Beiträge von Rutger Severus

    Die Hausherrin holte wiederum Luft, setzte zu einem Ausruf der Empörung an - und schwieg, starrte furchtsam auf die zuckende Klinge. Unschlüssig schwankte Olivias Blick zwischen den beiden Frauen hin und her, sie biss sich fest auf die Unterlippe und ihre wässrigen Augen waren hektisch ganz weit aufgerissen.
    "Was soll ich nur tun….", wimmerte sie leise "…wo soll ich denn dann hin…?"
    Sie hob die um die Phiole gekrampften Hände hoch, so als wollte sie das Fläschchen im nächsten Moment auf dem Boden zerschmettern - ließ sie dann wieder sinken und trat rasch dicht an Arrecina heran. "Hier!"
    Fest drückte sie ihr die Phiole in die Hand und brachte ihr rundes Gesicht ganz nahe an Arrecinas. Ihr Haar klebte wirr in der niedrigen Stirn, und auf den Wangen waren nervöse rote Flecken erblüht.
    "Du warst gut zu mir, werte Herrin. Viel besser als die…" - sie zeigte auf die sprachlose Hausherrin - "…es jemals war! Deshalb sage ich dir auch: Fünfundzwanzig Tropfen sind viel zu viel. Das Zeug ist nämlich auch giftig. Mehr als zehn darfst du davon nicht nehmen!"
    "Verrat.", flüsterte Tarquitia Lucia mit einer Stimme wie gemahlenes Glas. "Du kleines Drecksstück. Verrat allenthalben."
    Bei diesem Klang fuhr Olivia sofort zusammen und krümmte sich unterwürfig, doch mit einem Mal richtete sie sich wieder auf und wandte sich schlagartig ihrer Herrin zu - das bleiche Gesicht der Sklavin verzerrte sich zu einer hämischen Grimasse lange angestauten Hasses, und dann packte sie blitzschnell zu, riss Arrecina wildentschlossen mit einem Ruck das Messer aus der Hand, wirbelte herum und stieß es Tarquitia Lucia bis zum Heft in die Brust hinein…


    Ein gellender Schrei hallte über den Hof, die tödlich getroffene Frau wankte und presste die Hände auf die Brust, und zwischen ihren Fingern quoll unaufhaltsam ein pulsierender roter Strom hervor. Sie brach in die Knie, hob die Augen anklagend zu Arrecina, Olivia und Rutger und streckte ihnen ihre nassen roten Hände entgegen, als wolle sie sie mit sich ziehen - dann schien ihr Blick mit einem Mal von etwas hinter den dreien angezogen zu werden, richtete sich entsetzt darauf. Aber da war nichts zu sehen. Ein namenloser Schrecken trat in die Augen der sterbenden Frau, sie versuchte vergeblich auf dem Boden davon zu kriechen, dann brachen ihre Augen und sie sank zu Boden.
    Ganz still lag sie da, während eine glitzernde Lache um sie herum entstand - beinahe schwarz in der Dunkelheit - und schnell wuchs. Dunkle Rinnsale flossen in den Ritzen der Bodenplatten, breiteten sich aus wie die Stränge eines verworrenen Netzes, in dessen Zentrum der Leichnam der Frau lag, die in dieser Nacht den Tod hatte besiegen wollen.


    "Sie ist tot…" flüsterte Olivia, schlug die Hände vors Gesicht und brach in ein hysterisches Gelächter aus.
    "Tot!" jauchzte sie immer wieder. "Tot!"
    Mit abergläubischer Furcht sah Rutger auf die niedergestreckte Hexe, schlug das Zeichen von Donars Hammer und trat hastig zurück bevor der Rand der Blutlache seine Füße nässte. Dann warf er rasch den räudigen Fellüberwurf ab und entledigte sich der Krallenhandschuhe, bevor er zu Arrecina trat, um sie besorgt zu stützen.
    "Kleines, geht es noch? Komm, nimm schnell das Gegengift und dann lass uns schleunigst von hier verschwinden!"

    Verdammt, er hatte doch was ganz anderes sagen wollen! Aber es kam ihm nicht über die Lippen. Rutger schluckte und zog Arrecina ganz eng an sich, spürte beglückt wie sie sich an ihn lehnte, und legte seine Hand sanft über ihre. Mit dem Daumen streichelte er zärtlich ihren Handrücken, während er mühsam nach Worten suchte, aber die wollten ihm nicht gehorchen, entglitten ihm, sträubten sich dagegen, sich zu vernünftigen Sätzen zu fügen… Er vergrub die Lippen in ihrem Haar, atmete ganz tief dessen Duft ein…
    "Was machtst du nur mit mir…", murmelte er leise in seiner Muttersprache, senkte den Kopf, und suchte mit den Lippen ihre Schläfe, küsste sie sacht, "…bei Freya und Frigg, was stellst du hier nur mit mir an, Kleines…?"
    Da sie ihm darauf wohl kaum antworten konnte, sprach er leise auf Latein weiter, wobei sein Atem warm über ihre Schläfe strich:
    "Ich meinte doch nur wegen eben… aber das andere tut mir auch leid - dass ich dich entführt habe.... Ich habe doch am Anfang nicht wirklich dich gesehen, verstehst du, sondern nur die Tochter deines Vaters. Aber dann ist alles ganz anders geworden. Was geschehen ist, na ja, eine ganze Menge. Wir waren in den Bergen unterwegs, sind geritten, haben Feuer gemacht, ein Schafhirte hat versucht dich zu rauben und mich abzustechen, und dann war da das furchtbare Unwetter, Phaidra hat uns abgeworfen, und wir haben Schutz in dieser unheimlichen Villa gefunden, wo wir dann vom Regen in die Traufe gekommen sind…"


    Es war nicht so einfach, sich aufs Reden zu konzentriere. Seine Lippen schweiften von ihrer Schläfe über ihre Wange, er strich vorsichtig ihr Haar zurück und hauchte einen schwerelosen Kuss auf die feine Wölbung ihres Ohres.
    "Aber Arrecina, du musst keine Angst haben vor dem was du bist. Du wirkst jetzt schon sehr verändert, auf eine Weise, aber dann auch wiederum nicht… Das muß jetzt seltsam klingen, lass mich versuchen, es zu erklären."
    Er richtete sich auf, rieb fürsorglich ihre Schultern.
    "Ist dir wirklich warm genug? Magst du eine Decke haben, vielleicht? - Weißt du, bevor du die Erinnerung verloren hast, hattest du zwei Gesichter. Jedenfalls schien es mir so, in den Tagen, die wir zusammen unterwegs waren. Das eine Gesicht war schon ein bisschen boshaft, manchmal, aber das andere, das strahlte so hell! Du darfst nicht glauben, du wärst eine Person, an die man sich nicht erinnern will. Du warst sehr fröhlich, zuversichtlich und beherzt… und überhaupt ganz wunderbar."
    Rutger seufzte ganz leise und blickte hinaus zur Fensterluke. Freyas Halsband, das Brisingamen, zeichnete sich über den Hügeln der Stadt am Nachthimmel ab. Wenn er doch nur wüsste, ob ihm Arrecina damals bloß was vorgemacht hatte! Aber vielleicht war es gar nicht wichtig, heute Abend. Im Dunkeln lächelte er. Seine Bitte wollte jetzt lieber nicht an sie richten. Vielleicht später. Dies war schon eine seltsame Nacht, irgendwann um Mittwinter, wo ein Todgeweihter ein Mädchen ohne Erinnerung in den Armen hielt. Und dann sagte er es doch, rau und unvermittelt.
    "Ich liebe Dich, Arrecina. Ich liebe Dich über alles."
    Zum Glück war es so dunkel hier oben.



    Lange schon waren die Saturnalien vorüber, und der Carcer hatte Rutger wieder. Enge, Kälte und Dunkelheit waren um ihn, dazu die bedrückende Monotonie vollkommen gleichförmiger Tage, nur unterbrochen wenn ihm das karge Essen gebracht wurde - und doch, doch war er erstaunlich guter Dinge. Arrecina wiederzusehen, und sie in den Armen zu halten zu dürfen, hatte ihn seltsam belebt, und ihn gegen alle Vernunft mit Zuversicht erfüllt.
    Noch bin ich nicht tot...
    Stundenlang ging er in der Zelle auf und ab, kämpfte gegen die Leere und den Stumpfsinn indem er sich die alten Lieder hersagte, Vers um Vers, von den Welten und Göttern, von Helden und Untieren und von den Taten seiner Ahnen. Auch versuchte er, Stück für Stück seine alte Kraft zurückzugewinnen, reckte und dehnte sich, und übte sich wieder und wieder verbissen in Liegestützen auf dem Boden und Klimmzügen an den Stäben des Gitterfensters in der niedrigen Decke. Noch immer überkam ihn die Erschöpfung und der Schmerz viel zu schnell, noch immer plagte ihn ein Husten sobald er sich richtig anstrengte, aber es war doch schon deutlich besser geworden als noch vor einigen Wochen.


    "Ich weiß, dass ich hing / am windigen Baume
    Neun lange Nächte
    Vom Ger verwundet / dem Wodan geweiht
    Mir selber ich selbst…"

    flüsterte Rutger leise vor sich hin, während er unermüdlich seine Zelle durchwanderte, drei Schritte in die eine Richtung, zweieinhalb in die andere, und wieder zurück, und erneut… Die Saturnalienkerze brannte, die kleine Flamme flackerte leicht und warf Rutgers Schatten verzerrt auf die groben Wände. Sie verströmte einen honigsüßen Bienenwachs-Geruch, dem es nicht gelang, den üblen Dunst in dem Verließ zu übertönen, eine schale Mischung von Moder und Urin, faulem Stroh und dem Echo der Angst, die so viele Gefangene zwischen diesen Mauern ausgestanden hatten.


    "Runen wirst du finden / und ratbare Stäbe
    Starke Stäbe
    Machtvolle Stäbe
    Die Fimbulthul färbte
    Und die Asen schufen
    Und der hehrste der Herrscher ritzte."

    Schon längst flossen die Worte wie von selbst über Rutgers Lippen, murmelte er, ohne seine eigene Stimme wirklich zu hören. Halbvergessene Verse tauchten aus der Versenkung auf, strömten, als ein geisterhaftes Flüstern, unaufgefordert aus seinem Mund. Eine Ratte raschelte leise im Stroh, wo sie geschäftig nach Essensresten suchte.

    "Lieder kenn ich / die kennt der Kunigaz nicht
    Und keines Menschen Kind. -
    Eines weiß ich / wenn der Feind mir schlägt
    In Bande die Bogen der Glieder.
    Sobald ich es singe / so bin ich ledig
    Von den Füßen fällt mir die Fessel
    Die Haft von den Händen. -
    Des Hohen Lied ist gesungen
    In des Hohen Halle
    Wohl ihm der es kann / wohl ihm der es kennt -"

    Rutger hielt inne. Ja, dieses Zauberlied kannte er doch tatsächlich! Ein Lied war es, um mit Hilfe der Disen seine Bande zu lösen und den Feinden zu entkommen. Der alte Maginhardt hatte es einst für Jorun und ihn gesungen und ihnen auf einem Stück Birkenrinde auch gezeigt, wie die Runen zu ritzen waren. Vielleicht konnte es ihm helfen? Aber wie ging das noch…?
    Eiri sazun Ididsin…, ja, genau. Aber an die Runen erinnerte er sich nur noch vage. Was solls. Er musste es einfach versuchen.


    Wieder raschelte es im Stroh. Rutger wandte langsam den Kopf, fixierte die Ratte, die jetzt, an etwas undefinierbarem nagend, in einer Ecke hockte. Ihr nackter Schwanz zuckte. Es war ein fettes, dreistes Tier, das Rutger schon manche Nacht um den Schlaf gebracht hatte. Ohne Hast griff er nach der leeren Schale, aus der er vorhin einen faden Getreidebrei gekratzt hatte, und näherte sich ganz langsam und mit ruhigen Bewegungen dem Tier.
    Die Ratte ließ sich davon nicht stören, erst als Rutger die Schale jäh auf sie niedersausen ließ, versuchte sie sich in Sicherheit zu bringen – zu spät. Unempfindlich packte Rutger den blutigen Kadaver, riss mit einem Ruck den zerschlagenen Kopf vom Rumpf, und ließ das warme Blut in die Essensschale hinein fließen.


    Zufrieden richtete er sich damit auf, wandte sich zu der Wand, die ihm, vom Gefühl her, als die nördliche erschien, und verfiel in einen monotonen Singsang. Langsam verschwand die triste Zelle um ihn herum, er war ganz ruhig, spürte das Schlagen seines Herzens, und vor seinem inneren Auge stiegen, glühend wie Feuer in der Nacht, die Umrisse kraftvoller Runen auf. Er tauchte die Hand in das klebrige Rattenblut, und begann:
    "Ansuz, Asgards wortgewaltiger Fro
    den Wind fesseln keine Ketten…"

    Und weiter webte er seinen Zauber, zeichnete Rune um Rune mit Blut an die Wand, wobei er mit rauer Stimme ihre Macht heraufbeschwor...

    Die Zähne grimmig aufeinander gebissen tastete Rutger sich bis in die Sattelkammer vor, wo er von einem Stapel zwei Pferdedecken nahm. Seine Gedanken rasten, er konnte nicht vernünftig überlegen, alles entglitt ihm. Wut wechselte mit Enttäuschung, und ein Gefühl der Benommenheit legte sich taub über den ganzen Wirrwarr. Er stützte die Hände gegen die Wand, lehnte die Stirn gegen das kalte Mauerwerk und schloss die Augen.
    Langsam atmete er ein und wieder aus, fluchte leise in seiner Muttersprache. Ruckartig warf er sich dann die Decken über die Schulter, und ging zurück zu der Leiter zum Heuboden. Schnell stieg er die Sprossen hinauf - zu schnell, wieder stach es in seinen Lungen und ein leises Pfeifen mischte sich in das Geräusch seines Atems hinein. Er unterdrückte ein Husten und schloss, auf dem Bretterboden kniend, die Luke, durch die sie gekommen waren.
    Der würzige Duft des Heus umfing ihn, es türmte sich in großen Bergen unter der Schräge des Daches. Massive Balken ragten senkrecht daraus auf. Arrecinas Gestalt war eine zierliche dunkle Silhouette vor einer der Fensteröffnungen, dahinter sah Rutger den rötlichen Widerschein der Stadt und ein paar blasse Sterne am Firmament.


    "Hier wird es nie richtig dunkel." Das Heu knisterte, als er sich aufrichtete und auf Arrecina zuging. Seine Stimme war ganz rauh. "Ich würde dir gerne die Sterne zeigen, wie sie von den Höhen der Thurshaag-Berge aussehen. Da habe ich früher oft gejagt. Es ist wie… wie abertausend leuchtende Kristalle. Und wenn der Nebel aus den Tälern steigt, und im Sternenlicht ganz silbern aussieht, und du stehst auf den Felsen darüber, und die Wälder raunen. Das ist als wäre man schon in das Reich der Götter hinaufgestiegen."
    Neben ihr legte er die Decken auf einem Haufen von Heu ab, und trat dicht an Arrecina heran. Langsam hob er die Hand, berührte kurz ihren Arm. "Ist dir noch kalt?"
    Wiederum legte er von hinten die Arme um ihre Schultern, erst ganz leicht, dann auf einmal fester, inbrünstiger. Eine Hand streichelte zärtlich ihre Schulter, eng schlang er einen Arm quer über ihre Brust und zog Arrecina wieder ganz nah an sich.
    "Kleines… es tut mir leid, ich wollte nicht grob sein, es ist ja nicht deine Schuld. Sicher ist es schlimm für dich, oder? Es ist nur…, ach weißt du…"
    Er murmelte etwas Unverständliches und streifte mit den Lippen ihr Haar.
    "Ich liebe… " - er brach ab - "…ich liebe den Geruch deines Haares. Ich... - Arrecina, darf ich dich um etwas bitten?"

    Mädchenreden / vertraue kein Mann
    Noch der Weiber Worten.
    Auf geschwungener Scheibe / aus Ton geschaffen ward ihr Herz
    Trug in der Brust verborgen.


    Dies versuchte Rutger zu beherzigen. Er verhärtete sein Herz gegen Arrecinas süß klingende Worte und ihre Tränen, und schwieg eisern, bis sie den Stall erreichten. Das Gebäude lag still in der Dunkelheit, nur gelegentlich schnaubte eines der Tiere oder scharrte mit dem Huf. Über den Hof drang, von der Villa her, Lichtschein und aus Richtung des Skaventraktes hallte ein fröhliches Trinklied herüber. Im Schatten des Einganges blieb Rutger stehen. Der Geruch der Pferde und des Heus umgab sie hier schon, und die Wärme der Tiere.
    Er fasste Arrecina an den Schultern, und wandte sie zum Hof, trat auf einmal von hinten wieder nahe an sie heran, und legte einen angespannten Arm um sie. Mit der anderen Hand deutete er auf den alten Ölbaum inmitten des Hofes.


    "Dort sind wir uns zum ersten Mal begegnet.", sagte er leise, und berichtete, die Stimme mühsam beherrscht: "Es war ein sonniger Vormittag, und ich habe ein Pferd gestriegelt. Du warst gerade erst in Rom eingetroffen. Wir haben - ein paar Worte gewechselt. Ich glaube, du wolltest mich in Rage bringen, du hast immer betont, dass man sich in deiner Familie darauf versteht, widerspenstige Sklaven zur Vernunft zu bringen. Ich habe dich gefragt ob du reiten willst. Wir sind dann zusammen los. Der Wächter am Tor wollte mich zuerst nicht rauslassen, aber du warst fest entschlossen, und hast ihn bedroht bis er nachgegeben hat."
    Unwillkürlich fuhr seine Hand über ihre Wange, wischte rau ein paar Tränen fort. Rutger hustete.
    "Lass uns hochklettern. Die Stiege ist dort. Ich nehme mal noch eine Pferdedecke mit."

    Mit dem Ausdruck großer Irritation blickte Tarquitia Lucia auf die Klinge in Arrecinas Händen, und als Arrecina immer weiter auf sie zukam, trat Unglauben, schließlich Furcht in ihre Augen.
    "Du wagst es wirklich… in meinem Haus… Hör mir zu, Lavinia, du irrst dich, ich habe mitnichten geplant, dich zu töten! Sicher habe ich dir eine relativ hohe Dosis Datura verabreichen lassen, aber doch nur um deinen Geist zu öffnen und dich empfänglich zu machen für den Gesang der Sphären, um dir das Rüstzeug zu geben, kraftvoll und sicher die Schleier zwischen den Welten zu durchdringen! Es ist doch nicht das erste Mal, dass ich auf diese heilsame Pflanze zurückgreife, und glaube mir, ich weiß die Wirkung durchaus einzuschätzen. Rechtzeitig neutralisiert hinterlässt diese Dosierung keinerlei bleibende Schäden. Also beruhige dich, und nimm das Messer wieder herunter!"
    "Ich bin mir sicher sie lügt. Das ist doch gewiss eine Hexe!", analysierte Rutger messerscharf, und hielt die Hände der Frau fest in seinem Griff.
    "Sieh ihr besser nicht in die Augen, Kleines."
    Die Hausherrin seufzte theatralisch, und beteuerte: "Natürlich, Lavinia, hätte ich dir nach dem Fest das Antidot gegeben."


    Ganz außer Atem traf in diesem Moment Olivia wieder im Innenhof ein. Beinahe wäre sie in der Dunkelheit über den hochstehenden Rand einer Bodenplatte gestürzt, doch gerade noch konnte sie sich wieder fangen.
    "Hier, ich habs!", keuchte sie, und hielt eine milchige kleine Phiole hoch.
    "Komm langsam näher.", befahl Tarquitia Lucia. "Und du, Lavinia, wirfst jetzt das Messer weg, und sagst deinem Wilden hier, dass er mich loslässt, dann geht ihr beide nach da drüben, und du bekommst die Phiole. Fünfundzwanzig Tropfen Theriak werden ausreichen, dir das Leben zu retten."
    Ihre Augen wurden schmal. "Versuch nicht mich reinzulegen… - Olivia, wenn sie mir was tun, dann zerschmetterst du die Phiole sofort auf dem Boden, verstanden?"
    Die Sklavin nickte mechanisch und blieb in ein paar Meter Entfernung stehen. Sie hielt das kleine Gefäß mit beiden Händen krampfhaft umklammert und blickte hektisch von einem zum anderen.
    "Hörst du, Lavinia? Keine Faxen jetzt… - oder du wirst einen grauenvollen Tod sterben!"

    Feurig erwiderte Rutger den Kuss, er war ganz hingerissen, mit welcher Leidenschaft Arrecina an diesem Abend die Initiative ergriff. Nur langsam, sehr langsam, sickerte die Bedeutung der Worte, die sie eben ausgesprochen hatte, in sein entrücktes Bewusstsein. Erschrocken hielt er inne.
    "Was? Moment. Du kannst dich nicht erinnern? Gar nicht? Du weißt nicht mehr, dass…" - es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Natürlich. Arrecina war wie verwandelt - und das nicht etwa weil sie ihm verziehen hatte, sondern weil sie einfach alles vergessen hatte!
    "Bei allen Asen und Wanen! Ist das wahr? Aber warum… "
    Das musste das Werk dieses bösen Weibes sein, ein Fluch dieser Hagazussa aus den Bergen. Vielleicht auch der Sturz vom Pferd? Wie vor den Kopf gestoßen, löste Rutger sich langsam von Arrecina, seine Hand in ihrem Nacken glitt leblos ihren Rücken hinab, dann zog er sie zurück. Schweigend sah er Arrecina an, niedergeschmettert von dem Ausmaß seines Irrtums. Wie schön sie war, wie lebendig, mit den von Röte überhauchten Wangen.
    "Kleines…" - seine Stimme war kratzig - "als du gesagt hast, dass du mit mir kommen willst… warst du da auch schon… ich meine, hast du dich da auch nicht… - oh nein."
    Er wandte sich ab, wollte nicht, dass sie seine Erschütterung sah, und griff sich konfus an die Stirn.
    "Angrbrodas Brut…", flüsterte er fassungslos, "…nur ein Trug."
    Ein Trug, dem er blind erlegen war, und dem er seine Chance auf Freiheit und Leben zum Opfer gebracht hatte. Mit leeren Augen starrte er in den Garten, während ein Sturm die Ereignisse ergriff, einmal durcheinander wirbelte, und sie ihm nun in einem völlig anderen Licht präsentierte.
    "Du warst also nicht du selbst." , stellte er tonlos fest, als er sich wieder zu ihr drehte. "Ich verstehe. Und du bist noch immer nicht du selbst…"
    Ein humorloses Lächeln zuckte um seine Mundwinkel.
    "Ich fürchte, Flavia Arrecina, wenn das so ist, dann irrst du dich, wenn du meinst, mich 'wirklich zu kennen' – Komm mit."
    Bestimmt griff er nach ihrer Hand, und nahm sie in die seine, um Arrecina durch den Garten hindurch zum Pferdestall zu führen, heimlich, und stets in den Schatten verborgen.

    "Wie könnt ihr es wagen…!" Die Hausherrin zitterte – vor Empörung.
    "Du kommst in mein Haus, Antonia Lavinia, ich gewähre dir Obdach, teile bereitwillig meine arkansten Geheimnisse mit dir… - doch du…-" Sie schnappte entrüstet nach Luft.
    "Du sabotierst heimtückisch meine Pläne, das Werk an dem ich seit Jahren arbeite - ein Werk, bedeutsamer, als du es dir in deinen kühnsten Träumen ausmalen kannst – du vernichtest es in einer Nacht! Warum, Lavinia?! Hast du etwa… Skrupel bekommen?!"
    Voll Verachtung spuckte sie das Wort förmlich aus.
    "Du warst doch vorher nicht so borniert! Ich glaube, dein Sturz hat dir die Sinne verwirrt, dich gar vollständig in den Wahnsinn getrieben! Und nun willst du mich sogar töten?! Ich fasse es nicht "
    Unwirsch versuchte sie ihre Hände aus Rutgers Griff zu befreien.
    "Lass mich auf der Stelle los, du Rohling! Wer bist du überhaupt, was hat das hier zu bedeuten? Und was hast du mit meinem treuen Casca gemacht?! Ist das etwa sein Blut? Mörder!"
    "Schweig, du Hagazussa ! ", knurrte Rutger, und packte fester zu. "Nimm das Messer an dich, Kleines."


    Von Schweigen war aber keine Rede. "Du willst meine Geheimnisse, was, Lavinia? Ehrgeiziges kleines Ding. Oder hat dich etwa die Schwesternschaft der Adrasteia geschickt? Oh, diese Neiderinnen, ich hätte es ahnen müssen!"
    Aufgebracht funkelte die Hausherrin Arrecina an, sprach dann auf einmal in ruhigem, vernünftigem Tonfall zu ihr: "Jetzt hör mir einmal zu, du kleines Rabenaas, ich mache dir einen Vorschlag, den du tunlichst annehmen solltest: Du pfeifst jetzt deinen Spießgesellen hier zurück, und verschwindest auf der Stelle aus meinem Haus! Und dafür gebe ich dir das Gegenmittel, das Antidot, ohne das du bald elendig zugrunde gehen wirst!"
    Sie wandte den Kopf, rief herrisch: "Olivia!"
    Hinter einer Säule tauchte zögerlich das kreidebleiche Gesicht der Sklavin auf, sie biss sich auf die Lippen und sah mit weit aufgerissenen Augen auf die Szene.
    "Olivia, lauf und hole mir den ägyptischen Theriak. Er ist in meinem Studierzimmer im Regal ganz oben, in der kristallenen Phiole. Die mit dem Bast außenrum. Auf, auf, spute dich!"
    Die Sklavin hastete los. Kalt und berechnend lag Tarquitias Blick auf Arrecina. Regen und Wind ließen die Kerzen flackern, dann verloschen sie zischend, eine nach der anderen.

    "Angst?" Er hielt sie, drückte sie an sich, so fest, dass es wieder in seiner Brust schmerzte, so fest, dass zwischen Arrecina und ihn nichts und niemand mehr passte. Nur für sich alleine wollte er sie, für sich ganz alleine hatte er sie in diesem herrlichen Moment an jenem kalten Winterabend.
    "Warum hast du denn Angst vor der Vergangenheit, Kleines? Wie, du weißt nicht wer du bist? Das verstehe ich nicht…", murmelte er, den Mund an ihrer Wange.
    Ihre Stimme schien ihn ganz und gar zu umgeben, und die Flut eines unermesslichen Glücksgefühles wallte in ihm auf – sie so umarmen zu dürfen, und zu hören, dass sie ihn auch vermisst hatte…
    Er wusste nichts zu sagen auf ihr Flehen, sie fortzubringen, sah sie nur stumm an. Alles was außerhalb dieses Momentes lag, schien ihm fern, unwichtig, nur störend zu sein. Ihre Augen, wie ein stilles dunkles Gewässer… dieser geheimnisvolle Glanz… - er verlor sich ebenso wie sie, flüsterte leise ihren Namen. Ihre Lippen, die sich, sanft wie die Berührung eines Schmetterlings, auf seine, ein wenig überraschten Lippen legten… warm und weich – es war ihm, als ob der feste Boden unter seinen Füßen plötzlich davongezogen wurde. Ihn schwindelte. Das Blut rauschte in seinen Ohren.


    "Arrecina… alles was du nur willst….", flüsterte er unzusammenhängend, zwischen atemlosen Küssen, "meine wundervolle Arrecina…. du bist so phantastisch…"
    Schwungvoll hob er sie hoch, zuckte dabei kurz zusammen, und setzte sie dann auf dem untersten Absatz des Sockels ab, gegen den sie nun beide gelehnt standen. Seine Arme umschlossen sie mit der Heftigkeit eines Ertrinkenden, der ins Leben zurückkehrt.
    Immer leidenschaftlicher kosteten seine Lippen die ihren. Eine Hand wanderte über ihren Hals, wühlte sich verzückt in ihr Haar hinein, und streichelte rau und zärtlich ihren Nacken. Heiß suchte seine Zunge sich den Weg zwischen ihre Lippen, spielte einen Moment lang mit ihren Zähnen, drang langsam weiter und erforschte genüsslich diesen Ort. Ihren Geschmack zu kosten, nach so langer Zeit des Dürstens, war eine Lust, die ihn bis ins Innerste erbeben ließ, und ihm mit Macht das Blut in die Lenden trieb. Feurig fand seine Zunge die ihre, suchte sich mit ihr zu verschlingen und hitzige Liebkosungen auszutauschen…
    "Kleines…", flüsterte er rau, als er kurz zurückwich, um Luft zu holen, "lass uns zum Pferdestall gehen, hmm? Da wo alles angefangen hat…"
    Mit der flachen Hand fuhr er sacht über die Gänsehaut an ihren Armen, die andere streichelte noch immer zärtlich ihren Nacken.
    "Da ist es wärmer," stellte er unschuldig fest, "und wir können auf den Heuboden hoch steigen, wo uns um diese Zeit bestimmt keiner stört…"

    Sobald sich eine Gelegenheit geboten hatte, sich unauffällig vom Saturnalienfest der Flavier zurückzuziehen, hatte Rutger diese genutzt. Aufmerksam hatte er Acht gegeben, dass ihm niemand durch die Gänge der Villa folgte. Er hoffte, dass die Worte, die er Arrecina zugeflüstert hatte, unbemerkt geblieben waren, oder jedenfalls nicht für bedeutsam gehalten wurden. Größere Bedenken hatte er, dass der Kriecher des Goden – Sciurus – ihm aus Rache für die kleine Niederlage zu Beginn des Abends gleich ein paar Schläger hinterherschicken würde, oder sonst etwas Tückisches ersinnen würde – der hatte so einen scheelen Blick, dieser Mann.
    Zügig stellte er sein Geschenk in der Sklavenunterkunft ab, begab sich zum Garten, der, an jenem ersten Saturnalienabend, malerisch beleuchtet war, und verschwand im Schatten der Hecken und Bäume. Nahezu lautlos bewegte er sich zwischen Rosenbüschen und Ruhebänken, Zierteichen, Blumenbeeten und Lauben auf die Athenestatue zu. Seine Vorfreude, Arrecina wieder zu sehen – sie alleine zu treffen und zu sprechen – Arrecina, deren holdes Bild ihm in den Monaten der Gefangenschaft stets vor Augen gestanden hatte, war überwältigend, glühend, kaum spürte er die Kälte der Nacht.


    Als erstes sah er die Umrisse der erhabenen Athenestatue, die sich weiß aus der Dunkelheit heraus schälte. Das Wasser des kleinen Teiches, über dessen Fluten die Göttin hinwegblickte, schwappte leise murmelnd gegen das Ufer. Geduckt hinter ein Gestrüpp von vergilbtem Röhricht, in dem es leise rieselte und knisterte, beobachtete Rutger den Treffpunkt – und erblickte nun auch Arrecina, deren Finger soeben die Statue streiften. Sie war wirklich gekommen! Und sie schien allein zu sein.
    Rasch richtete er sich auf, und trat freudestrahlend auf sie zu.
    "Arrecina, Kleines!" Stürmisch schloss er sie in die Arme.
    "Wie hab ich dich vermisst…", murmelte er rauh, und hielt sie eng umschlungen, war ganz und gar selig, sie wieder spüren zu dürfen. Tief sog er den wunderbaren Duft ihres Haares ein, senkte den Kopf und suchte mit den Lippen ihr Gesicht, begierig es mit glühenden Küssen zu bedecken.
    "Ich hatte solche Sehnsucht nach dir, die ganze Zeit…"

    Der wissende Blick Anaxandras traf Rutger, als er den Becher wieder absetzte.
    Angrbrodas Brut! - Die Kleine hatte ihn offenbar durchschaut, und einen Augenblick lang schien es ihm, als würde sie gerade Luft holen, um ihn zu verpfeifen. Beschwörend sah er sie an, eindringlich, beinahe flehend – da tauchte unvermutet eine junge Flavierin neben ihm auf, um ihm huldvoll etwas zu schenken. Irritiert nahm er den Beutel aus Flavia Leontias Händen entgegen und zog mit spitzen Fingern die bunte Schleife auf. Eine Bärenfigur? Nein, eine Kerze. Wie nett.
    "Danke.", antwortete er, und, deutlich sarkastisch: "Das kann ich wirklich gut gebrauchen."
    Wie absurd. Sie würden ihn nach diesem Fest wieder in das dunkle Drecksloch sperren - aber er würde eine wohl duftende Kerze haben, die eigentlich viel zu schade zum Anzünden war. Ebenso absurd wie diese ganze Veranstaltung hier.
    Mit einem leichten Kopfschütteln lehnte er sich wieder zurück, ließ den Wein im Becher kreisen, und betrachtete distanziert die Römer, diese Geißel der Welt, in ihrem heute kindlich vergnügten Tun. Ihre Diskussion war in seinen Ohren nur ein hochtrabendes, lebensfernes Schwadronieren. Begierig lauerte er auf eine Gelegenheit, sich unauffällig zurückzuziehen, um endlich Arrecina zu treffen …

    Arrecina schrie. Das Ungeheuer stand still. Die Hausherrin lachte. Lachte herzlich und aus voller Kehle, wischte sich Tränen der Heiterkeit von den blutverschmierten Wangen.
    "Köstlich. Einfach köstlich.", stellte sie fest, während sie langsam den Säulengang entlang auf Arrecina und das Ungeheuer zuschritt.
    "Dein Entsetzen wäre einer Begegnung mit dem wahren Mantus würdig, kleine Freundin – doch dies ist nur eine Maske für das Ritual. Haben wir uns nicht in unserer Korrespondenz erst kürzlich darüber ausgetauscht? Affinität in der äußeren Erscheinung erleichtert die Invocation, du erinnerst dich? Schnapp sie dir, Casca!"
    Das Ungetüm machte einen Schritt nach vorne, und umfasste mit den Krallenhänden rasch Arrecinas Schultern. Aus der Nähe betrachtet, und im Licht des brennenden Kerzenleuchters, zeichneten sich tatsächlich deutlich grobe Nähte in dem "Fell" des Vogelwesens ab, die Klauen waren offenbar Handschuhe mit eisernen Krallen, und der unförmige Kopf mit dem gebogenen Schnabel schien aus aneinander gesetzten Stücken harten Leders zu bestehen. Es knarrte leise, und der Geruch von nassem Leder war überwältigend, als die Fratze sich zu Arrecina hinunterbeugte. In den "Augen" aus blankem schwarzem Onyx spiegelte sich der Kerzenschein, schien sie mit widernatürlichem Leben zu erfüllen… – doch in dem Spalt des geöffneten Schnabels waren, aus der Nähe, zwei noch sehr viel lebendigere Augen sichtbar. Graugrün waren sie, und eines zwinkerte Arrecina tröstlich zu.
    "Schscht, Kleines. Nur keine Angst.",sprach das Monstrum zu ihr, zwar etwas erstickt, aber eindeutig mit Rutgers Stimme.


    "Casca! Bring sie her!", befahl Tarquitia Lucia herrisch. "Die kleine Verräterin hat es gewagt, meine Flöte zu zerbrechen. Doch ich hoffe, dass sie mir auch unfreiwillig von Nutzen sein wird – das Blut eines Mediums, eines hochgeborenen Mediums ist von großer Macht… zudem ist unsere todgeweihte Freundin hier bereits präpariert, um sie für das Jenseitige zu öffnen…"
    Sie schmunzelte tückisch. "Ja, Lavinia, Stechapfel war in deinem Wein, und das Blut chtonischer Tiere… Fledermäuse, Nattern, das Übliche eben. Casca, worauf wartest du denn? Na los, bring sie ins Gewölbe hinunter!"
    Drängend trat sie auf die beiden zu, und gestikulierte barsch mit dem Bratenmesser. Das Ungetüm schob sich schützend vor Arrecina, ging dann langsam auf die Frau zu.
    "Casca?" Tarquitia Lucia klang ein wenig verunsichert.
    "Ich bin nicht Casca.", sagte das Monster, und schlug ihr mit einem Klauenhieb das Messer aus der Hand. Klirrend schlitterte es über die Steinplatten. Die Hausherrin sog scharf die Luft ein und starrte ungläubig der Waffe hinterher.
    "Was soll ich mit ihr machen, Kleines?" Fragend wandte die 'Bestie' sich zu Arrecina um, zog sich dann die 'Maske des Bösen' vom Kopf, und verwandelte sich wieder in Rutger. Angewidert warf er die lederne Fratze zwischen die Zypressen, und sog erleichtert und in tiefen Zügen die frische Luft ein.
    "Willst du, dass ich das Weib umbringe, Arrecina?"

    Als Flavius Aristides anhub mit den Worten "Die Liebe ist wie ein Kampf…", schluckte Rutger den letzten Bissen Hammelfleisch herunter, fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, und stand, sich das Fett von den Fingern leckend, von der Kline auf. Er zog seine Tunika zurecht, und ging zielstrebig auf eine, ein paar Schritt entfernt stehende, Platte mit gebratenem Kaninchen zu.
    Dort schien er sich erst nicht entscheiden zu können, sah auf das Fleisch, den Kohl - und aus den Augenwinkeln zu dem Sprechenden - riss sich schließlich ein großes Stück Weißbrot von einem Laib herunter, und lud eine Scheibe des saftigen Gebratenen darauf. Die Sauce troff über das Brot und färbte es dunkel. Rutger nahm in die andere Hand ein paar Marillen, kostete eine, und machte sich auf den Rückweg zu seinem Platz, als Flavius Aristides gerade sagte: "…dann gibt es keine wahre Liebe oder wie man das nennen mag."


    Den Blick auf das Essen in seinen Händen gerichtet, ging Rutger ein paar Schritt, dann, als er in der Nähe von Arrecinas Kline war, und im Rücken ihres Vaters, entglitten ihm ein paar Marillen, und rollten über den Boden.
    Er bückte sich, klaubte ruhig die Früchte auf, und als der Flavier bei"...einfach das Gefühl der aufrechten Ergebenheit" angelangt war, war Rutger nahe genug bei Arecina angelangt.
    "Später…im Garten… an der Athenestatue.", raunte er ihr verstohlen zu, hob kaltblütig die letzte Frucht auf, und richtete sich auf. Er rieb sie kurz in der Hand ab, setzte sich wieder auf die Kline, und biss scheinbar genüsslich in das weiche Fruchtfleisch. "…doch ist das etwas ganz anderes.", schloß Flavius Aristides.
    'Fro Ingwe und Frowe Hulda! Freya, du Gnädige, Schutzherrin der Liebenden!! Lass ihn nichts bemerkt haben!!!', flehte Rutger stumm, bekam gerade keinen weiteren Bissen mehr hinunter, und nahm stattdessen doch noch einen tiefen Zug des köstlichen Weines.

    Der Germane saß zurückgelehnt auf der Kline, hielt eine Wachtel in der Hand und grub die Zähne tief in das zarte Fleisch, er riss Fetzen aus der knusprigen Kruste, und saugte gierig das Mark aus den Röhrenknochen.
    Wenn er aufsah, galt sein brennender Blick nur Arrecina. Gewaltsam musste er sich beherrschen, sie nicht ständig anzustarren. Er wollte sie nicht noch mehr kompromittieren, als er es sowieso schon getan hatte.
    Arrecina! Ihr flehender Blick als sie den Raum betrat hatte ihn verdammt noch mal mitten ins Herz getroffen. Als ob er hier irgendwas ausrichten könnte, bei Fenris' Fängen, er war hier doch viel hilfloser als sie. Frustriert zerknickte er das abgenagte Geflügelskelett in den Händen, warf es dann dem Hund hin, der neben einer Säule hockte, und griff sich ein Stück Hammelfleisch.
    Wenn er doch mit ihr sprechen könnte! Aber sie saß direkt neben ihrem Vater, der das wohl weniger gutgeheißen hätte. Kurz kam ihm der Gedanke, dass es tatsächlich gut wäre, schreiben zu können, dann hätte er ihr jetzt vielleicht einen Fetzen Papyrus mit einer Botschaft zustecken können.
    Er lauerte förmlich darauf, dass sich Flavius Aristides entfernte, aber der verhasste Neiding blieb auch während des dekadenten Geschenke-Spektakels immer an ihrer Seite. Rutger ertappte sich, einen beschämenden Moment lang, sogar bei dem Gedanken, dass er den kleinen Hundewelpen beneidete, der seine weiße Schnauze so tollpatschig an ihre Wange stupste.


    Zu Hel mit den Römern! Er leerte seinen Becher, und bemerkte, dass der Wein schon weniger verwässert war als zu Anfang.
    Da drang plötzlich ein Gruß in seiner Sprache an sein Ohr. Perplex bestaunte er den sprechenden Vogel. Er wusste ja von Helden, die die Sprache der Vögel verstehen konnten – aber dass ein Vogel der Menschensprache mächtig war, und dann auch gleich noch verschiedener Mundarten – unglaublich! Natürlich hatten die Römer - in ihrer vollkommenen Ignoranz gegenüber dem Zauber in der Welt - auch dieses Märchentier in Ketten gelegt, wenn auch in feine silberne.
    Wieder biss er grimmig in das Fleisch, fasste aber den Entschluss, sich beim Wein ein bisschen zurückzuhalten. Wenn Flavius Aristides ordentlich becherte, dann würde hoffentlich seine Aufmerksamkeit nachlassen, und vielleicht würde er, Rutger, doch noch irgendwie an Arrecina herankommen…


    Allerlei wilde Gerüchte hatte Ajax in letzter Zeit über die Angetraute des Herrn Flavius Gracchus gehört – sie solle angeblich ihr Zimmer überhaupt nicht mehr verlassen, da ein böses Übel sie befallen habe, ihr die Schönheit geraubt, und sie grausam entstellt habe.
    Die alte Nike aus der Waschküche behauptete sogar, die Claudierin habe sich, um sich Flavius Gracchus zu angeln, mit Hilfe einer Striga unnatürliche Schönheit erkauft - sie hatte auch etwas von Bädern in dem Blut unschuldiger kleiner Kinder geraunt - doch dieses Blendwerk sei nun vergangen, oder würde jedenfalls sofort vergehen, wenn es mit Tageslicht in Berührung käme.
    Nun ja. Genaueres war nicht bekannt. Doch Ajax hatte, auch wenn man ihm das überhaupt nicht ansah, ein lebhaftes Vorstellungsvermögen, und die Gerüchte beunruhigten ihn sehr, als er nun an die Türe des Cubiculum klopfte - sanft für seine Verhältnisse. Dann räusperte er sich, um den Kloß in seinem Hals loszuwerden, wartete, bis er aus dem Inneren des Raumes etwas hörte, das er als Zustimmung deutete, und öffnete die Türe gerade mal einen Spalt.
    "Werte Herrin!" erklang seine dröhnende Stimme. "Es ist Besuch für dich eingetroffen, die Dame Claudia Epicharis. Sie wartet im Atrium auf dich, Herrin."
    Und flugs schloss er die Türe wieder - wenn Hexerei im Spiel waren, konnte man nicht vorsichtig genug sein - und begab sich wieder auf seinen Posten.


    Der Anflug eines erfreuten Lächelns, halb verborgen unter dem krausen Bart, ließ Ajax' zerklüftete Züge geradezu freundlich wirken.
    "Bitte, werte Dame, tritt ein, und sei willkommen in der Villa Flavia."
    Er öffnete den Türflügel weit für sie. Ja, so sollte es sein. Eine manierliche junge Patrizierin auf Verwandtenbesuch, so gehörte sich das. Endlich mal kein Gesindel, unrasierte Büttel, freche Hausierer oder schmuddelige Klienten, die dem Stand seiner Herrschaften keineswegs angemessen waren.
    Hinter dem Sklaven der Claudia verschloss er die Türe wieder, und legte den Riegel vor, um die Dame selbst ins Innere des Hauses zu geleiten. Die kleine Aurora, die er sonst herumschickte, war nach der letzten Bestrafung für ihre Schusseligkeit leider noch nicht wieder einsatzfähig.
    "Wenn du mir bitte folgen möchtest."

    Winterlich blasses Licht flutete durch das Compluvium, und erfüllte die Halle mit kühler Helligkeit. Die weißen Statuen und Büsten der Ahnen sahen stumm und stolz von ihren Sockeln auf die Lebenden hinunter. Auf dem spiegelnden Mamor hallte jeder Schritt. Vom Wasserbassin her lag ein leises Murmeln und Plätschern in der Luft.
    Dorthin führte Ajax, der thrakische Türsteher, von der Porta kommend, die junge Claudierin. Einladend wies er auf eine Gruppe weichgepolsterter Klinen und Korbsesseln, die neben dem Becken um ein pastorales Bodenmosaik herum gruppiert standen.



    "Wenn du einen Augenblick warten würdest, werte Dame? Ich werde die Herrin Claudia Antonia von deinem Kommen in Kenntnis setzen. Wünscht du derweil eine Erfrischung?"
    Er winkte einen anderen Sklaven heran und grollte düster "Kümmere dich um die Wünsche der Dame.", dann machte er sich auf zu dem Zimmer der Claudia Antonia.

    Kapitel IV – Die Maske des Bösen


    Schnitt – Triclinium – Eine Wahnsinnige


    Die Hausherrin war außer sich.
    "Du sollst sie aufhalten!" schrie sie ihre Sklavin an, die sich Arrecinas Flucht nur halbherzig entgegenstellt hatte.
    "Na los, schnapp sie dir!"
    Olivia schniefte unglücklich "Ja, Herrin.", und trabte hinter Arrecina her.
    Tarquitia lies das Glöckchen sinken. Einen Augenblick lang stand sie alleine in dem großen, hellen Triclinium. Die Kerzenflammen schwankten wild. Starr lag Tarquitias Blick auf einem großen Silberspiegel, und ebenso starr sah ihr Bild ihr daraus entgegen – die Haare zerrauft, das Gesicht im Zorn verzerrt und von blutigen Spuren durchzogen. Und dieser Spiegel wurde von anderen reflektiert, warf wiederum sein Bild zurück, und immer weiter, so dass unzählige Ebenbilder von den Wänden her boshaft auf die Hausherrin starrten.
    Ein Erzittern ging durch die Frau. Gehetzt sah sie um sich.
    "So nicht…", ihre Stimme war tonlos, "…so nicht."
    Sie straffte sich - und im Handumdrehen griff sie sich vom Tisch, von der Fleischplatte, das lange Tranchiermesser. Mit der anderen Hand fasste sie einen Leuchter, in dem fünf rote Kerzen brannten, und schon war auch sie aus der Türe hinaus.
    Nur das Rauschen ihres Gewandes hing noch einen Moment in der Luft, trocken wie das Rascheln dürrer Blätter im Wind.


    Schnitt – Gänge, Peristyl – Eine Flüchtende


    Düstere Gänge erstreckten sich vor Arrecina. Laut hallten ihre Schritte, trugen sie vorbei an verschlossenen Türen, staubigen Nischen und bröckelnden Fresken.
    Hinter ihr schwankte Kerzenschein auf und nieder, undeutlich drang die Stimme der Hausherrin bis zu ihr – "Wo ist sie entlang? Geh zur Seite, zur Seite du Nutzlose!" – und entschlossene Schritte verfolgten sie dichtauf.
    Unversehens geriet Arrecina in einen efeuberankten Säulenhof hinein. Die Bodenplatten waren vielerorts geborsten, gezackte Ränder standen nach oben, zudem war es sehr dunkel und jeder Schritt brachte die Gefahr zu straucheln mit sich.
    In der Mitte des Hofes lag, unter freiem Himmel, ein kleiner Garten. Schwarze Zypressen wuchsen dort ganz verwildert, gruben ihre Wurzeln in den Boden und wucherten bis in die Spalten des gesprungenen Mamorbodens. In der Mitte lag ein Bassin, voll Schmutz und welker Blätter, auf das platschend der Regen trommelte. Es roch nach Erde und Fäulnis.
    Nur ein Weg schien auf der anderen Seite aus dem Hof hinauszuführen, ein gewölbter Bogen, aus dem ein schummriger Lichtschein drang.


    Schnitt – Atrium – Die Bestie


    Mit einem Geräusch, das durch Mark und Bein ging, kratzte die Klaue über Stein, hinterließ eine feine blutige Schliere. Hell brannten die Öllampen, und noch immer lächelten milde die Bilder längst vergangener Könige von den Wänden. Gedämpft erklang Fußgetrappel aus dem Inneren des Hauses.
    Als wolle sie lauschen, oder wittern, legte die Bestie langsam den Kopf zur Seite, verharrte - und huschte dann zielstrebig in einen der Gänge hinein.


    Schnitt – Peristyl – Zwischen Scylla und Charybdis


    Kalter Regen fiel vom Himmel, ließ die Zweige der Zypressen schwanken, und sammelte sich in den Mulden unter ihren Wurzeln. Auf die gekräuselte Oberfläche des Bassins fiel ein roter Schein. Tarquitia Lucia erschien in dem Durchgang, durch den Arrecina gekommen war. Sie trug den brennenden Kerzenleuchter, der scharfe Schatten in ihr maskenhaftes Gesicht warf, und hielt das lange schmale Bratenmesser fest in der Hand.
    "Lavinia…" lockte sie, "meine verräterische junge Freundin… komm raus, komm raus, wo immer du auch bist… und ich verspreche dir, ich mache es – relativ – schmerzlos...."
    "Komm raus!", befahl sie herrisch. "Ich kann deine Angst ja schon riechen… dein Herz, es schlägt wild wie ein kleines Vögelchen in seinem Käfig… dein Atem, er stockt…. würgende Furcht drückt dir die zarte junge Kehle zu…." Ein eisiges Glitzern in den Augen, hob sie den Leuchter, und sah sich suchend um.


    Nur Augenblicke später schob sich ein Schatten vor den schwachen Lichtschein, der aus dem anderen Ausgang drang, und eine dunkle Silhouette erhob sich in dem Torbogen. Blutiges Fell schleifte zerfetzt auf dem Boden, als das groteske Halbwesen vor Arrecina erschien. Scharf zeichneten sich Schnabel und Klauen gegen das Zwielicht ab.


    Die mürrische Miene des bulligen Thrakers erschien in Spalt der aufschwingenden Türe.
    "Ja?" knurrte er übellaunig. Der Post-Saturnalien-Katzenjammer hielt ihn, wie so viele Sklaven in der Villa, noch immer fest im Griff. Doch der Anblick der vornehmen jungen Frau, und ihrer Sänfte, ließ ihn erkennen, dass hier vielleicht etwas mehr Höflichkeit angebracht wäre.
    "Sei gegrüßt, edle Dame.", grollte er deshalb (Ajax grollte immer, es lag an seiner dröhnenden Bassstimme – aber diesmal grollte er deutlich freundlicher), und sein zottiges schwarzes Haupt senkte sich mit dem gebührenden Respekt.
    "Darf ich, mit Verlaub, nach deinem werten Namen und nach deinem Begehr fragen?"

    "Was hast du getan! Die Flöte! Die Flöte…."
    Mit blankem Entsetzen starrte Tarquitia Lucia auf die Scherben.
    "Nein! Nein…" Sie sank auf die Knie, scharrte die jetzt nur mehr trüben Bruchstücke zusammen, schien nicht zu bemerken, wie sie ihr die Hände zerschnitten.
    "Warum…", schluchzte sie auf, und steckte Arrecina die blutigen Scherben entgegen, "oh ihr Götter der Unterwelt, warum!?"
    Ihre Stimme brach, sie zerraufte ihr Haar, und zerkratzte sich in ihrem Jammer mit den Scherben das Gesicht.


    "Wie konntest du nur…" Als sie wieder zu Arrecina aufsah, war ihr Gesicht eine verzerrte Fratze der Wut.
    "Dafür wirst du bezahlen, Lavinia…" flüsterte sie heiser, erhob sich zu voller Größe und kreischte: "… mit Blut! Olivia, halte sie auf! Casca! Casca hierher!"
    Sie stürzte zu einem Bord, ergriff ein kleines Glöckchen, und schwang es heftig hin und her. Ein durchdringendes helles Läuten erklang.
    Olivia war kreidebleich. Zögerlich trat sie auf Arrecina zu, machte Anstalten sie an den Armen zu fassen.
    "Mit Blut!" schrie Tarquitia wieder, mit überschnappender Stimme, die sogar das schrille Läuten übertönte, und fuchtelte wild mit dem Glöckchen.
    "Du zerbrachst meine Flöte, so öffne ich den Mundus nun mit deinem Blut! Tuchulcha wird deine Gebeine zermalmen, Vanth deine Eingeweide zerwühlen, der Mantus wird kommen, deine gequälte Seele zu holen – und dann, ha!, dann fange ich ihn ein! Casca! Casca wo bleibst du?!"