jedoch, als der Name des jüngeren Plinius über Manius' Lippen war geflossen, geschahen mehrere Dinge gleichzeitig - intrinsisch wie extrinsisch. Im Äußeren weiteten Atons Augen sich, wie sein Blick starr wurde, alle Kraft floss aus seiner Hand, dass seine Finger sich lösten von dem Pergament, so dass die Schriftrolle angezogen von den Kräften des Erdbodens unaufhaltsam dem Grund entgegen fiel. In seinem Inneren indes brachen einige Konstrukte seiner sorgsam errichteten Fassade in sich zusammen, gaben durch einen krummen Spalt den Blick frei auf ein zerstörtes Gebäude, auf verwüstetes und brach liegendes Land, in welchem kein Schimmer, keine Couleur mehr vorherrschend war, jeder Lichtstrahl verschluckt wurde von Schatten und Düsternis, jede einst allfällig vorherrschende Schönheit und Anmut überzogen war von Moder und Staub.
"Minor"
, echappierte ihm als mit einem leisen, dumpfen Schlag die Pergamentrolle auf dem Boden aufschlug, ein Ton, welcher viel zu gering, viel zu unbedeutend war, um die Bedeutsamkeit dieses Ausspruches zu unterlegen, denn Manius wusste, dass noch ein Donnerschlag, dass ein Erdbeben wären zu leise gewesen, diesen Namen zu geleiten.
"Minor"
, flüsterte er noch einmal, schüttelte hernach langsam den Kopf, so als könne er die quälende Reminiszenz damit aus seinen Gedanken treiben, doch der Schmerz, die Gewissensbisse und die Last seiner Schuld lagen schwer über ihm, einem dunklen Tuche gleich, das über ihn gebreitet war, einem Berg aus Erde, welcher über ihm war aufgehäuft worden. Sukzessive neigte sein Kopf sich bis dass die Schriftrolle wieder in seinen Blick geriet, doch es war nicht Plinius, dessen Signifikanz ihn derart derangierte, es war Minor. Minor. Manius Minor.
"Manius Minor"
, suchte er den Klang des Namens zu erfassen, welcher ihm so traut, so teuer zu sein schien.
"Manius Aton Minor."
Aton zerstörte die Vertrautheit binnen weniger Herzschläge, zerstörte das heimelige Gefühl, nach welchem Manius sich beständig sehnte. Allfällig war es nur ein Trug, ein Fetzen aus einem Alb, welcher aus der zurückliegenden Nacht geblieben war, gänzlich ohne Bedeutsamkeit. Einige Augenblicke noch kämpften in ihm Bewusstsein und Erinnerung, Lüge und Wahrheit um die Vorherrschaft, dann vertrieb Aton blinzelnd die Unsicherheit aus seinem Selbst, bückte sich und hob die Schriftrolle auf. Nur ein leises, fernes Flüstern der Unsicherheit blieb aus seiner Tiefe, während er damit fortfuhr, die Schriftstücke der Bibliothek zu ordnen, seiner Existenz einen Sinn zu verschaffen. -
Hinfort - seit Tagen bereits war Faustus hinfortgeweht durch die lauen Winde des Schicksales, welche längst zu einem aufbrausenden Sturme sich hatten geformt, der unbarmherzig hinwegfegte über Rom und das gesamte Imperium Romanum, allerorten Söhne, Väter, Brüder und Männer entwurzelten Bäumen gleich aus ihrem Leben riss, sie in einen Krieg zu führen, welcher alles würde verändern. Zurück blieben Mütter, Töchter, Schwestern und Mütter, in Sorge und Gram - und Aton. Manius Aton, der in sich spürte, dass dies alles, dies wuchernde Geschwür ihrer Zeit, letztlich aus seiner Schuld heraus war geboren worden, er es hatte genährt, gepflegt und protegiert, wiewohl es ursprünglich gar noch weit älter war als er selbst. Im Grunde musste dies wohl der konturlose Fluch sein, welchen er seit jeher auf seinen Schultern hatte gespürt, der Fluch seiner Familie, welcher der Preis war für eine Zeit als kaiserliches Geschlecht, der Preis für eine kurze Periode des Ruhmes, einen kurzen Triumph in der Endlosigkeit der Geschichte. Lag darob also der Anfang in ihm begründet oder war auch er nur Spielball des Schicksals, unfähig sich seiner Aufgabe im großen Kessel des Lebens zu entledigen? Beständig quälten Manius diese Gedanken, von welchen er glaubte, dass sie nicht die seinen waren, dass sie aus einem anderen Hirn mussten stammen, denn sein einziger Gedanke galt Serapio, galt der Sehnsucht und der Sorge um den Geliebten im Krieg. Zuvorderst grämte er sich in seinem Cubiculum, zeichnete komplexe Muster in die dünne Schicht aus Staub, welche sich unter dem Bett hatte angesammelt - duldete er doch keinen Sklaven in seiner Anwesenheit in diesem Raume, so dass es auch für den Cubicularius nicht einfach war, sich um dieses Zimmer des Hauses zu kümmern. Doch als aller Staub zur genüge war bewegt worden, als der Ausblick auf Wände und Möbel ihm fad und desperierend wurde, als niemals die Türe noch sich öffnete, um seinen geliebten Faustus einzulassen, mochte Aton nicht mehr dort ausharren in defätistischer Untätigkeit. Aus diesem Grunde also hielt er sich vermehrt wieder in jenem Raum auf, über welchen er vordergründig die Obhut hatte übernommen - in der Bibliothek, in welcher die Gens Decima über Jahre hinweg durchaus eine stolze Sammlung an Schriftstücken hatte angesammelt. Indes hatte der vorherige Bibliothecarius alle Werke geordnet nach alphabetischer Reihenfolge der Autoren und innerhalb dieser Cluster wiederum nach alphabetischer Reihenfolge der Titel - eine Sortierung, welche Manius derart geistlos anmutete, dass allein das bloße Wissen darum ihm als palpables Brennen auf seiner Seele deutlich war. Diese Art der Katalogisierung schien ihm in etwa als würde ein Dichter für sein Werk Buchstaben mit Nummern kennzeichnen und so zusammensetzen, dass in jeder Zeile eine bestimmte Quersumme wurde erreicht, ganz ohne dabei auf Sinn, Klang und Schönheit der entstehenden Worte und Sätze zu achten. Aus diesem Grunde also hatte Manius Aton die zurückliegenden Tage damit verbracht, die Bibliothek der Decima neu zu ordnen - sich ein wenig Platz geschaffen für einen Anfang, hernach die Schriften nach seinem eigenen Ordnungsprinzip herausgesucht und dem neuen System gemäß platziert. Jene Katalogisierung basierte auf der emotionalen Anrührung, welche die Klangfarbe des Titels in Manius evozierte, und dass außer ihm niemand dieses System würde nachvollzieren können war für ihn in diesem Augenblicke weder im Fokus seiner Aufmerksamkeit, noch von marginalstem Belang.
"De viris illustribus ... viris ... illustribus ..."
, murmelte Aton den Titel des Werkes eines gewissen Sueton vor sich hin - ein Name, welchen er in den letzten Jahren bereits einmal hatte gehört im Zusammenhang mit aufstrebenden Talenten ihrer Zeit, dessen Werk er jedoch nicht kannte.
"De viris illustribus ... illustribus ..."
Er zog das erste i der Männer ein wenig und legte besondere Betonung auf das erste U, nickte dann zufrieden. Dies klang zweifelsfrei nach einem grünstichigen Blau, nicht gar so hell wie Eisblau, aber auch noch nicht Türkisblau, mehr von einem zarten, luziden Hauch Grün belegt. Mit wenigen Schritten war er bei der entsprechenden Sektion, welche zwischen Meerblau und Lindgrün angesiedelt war, und legte die Schriftrolle dort zu Ciceros De finibus bonorum et malorum, das ebenfalls dort eingeordnet war - wenngleich dieses Werk ein wenig mehr zu Meerblau hin tendierte, gar durchzogen war von einer leichten Brise frischer Seeluft, welche ihn an frühere Zeiten erinnerte, die Küste, allfällig in Aegyptus, allfällig an einem anderen Ort seines Lebens. -
'Wenn der Krieg erst vorbei ist' hallte es in Gracchus' Sinnen wider. Wenn der Krieg vorbei war, würde mindestens einer von ihnen auf der Seite der Verlierer stehen, allfällig nicht einmal mehr am Leben sein. Unerbittlich also dräute letztlich der Triumph der Parzen, welche seit jeher in ihrer Ranküne diese Liaison ihnen hatten verwehren wollen, welche die Unmöglichkeit dieser Liebe nicht nur an den gesellschaftlichen Ständen und Alltäglichkeiten ließen scheitern, sondern sie immer wieder gänzlich auseinander rissen. Und nun, da nicht einmal das endlose Mare internum, da nicht einmal alle Wirrnisse klandestiner Kommunikation sie hatte entzweien können, hatten die maliziösen Schicksalsweberinnen also entschieden, sie endgültig auf die Seiten zweier antagonistisch wirkender Kräfte zu stellen, von welchen nur eine würde obsiegen - dass einer von ihnen und damit auch ihre Liebe zwangsläufig würde untergehen müssen. Quid sit futurum cras, fuge quaerere*, waren des Horaz' Worte, welche Gracchus in diesem Augenblicke mahnend in Erinnerung gelangten, und wohl war die Gegenwart augenscheinlich das einzige, das ihnen geblieben war.
"Ja"
, murmelte er dennoch leise.
"Irgendeinen Weg."
Er mochte nicht daran glauben, dass dieses Morgen für sie würde existieren, gleichwohl er die Frage danach nicht wollte stellen aus Furcht vor jeder Antwort. Heute waren sie gemeinsam in diesem Augenblick, heute konnte er Faustus' nackte Haut an der seinen spüren, die Wärme des Geliebten, welcher hier und jetzt real war. Langsam hob er seinen Blick, in dem noch immer tiefe Traurigkeit und Verzweiflung lag, doch gleichwohl ein feines Schimmern.
"Verspri'h mir, Faustus, dass heute nur uns gehört, nur uns, gleichgültig des morgens."*Frage nicht, was morgen kommen wird!
-
~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~
Trist war der Raum um ihn her, blass und verschwommen, getaucht in ein trübes Licht gleich der Dämmerung eines verregneten Tages. Eng war der Raum um ihn her, hielt ihn fest in seinen knöchernen Klauen, raubte jede Luft ihm zum Atmen. In weiter Ferne wisperten leise Stimmen, murmelten ein Lied aus vergangenem Sein, flüsterten über ein Leben, das niemals zu existiert haben schien, erzählten von Menschen, von Begebenheiten und Gedanken, welche einem Traum gleich im nächsten Augenblick wieder verblassten.
"Erwache, Manius Gracchus!"
Einer im Winde tanzenden Feder gleich wogte ein leeres Blatt Pergament vor ihm her, senkte allmählich zum Boden sich herab und sog dort sich voll mit dem warmen Nass aus längst ausgetrockneten Tränen.
"Entsinne dich, Manius Gracchus!"
Träge hob er seinen Blick zu den pastellfarbenen Wolken hin, welche am endlosen Horizont ihn umwölkten, die Strahlen der goldfarbenen Sonne in sich aufsogen, dass sein eigenes Reich nur getaucht blieb in fahle Reminiszenz.
"Erhebe dich, Manius Gracchus!"
Doch nichts konnte noch dazu gereichen, sein Innerstes zu berühren, nichts konnte derart von Bedeutsamkeit sein, dass es ihm bemerkenswert schien im Angesichte der Wahrheit, deren Anblick er nicht mehr konnte ertragen.~~~
Manius Aton erwachte in seinem Cubiculum der Casa Decima, um jenen Tag zu durchleben, welchen er Zeit seines Lebens erlebte, einem stets wiederkehrenden Alpdruck gleich, einem Paradoxon der Zeit, einer Irritation der Natur, welche doch gänzlich ihm unbewusst blieb. Schon immer war er in diesem Raume erwacht als derjenige, welcher er war, schon immer hatte er seinen Tag hier beendet als eben dergleiche. Früher einmal musste es eine Zeit gegeben haben, in welcher er in Alexandria hatte gelebt - doch jede Erinnerung an diese Tage schienen ihm gleich den Erzählungen eines Schriftwerkes, jene Bilder, welche ihm gegenwärtig waren aus seiner Vergangenheit, hätten ebenso gut in Worte gegossene Berichte sein können eines ihm fremden Reisenden, denn es fehlten ihnen jegliche Emotion, jegliche Regung in seinem Inneren, sie bedeuteten ihm nichts. Eine Zukunft indes existierte nicht für Manius Aton, und selbst seine Gegenwart war begrenzt auf das unmittelbare Sein, den goldenen Käfig um ihn her. Faustus Serapio war der Inhalt seines Lebens, die Bibliothek des Hauses seine Farce und sein Schrecken zugleich, das Cubiculum indes der einzige Ort, an welchem er glaubte einen Teil von sich selbst erkennen, einen Teil von sich bewahren zu können. Er war definiert einem Protagonisten im Werk eines Dichters gleich und doch beschlich bisweilen ihn das Gefühl, dass es mehr musste geben in Manius Aton, mehr als die Larve, welche er nach Außen hin trug. Nur im Beisein Faustus' schien dieser Manius, welchen der Geliebte nannte, echt zu sein, schien ein wahrer, ein wahrhaftiger Kern in ihm zu existieren, welchen er um so mehr genoss als dass es der einzige Bestandteil seiner Existenz zu sein schien, doch um so mehr überkamen ihn Schwermut und Desperation sobald Serapio das Haus wieder verließ. Es gab augenscheinlich keinen Sinn in seiner Existenz, wiewohl der Gedanke an eine so derart sinnlose Existenz beständig ihn im Geiste beschwerte, dass bereits der Beginn des Tages ihm auf seiner Seele lastete.