Eine gute Frage. Eine geradezu philosophische Frage, die Arrecina da gestellt hat. Warum ist sie hier? Der geneigte Leser weiß natürlich, dass sie sich zur Zeit in dieser düsteren Villa, in mehr als dubioser Gesellschaft befindet, weil sie leichtsinnig mit einem fremden Sklaven ausgeritten ist, und dieser sie verschleppt hat. Vielleicht beginnt die Erklärung auch schon früher, zu dem Zeitpunkt, als sie ihrer Großmutter entwischt ist - was uns zu einer sehr moralischen Betrachtungsweise führen könnte, im Sinne von "was jungen Mädchen alles passieren kann, die ihrer Oma nicht gehorchen". Oder - wenn wir ein ganzes Bündel von Ursachen annehmen - begann die Kette der Ereignisse vielleicht auch an dem Tag, als Flavius Aristides in seiner sorglosen Art beschloss, einen kleinen Ausritt in den germanischen Wäldern zu machen, und so auf Rutger traf?
Oder aber, Arrecina hatte das Pech, in den Sog eines Narrativums zu geraten, das, bei den gegebenen Elementen (ein Unwetter, die Zeit um Samhain, zwei gutaussehende junge Menschen alleine in der Wildnis etc.), gar keine andere Wahl ließ, als sie in dieses unheimliche Gemäuer zu führen?
Wer weiß.
Tatsache ist: bevor wir auf diese Frage hin Tarquitia Lucia zu Wort kommen lassen - die sicher ihre ganz eigene Erklärung für Arrecinas/Lavinias Anwesenheit hat - machen wir noch einen kleinen Kameraschwenk. Also wieder zu Rutger:
Der machte sich, nachdem Arrecina zum Baden verschwunden war, auf, um die Villa zu erkunden. Mit dem kleinen Öllämpchen in der Hand wanderte er durch die Gänge, öffnete viele Türen, fand teilweise völlig verkommene Räume vor, und andere, die unter Staub und Spinnweben noch Spuren früheren Glanzes trugen. Hohl heulte der Wind ums Haus, und ständig drohte der kalte Luftzug das Licht auszulöschen. Einmal kreuzte eine alte Frau seinen Weg, die um ihren faltigen Hals einen Sklavenring trug - achtlos schlurfte sie an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken. Sonst begegnete er keiner Menschenseele.
Schließlich gelangte er wieder in das helle Atrium. Von den Wänden sahen ihn die ausgeblichenen Darstellungen fremdartiger Könige an, die allesamt ein geheimnisvolles Lächeln auf den Lippen trugen. Die Asphodelen verströmten einen süßen, etwas fleischigen Geruch. Rutger durchschritt diesen - auf schwer fassbare Weise beunruhigenden - Raum schnell, und öffnete die Türe zum Hof. Noch immer regnete es in Strömen, wenn auch die Wucht des Unwetters schon stark nachgelassen hatte.
Schon wollte er schicksalsergeben hinaus in den Regen treten - denn er mußte sich nach Pferden umschauen, und nach seiner Waffe -, da sah er neben der Türe mehrere Mäntel hängen. Einen davon - aus gewachstem Leder, mit einer weiten Kapuze - borgte er sich aus, und ging so beschirmt nach draußen.
In großen Pfützen stand das Wasser auf dem Boden. Aus einigen Fenstern drang genug Licht, dass Rutger sehen konnte, wo er die Füße hinsetzte. Langsam ging er am Hauptgebäude entlang, und sah sich aufmerksam um. Das Wasser troff von der Kapuze herunter. In der Ferne blitzte ein letztes Wetterleuchten auf. Rutger bog um eine Hausecke und blieb stehen -da war doch etwas - neben dem Rauschen des Regens vernahm er deutlich ein schrilles, metallisch schabendes Geräusch. Lauschend legte er den Kopf schief... jetzt war es wieder weg... und da war es erneut ganz deutlich. Neugierig was wohl die Ursache war, bewegte er sich in diese Richtung. Er durchschritt einen verwilderten Garten und kam zu ein paar heruntergekommenen kleinen Nebengebäuden, zwischen deren verwitterten Mauern tiefe Schatten lagen.
Mit einem Mal spürte er ein ungutes Kribbeln im Nacken, und es überkam ihn das unbehagliche Gefühl beobachtet zu werden. Er drehte sich um, sah zurück zu Villa, und erblickte, in dem Rahmen eines großen hell erleuchteten Bogenfensters, dunkel wie ein Scherenschnitt die Silhouette einer Frau mit hochgetürmtem Haar. Just wandte sie sich ab und verschwand. Sie konnte ihn doch wohl kaum gesehen haben. Oder?
Und nun zurück zu Arrecina:
Tarquitia Lucias makellos geschminkte Augenbrauen wanderte langsam noch oben. Besorgnis stand in ihrem Gesicht geschrieben, als sie ihren Gast genauestens musterte.
"Dann ist es wirklich so schlimm..." murmelte sie, mit einem Seitenblick zu Olivia, die sich dezent im Hintergrund hielt.
"Nun, meine liebe Lavinia, beruhige dich zuerst einmal. Das Wichtigste ist, dass du nun hier bist. Setz dich, und nimm mit mir zusammen ein kleines Nachtmahl ein. Ich werde dich derweil in Kenntnis setzen."
Mit beschwichtigendem Lächeln führte sie Arrecina resolut zur Tafel, ließ sie in einem Korbstuhl Platz nehmen, und setzte sich ebenfalls. Sofort stand Olivia bereit, und schenkte dunklen Wein in große silberne Pokale. Auch legte sie den beiden von den schön drapierten Speisen vor - harte Eier, verschiedene Saucen, Schnecken in Öl gesotten und etwas kaltes Fleisch vom Zicklein.
"Greif doch bitte zu." Tarquitia Lucia hob ihren Pokal. "Auf das faszinierende Volk der Etrusker! Auf ihre kolossalen Errungenschaften und ihre unvergleichlichen Einsichten in die Natur des Werdens und Vergehens..."
Sie trank, tupfte sich den Mund mit einer Serviette, und nahm die geschwungene Flöte, die nun in ihrem Schoß lag, vorsichtig in beide Hände. Das war ein seltsames Instrument - es sah aus, als wäre es aus einer Art rauchigem Glas gefertigt, und war auf ungewöhnliche Weise in sich verdreht. Die Oberfläche glänzte in einem öligen Ton, und spiegelte das Licht so absonderlich, dass es schien als würden sich darunter träge dunkle Schwaden winden.
"Um es kurz zu machen, Lavinia. Du bist hier, um mit mir ein ganz besonderes Fest zu begehen. Wir haben aufgrund ähnlicher Interessen schon länger miteinander korrespondiert, und ich habe aus deinen Briefen heraus den Eindruck gewonnen, dass du dafür genau die richtige bist..." - ein sanftes Lächeln vertrieb die Strenge aus Tarquitias Zügen, als sie fortfuhr - "Mein geliebter Ehegatte, den ich seit langen Jahren schmerzlich vermisse, er wird heute nacht ... zurückkehren."
Ein helles Klirren drang durch das Triclinium. Eine Silberschale war Olivias Händen entglitten. Kleine Brotlaibe kullerten um die Füße der Sklavin, die aschfahl geworden war, und fassungslos ihre Herrin anstarrte.