"Gnade?" Tarquitia sah von oben auf ihre Sklavin Olivia hinunter, die gerade die Brote vom Boden aufklaubte, und jetzt hoffnungsvoll aufblickte.
Mit einem gelangweilten "Von mir aus." wandte sich die Hausherrin wieder Arrecina-Lavinia zu. Dankbar und unterwürfig lächelte Olivia ihrer Fürsprecherin zu, rappelte sich wieder auf, und trug ein paar unberührte Platten ab, um sie durch frische zu ersetzen.
"Lavinia, meine liebe Lavinia..." Tarquitia streichelte die Flöte. "Du bist ein Medium. In Träumen und Entrückung bereist du die jenseitigen Welten, dein Blick durchdringt die Schleier, dein Geist war Gast und Gefäß weiser und grauenvoller Wesen... Genauer: du bist das Medium. Mittel und Mittelpunkt unseres nächtlichen Festes."
Mit spitzen Fingern schob sie sich ein Stückchen Fleisch in den Mund, seufzte dann: "Auch ich habe keinen rechten Appetit.", und wie zu sich selbst murmelte sie leise: "So lange, so lange ist es her... ob er mich überhaupt wiedererkennt...?"
Bekümmert strich sie sich über die welke Wange: "Ich war soviel jünger...."
Schnitt
Hoch spritzte der Schlamm bei jedem Schritt. Von namenlosem Schrecken gepackt, hastete Rutger einen kleinen Pfad zwischen den Gebäuden entlang. Immer wieder versperrten ihm Geröll und lose Bretter den Weg, er setzte hinkend darüber, und stürzte vorwärts, immer nur vorwärts. Die Kapuze war ihm längst vom Kopf geglitten, der Regen prasselte ihm auf den Scheitel, und doch hörte er dich hinter sich deutlich die Geräusche von etwas Großem, dass ihn schweren Schrittes verfolgte, laut durch Pfützen hindurch platschte - und immer weiter aufholte.
Er bog um eine Ecke, da tat sich eine Lücke zwischen den Mauern auf, und er sprang gehetzt hinein. Mit angehaltenem Atem presste er sich gegen die rissige Wand, die in tiefem Schatten lag. Schwer und schlurfend näherte sich das Wesen. Frowe Hulda, hilf!
Einen Herzschlag lang war die riesige dunkle Silhouette ganz nah, schemenhaft sah er räudiges Fell und lange Klauen, und ein ledriger Geruch stieg ihm in die Nase - bang drückte er sich gegen die Mauer, und es schien ihm, dass sein Herzschlag dröhnend laut zu hören sein musste. Doch der dunkle Umriss zog vorüber, die Geräusche wurden leiser - es entfernte sich.
Langsam löste Rutger sich wieder von der Wand, er war außer Atem und sein verletztes Bein schmerzte höllisch vom Rennen. Was, bei Fenris' Fängen, war das?!
Schnitt
"Wunschlose Seligkeit. Unsterblich schlang sich das Leben um uns. Die Göttlichkeit fühlte ich bei ihm, durch ihn..."
Tarquitias Stimme war ein leises Raunen der Sehnsucht. Sie blickte in eine Kerzenflamme, und ein mädchenhaftes Lächeln verklärte ihr strenges Gesicht, das von den Silberspiegeln an den Wänden vielfach wiedergegeben wurde.
"Vielleicht, Lavinia, vermagst du mich zu verstehen?" Sie richtete den Blick wieder auf Arrecina, ebenso sahen in den vielen Spiegeln nun ihre Abbilder eindringlich die Spiegelbilder Arrecinas an.
"Wer wahrhaft liebt, gibt alles, bedingungslos alles, um mit dem geliebten Menschen vereint zu sein. Und lägen Welten dazwischen, die Flügel der Liebe werden sie doch zueinander tragen, werden machtvoll alle Barrieren zersprengen, Hindernisse zermalmen, Grenzen vernichten, um die Liebenden zu vereinen. Du bist jung Lavinia, von beneidenswerter Jugend. Wisse, meine junge Freundin, nichts, das sich der Wahren Liebe in den Weg stellt, hat Bestand....."
Schnitt
Mit bis zum Äußersten gespannten Sinnen, bewegte Rutger sich vorsichtig weiter, entlang einer schmalen Gasse zwischen den Schuppen. Aus einem drang, durch eine Ritze in der groben Bretterwand, ein schwacher Lichtschein. Nur ein hölzerner Riegel war der Türe vorgelegt, er öffnete sie einen Spalt, und spähte hinein.
Sofort roch er die Ausdünstungen von Pferden. An dunklem Gebälk hing eine angeschlagene Stallaterne, und warf ihr trübes Licht auf schmutziges Stroh, aufgetürmte Kisten und einige Verschläge, in denen Rutger einen schwarzen Widder mit mächtigen Hörnern und zwei stämmige braune Ponys erkennen konnte. Sehr gut!
Schnell schlüpfte Rutger hinein, zog die Türe hinter sich zu, und sah sich suchend nach Sattelzeug um. Die Ponys stehlen, und mit Arrecina schleunigst verschwinden wäre sicher das beste, bevor, was auch immer Böses hier umging, sie erwischte.
Auf einer Kiste sah Rutger schmuddeliges Zaumzeug liegen, und trat schnell darauf zu. Als er schon die Hand danach ausstreckte, hörte er auf einmal ein scharfes Zischen, ein trockenes Rascheln, und bemerkte einen etwa kniehohen Käfig aus engmaschig aneinandergefügten Ästen, der daneben auf dem Boden stand. Neugierig beugte er sich hinunter.
Schwarze Schuppen glänzten matt im Laternenlicht, und armdicke Schlangenleiber, eng verknäult, glitten mit rauhem Schaben übereinander hinweg. Ein flacher schwarzer Schlangenkopf erhob sich und schnellte mit bedrohlichem Zischen vor. Hart prallte er gegen das hölzerne Gitter und ließ es erbeben.
Erschrocken wich Rutger zurück, stieß dabei gegen die Wand eines weiteren Verschlags, in dem sich plötzlich auch etwas regte. Er fuhr herum, und sah über die Abtrennung hinweg auf einen großen pechschwarzen Hund, der gerade aus dem Stroh aufsprang, die Zähne bleckte und grollte.
"Schscht, nur ruhig, guter Hund, braves Tier..." redete Rutger besänftigend auf ihn ein, während er langsam zurückging. Aber umsonst. Der Hund verfiel in wütendes, lautes Bellen.
Schnitt
Aus der Ferne drang, gedämpft, das wütende Bellen eines Hundes in das Triclinium. Die Hausherrin hielt inne und lauschte, erhob sich dann und trat, mit raschelndem Gewand, umstrahlt vom Funkeln ihrer Rubine zum Fenster hin. Ein Schwall frischer kalter Regenluft kam in den Raum, als sie einen Fensterflügel öffnete, die Kerzen legten ihre Flammen einen Moment lang waagrecht, und das Bellen war jetzt laut und deutlich zu hören. Tarquitia legte die Hände auf den Fensterrand und lehnte sich hinaus.
In diesem Moment beugte sich Olivia über den Tisch hinweg zu Arrecina. Ihre wässrigen Augen waren groß und starr. Mit bebenden Lippen flüsterte sie ihr ganz leise etwas zu:
"Er ist tot. Ihr Mann ist schon lange tot."
Schnitt
Das Gebell war ohrenbetäubend. Gehetzt zerrte Rutger ein Pony aus dem Verschlag heraus, warf ihm die Zügel über den Hals, und zog das widerstrebende Tier zur Türe - als diese mit einem Mal wuchtig aufgerissen wurde, und ein Albtraum sich vor ihm in das trübe Licht der Stalllaterne schob - ein greuliches Mischwesen aus Mensch und Ungeheuer, aufrecht auf zwei Beinen gehend, bedeckt von ledriger Haut und räudigem Fell, das in Fetzen herabhing. Sein Gesicht war eine widerwärtige Vogelfratze, die Augen seelenlose schwarze Teiche von Dunkelheit.
Wiehernd riss sich das Pony los, und preschte zurück. Rutger stand starr. Er hatte dieses Monstrum schon mal gesehen, vorhin, als er in den Ruinen nach Arrecina gesucht hatte. Doch da war es auf einem steinernen Sockel gestanden.... Aschfahl wich er zurück.
Das Ungetüm reckte den langen scharfen Schnabel in seine Richtung, spreizte die Klauen, und kam ohne Eile auf ihn zu. Ein heftiger Dunst von nassem Leder und fauligem Fell ging von ihm aus. Rutger spürte in seinem Rücken eine Wand. Die Ausgeburt des Schreckens kam immer näher, setzte zum Sprung an. Panisch tastete Rutger an den rauhen Brettern entlang, seine Finger fanden den glatten Griff einer Heugabel, und verzweifelt riss er diese Waffe an sich, so lächerlich gegen das fleischgewordene Grauen vor ihm - das jetzt auf ihn los sprang!
Schnitt
Ein Krachen und Poltern schallte über den Hof der Villa, war bis ins Triclinium zu hören, und noch immer bellte der Hund. Die Kerzenflammen schwankten, der Wind trieb den Regen durch das offene Fenster, und viele kleine Pfützen bildeten sich auf dem Boden. Dann hallte ein langgezogener Schrei durch die Nacht, ein paarmal hörte man noch den Hund bellen - und wieder war es still. Bis auf das stetige Rauschen des Regens.
Tarquitia wendete sich vom Fenster ab. Ihre Finger huschten über die Flöte hinweg.
"Olivia." Ihre Stimme war schneidend. "Geh nachsehen. Und hol den Netshvis herbei, mit den Tieren. Wir beginnen."
Auffordernd hielt sie Arrecina die Hand hin. Ihre Augen glänzten.
"Komm mit, meine junge Freundin, sieh mit eigenen Augen. Es ist soweit. Heute Nacht werden wir Großes vollbringen."
Schnitt
Schon seit geraumer Zeit pochte jemand gegen das äußere Tor der Villa. Doch das Wächterhaus war leer, und ebenso der Hof dahinter. Das Klopfen, fest und zusehends ungeduldiger, blieb ungehört.
Da tauchte, aus dem Gewirr der Nebengebäude, ein großer Schatten auf. In Fetzen hing das räudige Fell herunter. Flecken von Schwärze waren die Augen. Ohne sich um das Klopfen zu scheren schlich das Wesen auf die Villa zu, und stieß mit blutbefleckter Klaue die Türe auf.... Fortsetzung folgt