Sie musste eine Hand auf dem Tisch ablegen, auf welchem die einzelnen Waren des Händlers ausgebreitet lagen, damit die Finger nicht zu sehr zitterten, denn je länger er schwieg, desto nervöser und unsicherer wurde sie. Hatte sie ihn nun beleidigt? Oder dachte er darüber nach, was er sagen sollte? War das nun der Endpunkt einer sich anbahnenden Freundschaft, die sie zu schätzen gelernt hatte, oder würde er verstehen, dass sie auf Abstand gegangen war, um nicht weiter verletzt zu werden?
Sie fühlte den weichen Stoff, mit dem die Auslage ausgepolstert worden war, unter ihren Fingerkuppen, als könnte sie sich durch die Berührung die Struktur dieses Stoffs bis tief ins Innerste einprägen, aber eigentlich stellte diese bewusste Wahrnehmung des Stoffs nur eine Flucht dar, eine Flucht vor ihren Zweifeln, Sorgen und Ängsten. Denn einer Sache war sie sich nun überdeutlich bewusst: Als Menschen in ihrem Leben, als Freund, wollte sie ihn nicht verlieren, selbst wenn er sie als Frau zurückwies. Sie schätzte seine Ansichten, seine zurückhaltende, aber nicht unsichere Art inzwischen zu sehr. Aber sollte sie sich so sehr getäuscht haben in ihm, in seinen Reaktionen?
Dann entstand Bewegung am Eingang, aber sie wandte sich nicht um, sie wollte nicht sehen, wer da kam, vermutete sie doch die Nähe des stetigen Schattens des Tribuns, doch wortlos wurde jener wieder fortgeschickt, worüber sie nicht unglücklich war. Auch der Händler, dessen Nähe durch das Rascheln der Vorhänge angekündigt wurde, schien nicht allzu lange verweilen zu wollen. Umso besser, dachte die Iulierin, dann musste sie in ihrer Schmach wenigstens nicht von jedem angestarrt werden. Sie fühlte sich, als könnte ihr der Makel der zweimaligen Zurückweisung überdeutlich angesehen werden, und lenkte darob den Blick gezwungenermaßen wieder auf die Schmuckstücke. Viel zu schön, um wahr zu sein, dachte sie still und atmete tief ein. Die Handwerkskunst dieses Händlers suchte wirklich ihresgleichen, hätte sie mehr Geld zur Verfügung gehabt, hätte sie es sicherlich erwogen, hier etwas zu kaufen. Aber vor seinen Worten retteten sie diese Gedanken nicht. Er sprach, und jedes Wort brannte sich tief in ihr ein.
Es schien, als würde jedes dieser Worte ihre wohlgeordnete kleine Welt einmal mehr in sich zusammenstürzen lassen - er wollte sie heiraten? Sie zu seiner Frau machen, er, der Patrizier, der traditionsbewusste Offizier, der zum Wohl seiner Familie unter den anderen Patriziern eher eine Frau hätte suchen sollen als unter Plebejern? Jähes Erstaunen, fast Entsetzen über diesen so ungewohnten Gedanken machte sich in ihr breit, aber auch eine andere Empfindung, die viel eher zu ihr passte als die Überraschung über seine Idee, viel besser als die eben erlebte Unsicherheit, der eben abflauende Schmerz, eine Reaktion, die es bereits einmal gegeben hatte, als ein Mann mit dem Gedanken gespielt hatte, um sie zu werben, ohne sie zuvor wenigstens zu fragen, ob sie heiraten wollte: Zorn. Nackter, blanker Zorn. Wie konnte er es wagen! Sie so im Ungewissen zu lassen! Wie lange hatte er diese Sache wohl schon geplant, ausgeführt?
Ihren Onkel selbst darauf angesetzt, den Vermittler bei ihrem Vater zu spielen, wie konnte er nur? Ein Brief nach Germania brauchte seine Zeit, wann musste er diese Entscheidung getroffen haben - noch vor der Abendesseneinladung zu den Tiberiern? Und in all der Zeit, keine Andeutung, kein Wort, nichts, nicht der geringste Hinweis, kein Deuten. Was glaubte er eigentlich, mit wem er es zu tun hatte?
"WAMM!" Klatschend landete ihre Rechte auf seiner Wange, und höchstwahrscheinlich war ihr die schallende Ohrfeige nur deswegen gelungen, weil er damit nicht hatte rechnen können - für eine Frau hatte Iulia Helena eine ausgesprochen kräftige Hand, die blauen Augen glommen wütend, während sie ihm die Worte entgegen spie: "Und all die Tage hast Du geschwiegen? Bin ich Dir denn kein einziges Wort, keine Andeutung wert, keine einzige Frage? Weisst Du, was ich wirklich hasse? Wenn sich Männer hinter diesen idiotischen Traditionen verstecken. Vielleicht will ich gar nicht mehr heiraten, ist Dir diese Idee schon einmal gekommen? Vielleicht will ich gar nicht mit einem Mann leben, der mich behandelt wie eine käufliche Ware! Hättest Du nicht einfach zuerst mich und dann meinen Vater fragen können? Bei allem, was uns bisher verbunden hat, hast Du so wenig Mut gehabt?!" Ihre Stimme war lauter geworden, und der Händler mochte sicherlich an diesem Nachmittag die erhoffte Unterhaltung bekommen - aber wer hätte auch damit rechnen können, dass ein Heiratsantrag mit einer Ohrfeige beantwortet würde?