Der Tag darauf.
Celerina lag im atrium, gewaschen und aufgebahrt. Es wäre wohl stimmiger gewesen, sie zu den Flaviern zu bringen, doch es war ein egoistischer Gedanke meinerseits, der das verhindert hatte. Celerina war meine Frau. Ich mochte sie nicht geliebt haben, und doch gehörte sie zu mir. Hinzu kam, dass ich mich schrecklich allein fühlte. Am Vortag noch hatten wir uns unterhalten, und ich hatte ihr meine Begleitung zum Hain der Göttin versagt, weil ich einen unwichtigen Termin gehabt hatte. Seitdem ich ihren toten Leib von den Tiberiern hierher getragen hatte, dachte ich an nichts anderes mehr. Was wäre gewesen, wenn ich sie begleitet hätte?
Es war ein seltsamer Anblick gewesen, der Senator Roms, dessen toga blutverschmiert, das Gesicht versteinert gewesen war, einen leblosen, ebenso blutverschmierten Leib auf den Armen, geleitet von einer Schar betretener Sklaven. Es war mir gleich gewesen. Ich hatte an anderes gedacht als daran, wie mein Handeln auf andere wirken mochte. Ich versuchte, mich an den Moment zu erinnern, in welchem ich das Haus erreicht hatte. Wenn da jemand gewesen war, so hatte ich es nicht wahr genommen. Celerina hatte ich auf eine Liege gebettet, während in meinem Schädel immer und immer wieder ein einziger Gedanke hämmerte. Warum auch sie? Ich hatte versucht, einen Weg dazwischen zu finden, es jedem recht zu machen. Erst gestern hatte ich einsehen müssen, dass Siv mich deswegen verlassen hatte. Und nun war auch Celerina fort. Gestorben, weil ich sie nicht begleitet hatte. Ich hatte sie beide auf dem Gewissen. Ich hatte sie beide haben wollen, und nun stand ich mit leeren Händen da. Ich wusste, dass es meine Schuld war. Doch was ich nicht verstand, war warum die Götter sie mit dem Tode bestraft hatten. Oder war das am Ende gar ein abgekartetes Spiel, das sie spielten? Ließen sie mich überleben, damit sie sich an meiner Trauer laben konnten, an meiner Schuld? Denn dass es die meine war, daran bestand kein Zweifel. Das war mir bereits gestern bewusst gewesen, als mir der Brief gebracht worden war, der mich über Sivs Fortgang in Kenntnis gesetzt hatte. Sie selbst hatte mir nichts hinterlassen. Kein Wort, kein Brief. Nichts.
Ich hatte bis zum Einbruch der Abenddämmerung auf dem blanken Marmorboden gesessen, neben der Liege, auf die ich Celerina gebettet hatte. Ich hatte in ihr Gesicht gesehen und ihre Hand gehalten, bis ihre Finger kalt und wachsig waren und die Beweglichkeit ihnen verlustig gegangen war. Nicht eine Träne war meinen Augen entflohen, in mir ein Block aus starrem, kaltem Eis. Ich war nicht einmal fähig, um sie zu weinen, nicht um sie und nicht um Siv. Einige Male war jemand neben mich getreten, hatte mich an der Schulter gegriffen und gerüttelt oder etwas gesagt, doch ich hatte nicht reagiert. Irgendwann hatten sie mich dann zufrieden gelassen. Es war kalt, der Boden. Ich war dennoch erst aufgestanden, als ich mich selbst nicht mehr ausgehalten hatte. Auf halbem Wege in mein Arbeitszimmer hatte ich mich erbrochen, dann hier eingeschlossen. Hin und wieder hatte es zaghaft geklopft. Ich hatte es ignoriert. Es war dunkel. Finster und leer, ganz wie ich selbst mich fühlte.
Als am Morgen das erste Licht des Tages lockte, die Vögel sangen und einen neuen Tag ankündigten, saß ich immer noch dort und starrte ins Nichts. Es war eine unhaltbare Situation für mich. Wo ich meinen Vater nie verstanden hatte, so erschloss sich mir nun allmählich, warum er damals gehandelt hatte, wie er es getan hatte. Er musste meine Mutter tatsächlich geliebt haben. Nun, ich liebte Siv, mit jeder Faser meines Seins. Und doch war sie nun unerreichbar für mich. Sie wäre es wohl nicht gewesen, hätte ich sie niemals freigelassen. Doch der Mensch trifft aus eben jenem Grunde so manche Fehlentscheidung in seinem Leben: Weil er nur ein Mensch ist. Celerina wäre mir ein Trost gewesen, eine Stütze. Die Götter allein wussten, was aus ihr und mir noch geworden wäre. Doch auch sie hatte ich verloren. Was mir blieb, war Prisca. Nur wie lange noch? Sie war bereits über das heiratsfähige Alter hinaus, es wurde Zeit, dass sie eine Ehe einging. Und dann? Dann wäre auch sie fort. Ursus und Septima lebten in Mantua, was sich wohl auch nicht ändern würde, da sie Nachwuchs erwarteten – abgesehen davon, dass Ursus mich wohl hasste, was auch immer seine Gründe sein mochten. Von Avianus' Auftrag bezüglich des Flaviers wusste ich nichts, und doch waren auch wir beide nie besonders grün miteinander gewesen. Lupus war im Grunde ein Fremder, den ich nie näher kennen gelernt hatte, und ich hatte auch den Eindruck, dass er das selbst gar nicht wollte und lieber als einsamer Wolf seinem Namen alle Ehre machte. Mit Nigrina an seiner Seite würde gewiss auch er bald einen Erben haben. Flora würde es Prisca gleich tun und wohl bald heiraten, im Idealfalle Durus, und Narcissa würde mit etwas kaiserlichem Wohlwollen eine Vestalin werden. Was mir selbst blieb, war Schall und Rauch. Leere, die mich erfüllte und mein Herz im Schraubstock gefangen hielt. Ich war nicht zu alt, um einen Sohn zu zeugen, ich war auch längstens nicht zu alt, um eine erneute Ehe einzugehen. Es wäre wohl taktisch klug gewesen, eine Tiberia zu wählen, vielleicht auch eine Flavia, um zu bekunden, dass ich mich nach wie vor mit ihnen verbunden fühlte. Und doch war mir allem voran der Gedanke an weitere Heuchelei von Interesse zuwider, denn obgleich Respekt und Achtung auch Celerina gegenüber stets vorhanden gewesen waren, so sträubte sich in mir alles dagegen, erneut zu heiraten. Auch, wenn dies bedeutete, dass der einzige Sohn, der meinen Lenden entsprungen war, unerreichbar fern von mir heranwuchs. Und vielleicht war das auch gut so, denn ich wollte seiner kindlichen Unschuld nicht das aufbürden, was ich selbst nicht gemeistert hatte. In diesem ersten Licht des Tages griff ich nach Feder und Papyrus, schrieb aus übermüdeten Augen blickend die ersten Zeilen von vielen nieder, die noch folgen sollten.
Als ich nach Brix rufen ließ, schien ein Ruck durch das Haus zu gehen. Wo vorher geschlichen wurde, keimte nun etwas wie vage Hoffnung, dass dieser drückende Zustand allzu bald wieder vorübergehen mochte – zumindest in der Sklavenschaft. Ich hatte nicht viel für meinen Hausverwalter, nichts bis auf einige Dokumente und wenige Anweisungen, die er ernst und ohne Widerworte auffasste und weitergeben wollte. Nachdem er den Raum verlassen hatte und ich wieder allein war, fühlte ich mich leichter. Immer noch wund zwar, doch sah ich nun die Perspektive, die ich hatte. Ein Leben als leblose Hülle, mehr noch denn zuvor, wollte ich nicht führen. Ich konnte es auch nicht, selbst wenn das bedeutete, dass ich Rom verraten und meine Pflicht nicht erfüllen konnte.
Ich saß nun wieder an der blank polierten Oberfläche meines Schreibtisches. Mein Ebenbild starrte mich aus tiefen Höhlen heraus an. Ich sah aus wie ein Geist, ein Schatten meiner selbst. Die toga war fleckig, das Blut auf ihr von einem tiefkranken Braunton, ein Zipfel hing achtlos herunter. Mein Bart spross bereits seit dem gestrigen Tage und ließ mich wirken wie ein abgerissener Suburbaner. Ich verstand ihn jetzt, den Sinn hinter einer Flucht nach vorn. Den Ausweg, der einem Römer blieb, auch wenn alles verloren schien, alles aussichtslos vor einem ausgebreitet in Düsternis lag. Ich verstand ihn jetzt, meinen Vater, der sich das Leben genommen hatte, nachdem meine Mutter ihrer Krankheit erlegen war. Und auch wenn ich das tat, so hatte ich doch Angst vor den Schmerzen, die der Tod mit sich brachte. Zumindest der Tod, den ich mir erwählt hatte und der eines Römers würdig war. Der schlanke Dolch, der seit Jahren dekorativ hinter mir im Regal ruhte, würde letzten Endes doch noch einen sinnigen Zweck erfüllen. Die Schneide war schmal zulaufend und endete in einer leicht nach oben gebogenen Spitze. Es war ein perfektes Instrument, eine für den angedachten Zweck mehr als würdige Waffe. Mit eisigen Fingern schälte ich mich aus der toga. Den mit Rubinen verzierten Griff setzte ich an den Rand des Tisches, damit er nicht fort gleiten konnte, wenn mich die Kräfte verließen. Ich zitterte, denn ich fürchtete die Schmerzen. Mir war kalt. Später würde man denken, ich hätte den Tod meiner Ehefrau nicht verwunden. Oder gar, dass der Frevel mir unerträglich gewesen sei. Es war mir gleich. Sollten sie denken, was sie wollten. Wenn mich die Würmer fraßen, konnte es mir wohl ohnehin einerlei sein.
Ich hielt den Dolch mit beiden Händen umklammert, als ich mich immer weiter nach vorn schob. Meine Hände zitterten unkontrolliert, der Schmerz war ohrenbetäubend und trieb mir rote Schlieren vor die Augen, und doch drängte ich, gepresst atmend, immer weiter nach vorn, trieb den Dolch, den ich unter meinem Herzen angesetzt hatte, immer weiter in mein Fleisch hinein, bis nur mehr das Heft herausragte und ich nicht einmal mehr die Kraft hatte, ihn herauszuziehen. Und da verging der Schmerz, und alles, was ich sah, war Siv, deren liebevolles, goldumrahmtes Lächeln das letzte sein sollte, was ich an Erinnerung aus dieser Welt mitnahm. Als mein Blick brach, meine Hände, besudelt von meinem eigenen Blut, vom Dolch endlich abließen, hatte ich sogar ein Lächeln auf den Lippen. Vage nur, doch ich lächelte, während ein kleines Silberpferdchen an seinem ledernen Band vom Griff des Dolches und aus meinen Fingern glitt und mir blutend in den Schoß fiel.