| Lucius Petronius Crispus
Nachdem Lucius heute seine Aufgaben für Eumenius erledigt und vergeblich versucht hatte, eine vernünftige Gliederung für eine Gerichtsrede zugunsten des Sokrates zu erstellen, warf er die Tabula wieder einmal unzufrieden in die Ecke. Aus ihm würde nie ein großer Redner werden - wie auch, wenn alle Menschen, die um ihn herum lebten, den bäuerlichen Akzent eines Barbaren hatten? Selbst sein Vater, der ja aus Hispania stammte, wo die Latinität noch etwas goldener war, hatte diesen seltsamen Legionärs-Slang drauf, den Eumenius und die feinen Knäblein aus dem Ritterstand verachteten. Dazu kam aber noch, dass er sich sowieso nicht würde merken können, was er sich jetzt mühevoll zusammenreimte.
Schließlich kapitulierte er und warf die Tabula auf das Bett. Dann bückte er sich und griff unter seine Liegestatt, wo er eine Papyrus-Rolle hervorholte. "Euklides - Stoicheia" stand auf einem kleinen Zettel, der oben befestigt war. Lucius hatte das Buch des großen Mathematikers an seinem letzten Schultag bei Xanthippus gestohlen. Natürlich hatte er dies niemals jemandem verraten - sein Vater hätte ihn verprügelt (und zwar doppelt so fest wie sonst, denn einmal hatte er gestohlen, zum andern auch noch ein Buch über nutzloses Herumgerechne und -gemale), Arminius hätte ihn belächelt und die anderen Sklaven hätten ihn verpetzt. So war dies sein ganz privates Vergnügen, mit dem er sich über die Demütigungen in der Rhetorenschule und zu Hause hinwegtröstete.
Wenn er sich in die Welt Euklids hineinversenkte, war er ein ganz anderer Mensch - seine klugen Erkenntnisse über Geometrie waren etwas, das sich ihm nicht so hartnäckig verschloss wie die Argumentationsstruktur eines Cicero. Einiges war ihm sogar geradezu trivial erschienen und er hatte sich erinnert, dass er diese Lehrsätze schon vor Jahren zu Hause ausprobiert hatte, nachdem Xanthippus sie im Unterricht erwähnt hatte. Die anderen mochten das natürlich vergessen haben - aber Lucius liebte mathematische Dinge, die schön logisch und überprüfbar waren. Noch immer war er bei der Geometrie, die ihn am meisten faszinierte. Oft versuchte er, die Lehrsätze graphisch umzusetzen und konstruierte Kreise, Geraden und Punkte auf eine Tabula, um dann mit Hilfe einer simplen Schnur Längenverhältnisse zu prüfen.
Heute war er am Ende des ersten Buches, wo es hieß: 'Im rechtwinkligen Dreieck ist das Quadrat über der dem rechten Winkel gegenüber liegenden Seite gleich den Quadraten über den Seiten, die ihn einschließen, zusammen.' Diesen Umstand zu prüfen, war nicht so einfach: Bei Flächen war es am besten, ein Papyrus zu verwenden und dieses zu zerschneiden - aber Papyrus war dem Jungen zu teuer, also musste er auf etwas anderes ausweichen. Nach kurzem Umsehen fand er schließlich ein Stück Stoff, das er nun mit seinem Messer zu bearbeiten begann, um drei Quadrate herzustellen, die die Seitenlängen eines rechtwinkligen Quadrates hatten...
