Die Hausherrin holte wiederum Luft, setzte zu einem Ausruf der Empörung an - und schwieg, starrte furchtsam auf die zuckende Klinge. Unschlüssig schwankte Olivias Blick zwischen den beiden Frauen hin und her, sie biss sich fest auf die Unterlippe und ihre wässrigen Augen waren hektisch ganz weit aufgerissen.
"Was soll ich nur tun….", wimmerte sie leise "…wo soll ich denn dann hin…?"
Sie hob die um die Phiole gekrampften Hände hoch, so als wollte sie das Fläschchen im nächsten Moment auf dem Boden zerschmettern - ließ sie dann wieder sinken und trat rasch dicht an Arrecina heran. "Hier!"
Fest drückte sie ihr die Phiole in die Hand und brachte ihr rundes Gesicht ganz nahe an Arrecinas. Ihr Haar klebte wirr in der niedrigen Stirn, und auf den Wangen waren nervöse rote Flecken erblüht.
"Du warst gut zu mir, werte Herrin. Viel besser als die…" - sie zeigte auf die sprachlose Hausherrin - "…es jemals war! Deshalb sage ich dir auch: Fünfundzwanzig Tropfen sind viel zu viel. Das Zeug ist nämlich auch giftig. Mehr als zehn darfst du davon nicht nehmen!"
"Verrat.", flüsterte Tarquitia Lucia mit einer Stimme wie gemahlenes Glas. "Du kleines Drecksstück. Verrat allenthalben."
Bei diesem Klang fuhr Olivia sofort zusammen und krümmte sich unterwürfig, doch mit einem Mal richtete sie sich wieder auf und wandte sich schlagartig ihrer Herrin zu - das bleiche Gesicht der Sklavin verzerrte sich zu einer hämischen Grimasse lange angestauten Hasses, und dann packte sie blitzschnell zu, riss Arrecina wildentschlossen mit einem Ruck das Messer aus der Hand, wirbelte herum und stieß es Tarquitia Lucia bis zum Heft in die Brust hinein…
Ein gellender Schrei hallte über den Hof, die tödlich getroffene Frau wankte und presste die Hände auf die Brust, und zwischen ihren Fingern quoll unaufhaltsam ein pulsierender roter Strom hervor. Sie brach in die Knie, hob die Augen anklagend zu Arrecina, Olivia und Rutger und streckte ihnen ihre nassen roten Hände entgegen, als wolle sie sie mit sich ziehen - dann schien ihr Blick mit einem Mal von etwas hinter den dreien angezogen zu werden, richtete sich entsetzt darauf. Aber da war nichts zu sehen. Ein namenloser Schrecken trat in die Augen der sterbenden Frau, sie versuchte vergeblich auf dem Boden davon zu kriechen, dann brachen ihre Augen und sie sank zu Boden.
Ganz still lag sie da, während eine glitzernde Lache um sie herum entstand - beinahe schwarz in der Dunkelheit - und schnell wuchs. Dunkle Rinnsale flossen in den Ritzen der Bodenplatten, breiteten sich aus wie die Stränge eines verworrenen Netzes, in dessen Zentrum der Leichnam der Frau lag, die in dieser Nacht den Tod hatte besiegen wollen.
"Sie ist tot…" flüsterte Olivia, schlug die Hände vors Gesicht und brach in ein hysterisches Gelächter aus.
"Tot!" jauchzte sie immer wieder. "Tot!"
Mit abergläubischer Furcht sah Rutger auf die niedergestreckte Hexe, schlug das Zeichen von Donars Hammer und trat hastig zurück bevor der Rand der Blutlache seine Füße nässte. Dann warf er rasch den räudigen Fellüberwurf ab und entledigte sich der Krallenhandschuhe, bevor er zu Arrecina trat, um sie besorgt zu stützen.
"Kleines, geht es noch? Komm, nimm schnell das Gegengift und dann lass uns schleunigst von hier verschwinden!"