Beiträge von Rutger Severus

    "Aber, aber, Lavinia! Was sind denn das für Töne?"
    Die Hausherrin schien gekränkt, schnalzte missbilligend mit der Zunge und schüttelte rügend den Kopf.
    "Es ist alles genau durchdacht, die Sterne stehen günstig, und alles ist bereit. Die Invocatio ist natürlich anspruchsvoll, das leugne ich nicht, aber wir haben schließlich beide Erfahrung mit dieser Materie. Unser Vorhaben ist epochal, aber keineswegs 'Wahnsinn'. Also bitte, lass mich jetzt nicht im Stich. Ich brauche dich, und du weißt das."
    Schritt für Schritt kam sie auf Arrecina zu, lächelte beschwichtigend, und streckte ihr wieder die Hand hin.
    "Stell dir doch nur vor, wie erhebend, wenn uns Erfolg beschieden ist.... den Mantus zu rufen, zu fangen, zu binden, das hat vor uns noch keiner gewagt. Doch den Ruhm, Lavinia, werde ich dir überlassen. Ich möchte nur meinen Mann zurück. Nicht als Bittstellerin werde ich vor den Toren der Unterwelt erscheinen, nicht weinend und flehend mich den Schweigenden Göttern zu Füßen werfen, oh nein, sie werden gar keine andere Wahl haben, als ihn mir zurückzugeben!
    Lavinia, meine liebe Lavinia, lockt es dich denn nicht, die Sphären durchdringende Melodie dieses vortrefflichen Instrumentes erklingen zu lassen, die Schleier die uns den Wahren Blick verhüllen zu zerreißen, die Bande um den Mantus zu schlagen, und das, was uns Menschen stets am meisten geängstigt hat - den Tod - zu besiegen? Seiner Tyrannei sei heute nacht ein Ende!"


    Mit einem begeisterten Glitzern in den Augen hob Tarquitia Lucia die gläserne Flöte, hielt sie auf den flachen Händen Arrecina entgegen.
    "Sie doch! Ist sie nicht wunderschön?" Ölig schimmernde Schlieren huschten über die trübe Oberfläche hinweg. Darunter schienen schwarze Rauchschwaden zu wogen.
    "Ich verstehe durchaus, Lavinia, dies alles muß dir recht... überwältigend... erscheinen." Die Hausherrin seufzte besorgt und sprach im Tonfall mütterlicher Fürsorglichkeit weiter: "Du bist gestürzt, und kannst dich anscheinend kaum erinnern. Es ist verständlich dass du verwirrt bist, dich sogar fürchtest, und ich trage dir auch deine unbedachte Äußerung nicht nach. Doch glaub mir, es besteht kein Grund zur Furcht. Begleite mich nun, laß uns unser Werk beginnen."
    Gütig lächelnd griff sie nach Arrecinas Hand.

    Den Kopf etwas schräg gelegt, die Brauen leicht zusammengezogen, hörte Rutger die Erläuterungen von Flavius Gracchus, und betrachtete seine Demonstration des Austern-Schlürfens genau. Besonders kompliziert sah das nicht aus. Aber dass man etwas aß, was eigentlich scheußlich schmeckte, nur weil es teuer war, schien ihm eine verdrehte Logik, und ein Sinnbild römischer Dekadenz.
    Wider Willen mußte er grinsen bei Gracchus' Grimasse der Abneigung, und Serenus' kleiner Vortrag über Die Auster im Allgemeinen beeindruckte ihn tatsächlich. Der Junge sprach ja wie ein Buch. Und was er über die Stärkung der Manneskraft erzählte, klang schon interessant. Man konnte ja nicht ausschließen, dass er später am Tag noch einer Frau begegnen würde, die Lust hätte, sich ihm hemmungslos hinzugeben - auf der Cena Liber der Gladiatoren hatte Rutger schließlich gelernt, dass die Römerinnen ganz wild auf Todgeweihte waren.
    Also probierte er es aus.


    Er wählte gleich eine Auster von mittlerer Größe, und nahm die schartige Schale, wie gezeigt, locker zwischen die Finger. Ganz leicht traten die Sehnen an seinem Handrücken vor, als er die Muschel, langsam, um nichts zu verschütten, von der Platte hob und zum Mund führte.
    Eine Brise Meer schien davon aufzusteigen. Seine Nasenflügel bebten als er sie einatmete, er dachte an den Ausflug nach Ostia, nur Tage bevor er geflohen war, wie sie am Strand entlang geritten waren, und der Seewind ihm salzig ins Gesicht geweht hatte.
    Vorsichtig setzte er die Muschelschale an die Lippen, der Rand ruhte sacht auf seiner Unterlippe. Jetzt mischte sich ein mineralisches Aroma in den salzigen Geruch. Wieder sog er ihn begierig ein, bevor er die Schale entschlossen kippte, und mit gewölbten Lippen neugierig den kalten, glitschigen Inhalt schlürfte. Herb und salzig glitt es über sein Zunge und an seinem Gaumen entlang, er schluckte sie im ganzen, und spürte einen Moment lang noch konzentriert dem eigenartigen Geschmack nach.
    Dann zuckte er die Schultern. "Es schmeckt nach Meer."
    Er spülte mit Wein nach, hielt kurz die leere Muschelschale in das Licht, drehte sie hin und her, und besah sich das Glänzen der spiegelglatten Innenfläche. Dann reckte er sich, streckte die Beine lang auf der Kline aus, und machte einen zweiten Versuch, diesmal bestreute er die Auster mit Gewürzen, beim drittenmal wagte er sich gar an eine seltsame rote Sauce.
    Aber es blieb dabei: er fand nichts besonderes an den Austern. Und wandte sich wieder den Venusmuscheln zu.

    "Gnade?" Tarquitia sah von oben auf ihre Sklavin Olivia hinunter, die gerade die Brote vom Boden aufklaubte, und jetzt hoffnungsvoll aufblickte.
    Mit einem gelangweilten "Von mir aus." wandte sich die Hausherrin wieder Arrecina-Lavinia zu. Dankbar und unterwürfig lächelte Olivia ihrer Fürsprecherin zu, rappelte sich wieder auf, und trug ein paar unberührte Platten ab, um sie durch frische zu ersetzen.
    "Lavinia, meine liebe Lavinia..." Tarquitia streichelte die Flöte. "Du bist ein Medium. In Träumen und Entrückung bereist du die jenseitigen Welten, dein Blick durchdringt die Schleier, dein Geist war Gast und Gefäß weiser und grauenvoller Wesen... Genauer: du bist das Medium. Mittel und Mittelpunkt unseres nächtlichen Festes."
    Mit spitzen Fingern schob sie sich ein Stückchen Fleisch in den Mund, seufzte dann: "Auch ich habe keinen rechten Appetit.", und wie zu sich selbst murmelte sie leise: "So lange, so lange ist es her... ob er mich überhaupt wiedererkennt...?"
    Bekümmert strich sie sich über die welke Wange: "Ich war soviel jünger...."


    Schnitt


    Hoch spritzte der Schlamm bei jedem Schritt. Von namenlosem Schrecken gepackt, hastete Rutger einen kleinen Pfad zwischen den Gebäuden entlang. Immer wieder versperrten ihm Geröll und lose Bretter den Weg, er setzte hinkend darüber, und stürzte vorwärts, immer nur vorwärts. Die Kapuze war ihm längst vom Kopf geglitten, der Regen prasselte ihm auf den Scheitel, und doch hörte er dich hinter sich deutlich die Geräusche von etwas Großem, dass ihn schweren Schrittes verfolgte, laut durch Pfützen hindurch platschte - und immer weiter aufholte.
    Er bog um eine Ecke, da tat sich eine Lücke zwischen den Mauern auf, und er sprang gehetzt hinein. Mit angehaltenem Atem presste er sich gegen die rissige Wand, die in tiefem Schatten lag. Schwer und schlurfend näherte sich das Wesen. Frowe Hulda, hilf!
    Einen Herzschlag lang war die riesige dunkle Silhouette ganz nah, schemenhaft sah er räudiges Fell und lange Klauen, und ein ledriger Geruch stieg ihm in die Nase - bang drückte er sich gegen die Mauer, und es schien ihm, dass sein Herzschlag dröhnend laut zu hören sein musste. Doch der dunkle Umriss zog vorüber, die Geräusche wurden leiser - es entfernte sich.
    Langsam löste Rutger sich wieder von der Wand, er war außer Atem und sein verletztes Bein schmerzte höllisch vom Rennen. Was, bei Fenris' Fängen, war das?!


    Schnitt


    "Wunschlose Seligkeit. Unsterblich schlang sich das Leben um uns. Die Göttlichkeit fühlte ich bei ihm, durch ihn..."
    Tarquitias Stimme war ein leises Raunen der Sehnsucht. Sie blickte in eine Kerzenflamme, und ein mädchenhaftes Lächeln verklärte ihr strenges Gesicht, das von den Silberspiegeln an den Wänden vielfach wiedergegeben wurde.
    "Vielleicht, Lavinia, vermagst du mich zu verstehen?" Sie richtete den Blick wieder auf Arrecina, ebenso sahen in den vielen Spiegeln nun ihre Abbilder eindringlich die Spiegelbilder Arrecinas an.
    "Wer wahrhaft liebt, gibt alles, bedingungslos alles, um mit dem geliebten Menschen vereint zu sein. Und lägen Welten dazwischen, die Flügel der Liebe werden sie doch zueinander tragen, werden machtvoll alle Barrieren zersprengen, Hindernisse zermalmen, Grenzen vernichten, um die Liebenden zu vereinen. Du bist jung Lavinia, von beneidenswerter Jugend. Wisse, meine junge Freundin, nichts, das sich der Wahren Liebe in den Weg stellt, hat Bestand....."


    Schnitt


    Mit bis zum Äußersten gespannten Sinnen, bewegte Rutger sich vorsichtig weiter, entlang einer schmalen Gasse zwischen den Schuppen. Aus einem drang, durch eine Ritze in der groben Bretterwand, ein schwacher Lichtschein. Nur ein hölzerner Riegel war der Türe vorgelegt, er öffnete sie einen Spalt, und spähte hinein.
    Sofort roch er die Ausdünstungen von Pferden. An dunklem Gebälk hing eine angeschlagene Stallaterne, und warf ihr trübes Licht auf schmutziges Stroh, aufgetürmte Kisten und einige Verschläge, in denen Rutger einen schwarzen Widder mit mächtigen Hörnern und zwei stämmige braune Ponys erkennen konnte. Sehr gut!
    Schnell schlüpfte Rutger hinein, zog die Türe hinter sich zu, und sah sich suchend nach Sattelzeug um. Die Ponys stehlen, und mit Arrecina schleunigst verschwinden wäre sicher das beste, bevor, was auch immer Böses hier umging, sie erwischte.


    Auf einer Kiste sah Rutger schmuddeliges Zaumzeug liegen, und trat schnell darauf zu. Als er schon die Hand danach ausstreckte, hörte er auf einmal ein scharfes Zischen, ein trockenes Rascheln, und bemerkte einen etwa kniehohen Käfig aus engmaschig aneinandergefügten Ästen, der daneben auf dem Boden stand. Neugierig beugte er sich hinunter.
    Schwarze Schuppen glänzten matt im Laternenlicht, und armdicke Schlangenleiber, eng verknäult, glitten mit rauhem Schaben übereinander hinweg. Ein flacher schwarzer Schlangenkopf erhob sich und schnellte mit bedrohlichem Zischen vor. Hart prallte er gegen das hölzerne Gitter und ließ es erbeben.
    Erschrocken wich Rutger zurück, stieß dabei gegen die Wand eines weiteren Verschlags, in dem sich plötzlich auch etwas regte. Er fuhr herum, und sah über die Abtrennung hinweg auf einen großen pechschwarzen Hund, der gerade aus dem Stroh aufsprang, die Zähne bleckte und grollte.
    "Schscht, nur ruhig, guter Hund, braves Tier..." redete Rutger besänftigend auf ihn ein, während er langsam zurückging. Aber umsonst. Der Hund verfiel in wütendes, lautes Bellen.


    Schnitt


    Aus der Ferne drang, gedämpft, das wütende Bellen eines Hundes in das Triclinium. Die Hausherrin hielt inne und lauschte, erhob sich dann und trat, mit raschelndem Gewand, umstrahlt vom Funkeln ihrer Rubine zum Fenster hin. Ein Schwall frischer kalter Regenluft kam in den Raum, als sie einen Fensterflügel öffnete, die Kerzen legten ihre Flammen einen Moment lang waagrecht, und das Bellen war jetzt laut und deutlich zu hören. Tarquitia legte die Hände auf den Fensterrand und lehnte sich hinaus.
    In diesem Moment beugte sich Olivia über den Tisch hinweg zu Arrecina. Ihre wässrigen Augen waren groß und starr. Mit bebenden Lippen flüsterte sie ihr ganz leise etwas zu:
    "Er ist tot. Ihr Mann ist schon lange tot."


    Schnitt


    Das Gebell war ohrenbetäubend. Gehetzt zerrte Rutger ein Pony aus dem Verschlag heraus, warf ihm die Zügel über den Hals, und zog das widerstrebende Tier zur Türe - als diese mit einem Mal wuchtig aufgerissen wurde, und ein Albtraum sich vor ihm in das trübe Licht der Stalllaterne schob - ein greuliches Mischwesen aus Mensch und Ungeheuer, aufrecht auf zwei Beinen gehend, bedeckt von ledriger Haut und räudigem Fell, das in Fetzen herabhing. Sein Gesicht war eine widerwärtige Vogelfratze, die Augen seelenlose schwarze Teiche von Dunkelheit.
    Wiehernd riss sich das Pony los, und preschte zurück. Rutger stand starr. Er hatte dieses Monstrum schon mal gesehen, vorhin, als er in den Ruinen nach Arrecina gesucht hatte. Doch da war es auf einem steinernen Sockel gestanden.... Aschfahl wich er zurück.
    Das Ungetüm reckte den langen scharfen Schnabel in seine Richtung, spreizte die Klauen, und kam ohne Eile auf ihn zu. Ein heftiger Dunst von nassem Leder und fauligem Fell ging von ihm aus. Rutger spürte in seinem Rücken eine Wand. Die Ausgeburt des Schreckens kam immer näher, setzte zum Sprung an. Panisch tastete Rutger an den rauhen Brettern entlang, seine Finger fanden den glatten Griff einer Heugabel, und verzweifelt riss er diese Waffe an sich, so lächerlich gegen das fleischgewordene Grauen vor ihm - das jetzt auf ihn los sprang!


    Schnitt


    Ein Krachen und Poltern schallte über den Hof der Villa, war bis ins Triclinium zu hören, und noch immer bellte der Hund. Die Kerzenflammen schwankten, der Wind trieb den Regen durch das offene Fenster, und viele kleine Pfützen bildeten sich auf dem Boden. Dann hallte ein langgezogener Schrei durch die Nacht, ein paarmal hörte man noch den Hund bellen - und wieder war es still. Bis auf das stetige Rauschen des Regens.
    Tarquitia wendete sich vom Fenster ab. Ihre Finger huschten über die Flöte hinweg.
    "Olivia." Ihre Stimme war schneidend. "Geh nachsehen. Und hol den Netshvis herbei, mit den Tieren. Wir beginnen."
    Auffordernd hielt sie Arrecina die Hand hin. Ihre Augen glänzten.
    "Komm mit, meine junge Freundin, sieh mit eigenen Augen. Es ist soweit. Heute Nacht werden wir Großes vollbringen."


    Schnitt


    Schon seit geraumer Zeit pochte jemand gegen das äußere Tor der Villa. Doch das Wächterhaus war leer, und ebenso der Hof dahinter. Das Klopfen, fest und zusehends ungeduldiger, blieb ungehört.
    Da tauchte, aus dem Gewirr der Nebengebäude, ein großer Schatten auf. In Fetzen hing das räudige Fell herunter. Flecken von Schwärze waren die Augen. Ohne sich um das Klopfen zu scheren schlich das Wesen auf die Villa zu, und stieß mit blutbefleckter Klaue die Türe auf.... Fortsetzung folgt ;)

    Den Kopf melancholisch in die Hand gestützt, ließ Rutger den Wein in seinem Becher kreisen. Immer wieder irrte sein Blick zu der leeren Kline, auf der vorhin noch Arrecina gesessen hatte. Um ihn herum war Trubel und Heiterkeit, die Römer scherzten und beschenkten sich nebenbei mit ungeheuren Schätzen.
    Er saß zwischen ihnen, bleich und still, wie ein Geist, oder wie ein Toter, den man noch einmal zum Mahl geladen hatte. Vielleicht war er das? Ein Wiedergänger? Für uns ist er schon lange gestorben.
    Ein hoher Triller der Flöte jagte ihm einen kalten Schauder über den Rücken, und er sah: Nebel drang in den Saal. Die Gesichter der Feiernden verschwammen, und höhnische Fratzen traten aus ihnen hervor. Stimmen verzerrten sich, fröhliches Lachen wurde zu schrillem Kreischen - das Geräusch von Knochen, die in einer großen Mühle zermahlen wurden. Eisiger Wind kam auf und löschte die Kerzen.
    Rutger krallte die Hand um den Becher. Ruhig atmen. Er starrte auf einen Punkt des Bodenmosaiks und schüttelte den Kopf, versuchte die Chimäre abzuschütteln. Als er wieder aufblickte, brannten die Kerzen wie eh und je, Nebel war nicht zu sehen, und der Sohn des Neidings bekam gerade ein kleines Mädchen geschenkt.


    Er stürzte den Becher herunter, und der Wein wurde in seinem Mund nicht zu Asche.
    Zu Hel! Die Römer sollten nicht denken, dass er schon erledigt war. Mit Nachdruck riss er sich zusammen, straffte sich, und griff trotzig wieder nach den Speisen, ein ironisches Lächeln auf den Lippen.
    Denn es hieß:
    Schweigsam und besonnen / sei des Drichten Sohn
    Und kühn im Kampfe.
    Heiter und wohlgemut / erweise er sich
    Bis zum Tage des Todes.

    So heiter und wohlgemut wie er es vermochte aß Rutger von den Eiern, den Weinbeeren, dann den verschiedenen Muscheln. Die waren wirklich gut. Aber die Austern stellten ihn vor ein Problem. Grübelnd hielt er eine dieser buckeligen Muschelschalen in der Hand. Wie, bei Geri und Freki, sollte man das essen?
    "Verzeih. Wie wird das gegessen?"
    Über die Auster hinweg heftete er seine grüngrauen Augen fragend auf den Römer, der ihm schon mal Wohlwollen gezeigt hatte. Auf Flavius Gracchus.

    Langsam beugte Rutger sich vor, und besah sich den naseweisen kleinen Sohn des Flavius Aristides.
    "Kleiner Römer, glaub mir, welche Ahnen einer hat, darauf hat der 'Besitzer' gar keinen Einfluß.", machte er ihn aufmerksam, etwas spöttisch ob der Überheblichkeit des jungen Bengels.
    "Aber du hast recht, ich komme von jenseits der Alpen, aus dem Land der Wälder und Wölfe, wo zu dieser Zeit schon grimmig der Frost wütet, der Schnee mannshoch liegt, und die Reif-Thursen von den Bergen kommen…"
    Er grinste, nahm einen tiefen Schluck aus seinem Becher, und lehnte sich wieder zurück, um zu verfolgen wie der Held der Legio I einen Vers zum Besten gab.
    Anscheinend schätzten auch die Römer die Kunst der Skops, und schrieben doch nicht alles nur auf, wie Aquilius behauptet hatte. Interessant. Aber einen anständigen Stabreim brachten sie offenbar nicht zustande.


    Als Flavius Aristides sich ihm so unheilverkündend näherte, wurde ihm doch ungemütlich – einen kurzen Augenblick zuckte gar das Bild vor seinen Augen auf wie der Römer, die Sonne verdeckend, sein Gladius auf ihn niederstieß – er zog unbedacht zu tief die Luft ein, und spürte ein heißes Stechen im Brustkorb.
    Mit zusammengebissenen Zähnen blieb er trotzig sitzen, wich keinen Zoll zurück als der Römer sich zu ihm beugte, und lächelte ihm bei der Drohung nur mit müdem Hohn ins Gesicht. Obwohl er diesem Mann in seiner abgrundtiefen Niedertracht ohne weiteres zutraute, dass er so eine wahnsinnige Drohung auch wahrmachen würde.
    Verschlossen sah Rutger ihm hinterher wie er den Raum verließ, wandte sich dann wieder seinem Becher zu, der sich in der Zwischenzeit wundersamerweise gefüllt hatte. Eine lähmende Niedergeschlagenheit stieg in ihm auf. Er war besiegt - was hatte es für einen Sinn hier das absurde Spiel seiner Feinde mitzuspielen? Sehnlichst wünschte er sich, bei Arrecina zu sein.

    Es überraschte Rutger überhaupt nicht, dass Sciurus ihn gleich wieder rauswerfen wollte. Natürlich war er hier nicht willkommen.
    Wütend machte es ihn trotzdem. Mit versteinerter Miene packte er die Hand, mit der Sciurus ihm den Becher entrissen hatte, und drückte zu, fest und fester, am liebsten hätte er ihm die Knochen zermalmt. "Gewürm. Du bist nur Gewürm." knurrte er leise, mit abgrundtiefer Verachtung dem Mann entgegen, der offensichtlich auch ein Germane war, und dabei ein Lakai der Römer.
    Doch dann fiel ihm sein Schwur wieder ein – er durfte ja niemanden angreifen – und er löste den Griff, wollte sich schon zum Gehen wenden, als Gracchus einschritt.
    Mit skeptisch zusammengekniffenen Augen hörte Rutger seine Worte. Was für ein ganz und gar widersinniger Brauch, dachte er wieder, und trat auf die Aufforderung hin doch näher.
    "Ich danke für die Einladung." sagte er mit zynischem Lächeln zu Gracchus und setzte sich auf sehr unrömische Weise auf eine Liege, den Ellbogen auf die Lehne gestützt, ein Bein angezogen. Als erstes verhalf er sich zu einem neuen Becher Wein, dann - da er nicht vorhatte, vorher ein Saturnaliengedicht aufzusagen – zu einem Stück Fleisch. Beides war köstlich. Er kaute, und betrachtete die bizarre Versammlung mit einer düsteren Faszination, musterte dann den kleinen Jungen, der vorhin bei Arrecina gesessen hatte.
    "Ich bin Rutger Thidriksohn von den Hallvardungen. Und wer bist du?"

    Auf den ersten Blick war Rutger nicht wiederzuerkennen, als er auf der Cena der Flavier erschien – sauber gewaschen, ordentlich rasiert, in eine rote Tunika mit breitem vergoldetem Gürtel gekleidet, erinnerte wenig an den zerlumpten und dreckigen Gefangenen, den Flavius Aristides am Vortag in die Villa zurückgebracht hatte.
    Auf den zweiten Blick fiel die bleiche Gesichtsfarbe auf, die roten Schürfspuren an den Handgelenken, und die frisch verheilte Schwertwunde, die sich wulstig an seinem linken Unterarm entlang zog. Eine düstere Glut stand in den dunkel umschatteten Augen des jungen Germanen, dessen Blick etwas Fahriges, Flackerndes angenommen hatte.
    Gerade erst war er dem Tode sehr nahe gekommen, zwar lebte er noch, doch ihm war klar, dass, wenn kein Wunder geschah, es nur ein Aufschub sein konnte vor der unvermeidlichen Hinrichtung. Das Bewusstsein, dem Tode geweiht zu sein, lag über ihm wie ein dunkler kalter Schatten, zuweilen lähmend, dann wieder stachelte es seinen Hunger auf das Leben um so mehr an.
    Doch zu einer ausgelassenen Cena gehört ja auch das Memento Mori, und Rutger war da eine ganz gute Verkörperung davon.


    Hocherhobenen Hauptes trat er in den Saal und ließ seinen Blick über die versammelten Menschen schweifen. Und verwundert musste er sich eingestehen, dass Hrannyp-hall tatsächlich die Wahrheit gesprochen hatte – Flavier und Sklaven feierten, anscheinend einträchtig, zusammen ein Fest. Wie absurd.
    Mit einem leichten Kopfschütteln näherte er sich der Gesellschaft, vorbei an den Musikantinnen, und einen Moment lang starrte er unangenehm berührt auf die Flötistin, die ihre Finger flink über ihre Tibiae hinweggleiten ließ, dem Instrument nasale Töne entlockte, und Erinnerungen aufscheuchte an Ereignisse, an die Rutger besser gar nicht mehr denken wollte.
    Halbverborgen von einer Säule blieb er stehen und suchte mit den Augen nach Arrecina. Und sah sie. Wunderschön. Auf einer weichgepolsterten Kline. Umringt von ihrer Familie. An der Hand einen kleinen Jungen, der eifrig auf sie einredet. Umgeben von jedem erdenklichen Überfluss, köstlichen Speisen, bunten Gewänden, duftenden Kerzen, kunstvollen Mosaiken und spiegelndem Mamor.
    Ferner denn je erschien sie ihm in diesem Moment, und doch, sagte er sich, war das dieselbe Arrecina, die nicht gezögert hatte, als er sie fragte, ob sie mit ihm in den Norden kommen würde…oder nicht? War es nicht doch alles nur ein hitziger Wahn gewesen, geboren aus Fieber, Abhängigkeit und Gefahr…. Wenn ja, dann hielt ihn dieser Wahn jedenfalls noch fest in seinen Klauen.
    "So ein Irrsinn…" murmelte Rutger leise, und sah in diesem Moment, wie Arrecina sich an die Stirn griff, und unauffällig die Flucht ergriff.
    Er folgte ihr mit den Augen. Einen Augenblick wollte er noch warten, dann versuchen, ihr unbemerkt zu folgen. Von dem Tablett eines vorbeieilenden Dieners nahm er sich einen Weinbecher und trank, während Unmengen von opulent beladenen Platten aufgetragen wurden.

    Ungläubig, dem Carcer so bald - wenn auch nur vorläufig - wieder zu entkommen, trat Rutger in den Gang hinaus. Er atmete auf, und folgte Hannibal mit großen Schritten zurück ans Tageslicht. Mit geblendet zusammengekniffenen Augen setzte er sich an den Tisch in der Sklavenunterkunft, und griff nach der Schüssel mit dem Eintopf.
    Den Kopf in die Hand gestützt widmete er sich hungrig dem Essen, und hatte die Schale schnell geleert. Dann sah er auf die Tunika – sie war sehr rot – und aß langsam Olive um Olive, während er Hannibal beobachtete, wie er den Gürtel und die Schuhe hervorzauberte. Dies alles erschien ihm ein höchst seltsamer Brauch, und noch immer konnte er sich eines gewissen Misstrauens gegen diesen so entgegenkommenden Sklaven nicht erwehren.
    "Danke. Ja, ich kann es mir nicht vorstellen. Aber mal sehen. Dann geh ich jetzt baden."
    Mit schiefgelegtem Kopf rieb er sich das Kinn, auf dem sich ein struppiger blonder Bart breitgemacht hatte, und murmelte "Und rasieren sollte ich mich wohl auch…"
    Er schob das Tablett beiseite und erhob sich.
    "Ich kenne den Weg."
    Hoffentlich musste ihn Hrannyp-hall jetzt nicht auf Schritt und Tritt begleiten. Ob eigentlich die süße Ne-fahr-thyrri, die ihn einst so resolut an der Hand genommen, und dort entlang geführt hatte, bei dem Mahl auch zugegen sein würde?
    Rutger nickte Hannibal dankbar zu, und wandte sich zum gehen, um die Gelegenheit zu nutzen, endlich den Schmutz von Wochen und Monaten der Gefangenschaft loszuwerden.

    "Mein Wort..." Rutgers Augen wurden schmal.
    Einer der unzähligen Verse, in denen die Chatten ihr Wissen bewahrten, kam ihm in den Sinn:
    Weißt du den Mann / dem du wenig vertraust,
    Und hoffst doch von ihm Holdes,
    Sei fromm in Worten / und falsch im Denken
    Und zahle Losheit mit Lüge.

    Doch es war Wodans wendige Beredsamkeit, die aus diesen Zeilen sprach, und nicht die eherne Ehrenfestigkeit des Ziu. Und der war nun mal der Herr der Eide. Rutger schwankte, sich so zu binden, und misstrauisch suchte er in den Worten Hannibals nach einem verborgenen Hintersinn. Doch er fand keinen. Und das ständige Eingesperrtsein setzte ihm wirklich zu. Außerdem... vielleicht könnte er Arrecina sehen...?
    So nickte er langsam, und richtete den Blick nun fest, doch noch immer mit Argwohn, auf Hannibal.
    "So sei es. Bei Ziu, du hast mein Wort, Hranyp-hall." sprach er klar und mit einem tiefen Ernst.
    Dann bückte er sich, nahm das Essen auf, und ging auf die Türe zu, halb erwartete er dabei, daß der Sklave nun in Hohngelächter ausbrechen würde, und ihm selbstgefällig eröffnen würde, dass alles nur ein perfider römischer Scherz war.

    Zermürbt starrte Rutger ins Leere, und erwiderte weder den Blick noch den - Spott ? - dieses absonderlichen Mannes. Er streckte die Arme, und rieb sich abwesend die mal wieder aufgescheuerten Handgelenke, dann bückte er sich zu dem Tablett, hob den Krug und trank in tiefen Zügen. Mit dem Handrücken fuhr er sich über den Mund, und ließ die Hand, in der er den Krug hielt, wieder sinken.
    "So? Die Herren mit den Sklaven? Das ist doch lachhaft. Weißt du warum ich hier bin? Wenn es wirklich in deiner Macht liegt mich rauszulassen, Hranyp-hall, dann tu es - bitte."
    Ein Unterton drängender Verzweiflung stahl sich in dieses kleine Wort, und um so verbitterter sprach Rutger weiter: "Wenn nicht, dann verschone mich mit diesem wahrlich dürftigen Hohn."
    Er fuhr sich fahrig über die Stirn und sann darüber nach, ob es günstiger war, dem Sklaven den Krug direkt über den Schädel zu ziehen, oder zuerst den Rand an der Wand abzubrechen, um eine scharfe Bruchkante zu haben... er sah nicht so aus als ob er bewaffnet wäre... aber aus der Villa war wohl ohnehin kein Entkommen.

    Als das Schloß knirschte, hielt er in seinem Umhergehen inne und starrte wie gebannt auf den breiter werdenden Lichtspalt, trat dann in den Schatten zurück, weil der Fackelschein ihn blendete. Düster lag sein Blick auf Hannibal, flackerte zur Türe, dann wieder auf ihn. Leichtsinnig war dieser Mann. Und er sprach, nicht so wie Mico, dessen lastendes Schweigen Rutger in der Zeit in Mantua zu verabscheuen gelernt hatte.
    Der Geruch des Eintopfs stieg ihm in die Nase. Das Essen sah gut aus - so gut, dass Rutger ein unangenehmer Verdacht beschlich.
    "Mein Name ist Rutger Thidriksohn."
    Seine Stimme war rauh, er hustete und sprach müde aber starrsinnig weiter: "Ich bin kein Sklave, ich bin ein Kriegsgefangener. Aber danke für das Essen. Und wenn du mir die Fesseln lösen würdest, könnte ich es sogar essen..." ohne es wie ein Hund aus der Schüssel zu schlingen.
    "Nein." Die Verbände waren irgendwann von alleine abgefallen.
    Sein Blick verlor wieder den Fokus, driftete fahrig in die Ferne.
    "Was ist eigentlich da draußen los?" fragte er, in der vagen Hoffnung, dass der Mann nicht gleich wieder verschwand.

    Hoch stand die Sonne über ihm, ein glühender roter Fleck... das Gesicht des Flaviers schob sich davor, er schwang sein Gladius, um es ihm in die Brust zu stoßen ... er hörte Arrecina weinen und die Stimme seines Bruders: "Für uns ist er schon lange gestorben."... das Schwert fuhr auf ihn herab - und als er sich schweißgebadet aufrichtete, und wild in der Zelle umhersah, hatte er immer noch das Geräusch brechender Knochen im Ohr.
    "Zu Hel..." flüsterte er, und ein Beben ging durch seinen Körper. "Wann hört das endlich auf..."
    Seine Glieder waren steif, seine zerlumpte Tunika klamm. Er rappelte sich auf, ging in der Zelle hin und her, um wieder wärmer zu werden, stampfte fest auf und bewegte seine Schultern.
    Dem bisschen Licht nach zu schließen, das durch das Gitterfenster drang, war es Tag. Sehr gedämpft hörte er, wie Stimmen in der Ferne immer wieder etwas riefen: Io Saturnalia. War das nicht das Fest, das die Römer um die Julzeit herum feierten? "Bis zum Julfest werden wir bei meiner Sippe sein." hatte er zu Arrecina gesagt.


    "So ein Irrsinn..." murmelte er bitter, lehnte sich schwer gegen die Wand, und sah wieder Arrecinas Gesicht vor sich, über das im Schein der zuckenden Flamme Schatten hinweggestrichen waren, ihre dunklen Augen, die ihm voll Sternen gestanden hatten.
    "Arrecina..." flüsterte Rutger rauh, "Arrecina...", und eindringlich stellte er sich vor, wie er seinen frierenden Körper zurücklies, und aus der Zelle entwich, als ein Hauch, als ein Traum, ein Gedanke nur, und durch die endlosen Gänge der Villa zu ihr hinstrebte...
    Lautlos schlüpfte er durch Türen, ein Luftzug trieb ihn einen Bogengang von kühler Pracht entlang, die Oberfläche eines Brunnens kräuselte sich kaum merklich, als er vorüberwehte... und sie schließlich fand... wie der Flügelschlag eines Schmetterlings streifte er ihre Wange, hauchte lächelnd eine ihrer seidigen Haarlocken an, die ihr in die Stirn fiel, und sie sacht kitzelte... schmiegte sich als ein warmer Hauch an die Beuge ihres Halses, berauscht von ihrem Duft... und flüsterte ihr ganz leise all die Worte ins Ohr, die er in Wirklichkeit niemals ausgesprochen hätte... dann fand er ihre Lippen, und küsste sie hitzig, bevor er mit dem Strom ihres Atems verschmolz und davongetragen wurde... fort...


    "So ein Irrsinn." Rutger schüttelte den Kopf, und sah vor sich wieder die eisenbeschlagene Türe seiner Zelle. Ob man es selbst eigentlich merkte, wenn man den Verstand verlor?
    Er stieß sich von der groben Wand ab, und ging ruhelos wieder in dem kleinen Raum umher, drei Schritte hin, zweieinhalb zurück, drei hin, zweieinhalb zurück, drei hin... immer wieder.

    "Aber nein, sie ist ganz brav! Eine Seele von Hund!" nahm Mico seine kleine Maia vor der nicht an sie gerichteten Anschuldigung in Schutz. Schnell lief er hinter ihr her, zog sie vom Bassin weg, und nahm sie auf den Arm bevor sie noch wirklich was anstellte.
    Einer der herangetretenen Sklaven - ein baumstarker Wächter namens Diomedes - neigte seinen kahlen Schädel ehrerbietig vor Flavius Aristides. "Jawohl Herr." Er packte Rutger an der Schulter, um ihn Richtung Keller mitzunehmen, und noch ein weiterer Sklave trat hinzu. "Komm mit, Ausreisser!" befahl Diomedes, und da er ein Kumpel von Ajax war, und das ganze Drama aus dessen Erzählungen kannte, lag eine beissende Häme in seiner Stimme.


    Vor dem stummen Vorwurf des Flaviers hatte Rutger das Gesicht abgewandt. Er blickte vage auf die Mamorstatuen ohne diese zu sehen, und kam widerstandslos mit Diomedes. An der Schwelle zum Verlassen des Atriums blieb er plötzlich stehen, stemmte sich heftig gegen dessen Griff und drehte sich zu Arrecina. Er sah sie liebevoll an - fragte sich, ob es das letzte Mal war - zuckte leicht die Schultern, und lächelte schief, doch den Schatten der Verzweiflung in seinen Augen konnte er damit nicht verbergen.
    Machs gut, Kleines, dachte er, als die beiden Sklaven ihn weiter zerrten. Wären wir uns doch nie begegnet.

    "Sehr viel, meine liebe Lavinia, sehr viel..." raunte Tarquitia Lucia, dann richtete sie ihren eisig gewordenen Blick auf die stocksteife Sklavin.
    "Entferne das." befahl sie barsch, wies dabei mit einer knappen Kinnbewegung auf die Weinlache und auf die verstreuten Brote. "Deine Strafe erhältst du später."
    Olivia krümmte sich wie ein getretener Hund, senkte den Blick auf den Boden, und machte sich überstürzt ans Werk.
    "Mein geliebter Gatte ist überaus fern." fuhr die Hausherrin an Arrecina gerichtet fort. "Er benötigt etwas, das ihm... sozusagen den Weg weist."


    Sie lud eine Schnecke auf einen Silberlöffel und verzehrte sie konzentriert, bevor sie weitersprach.
    "Da wäre zum einen jenes vorzügliche Instrument..." - sie strich mit den Fingerspitzen andächtig über die, in einem schwer fassbaren Ton irisierende, Flöte, - "das ich das Glück hatte zu finden. Nun, ich suchte lange genug. Und da wäre zum anderen ... dein Talent."
    Sie beugte sich über den Tisch, und hob ein langes Tranchiermesser von einer Fleischplatte. "Du wirst zur rechten Zeit verstehen. Lass mich dir noch etwas Zicklein vorlegen... greif nur zu, Lavinia, tu dir keinen Zwang an, stärke dich...du isst ja gar nichts..."
    Kerzenflammen spiegelten sich auf der Klinge wieder, zogen eine rote Spur darüber, als Tarquitia sie in das zarte Fleisch hineingleiten ließ.


    Schnitt


    Rote Funken sprühten, als die breite Sichelklinge über den runden Schleifstein gezogen wurde, wieder und wieder. Nur eine Fackel erhellte den Unterstand, warf ihren düsterroten Schein in das bärtige Gesicht eines untersetzten Mannes, der eine seltsam hochgewölbte Kopfbedeckung und lange Roben trug. An seinem Gürtel hing ein großer Hammer.
    Mit einer Hand hielt er den Schleifstein in Bewegung, mit der anderen führte er geübt die Klinge darüber hinweg. Von Zeit zu Zeit hielt er inne, prüfte die Schärfe mit dem Daumen, und feuchtete den Stein an, bevor er sich weiter seiner Arbeit widmete, und wieder das schrille Kreischen ertönen ließ, das Rutgers Aufmerksamkeit erregt hatte.


    Der kauerte nun, einige Schritt entfernt, versteckt im Schatten eines Schuppens, und beobachtete den Messerschleifer mit Mißtrauen. Es sprach ja eigentlich nichts dagegen, seine Klingen immer scharf zu halten, aber irgendwie... -
    Ein knarrendes Geräusch hinter ihm ließ ihn herumfahren. Er duckte sich tiefer in den Schatten, spähte in den Regen und die Dunkelheit zwischen den Gebäuden... da war nichts. Dann blitzte noch einmal das Wetterleuchten, und für den Bruchteil eines Herzschlages sah Rutger, verzerrt auf einer Bretterwand, den Schatten des Wesens, das da mit ausgestreckten Klauen auf ihn zukam - Das Blut gefror ihm in den Adern! Ziu hilf!!!
    Bebend schlug er das Zeichen von Donars Hammer, sprang auf die Füße und stürzte in wilder Flucht blindlings in das Wirrwarr halbverfallener Nebengebäude, von deren schiefen Dächern der Regen als Vorhang dicker Wasserstrahlen herunterprasselte.


    Schnitt


    In einem eleganten Bogen wölbte sich der rote Strahl, es plätscherte leise, als Olivia Arrecinas Kelch erneut füllte.
    "Mancher würde mich schmähen." stellte Tarquitia fest, setzte ihrerseits den Kelch an die Lippen und trank. "Mancher würde mich wohl 'wahnsinnig' nennen."
    Sie lächelte sardonisch.
    "Aber welcher Wahnsinn wohnt einem Schicksal inne, das zwei füreinander geschaffene Seelen zusammenführt, im Taumel höchsten Glückes, nur um sie grausam wieder auseinander zu reißen!? Ich weiß es, Lavinia, und du weißt es, die Götter sind entweder boshafte Wesenheiten, die sich an unserem Leid ergötzen, oder aber machtlos, vielleicht auch von dumpfer Gleichgültigkeit... War Orpheus ein Wahnsinniger? Vielleicht. Die Liebe läßt uns rasen."
    Sie drehte den Weinkelch in der rubinberingten Hand, und ein trauriges Lächeln umspielte ihre welken Lippen.
    "Und doch, wenn es aus Liebe getan ist, so ist es schön getan. Du bist jung, Lavinia... - jünger als ich dachte - hast du schon einmal wahrhaft geliebt?"


    Unsanft stießen sie Rutger hinein, er landete auf dem Steinboden, und hörte wie sich hinter ihm krachend die massive Eichentüre schloss. Dann ein Knirschen als der Riegel vorgeschoben wurde, und mal wieder war er eingesperrt. Nur wenig Licht drang von oben durch ein vergittertes Fenster.
    Er lag auf dem Boden, die Hände noch immer auf den Rücken gebunden, presste die Stirn an den kalten Stein und atmete langsam, flach, ein und aus, bis der Schmerz in seinem Brustkorb abklang. Die Luft war schal und schwer.
    "Garms Grimm." flüsterte er verbittert. "Drecksbastarde."
    Als er sich aufsetzte, hatten seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt, und er konnte die Inneneinrichtung bewundern: ein wenig Stroh, eine löchrige Decke, ein Eimer.


    Rutger stand auf, ging in der Zelle umher, legte den Kopf in den Nacken, und sah zum Fenster hoch. Kein Himmel war dahinter zu sehen, nur vage weiteres Mauerwerk zu erahnen. Er schloß die Augen, stand regungslos da, spürte wie ein gewaltiger Zorn in ihm aufkochte! - Auf die Nornen, die sein Schicksal so tückisch knüpften. Auf Wodan, der ihn nicht zu sich gerufen hatte, obwohl er sich ihm geweiht und mit Todesverachtung gekämpft hatte. Auf Flavius Aristides, der ihn im Kampf niedergestreckt hatte. Auf Flavia Arrecina, die ihn mit ihrem Liebreiz betört hatte. Auf Flavius Aquilius, der ihn jetzt wohl kreuzigen lassen würde. Auf seinen Bruder Lingwe, der ihn schon für tot erklärte. Auf sich selbst. Auf alles und jeden...
    "Ihr dreckigen Schweine!" brüllte er, ballte die Fäuste, und riss wutschnaubend an den Fesseln.
    "Solln euch doch Hels Hunde alle in Fetzen reißen!"
    Wuchtig trat er gegen die Türe , doch die war davon gar nicht beeindruckt, und das Schreien tat seinen Lungen nicht gut. Hustend krümmte er sich zusammen, sank auf die Decke. Und da saß er dann lange Zeit, den Kopf an die Wand zurückgelehnt, den Blick ins Leere gerichtet, versunken in dumpfes Brüten.

    Bitter starrte Rutger auf die Villa. Als er sie zuletzt gesehen hatte, hatten die Blätter gerade erst begonnen, sich bunt zu färben. Er hatte gehofft, diese kalte weiße Fassade nie wieder zu sehen. Nun streckten die Bäume ihre kahlen Äste in den frostigen Winterhimmel, und er war wieder genau da, wo seine Flucht ihren Anfang genommen hatte.
    Er wandte den Blick zu Arrecina, sah wie ihr Vater sie vom Pferd hob. Es tat ihm in der Seele weh wie zerbrechlich und verängstigt sie aussah. Aber wenigstens schien ihr Vater sanft mit ihr umzugehen, und Rutger war froh, dass er wohl auf Arrecina nicht wütend war oder sie gar verstoßen hatte - wenn es auch sehr befremdlich war, zu sehen, wie der verhasste Neiding, derselbe Mann, der Gytha grausam ermordet hatte, sich liebevoll um seine junge Tochter kümmerte.


    Rutger hatte, in den endlosen Stunden in der Zelle in Mantua, befürchtet, dass Arrecina ihm was vorgemacht hatte. Dass sie - verständlicherweise - versucht hatte, sich vor ihrem Entführer zu schützen, indem sie ihm den Kopf verdrehte, und dass sie nun, nach ihrer 'Rettung' nur mehr Hass für ihn übrig hätte. Aber während des Rittes hatte sie ihm immer wieder verstohlene Blicke zugeworfen, die eine andere Sprache sprachen, die besorgt waren, und fragend, und auf jeden Fall nicht gleichgültig.
    Diese Blicke wärmten ihn, er hatte sie, wenn ihr Vater nicht hinsah, erwidert, und ihr heimlich zugelächelt, mit einer Unbekümmertheit, die er nicht wirklich verspürte. Gerade erst dem Tod - vorläufig - von der Schippe gesprungen war er noch immer kraftlos, das Reiten strengte ihn enorm an, und wenn er zu tief einatmete stach es in seinen Lungen wie von einem Messer. Aber natürlich wollte er nicht, dass Arrecina sich sorgte, und vor Flavius Aristides konnte er sich schon gar keine Blöße geben - so saß er also bleich und hohlwangig zu Pferde, und überstand mit - meist - hocherhobenem Haupt und mit großer Verbissenheit auch diese Tage.


    Hinter ihm stieg Mico, der Handlanger des Flaviers, vom Pferd und hob als erstes Maia, seinen kleinen Hund herunter, der während der Reise die meiste Zeit vor ihm auf dem Mantelsack gesessen war und begeistert die Schnauze in den Wind gehalten hatte. Während das Hündchen mit fröhlichem Gebell um die Pferde herumsprang, kam Mico zu Rutger, sah ihn warnend an, und löste dann seine Fußfesseln.
    Steifbeinig rutschte Rutger vom Pferderücken, und landete unsicher auf halb tauben Füßen. Mico packte mit festem Griff Rutgers hinter dem Rücken zusammengeschnürte Hände, und ging mit ihm, hinter dem Flavier her, auf die Villa zu. Und so durchschritt Rutger zum zweiten Mal erschöpft, grimmig, und in Bande geschlagen die Porta der Villa Flavia. Maia hüpfte lustig hinterdrein.
    Im Atrium angekommen rannte sie aufgeregt schnüffelnd im Zickzack um die Sockel der ehrwürdige Ahnen, und löschte laut schlabbernd ihren Durst am Wasserbassin. Ihr Besitzer hingegen schien von der Pracht der Halle vollkommen geblendet. Mit großen Augen sah er sich um, und seine Lippen formten ein stummes "Bei Teutates!".

    Nach einer weiteren zergrübelten Nacht war Rutger gegen Morgen in einen unruhigen Schlaf gefallen. Er erwachte von der Stimme seines Feindes, und als er die Augen aufschlug, sah er den Flavier über sich stehen. Eine kalte Hand legte sich um sein Herz, die Kehle war ihm wie zugeschnürt, und er wußte mehr denn je, dass er nicht sterben wollte. Nicht so... Krampfhaft krallten sich seine Hände in das Stroh, er atmete langsam ein und aus, versuchte seiner Todesangst Herr zu werden, sie hinter einer Maske der Gleichmut zu verbergen.
    Wenn etwas ist, gewaltger als das Schicksal, sagte er sich wieder und wieder, so ist's der Mut, der's unerschüttert trägt, und mit versteinerter Miene setzte er sich auf. Ohnmächtige Wut glomm in seinen dunkel umschatteten Augen. Da er auf die Festigkeit seiner Stimme noch nicht gewettet hätte, schwieg er.


    Die Götter sollten mit ihm sein? Was redete der da? Aufbruch? Wollte er ihn woanders hinrichten lassen? Mit zusammengebissenen Zähnen richtete Rutger sich auf. Sein Blick hatte etwas Unbestimmtes bekommen in den letzten Wochen, schien durch die Dinge hindurchzugehen, richtete sich nur kurz auf Flavius Aristides als der ihn seltsamerweise beim Namen nannte. Dann, als Rutger langsam an ihm vorbei auf die Türe zuging, schien er schon wieder weit in die Ferne zu reichen.

    Tage kamen und vergingen, dehnten sich zu Wochen, dann zu Monaten. Rutger ging es langsam besser. Zu Anfang war ein paarmal ein Medicus zu ihm gekommen, ein gütig wirkender alter Mann, der seine Wunden versorgt und seinen Arm geschient hatte, und ehrlich überrascht schien, als Rutger sich tatsächlich zu erholen begann. Der Medicus hatte wohl damals auch Mico davon überzeugt, daß in seinem halbtoten Zustand keine Fluchtgefahr bestand, und ihm so die ständigen Fesseln erspart.
    Dafür war Rutger ihm dankbar. Aber er machte sich keine Illusionen: Flavius Aristides sorgte sich gewiss nicht aus Nächstenliebe so um seine Gesundheit, und einige aufgeschnappte Fetzen, aus einem Wortwechsel zwischen Mico und dem Medicus, bestätigten seine Vermutung - der Flavier wollte ihn am Kreuz sterben sehen. Was sonst.


    "Noch bin ich nicht tot!" sagte Rutger sich immer wieder trotzig, "Noch nicht!".
    Aber die Vorstellung des elenden Sterbens am Kreuz drängte sich ihm immer wieder unbarmherzig auf. Würde er standhalten? Sein Schicksal unerschüttert tragen?
    Einmal, er war noch jünger gewesen, hatte er einen Gekreuzigten gesehen, der schon seit Tagen tot war, und ganz von Krähen bedeckt, die sein Fleisch frassen. Als er näher gekommen war, waren die Vögel aufgeflogen, und hatten den zerfetzten Kadaver offenbart. Dieses Bild sah er nun wieder und wieder vor sich.
    Rutger hoffte, dass er stark sein würde, dass er mutig und als wahrer Hallvardunge sterben würde - aber er hatte Angst. Angst vor einem endlos in die Länge gezogenen Verrecken. Angst den Schmerzen nicht standhalten zu können. Angst, dass die Krähen sein Herz in einem fremden Land fressen würden, und aus ihm ein rastloser Wiedergänger würde.


    Seine Götter waren nicht mehr mit ihm. Wodan zürnte, er hatte ihn nicht als Opfer angenommen, er hatte seinen Speer bersten lassen. Kein Wunder. Rutger hatte sich von einer Römerin den Kopf verdrehen lassen und seine Rache vergessen. Arrecina... es schien ihm alles wie ein verrückter Traum. Er dachte viel an sie, sorgte sich um sie. Ob ihr Vater sie sehr bestrafen würde? Es war doch nicht ihre Schuld was geschehen war.
    Endlose Stunden lag er grübelnd auf dem Stroh, ging, als er wieder besser atmen konnte, ruhelos in der Zelle umher, drei Schritte hin, vier zurück, drei hin, vier zurück...immer wieder.
    Mico, sein Bewacher, sprach nicht mit ihm. Der Medicus kam schon lange nicht mehr. Die Tage wurden kürzer. Er verlor das Zeitgefühl. Sagte sich leise Lieder vor, und Verse aus den Sagas, um wenigstens seine eigene Stimme zu hören. Irgendwann verschmolz alles zu einem einzigen endlosen ungewissen immergleichen Tag, und er wünschte sich schon beinahe seine Hinrichtung herbei. Damit es endlich vorbei wäre.


    Dann wieder fasste er Fluchtpläne, kratzte sich mühselig einen Stein aus der Mauer, grub im Boden bis er auf Fels traf. Schließlich - es war schon Winter, kalt und dunkel - schüttelte er noch einmal die Apathie ab, und griff mit eben jenem Stein in der Faust Mico an, als der ihm das Essen brachte. Doch der war darauf gefasst, zog ein Messer und erwehrte sich seiner.
    Danach legte er ihm wieder Fesseln an. Und wieder lag er brütend, grübelnd auf dem Stroh. Ob sie zu Hause schon das Julfest feierten? Das Wissen, dem Tode geweiht zu sein, erdrückte ihn. Die Einsamkeit zermürbte ihn. Er hoffte, dass es bald vorbei wäre.

    "Seid uns willkommen." Die Stimme von Rutgers Mutter war voll Wärme, doch sie sah ihre heimgekehrten Söhne nicht an, als sie auf zwei freie Plätze wies, wo schon gedeckt war. "Verweilt mit uns, und eßt mit uns, bevor ihr wieder gehen müsst."
    "Aber Mutter, warum müssen wir...." setzte Rutger verwirrt an, aber Sigmar schüttelte eindringlich den Kopf, und gebot ihm mit einer Geste zu schweigen. Beunruhigt setzte sich Rutger an den Tisch. Seine Mutter verteilte große Stücke von warmem frischem Brot, legte auch vor ihm ein Stück auf den Tisch. Rutger sah den Dampf aufsteigen, aber er roch nichts davon. Noch immer war er von der Kälte bis ins Mark durchdrungen, auch das Feuer schien da nicht zu helfen, es leuchtete zwar, er spürte aber keine Wärme.
    Die anderen begannen schweigend zu essen. Rutger griff nach verschiedenen Speisen, aber alles schmeckte fade in seinem Mund. Wie Asche. Jorun reichte ihm einen Becher mit Met, Rutger wollte ihn entgegennehmen, doch als er fast ihre Hand berührte schauderte sie, und stellte den Becher schnell vor ihm auf dem Tisch ab.


    "Jorun! Was ist los?! Was habt ihr denn nur alle?" Aufgebracht hieb Rutger mit der Faust auf den Tisch. Das Feuer sank in sich zusammen, und es wurde deutlich dunkler in der Halle.
    "Das ist ... Rutger, glaube ich." flüsterte Jorun, schien den Tränen nahe, und Sigmar machte Rutger wieder Zeichen zu schweigen.
    "Sigmar. Rutger." Die tiefe Stimme ihres Vaters erfüllte den Raum. "Heute Nacht seid ihr hier willkommen. Aber stört nicht den Frieden meiner Halle. Sigmar, du warst mir ein tapferer Gefolgsmann, und wärst ein würdiger Nachfolger geworden. Ich verfluche den Tag, an dem du dich entschieden hast, mit den Hermunduren zu ziehen. - Rutger, du scheinst zornig. Ja, du wurdest uns zu früh entrissen. Aber dies war dein Schicksal. Trage es wie es einem Hallvardungen gebührt!"
    "Wir vermissen euch, alle beide." Rutgers Mutter klang traurig aber gefasst.
    "Ich wünschte..." Jorun kämpfte um ihre Fassung, "...ich wünschte, ihr wärt nicht..." Sie brach ab, und warf einen trotzigen Blick in die Runde. "Wir können nicht sicher sein! Vielleicht irren wir uns, vielleicht ist Rutger noch am Leben!"
    Warum sollte ich denn ... tot sein, fragte sich Rutger bestürzt, sah erschrocken auf, und blickte in Sigmars Gesicht. Sigmar - der in der großen Schlacht gegen die Römer gefallen war - lächelte Rutger traurig an. Und dann fiel es Rutger wieder ein, wie er gekämpft hatte, gegen Flavius Aristides, wie seine Waffe zerbrochen war, wie der Römer ihm das Schwert zwischen die Rippen gestochen hatte...
    "Nein..." flüsterte er ungläubig.


    "Jorun, sei vernünftig," bat Lingwe kühl, und stellte fest: "Du weißt, es macht keinen Unterschied. Entweder er hat gekämpft, und ist ehrenvoll gestorben! Oder, die Alternative ist: er hat sich den Römern unterworfen, sein nacktes Leben gerettet und uns Schande bereitet. Ich will das nicht beschwören, aber..., nun ja, du weißt dass Rutger sich schon früher manchmal scheute in unserem Kampf alle Konsequenzen zu ziehen. In jedem Fall ist er - für uns! - gestorben."
    "Sprich nicht so über ihn!" verteidigte Jorun ihn wütend, aber Rutger hörte das kaum noch.
    "Gestorben." wiederholte er tonlos. "Ich bin gestorben..."
    Hilflos sah er zu Sigmar. Die Halle um ihn herum begann an Substanz zu verlieren. Nebel wogte durch die Ritzen, die Gesichter seiner Familie verblassten, Joruns Stimme verklang. Dann standen er und Sigmar alleine inmitten der grauen Schleier.
    "Was soll ich tun? Kann ich bei dir bleiben?" Ihm war so kalt.
    Sigmar schüttelte langsam den Kopf. "Du bist zäh, kleiner Bruder...." Auch ihn konnte Rutger nur mehr undeutlich sehen. "...noch bist du nicht tot. Hör nicht auf Lingwe."
    Dann war da nur noch Nebel.



    Und mit einem mit einem gequälten Aufkeuchen erwachte Rutger aus - der Bewußtlosigkeit? Einem Traum? Oder war er wirklich Gast gewesen beim dem Fest zu dem man alljährlich die Toten lädt? Wer weiß. Jedenfalls durchfuhren ihn erneut die Schmerzen, kämpfte er weiter um jeden Atemzug, starrte er blicklos in das Mondlicht und krallte sich mit grimmiger Verbissenheit weiter am Leben fest....

    In der Ferne rauschte leise der Fluß. Tiefe Schwärze erfüllte die Zelle. Nur ein Strahl von bläulichem Mondlicht fiel durch das Kellerfenster, und zeichnete einen scharf umgrenzten Streifen auf den Boden. Der Dunkelheit entrissen glänzte dort Stroh wie lauteres Silber, auch in blutverkrustetem Haar verfing sich der Mondstrahl, und ruhig lag der kühle Schein auf den schmerzerfüllten Zügen des Germanen. Noch immer holte sein geschundener Körper Atem, sog mit nassem Rasseln schwer die Luft ein, peinvoll und immer langsamer.



    Aber sehr weit fort von diesem Ort schritt Rutger durch einen dichten Nebel. Er spürte keine Schmerzen, keine Atemnot - eigentlich spürte er gar nichts, bis auf eine durchdringende Kälte. Bilder und Gestalten waren im Nebel, vage, sie zerflossen wenn er genau hinsah. In der Ferne grollte etwas, dumpf und hungrig, ließ ihn schneller vorwärtsstreben. Ein Licht zog ihn an, ein warmer roter Feuerschein, anfangs gedämpft, dann immer heller. Die Formen um ihn herum wurden deutlicher, während er sich diesem Schein näherte. Er konnte nicht sagen, ob der Nebel sich zurückzog, und so die Umgebung immer mehr enthüllte, oder ob der Nebel selbst sich zu immer festeren Formen kristallisierte...


    Dann sah er es ganz deutlich: das Licht war das Feuer in der großen Halle seiner Eltern. Rutger stand vor dem Tor, und sah hinein, erleichtert, endlich wieder zu Hause zu sein. Die Torflügel standen weit offen, obwohl es Nacht war. Gerade so, als hätte man sein Kommen erwartet. Er spürte dass jemand hinter ihn trat, und hörte die Stimme von Sigmar, seinem ältesten Bruder: "Gehen wir doch hinein."
    Sie traten in die Halle, gingen vorbei an leeren Bänken, an den vertrauten Wandbehängen, am Stamm der großen Esche, die sich durch das Dach hindurch in den Nachthimmel reckte. Brennende Fackeln waren an der Wand der Halle aufgesteckt, eine nach der anderen erlosch, als Rutger und Sigmar an ihnen vorbeigingen. Nur das große Kaminfeuer brannte noch hell. Zweige von Eibe, Mistel und Weißdorn waren zu einem Zeichen geflochten darüber aufgehängt - Rutger wußte, dass dies eine bestimmte Bedeutung hatte, etwas wichtiges wohl, aber er kam gerade nicht darauf.


    An der Tafel vor dem Kamin saß versammelt seine Familie. Sein Vater blickte düster schweigend in das Feuer. Seine Mutter rückte einige dampfende Speisen auf dem Tisch zurecht. Seine Brüder Starkad und Lingwe, sowie dessen Frau und Kinder waren auch dabei, und dann sah Rutger seine Schwester Jorun. Sie trug jetzt das Haar bedeckt, wie es sich für eine verheiratete Frau gehörte. Freudig ging er auf sie zu, er hatte sie sehr vermisst, lächelte und wollte sie in die Arme schließen, doch sie wandte sich von ihm ab, und sagte mit leiser, trauriger Stimme zu den anderen: "Sie sind hier...."