Zwei Wochen waren seit der Gefangennahme des Römers verstrichen. Es war kühler geworden in den letzten Tagen. Der Bote, der ausgeschickt worden war, um die Forderungen der Chatten nach einem Gefangenenaustausch zu überbringen, war am Mittag zurückgekehrt. Er brachte schlechte Kunde: Einar, der hoch geschätzte Skalde der Sippe, und seine Waffengefährten waren von den Römern bereits hingerichtet worden.
Seit dem Mittag wurde nun schon erbittert über das Schicksal des Römers diskutiert, und es mehrten sich die Stimmen, die verlangten, ihn dem Goden zu überlassen.
Gegen Abend zog ein leichter Nebel auf. Feine Schleier hingen zwischen den Birkenstämmen, geisterhaft angestrahlt von der hellen Sichel des Mondes.
Heimlich stahl Rutger sich aus der Ratsversammlung davon. Er trat in die Hütte, die seine Familie hier im Kriegslager bewohnte, und nahm verstohlen einen Lederbeutel von seiner Lagerstatt zur Hand.
Seine Schwester saß auf einem Schemel neben dem Herdfeuer, und webte eine schöne blau-und-beige gemusterte Borte. Ihr lichtblondes Haar fiel ihr offen weit über den Rücken.
"Gibt es schon eine Entscheidung?" fragte sie.
"Noch nicht." antwortete er. "Für dein Brautgewand?"
"Ja."
"Du wirst sehr schön aussehen. Erengist wird überwältigt sein, und dich in hohen Ehren halten. Und die Verbindung zwischen Hallvardungen und Sivichungen wird beiden nützen."
Jorun winkte ab. "Ich weiß, ich weiß." Sie ließ die Webbrettchen sinken, und sah Rutger nachdenklich an. "Aber sag mal, findest du nicht auch... also dieser Römer, er erinnert mich irgendwie an Mucius..."
Rutger runzelte unwillig die Stirn.
"Jetzt fang doch nicht damit an! Mucius, pah!" Er spuckte ins Feuer.
"Weder du noch ich waren für ihn jemals mehr als Zeitvertreib!"
Er nahm eine gebieterische Haltung ein, sah mit ungeheurer Herablassung auf Jorun hinunter und sprach, mit pompösen Gesten untermalt, in einem rauhen aber flüssigen Latein.
"Auf, auf, warum ist mein Pferd noch nicht gesattelt?! Oh, weh, meine Toga hat einen Fleck! Und mein Essen ist kalt! Ihr Barbaren, keinen Funken Kultur habt ihr!"
Er zog eine Grimasse und rückte sich eine imaginäre Toga zurecht.
Jorun lachte. "Rutger, so ist er nicht!"
"Doch, genau so. Ich wünsche ihm die Pest an den Hals. Und stünde ich ihm mit der Waffe in der Hand gegenüber, würde ich nicht zögern."
Jorun lächelte milde. "Das glaube ich nicht." Sie nahm die Webfäden wieder auf und entwirrte sie mit den Finger. Den Kopf schräg gelegt musterte sie ihren Bruder, der schon wieder auf dem Weg zur Tür war.
"Was hast du da eigentlich?"
"Ach, nichts, nur..." Er lächelte ertappt. "Also gut, ich bin mit Gytha verabredet, weißt du. Am Teich. Ich wollte ihr das da schenken." Er kippte den Lederbeutel und lies eine Fibel auf seine Handfläche gleiten. Sie war aus Bronze, stellte einen Schwan dar und war kunstfertig verziert.
"Schön. Beute?"
Rutger nickte.
"Ich finde Gytha ja etwas merkwürdig..." setzte Jorun an.
"Ich muß los." Rutger war schon halb über der Schwelle. "Bis später."
"Ja." murmelte Jorun, und strich mit den Fingern durch ihre Webfäden. Das Feuer flackerte hoch auf als ein Luftzug durch die geöffnete Tür kam, und leuchtete sie hell an. Einen Moment lang erschien es, als ob da die Norne Werdani am Feuer säße und die Schicksalsfäden verknüpfe.
Dann schloss Rutger die Türe von außen, und die Flammen verbreiteten wiederum einen ruhigen Schein um Jorun und ihre Webarbeit.