Einige Tage nachdem Crispina bei den Petroniern eingezogen war, fand wieder einmal das Abendessen statt. Crispus war seiner Nichte bisher konsequent aus dem Weg gegangen, hatte sie, sofern es sich nicht vermeiden ließ, reserviert, aber höflich behandelt. Er wusste einfach nicht, wie er mit dieser neuen Situation umzugehen hatte: Die einzige Frau in seinem Leben (zumindest seit dem Beginn seiner Dienstzeit) war Heila gewesen. Bei ihr hatte er gewusst, wie er mit ihr umzugehen hatte. Doch Crispina war nun so etwas wie eine Tochter, nur dass er sie nicht erzogen hatte, sondern erwachsen vor die Nase gesetzt bekommen hatte. Seine Freunde hatten ihm ebenfalls nicht helfen können - Veteranen und Soldaten hatten zumeist ähnlich viel Erfahrung mit diesen Dingen wie er selbst. So hatte er das Problem vorerst aufgeschoben und war ihr aus dem Weg gegangen, was einfach war, denn als Magistratus hatte er viel zu tun und wurde auch ab und an auf Gastmähler eingeladen.
Heute war es jedoch so weit: Er konnte es nicht vermeiden, mit ihr das Abendessen zu sich zu nehmen, wenn er nicht auf die gesamte Familie verzichten wollte. Also hatte er in den sauren Apfel gebissen und Gunda angewiesen, für die gesamte Familie zu kochen.
Etwas missmutig erschien er im Triclinium. Er trug nur seine Tunica, die Amtstoga hatte er gleich beim Nach-Hause-Kommen abgelegt. Er war ein wenig müde, doch andererseits freute er sich bereits auf seinen Sohn, den er liebte - was er allerdings selten zeigte, da er der Ansicht war, dass er ihn abhärten musste. Und tatsächlich waren Lucius und Armin gerade in ein Spiel vertieft, während es verführerisch aus der Küche duftete.
Als Crispus näher kam, stellte er fest, dass Lucius und Armin gar nicht spielten: Sie hatten irgendetwas auf eine Schreibtafel gemalt und Lucius erklärte! Hatte sein Sohn es etwa geschafft, seinen Leibsklaven endlich beim Lesen und Schreiben zu überflügeln? Doch die Worte enttäuschten den Alten:
"Schau, wenn ich jetzt hier den Bogen mache, dann ist die Spitze genau drauf. Das hat so ein Mann herausgefunden...Thales oder so..."
Crispus beugte sich über die beiden und sah interessiert zu. Er hatte keine Ahnung, was sein Sohn da erklärte: Er hatte ein Dreieck auf seine Tafel gemalt und mit einem Faden und seinem Griffel einen Kreis darum gezogen - irgendwie seltsam!
"Was ist denn das? Konstruiert ihr Buchstaben?"
fragte er, denn er konnte sich dunkel erinnern, dass Willigis für die Rundungen bei der Gravur von Inschriften ebenfalls zuerst mit einem Faden und einem Schreibgerät vorzeichnete. Lucius blickte jedoch erschrocken auf - er sah fast aus, als hätte er etwas Verbotenes getan! Sogleich begann er zu stottern:
"I-ich...ehm...das ha...hab' ich von M-meister Xanthos!"
Das beantwortete die Frage zwar nicht, doch nun wurde Crispus klar, dass es sich wohl kaum um die Konstruktion von Buchstaben handelte. Wahrscheinlich war es diese Mathematik - er hatte schon davon gehört, dass Xanthos ein Faible für diese nutzlose Kunst hatte! Und sein Junge schluckte das, während er kaum lesen konnte? Urplötzlich war seine Stimmung wieder etwas getrübt. Einen Augenblick überlegte er, darüber zu schimpfen, doch stattdessen meinte er nur
"Kommt, legt das Zeug weg - wir essen!"
Damit begab er sich zu seiner Kline, Lucius klappte die Tafel zusammen und nahm gehorsam neben seinem Vater Platz. Armin hingegen suchte sich einen Platz gegenüber, wo er mit den übrigen Sklaven schmausen würde.