Beiträge von Rutger Severus

    Eiseskälte kroch lähmend in Rutgers Glieder. Sein Herzschlag pochte rasendschnell in seinen Ohren. Verzweifelt rang er nach Luft, jeder Atemzug ließ den vernichtenden Schmerz durch seinen Körper jagen, frisches Blut über seine Lippen fließen. Er hörte ein gräuliches Röcheln, begriff benebelt, dass es seiner eigenen Kehle entstammte, und fragte sich, schon sehr weit weg, "Ist das mein Tod? War das etwa ... alles?", denn es schien ihm, dass auf dieser Welt noch viel mehr auf ihn wartete - und nun vergeblich warten würde. Abgrundtiefer Hass auf den Römer, der ihm alles genommen hatte, war in ihm, und hätte er nur genug Atem aufbringen können, er hätte bestimmt einen zerstörerischen Fluch über ihn gesprochen.


    Micos Bemühungen nahm er nicht war, nur die neuen Qualen, in die sie ihn stürzten. Kraftlos hob er eine Hand und versuchte unkoordiniert, ihn von sich zu stoßen, streifte aber lediglich seinen Arm und hinterließ dort eine nasse rote Spur. Bitterkalte Schwärze rückte von allen Seiten an ihn heran. Noch einmal bäumte er sich wild dagegen auf, riss die Augen auf... Arrecina, er konnte sie weinen hören, wo war sie... er sah nur tanzende rote Flecken, die Sonne ein verwischtes Glühen...
    "Ar...re...cina........" kam es ersterbend über seine Lippen, dann verschlang ihn die Schwärze. Blutüberströmt und leichenblass lag sein Körper auf dem Geröll, schlaff wie eine Marionette deren Fäden zerrissen waren. Nur das Rasseln seines Atems zeigte an, dass er noch nicht tot war.

    Klirrend traf die Speerspitze gegen den eisengepanzerten Torso des Römers. Die Wucht des Aufpralles riss Rutger beinahe den Schaft aus den Händen, das Holz krümmte sich - es war doch nur frisch geschlagenes Kastanienholz - und brach. Die Splitter flogen ihm um die Ohren, die Bruchstücke rutschten den Hang hinunter, und Rutger stand ohne Waffe da.
    "Garms Grimm!" fluchte er wütend, sah wie der Römer vom Pferd stürzte, und hoffte sehr, daß der sich dabei den Hals brechen würde. Aber schon war sein Gegner wieder auf den Beinen.
    "Neiding, dreckiger Mörder..." grollte Rutger haßerfüllt zurück, und zog das Messer aus dem Gürtel - immer noch das selbe, mit dem Arrecina am Vortag - eine Ewigkeit schien es her - auf ihn eingestochen hatte. Kräftig trat er gegen ein paar große Steine, stieß sie den Hang hinunter, dem Römer entgegen. Rumpelnd rissen sie Geröll mit sich, ein Steinschlag polterte ins Tal - knapp an Aristides vorbei -, Staub wirbelte hoch, und der Hang geriet - allmählich - ins Rutschen...


    "... du räudiger Hund hast Gytha auf dem Gewissen!" brüllte Rutger in heiß aufloderndem Zorn. Seine Stimme hallte durch das Tal, und von den Bergen kam das Echo zurück. Voll blankem Hass starrte er dem Römer in die Augen, versuchte seine Schläge vorauszuahnen, sprang vor dem Gladius zurück, wich zur Seite hin aus, entging einigen Hieben, doch dann trat er auf losen Grund, und verlor den festen Stand. Der Römer drang auf ihn ein, Rutger stieß mit dem Messer nach ihm und traf bloß das Schild, dann konnte er nur noch den Unterarm hochreißen, um seine Kehle vor dem Gladius zu schützen. Heftig traf ihn das Schwert.
    Zuerst hörte er das Knirschen, als der Knochen brach, als nächstes sah er das Blut hervorströmen, glaubte einen panischen Augenblick lang, der Römer hätte ihm den Arm abgetrennt, dann erst kam der heiße Schmerz.
    Benommen rollte Rutger sich zur Seite, kam keuchend wieder hoch. Der verletzte Arm hing ihm nutzlos an der Seite. Er sah den Römer, seine Rüstung so hell in der Sonne blitzend, sein Schwert vom Blut gerötet. Er sah auch Arrecina herbei eilen, wie sie die Hände vor den Mund schlug, und er wünschte, sie müßte das alles nicht sehen...


    Wallvater, lass mich mein Leben teuer verkaufen! Rutger duckte sich, und sprang wie ein in die Ecke getriebenes Raubtier mit Todesverachtung auf den Römer los, wand sich tollkühn an dessen Schwert vorbei, und stieß mit dem Messer erbittert über dessen Schild hinweg. Der Boden unter ihren Füßen rutschte jetzt unaufhaltsam talabwärts. Mit ohrenbetäubendem Kreischen fuhr die kleine Klinge über die Lorica Segmentata, Rutger stieß nach, zielte mit aller Macht auf den Hals, auf ungedecktes Fleisch - da gellte Arrecinas Schrei....


    Und genau in diesem Moment drang ihm die Spitze des Gladius wie ein glühendes Eisen zwischen die Rippen.
    Der Schmerz war unbeschreiblich. Das Messer entfiel Rutgers Hand, das Blut wich aus seinem Gesicht, einen kurzen Augenblick lang stand er noch aufrecht, und sah, bestürzt, und auch ein wenig überrascht, an sich hinunter, auf seine rechte Flanke, wo die Klinge eingedrungen war. Dann - das Echo von Arrecinas Ruf hallte noch nach - brach er in die Knie, mit einem erstickten Schrei, der in einem rasselnden Aufkeuchen endete. Alles verschwamm um ihn herum, die Steine waren plötzlich ganz nah vor seinen Augen, er rang verzweifelt nach Luft, bäumte sich auf... die Sonne war ein verwischter Fleck vor seinen Augen, und salzig stieg ihm das Blut in der Kehle auf. Er krümmte sich am Boden, hustete, versuchte krampfhaft Luft zu schöpfen. Das Blut lief ihm schaumig über das Kinn. Von dem rutschenden Geröll mitgerissen glitt er noch ein Stück den Hang hinab, und blieb reglos liegen.

    Zwischen den Felsen sah Rutger hell Metall aufblitzen, und dann sprang auch schon das kleine Hündchen wie ein Irrwisch um ihn herum. Er schluckte, und schob das possierliche Tier mit dem Fuß zur Seite. Die Frame in der Hand wiegend fixierte er mit schmalen Augen den Reiter, der den Hang hinunter auf ihn zukam, und erkannte in ihm - Flavius Aristides!
    Tief atmete er ein, schmeckte die frische Bergluft, und sah mit einem wehmütigen Lächeln zu Arrecina. Das war doch seltsam, schoß es ihm durch den Kopf, wie er ihr eben noch so nah gewesen war, den Duft ihres Haares gerochen hatte, und nun, so plötzlich, lief wieder alles darauf hinaus zu töten oder getötet zu werden, sich zu rächen oder selbst zu sterben...- ja, seltsam, aber wohl der Lauf der Dinge.


    Verbissen ging er seinem Feind entgegen. Bei jedem Schritt schmerzte sein Bein. Der Römer kam schnell näher. Wollte der ihn niederreiten? Wenn er ihn doch irgendwie vom Pferd holen könnte... Auf einem flachen Felsen, inmitten eines steinigen Steilhanges, blieb Rutger stehen, und erwartete ihn.
    "Wodan von Asgard..."
    Wie von alleine kamen die Worte über seine Lippen. Der Hufschlag dröhnte immer lauter in seinen Ohren.
    "Höre in Huld mich..."
    Rutger konnte göttlichen Beistand gerade wirklich gut gebrauchen. Der Römer kam immer näher. Losgetretene Steine rollten polternd den Abhang hinunter.
    "Ich weihe mich Dir, gewaltiger Ase..."
    Er umschloss den rauhen Schaft seiner Waffe fest, und fühlte die eingeritzten Runen unter seinen Fingern. Der Römer war schon fast bei ihm.
    "Sende, Wallvater, mir Sieg !"
    Oder lass mich mein Leben wenigstens teuer verkaufen!


    Mit grimmigem Lächeln hob Rutger die Frame, fasste den Feind genau ins Auge, und wartete kaltblütig bis zum letzten Moment, um dann blitzschnell das untere Ende des Schaftes fest mit dem Fuß am Felsen abzustützen, und zugleich die Spitze direkt auf die Leibesmitte des anstürmenden Gegners zu richten.... bevor er sich vor den Hufen und dem Gladius zur Seite warf.

    Eine gute Frage. Eine geradezu philosophische Frage, die Arrecina da gestellt hat. Warum ist sie hier? Der geneigte Leser weiß natürlich, dass sie sich zur Zeit in dieser düsteren Villa, in mehr als dubioser Gesellschaft befindet, weil sie leichtsinnig mit einem fremden Sklaven ausgeritten ist, und dieser sie verschleppt hat. Vielleicht beginnt die Erklärung auch schon früher, zu dem Zeitpunkt, als sie ihrer Großmutter entwischt ist - was uns zu einer sehr moralischen Betrachtungsweise führen könnte, im Sinne von "was jungen Mädchen alles passieren kann, die ihrer Oma nicht gehorchen". Oder - wenn wir ein ganzes Bündel von Ursachen annehmen - begann die Kette der Ereignisse vielleicht auch an dem Tag, als Flavius Aristides in seiner sorglosen Art beschloss, einen kleinen Ausritt in den germanischen Wäldern zu machen, und so auf Rutger traf?
    Oder aber, Arrecina hatte das Pech, in den Sog eines
    Narrativums zu geraten, das, bei den gegebenen Elementen (ein Unwetter, die Zeit um Samhain, zwei gutaussehende junge Menschen alleine in der Wildnis etc.), gar keine andere Wahl ließ, als sie in dieses unheimliche Gemäuer zu führen?
    Wer weiß.
    Tatsache ist: bevor wir auf diese Frage hin Tarquitia Lucia zu Wort kommen lassen - die sicher ihre ganz eigene Erklärung für Arrecinas/Lavinias Anwesenheit hat - machen wir noch einen kleinen Kameraschwenk. Also wieder zu Rutger:


    Der machte sich, nachdem Arrecina zum Baden verschwunden war, auf, um die Villa zu erkunden. Mit dem kleinen Öllämpchen in der Hand wanderte er durch die Gänge, öffnete viele Türen, fand teilweise völlig verkommene Räume vor, und andere, die unter Staub und Spinnweben noch Spuren früheren Glanzes trugen. Hohl heulte der Wind ums Haus, und ständig drohte der kalte Luftzug das Licht auszulöschen. Einmal kreuzte eine alte Frau seinen Weg, die um ihren faltigen Hals einen Sklavenring trug - achtlos schlurfte sie an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken. Sonst begegnete er keiner Menschenseele.
    Schließlich gelangte er wieder in das helle Atrium. Von den Wänden sahen ihn die ausgeblichenen Darstellungen fremdartiger Könige an, die allesamt ein geheimnisvolles Lächeln auf den Lippen trugen. Die Asphodelen verströmten einen süßen, etwas fleischigen Geruch. Rutger durchschritt diesen - auf schwer fassbare Weise beunruhigenden - Raum schnell, und öffnete die Türe zum Hof. Noch immer regnete es in Strömen, wenn auch die Wucht des Unwetters schon stark nachgelassen hatte.


    Schon wollte er schicksalsergeben hinaus in den Regen treten - denn er mußte sich nach Pferden umschauen, und nach seiner Waffe -, da sah er neben der Türe mehrere Mäntel hängen. Einen davon - aus gewachstem Leder, mit einer weiten Kapuze - borgte er sich aus, und ging so beschirmt nach draußen.
    In großen Pfützen stand das Wasser auf dem Boden. Aus einigen Fenstern drang genug Licht, dass Rutger sehen konnte, wo er die Füße hinsetzte. Langsam ging er am Hauptgebäude entlang, und sah sich aufmerksam um. Das Wasser troff von der Kapuze herunter. In der Ferne blitzte ein letztes Wetterleuchten auf. Rutger bog um eine Hausecke und blieb stehen -da war doch etwas - neben dem Rauschen des Regens vernahm er deutlich ein schrilles, metallisch schabendes Geräusch. Lauschend legte er den Kopf schief... jetzt war es wieder weg... und da war es erneut ganz deutlich. Neugierig was wohl die Ursache war, bewegte er sich in diese Richtung. Er durchschritt einen verwilderten Garten und kam zu ein paar heruntergekommenen kleinen Nebengebäuden, zwischen deren verwitterten Mauern tiefe Schatten lagen.
    Mit einem Mal spürte er ein ungutes Kribbeln im Nacken, und es überkam ihn das unbehagliche Gefühl beobachtet zu werden. Er drehte sich um, sah zurück zu Villa, und erblickte, in dem Rahmen eines großen hell erleuchteten Bogenfensters, dunkel wie ein Scherenschnitt die Silhouette einer Frau mit hochgetürmtem Haar. Just wandte sie sich ab und verschwand. Sie konnte ihn doch wohl kaum gesehen haben. Oder?


    Und nun zurück zu Arrecina:
    Tarquitia Lucias makellos geschminkte Augenbrauen wanderte langsam noch oben. Besorgnis stand in ihrem Gesicht geschrieben, als sie ihren Gast genauestens musterte.
    "Dann ist es wirklich so schlimm..." murmelte sie, mit einem Seitenblick zu Olivia, die sich dezent im Hintergrund hielt.
    "Nun, meine liebe Lavinia, beruhige dich zuerst einmal. Das Wichtigste ist, dass du nun hier bist. Setz dich, und nimm mit mir zusammen ein kleines Nachtmahl ein. Ich werde dich derweil in Kenntnis setzen."
    Mit beschwichtigendem Lächeln führte sie Arrecina resolut zur Tafel, ließ sie in einem Korbstuhl Platz nehmen, und setzte sich ebenfalls. Sofort stand Olivia bereit, und schenkte dunklen Wein in große silberne Pokale. Auch legte sie den beiden von den schön drapierten Speisen vor - harte Eier, verschiedene Saucen, Schnecken in Öl gesotten und etwas kaltes Fleisch vom Zicklein.


    "Greif doch bitte zu." Tarquitia Lucia hob ihren Pokal. "Auf das faszinierende Volk der Etrusker! Auf ihre kolossalen Errungenschaften und ihre unvergleichlichen Einsichten in die Natur des Werdens und Vergehens..."
    Sie trank, tupfte sich den Mund mit einer Serviette, und nahm die geschwungene Flöte, die nun in ihrem Schoß lag, vorsichtig in beide Hände. Das war ein seltsames Instrument - es sah aus, als wäre es aus einer Art rauchigem Glas gefertigt, und war auf ungewöhnliche Weise in sich verdreht. Die Oberfläche glänzte in einem öligen Ton, und spiegelte das Licht so absonderlich, dass es schien als würden sich darunter träge dunkle Schwaden winden.
    "Um es kurz zu machen, Lavinia. Du bist hier, um mit mir ein ganz besonderes Fest zu begehen. Wir haben aufgrund ähnlicher Interessen schon länger miteinander korrespondiert, und ich habe aus deinen Briefen heraus den Eindruck gewonnen, dass du dafür genau die richtige bist..." - ein sanftes Lächeln vertrieb die Strenge aus Tarquitias Zügen, als sie fortfuhr - "Mein geliebter Ehegatte, den ich seit langen Jahren schmerzlich vermisse, er wird heute nacht ... zurückkehren."
    Ein helles Klirren drang durch das Triclinium. Eine Silberschale war Olivias Händen entglitten. Kleine Brotlaibe kullerten um die Füße der Sklavin, die aschfahl geworden war, und fassungslos ihre Herrin anstarrte.

    In einem strahlendblauen Himmel stand hell die Sonne im Zenit. Die Zikaden sangen ihr eintöniges Lied. Eine sanfte Brise strich Rutger durch das Haar. Er saß, den Rücken an einen Felsen gelehnt und ein Bein von sich gestreckt, hoch oben an einem steinigen Abhang, und blickte hinab in die sonnendurchfluteten Täler der Apenninen.



    An das große Unwetter, das tags zuvor so zerstörerisch hereingebrochen war, erinnerten noch ein paar Wasserlachen, verstreut liegende Äste, hin und wieder ein geknickter Baum. Sie hatten Glück gehabt, dass sie während des Gewitters eine Zuflucht gefunden hatten, dachte sich Rutger - und noch mehr Glück, dass sie die Nacht in dieser grauenvollen "Zuflucht" so einigermaßen heil überstanden hatten... aber daran wollte er lieber nicht zurückdenken.


    Er wandte den Kopf, und sah neben sich, auf Arrecina. Zugedeckt mit einer Pferdedecke lag sie da, auf dem vergilbten Gras, und schlief. Unter dem schmutzigen Kopfverband quoll ihr kastanienbraunes Haar hervor, schmiegte sich um ihr von der Erschöpfung gezeichnetes Gesicht, floss über ihre Schultern, und lag glatt ausgebreitet auf der groben Decke. Sachte strichen Rutgers Finger darüber hinweg, mit ein wenig Abstand, denn er wollte sie nicht wecken. Er spürte auch so, wie sonnenwarm ihr Haar war, sah die kleinen Lichtreflexe goldbraun in der dunklen Fülle schimmern, und er roch dessen Duft. Schön.
    Von einem aufwallenden Gefühl der Zärtlichkeit überwältigt, streckte er sich neben ihr aus, stützte das Kinn auf den Ellbogen, und betrachtete völlig versunken ihr Gesicht. Begierig, jede Einzelheit in sich aufzunehmen, ließ er seinen Blick darüber wandern. Wie fein geschwungen ihre Brauen waren. Wie zierlich wölbte sich ihre Ohrmuschel. Einen eigenwilligen Zug hatte sie um den Mund. Ein bisschen schelmisch auch, fand er. Ruhig strich der Hauch ihres Atems über ihre zarten Lippen, und... - sein Blick verharrte an einer Stelle, wo ihre Unterlippe von geronnenem Blut dunkel verkrustet war.


    Sein Lächeln erlosch, er wandte beschämt die Augen ab, stand auf, und ging hinkend ein paar Schritte weiter. Die beiden Ponys, die er aus der Villa Aspera gestohlen hatte, rupften gemächlich das trockene Gras. Er klopfte ihnen kurz auf den Hals, dankbar für ihre Genügsamkeit und Trittsicherheit, und fragte sich kurz, was wohl aus Phaidra geworden war.
    Mit seiner selbstgebauten Frame in der Hand setzte er sich schließlich auf einen flachen Stein, und streckte wieder das verletzte Bein lang aus. Unter sich sah er den schmalen Pfad, auf dem sie gekommen waren, wie er sich in Serpentinen, an Klüften und Geröllhalden vorbei, den Hang hinaufwand. Er zog dann weiter, einen felsigen Grat entlang; diesen Weg würden sie später nehmen, wenn Arrecina sich ein wenig ausgeruht hatte. Rutger hätte nach den zumeist schlaflosen letzten Nächten etwas Ruhe ebenfalls bitter nötig gehabt, doch er wußte, dass er sie sich nicht leisten konnte, und noch hielt ihn sein Wille aufrecht, in einem überwachen, angespannten Zustand. Ein Windhauch raschelte leise in den Blättern eines struppigen Dornbusches, und schon dieses verhaltene Geräusch ließ Rutger unruhig aufblicken, und die Frame fester fassen.


    Über sich selbst den Kopf schüttelnd, zog er das Messer aus dem Gürtel, und arbeitete weiter an seiner Waffe, zog hier eine Schnürung fester, glättete da eine Unebenheit, glich dort eine Unausgewogenheit aus. Dann legte er sie quer über seine Knie, atmete tief ein, und beschwor vor seinem inneren Auge die Formen der Runen des Kampfes und des Sieges. Leise kam der archaische Singsang über seine Lippen, der ihre Kräfte rief und band, während er ihre Formen mit der Klinge in den Schaft seiner Waffe ritzte. Zuletzt fügte er sich selbst einen kleinen Schnitt in den Handballen zu, und färbte die Runen mit seinem Blut rot.
    Gerade als er die Hand zum Mund führte, um sich das Blut abzulecken, ertönte laut und vernehmlich ein 'Klack', und ein Stein kullerte von oben, vom Grat her, den Berg hinunter. Sofort war Rutger auf den Beinen, starrte mit erhobener Waffe kampfbereit dorthin - und sah, gegen den blauen Himmel, eine Gemse, die, anmutig ihre Hufe setzend, da oben entlang spazierte. Vor Erleichterung leise auflachend ließ er die Waffe wieder sinken...

    Und der tat wie geheißen. Vorsichtig ließ er Aquilius von seinen Schultern auf die Kissen hinunter gleiten. Dann streckte er erleichtert seinen Rücken, und zog sich die vermaldedeite Tunika wieder zurecht. Sinnierend blickte er auf die Casa zurück. Wenigstens hatte ihn Olympia gerade nicht gesehen. Ein versonnenes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als er an sie dachte. Ob er sie mal wiedersehen würde?
    Der Morgen dämmerte herauf, und die Sterne verblassten, während Rutger, noch ganz erfüllt von den Bildern, Klängen und Erlebnissen des Festes, neben der Sänfte herging, durch das erwachende Rom, zurück zur Villa Flavia.

    Jetzt erkannte Rutger, dass er es mit dem flavischen Goden zu tun hatte, der vorhin das unheimliche Opfer durchgeführt hatte. Er unterdrückte den Impuls, sich mit dem Zeichen von Donars Hammer zu schützen, und beobachtete befremdet, mit welch liebevoller Geste dieser Mann Flavius Aquilius über den Kopf strich. Mochte diese Gebärde für Freundschaft oder für Verbundenheit in der Sippe stehen, sie passte schlecht zu Rutgers Vorstellung, dass es sich bei dem Römern - jedenfalls im Allgemeinen - um eiskalte und berechnende Menschen handelte, die nicht mehr Gefühl in sich trugen als die strengen Steinstatuen, mit denen sie sich so gerne umgaben.
    "Er hätte mich mitnehmen sollen." bemerkte Rutger. Offensichtlich brauchte Flavius Aquilius wirklich einen Leibwächter.
    "Der Morgen graut schon bald. Das Fest ist vorbei."


    Für ihn war es das auf jeden Fall. Sein Gesicht verdüsterte sich, als der Römer ihm sagte, was er tun müsse.
    Schweigend zuckte er die Schultern, da er keine Ahnung hatte wo dieser Sciurus steckte, und ihm auch die Flavische Traubenernte herzlich egal war.
    "Zur Sänfte?" Einer seiner Mundwinkel hob sich leicht abfällig. Diese Transportmittel waren doch der Gipfel römischer Faulheit und Dekadenz. Andererseits - besser als Aquilius quer durch die Stadt tragen zu müssen, war das natürlich allemal. Rutger rang mit sich.
    "Das kurze Stück kann ich ihn alleine nehmen." entschied er dann. "Wenn du mir die Türen öffnest. Bitte."
    Schon beugte er sich zu dem tief Schlafenden, und lud ihn entschlossen auf seinen Rücken. Mit zusammengebissenen Zähnen, schwellenden Muskeln und hervortretenden Sehnen richtete er sich mühsam, etwas schwankend wieder auf. Oha! Er hielt sich am Bettpfosten fest. Ein schmächtiger Südländer war Aquilius wahrlich nicht. Und der Wein machte die Sache auch nicht einfacher. Ganz und gar auf sein Gleichgewicht konzentriert trug er den Flavier Schritt für Schritt Richtung Türe.

    Voller Erwartung kam Rutger, geführt von Hektor - oder vielleicht auch von Herkules - den Gang entlang, der auf das Cubiculum zuführte. Eine Nacht voll der Wunder neigte sich dem Ende zu. Und vielleicht würden die Götter ihm nun, als Krönung, auch noch die Gelegenheit geben, Rache an seinem schlimmsten Feind zu nehmen. Auf dem ganzen Weg vom festlichen Innenhof bis hier hatte er Ausschau gehalten, ob bei den Überresten des Banketts nicht vielleicht noch ein Bratenmesser herumlag, das er heimlich hätte an sich nehmen können, auch mit einem Fischmesser hätte er Vorlieb genommen, aber leider sah er nur noch die Nachspeisen da stehen. Und, nein, einen Löffel konnte er für sein Vorhaben nicht gebrauchen.


    Der Sklave bezeichnete ihm die Türe. Rutger nickte tatkräftig.
    "Ist gut." sagte er, nicht allzulaut.
    "Geh nur, wie gesagt, ich kümmere mich darum." Und grinsend fügte er hinzu: "Nicht das erste mal, daß er zu viel intus hat. Verträgt halt kaum was."
    Energisch, aber nicht zu fest auftretend, ging er an dem Sklaven vorbei, auf die Türe zu. Er beobachtete ihn dabei aus den Augenwinkeln, hob die Hand, als wolle er anklopfen, sah wie Hektor - vielleicht aber auch Herkules - sich zurückzog, und ließ die Hand wieder sinken, sobald er um eine Ecke gebogen war.

    Einmal tief durchgeatmet, dann legte der rachedurstige Germane seine Hand auf die Klinke, drückte sie ganz langsam hinunter, und öffnete die Türe vorsichtig Stück für Stück. In dem spärlichen Licht sah er die roten und goldenen Mosaiken, die wehenden Vorhänge, und das Bett, auf dem er, obwohl es halb in tiefem Schatten lag, einen ruhig schlafenden Mann ausmachen konnte... Auf leisen Sohlen trat Rutger in das Zimmer hinein, und schloss behutsam die Türe. Mit wölfischer Gewandtheit näherte er sich fast lautlos dem Schlafenden, sah mit unbewegter Miene auf ihn hinunter - und war enttäuscht!


    Denn da lag nicht Flavius Aristides, der Neiding, dem Rutger liebend gerne die Kehle zugedrückt hätte - das war Flavius Aquilius, der Rutger, den Umständen entsprechend, anständig behandelt hatte... Wo kam der denn her? Und wie zerschlagen er aussah!
    "Bei Ziu!" entfuhr es Rutger leise, der außerdem erst in diesem Moment verblüfft bemerkte, daß da, im Schatten, noch ein anderer Mann saß. Verwirrt rieb er sich die Wange, da wo der Sonnenbrand noch immer juckte, und fragte, mit gedämpfter Stimme, in seinem rauhen Latein: "Was ist geschehen? Hat er einen Kampf gefochten?"

    Diese Abfuhr war zu subtil für Rutger. Was zierte sich das Mädchen denn jetzt so, fragte er sich. Eben hatte sie ihm doch noch keck ihre hübschen Oberschenkel gezeigt.
    "Zu dunkel?"
    Den Einwand wischte er grinsend beiseite: "Sei unbesorgt, ich werde eine Fackel mitnehmen, um deinen Weg zu erhellen, schöne Olympia. Aber natürlich..." - und hier konnte man sein Lächeln wirklich als hungrig bezeichnen - "...natürlich können wir auch woanders hingehen..."
    Er umfasste ungestüm ihre Hand, sah ihr in die Augen und setzte gerade erneut an, diese doch recht trutzige Festung mit feurigen Worten und barbarischem Charme zu stürmen, als ihn plötzlich der Türsklave ansprach.


    "Was?" Aus dem Konzept gebracht sah er verärgert zu dem Mann auf. War er etwa 'enttarnt'? Unwillkürlich griff er sich an den Kopf, nach dem Kranz, doch der war ihm in der Zwischenzeit irgendwie abhanden gekommen. Zu dumm. Aber der Sklave hatte anscheinend ein anderes Anliegen. Rutger verstand ihn nicht gut, meinte nur heraushören zu können, daß der Flavier, mit dem er gekommen war, nach Hause gebracht werden sollte. So heftig wie der vorhin gebechert hatte, lag er jetzt wahrscheinlich irgendwo unter dem Tisch, völlig betrunken, hilflos und ... - Rutgers Gesicht erhellte sich. Das war die Gelegenheit!


    Augenblicklich ließ er Olympias Hand wieder los, und antwortete freundlich: "Sicher. Ich kümmere mich darum. Wo ist er denn?"
    Nur kurz wandte er sich noch zu seiner reizenden Gesellschaft, um sich zu verabschieden: "Ich muß jetzt leider los. Möge Freya dich behüten, tausendschöne Olympia." , dann stand er von der Kline auf, und folgte Hektor - oder Herkules - quer über den Hof, und dann ins Innere des Hauses.

    "Gallier!? Du kleiner Hochstapler schimpfst mich einen Gallier?!"
    Empört schnappte Rutger nach Luft.
    "Die sind feige Hunde, Speichellecker der Römer! Ich bin Chatte!"
    Aber bevor er den unverschämten kleine Mann zur Rechenschaft ziehen konnte, war der schon im Kampfgetümmel verschwunden. Fraglich ob er ihn überhaupt noch gehört hatte. Was in aller Welt fand die schöne Olympia nur an diesem grotesken Fratz?
    "Gallier! Pah!" grollte Rutger, lehnte sich an eine hölzerne Umfriedung, und betrachtete einen Moment lang mit Genugtuung, wie sich die Römer gegenseitig die Köpfe einschlugen. Ein warmer Luftzug, und das erstaunlich sanfte Tasten eines Elefantenrüssels nach seiner Hand, lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die märchenhaften Tiere. Konnte es sein, daß dieses Exemplar hier gefüttert werden wollte?

    Rutger bediente sich an einem verlassenen Tisch, nahm eine von exotischen Früchten nur so überfließende Schale, und ein großes Stück Braten mit in den Stall, und hielt dem Elefanten probeweise beides vor den Rüssel. Der entschied sich für eine Melone, griff sie sich geschickt, und balancierte sie kurz auf dem Rüssel - es sah aus, als würde er damit spielen, bevor sie in seinem großen Maul verschwand. Lachend fütterte Rutger ihn weiter, und dann auch die anderen Tiere, die ihm fordernd ihre Rüssel entgegenstreckten. Auf einem Strohballen sitzend beobachtete er die Elefanten dann noch eine Weile ganz fasziniert - wie sie schmatzend das Obst verzehrten, wie geschickt sie ihre Rüssel benutzten, wie seelenvoll ihre Augen blickten - bis es schließlich an der Zeit war, den Flavier wieder nach Hause zu begleiten.

    „Meine Herrin hat sich, seit einigen Jahren, ganz hierher zurückgezogen.“ antwortete Olivia zögerlich. „Lass mich dir doch behilflich sein, werte Antonia Lavinia.“
    Sie griff nach einem großen Schwamm, tränkte ihn, und ließ das warme Wasser über Arrecinas Nacken und Rücken plätschern.
    „Sie ist... inzwischen etwas eigen, und will keinen Kontakt nach draußen, weißt du, das würde sie nur stören. Nur manchmal geht Casca los, reitet ins Tal, und besorgt was wir so brauchen. Es ist halt schon sehr einsam… Soll ich?“ Vorsichtig fasste sie Arrecinas Haar, und begann es zu waschen, wobei sie acht gab, den Verband nicht zu durchnässen.
    „Anfangs da waren wir noch mehr, aber die meisten sind in der Zwischenzeit… gestorben. Meine Herrin ist sehr streng, und Casca, der schlägt gerne mal etwas fester zu… ich mache jetzt den Haushalt fast alleine… also es tut mir leid…“ - sie blickte ebenfalls zu den Spinnweben an der Decke – „wenn es etwas unordentlich ist, aber ich komme einfach nicht mit allem nach, es ist so ein großes, altes Haus…“
    Mit einem Tuch rieb sie Arrecinas Haar möglichst trocken, nahm einen Kamm, und begann geduldig und mit Gefühl, die Knoten zu lösen.
    „Du warst länger unterwegs, oder? ... ach verzeih, ich habe ganz vergessen…“ Geschickt flocht sie Arrecinas Haar an den Seiten, und steckte es dann ordentlich am Hinterkopf zusammen.


    Nach dem Bad reichte sie Arrecina eine festliche Tunika in einem zarten Grünton, dazu einen mit Narzissen durchwirkten Schleier, und Sandalen aus weich gegerbtem Leder. Die Tunika war ein wenig zu lang, und roch ganz leicht modrig, der Schleier war sehr kunstvoll und auf eine ganz und gar altertümliche Weise geschnitten, und die Sandalen waren ein bisschen zu groß. Olivia half beim Ankleiden, band die Sandalen, und raffte die Tunika mit einem schmalen Gürtel, damit Arrecina nicht auf den Saum trat.
    Dann führte sie sie wieder durch die dunklen Gänge, leuchtete ihr mit dem flackernden Windlicht, und blieb schließlich vor einer großen Flügeltüre stehen. Durch einen schmalen Spalt drang ein Faden von hellem Licht hindurch. Olivia hob die Hand, und klopfte an der Türe.
    „Ich bringe dich jetzt zur Herrin. Tarquitia Lucia ist ihr Name. Sie kann dir bestimmt helfen.“
    Sie lächelte verzerrt und öffnete die Türe…


    * * *


    Kapitel III – Ein kleines Nachtmahl


    Unzählige Kerzen brannten hier, ihre Flammen tanzten im Luftzug, wurden von Silberspiegeln vielfach reflektiert, und verströmten ein Licht, so hell, dass es im ersten Moment in den Augen schmerzte. Erst auf den zweiten Blick war ein großes Triclinium zu erkennen, glanzvoll eingerichtet, mit einer üppig gedeckten Tafel in der Mitte. Am Fenster stand eine elegante Dame in einem düsterrot schimmernden Gewand, mit kompliziert hochgestecktem hellem Haar, und über und über mit Rubinen geschmückt. Sie sah nach draußen, wo über den schwarzen Gipfeln noch ein paar letzte, ferne Blitze aufzuckten. In den Händen hielt sie eine seltsam geschwungene rauchfarbene Flöte.
    Erst als Olivia sich demonstrativ räusperte, wandte sie den Kopf – ihre Juwelen funkelten dabei blutrot im Kerzenschein – und kam mit rauschendem Gewand rasch auf Arrecina zu.



    „Ah, da kommt ja unser Medium!“ Sie lächelte liebenswürdig, und drückte herzlich Arrecinas Hand. „Wie erleichtert ich bin, dass du es trotz des widrigen Wetters noch rechtzeitig hierher geschafft hast. Und wie sehr es mich freut, dass wir uns nun endlich von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen, meine liebe Lavinia…. – Ich darf doch Lavinia sagen? Aber setzen wir uns doch. Sicher möchtest du dich stärken, bevor das Fest beginnt. Du wurdest angegriffen auf dem Weg?“

    „Ich bitte um Verzeihung. Ich habe nichts gesehen. Es gab nichts zu sehen. Nichts das ich zu sehen habe. Also habe ich nichts gesehen.“ stieß Olivia abgehackt hervor. Ihr furchtsamer Blick zuckte von einem zum anderen.
    „Lass uns alleine.“ verlangte Rutger, und erhob sich. Sein Zorn, in diesem besonderen Moment gestört worden zu sein, war so deutlich, dass die verschreckte Sklavin ganz überstürzt das Zimmer verließ, und die Türe dabei so heftig schloss, dass ein unangenehmes lautes Quietschen ertönte. Rutger verzog das Gesicht bei den schrillen Geräusch, und wandte sich wieder Arrecina zu.

    „Geh nur, Kleines. Ich sehe mich derweil hier etwas um. Will mal sehen, ob sie hier Pferde haben, die wir uns...“
    - er grinste unternehmungslustig und ohne jegliches Schuldbewusstsein - „...vielleicht ausborgen können. Wichtig ist: du heißt Antonia, und ich bin Remus, dein treuer Leibwächter, ja? Als ich hier ankam, meinten sie, dass sie dich – 'die Antonia' nannten sie dich - schon erwarten würden. Seltsam ist das... Ich habe ihnen da mal nicht widersprochen, und habe behauptet, wir wären überfallen worden...“
    Er beugte sich zu Arrecina, hob ihr Kinn sanft mit der hohlen Hand an, und küsste sie liebevoll.
    „Das wird schon, Kleines. Du badest jetzt und ruhst dich endlich mal richtig aus, und morgen machen wir uns vor Tau und Tag aus dem Staub.“
    Zuversichtlich zwinkerte ihr zu, ging zur Türe, und öffnete sie. Im Gang stand betreten Olivia mit einigen Tüchern über dem Arm und einem Windlicht in der Hand.
    „Sie ist soweit.“ teilte Rutger ihr mit. Die Sklavin nickte stumm, und wartete in ängstlich geduckter Haltung auf Arrecina.


    Mit dem Windlicht leuchtete sie ihr durch lange und zugige Gänge bis zu einem einstmals sicher prachtvollen Balneum, an dessen Wänden man noch vage zerbröckelnde Mosaiken von Fischen und anderem Meergetier erkennen konnte. Durch den Mamorboden liefen tiefe Sprünge, und reichlich Mörtel war schon heruntergerieselt. Spinnweben hingen, schwer vom Staub vieler Jahre, wie ein grauer Baldachin von der Decke.
    Olivia wies auf ein kleines Badebecken – das einzige, in dem Wasser war. Darum herum standen einige Öllampen. Von unten leuchteten sie die Statue einer gutgebauten Nymphe an, die auf einem Podest über dem Becken stand, und mit der großen Muschel in ihrer Hand früher wohl einmal das Wasser gespendet hatte. Ihr fehlte der Kopf.
    Mühsam schleppte Olivia mehrere Eimer mit dampfend heißem Wasser herbei, die sie dann in das Becken dazu kippte. Mit der Hand prüfte sie die Wärme, und nickte Arrecina scheu auffordernd zu, wobei sie noch immer ängstlich ihren Blick vermied.

    „Kleines...“ Selig spürte Rutger ihren Atem auf seinem Gesicht. Ganz behutsam strich er ihr über die Brauen, die Schläfen, liebkoste mit den Fingerspitzen und den Lippen völlig versunken jeden Zoll ihres Gesichtes, während er flüsternd wilde Pläne machte.
    „...wenn wir erst mal über die Pässe sind, dann wird uns keiner mehr finden. Die Berge werden dir gefallen, der Schnee ist so blendend weiß, und funkelt heller als tausend Edelsteine, und das Eis ist blau wie...-, also ganz unwirklich blau ist es... wir brauchen nur robuste Pferde, und bis zum Julfest sind wir längst bei meiner Sippe...“
    Er lächelte versonnen und zweifelte keinen Augenblick daran, dass Arrecina sie alle sofort bezaubern würde.
    „Schaffst du das? Oder nein, besser wir warten bis du ganz genesen bist, verstecken uns irgendwo...“ Zart strich er am Rande ihres Kopfverbandes entlang. „...wir verkleiden uns, du als Junge, ich als Händler mit Bernstein – darauf fallen die Leute immer rein... oder wir nehmen ein Schiff, wie du willst... Hauptsache ist...“
    Zärtlich legte er die Arme um sie, vergrub die Lippen in ihrem Haar, und murmelte, jetzt ganz dicht an ihrem Ohr: „...ich gebe dich einfach nicht mehr her, meine wunder-wunderbare kleine Ar...- “


    Weiter kam er nicht. Es klopfte kurz, und im selben Moment ging auch schon die Tür auf.
    „Antonia Lavinia? Werte Herrin, bist du vielleicht...“ konnte die eilig eintretende Olivia noch sagen, bevor sie wie vom Donner gerührt stehenblieb, und ihre Stimme versagte. Mit dem Ausdruck größten Entsetzens starrte sie auf das gebotene Bild. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.
    „Das Bad ist bereit.“ stammelte sie mit blutleeren Lippen. „Werte Herrin. Das Bad.“

    Ja? Hatte sie etwa 'ja' gesagt? Rutgers Augen weiteten sich, ein wenig ungläubig, denn trotz seiner überschwänglichen Worte hatte er doch sehr befürchtet, dass sie ihn nur mit Unverständnis ansehen würde, freundlich, aber befremdet, und so etwas sagen würde wie: „Aber Rutger! Was für eine seltsame Idee. Meinst du das etwa ernst? Was bildest du dir eigentlich ein, also hör mal!“ Vielleicht hätte sie sogar gelacht…
    Aber nein. Beziehungsweise ‚ja’. Da stieg eine unbeschreibliche Freude in ihm auf, ein gewaltiges, schwindelerregendes Glücksgefühl. Warm legte er seine Hände auf ihre Wangen, und langsam, ganz langsam, näherten sich seine Lippen den ihren.
    ‚Narr! Du verlierst dich!’ versuchte die Stimme der Vernunft sich noch einmal mahnend zu Wort zu melden. Aber nur noch ganz schwach, und kläglich leise, und Rutger hörte gar nicht hin.


    Sanft berührten seine Lippen die von Arrecina, zogen sich wieder zurück, so als habe er nur mal kurz kosten wollen, und mit einem zärtlichen Lächeln sah er ihr in die Augen, schier überströmend vor Glück - bevor er sie wieder küsste, innig und feurig. Die Welt versank um ihn herum, und es gab nur noch sie beide… keine Flucht mehr, keine Rache, keine LISTE, keine Bedrohung… nur Arrecina, Rutger, und diesen Kuss, der ewig währen sollte.
    Aber wann gehen solche Wünsche schon in Erfüllung? Das leise Geräusch von Schritten draußen auf dem Gang drang störend in die Zweisamkeit, dazu von ferne ein Klopfen, und Olivias gedämpfte Stimme, die wohl irgendetwas fragte.

    Auf einmal schlug Rutger die Augen auf. Sein vom Schlaf noch verschleierter Blick irrte fahrig umher, als er sich ruckartig aufrichtete, und die rechte Hand ganz von selbst das Messer aus dem Gürtel zog, während die linke blitzschnell Arrecinas Finger umgriff. Aufgeschreckt starrte er sie an, und war bereit, sein Leben teuer zu verkaufen - doch dann klärte sich sein Blick, und er erkannte: das war glücklicherweise nicht nötig.
    "Kleines..." murmelte er überrascht, und ein warmes Lächeln vertrieb die grimmige Miene.
    "Wieder auf den Beinen, hmm?"
    Er lockerte den Griff um ihre Hand, und strich mit dem Daumen sanft über ihren Handrücken.
    "Entschuldige."
    Das Messer ließ er sinken, und steckte es wieder in die Scheide. Dann schwang er die Beine aus dem Bett, rieb sich die Augen, und fuhr sich flüchtig durchs Haar, unzufrieden, daß er einfach eingeschlafen war. Aber, nun ja, es war ja nichts passiert, und auch der Regen trommelte noch immer stetig auf das Dach. Nichts passiert? Rutger musterte Arrecina unruhig. Sie hatte ihn doch nicht verraten?


    Es machte nicht den Anschein. In dem Lichtkreis der Öllampe, umgeben vom Rauschen des Regens, schien es Rutger als wären sie beide zusammen in einer kleinen Höhle... er bemerkte außerdem, daß er ihre Hand noch nicht losgelassen hatte. Wieder lächelte er, etwas melancholisch, und sah tief in Arrecinas dunkel schimmernde Augen hinein. Sie sah aus als würde sie träumen. Das Gefühl hatte er auch. Zärtlich streichelte er ihre Hand, zog sie sachte näher, und wußte ganz genau, daß er im Begriff war, einen großen Fehler zu machen.
    "Kleines..." setzte er an, dachte dabei: 'Du Narr, halt lieber die Klappe!' - und sprach, etwas heiser, weiter: "Ich muß dir, vor allem anderen, etwas - ... nein, ich muß dich was fragen. Setz dich doch."
    Er rückte zur Seite, und machte ihr Platz auf dem Bettrand. Sein Lächeln wurde schief, als er wieder die Rechte hob, und ihr leicht den Zeigefinger auf die Lippen legte.
    "Etwas wichtiges. Hör mir einfach zu..." - 'Du sentimentaler Idiot! Sprich nicht weiter!' protestierte die Stimme der Vernunft. Und verhallte ungehört. Rutger versank in Arrecinas Augen.
    "Weißt du, es ist so... ich hätte das nie für möglich gehalten. Aber, in den letzten Tagen, da ist ja viel passiert. Ich habe dich kennengelernt, Kleines... und du bist etwas ganz besonderes. Kühn und hold bist du, klug und stolz, und so wunder-wunderschön... "
    Noch immer lag sein Finger auf Arrecinas Lippen, und ganz leicht schüttelte er dem Kopf damit sie ihn zu Ende sprechen ließ - bevor ihn seine Kühnheit verließ...


    "Möchtest du mit mir kommen? Mit in den Norden? Es ist wirklich ein schönes Land. Ich würde dir alles zeigen. Die Wälder sind rot und gold um diese Jahreszeit. Und ich kann für dich sorgen. Was auch immer du willst, wenn dir etwas gefällt, dann nehmen wir es uns einfach."
    Er beugte sich vor, und streifte mit den Lippen Arrecinas Wange.
    "Und ich werde zu dir immer nur zärtlich sein."
    Die Begeisterung funkelte hell in seinen Augen.
    "Ein wahrhaft freies Leben - für uns beide - zusammen. Wenn wir es wirklich wollen, wird es uns auch gelingen!"
    Sein Finger glitt am Schwung ihrer Lippen entlang. Liebevoll streichelte er ihren Hals.
    "Kommst du mit?"

    Nachdem Olivia ihn in dem kleinen Nebenzimmer alleine gelassen hatte, zog sich Rutger seine klatschnasse und blutbefleckte Tunika über den Kopf, und wusch sich, im Licht einer einzigen Öllampe, Schlamm und Schmutz vom Leib. In ein seltsames Haus waren sie da geraten, fand er. Aber doch - Glück im Unglück.
    Er zog die frische Tunika an - aus rostrotem grobgewebtem Stoff, und an den Schultern etwas zu eng - , kämmte sich die Haare, und sah so schon wieder wie ein Mensch aus. Erschöpft setzte er sich auf den Rand des schmalen Bettes, und stützte den Kopf in die Hände. Am besten wäre es, sobald das Unwetter nachließ, gleich wieder aufzubrechen, dachte er, und lauschte gedankenverloren dem stetigen Fallen der Regentropfen auf das Dach. Beruhigend, dieses Geräusch.


    Langsam streckte er sich auf dem Bett aus, und verschränkte die Arme im Nacken. Nein, länger hierbleiben konnte er nicht, viel zu riskant war das. Was wenn Arrecina ihn verriet? Wer könnte es ihr auch verdenken? Arrecina... hoffentlich überstand sie das alles, die Gefahren, in die er sie hineingezogen hatte.
    Seine Glieder waren schwer vor Müdigkeit, sein Bein pochte dumpf, und auch der Schnitt an der Hand war wieder aufgerissen. Rutger schloss die Augen - die Schmerzen würden ihn schon wachhalten - um sich kurz auszuruhen. Der Regen trommelte auf das Dach. Sobald das aufhörte mußte er wieder los, Phaidra suchen, oder vielleicht könnte er auch hier ein Pferd mitgehen lassen? Er mußte doch über die Pässe, bevor der Schnee fiel, und kein Durchkommen mehr war...
    Die Erschöpfung forderte ihren Tribut. Sein Atem ging ruhiger, sein Kopf sank langsam zur Seite, und ehe er sichs versah, war er in einen bleiernen Schlaf gefallen.


    Und so fand ihn auch Arrecina vor, als sie bald darauf die Türe öffnete. Der kleine Lichtkreis der Öllampe legte einen warmen Schein auf sein Gesicht, in dem, auch im Schlaf, noch immer etwas gehetztes und zugleich etwas kämpferisches stand. Auch als die Türe quietschte, erwachte er nicht. Nur die Flamme der Öllampe wand sich, flackerte, und erfüllte den Raum mit huschenden Schatten.

    "Ein Bad. Natürlich. Ich richte es Dir - sofort." Olivia nickte hektisch.
    "Ja, Remus, er ist da," sie machte eine eher vage Geste, "da in dem Nebenzimmer, wenn Du rausgehst gleich rechts... ach, um ihn muß ich mich auch noch kümmern - die Banditen haben ihn auch verletzt, weißt Du."
    Die Sklavin schauderte als der kühle Hauch sie streifte, und legte den Kopf schief, als ob sie angestrengt auf etwas lauschen würde.
    "Nun..." sie warf einen Blick über ihre Schulter, und sprach sichtlich unbehaglich weiter, wobei sie die Stimme etwas dämpfte. "Wegen dem Fest bist Du hier, werte Antonia Lavinia, wegen dem Fest eben. Ich denke... also ich weiß da nichts genaues..."
    Sie drehte den Glaspokal in den Händen und heftete ihre etwas wässrigen Augen unverwandt auf Arrecina.


    "Meine Herrin, sie... sie weiht uns natürlich nicht ein. Sie bevorzugt die Zurückgezogenheit, und ist sehr... sehr schweigsam, seit..."
    Sie brach ab, und fuhr in einem gänzlich anderen, jetzt eher künstlich munteren Tonfall fort: "Bestimmt fällt Dir alles gleich wieder ein. Mach Dir keine Sorgen. Weißt Du, einmal, da hat mich Casca - der Wächter meiner Herrin -, also der hat mich auf den Kopf gehauen, und da ging es mir ganz ähnlich, wirklich, alles war schummrig, und ich war ganz verwirrt, eine Zeitlang, wußte kaum wer ich bin und wo oben und unten ist ..."
    Sie lächelte starr. Es sah ein wenig wie ein Zähnefletschen aus.
    "Aber das hat sich schnell wieder gegeben. Und... und nun geht es mir wieder gut, und - "


    Der helle Klang einer Glocke war, von irgendwoher aus den Tiefen der Villa Aspera, zu vernehmen, silbrig und durchdringend. Olivia zuckte zusammen.
    "Das ist meine Herrin. Sie ruft mich." Schritt für Schnitt zog sich die Sklavin zur Türe zurück, ließ Glaspokal, Wasch- und Verbandszeug zurück, und auch die Waschschüssel, in der noch rötlich-trübe das Wasser stand.
    "Ich muß... aber ich komme gleich wieder, ja?" Und schon war sie, rücklings durch die Türe, verschwunden, und ließ Arrecina alleine in dem altertümlichen Gästezimmer zurück. Eine Bö trieb den Regen prasselnd gegen die Fensterläden, und noch immer wogten sacht, wie von Geisterhand, die abgeschabten Vorhänge.

    "Oh." Olivias Augen wurden groß. "An nichts? Nein Herrin, nicht aufstehen, vorsichtig, langsam, Du wirst fallen!"
    Aufgeregt mit den Händen wedelnd, versuchte sie, Arrecina zum Sitzenbleiben zu bewegen.
    "Warte, ich erkläre Dir alles, und bestimmt geht es Dir gleich wieder besser, ja? Also... Du bis Antonia Lavinia."
    Sie betonte den Namen, sah Arrecina dabei beschwörend ins Gesicht, und wartete wohl auf ein Zeichen des Wiedererkennens.
    "Und Du bist hier zu Gast in der Villa Aspera, bei meiner Herrin, ja? Mein Name ist Olivia. Ich und die anderen Sklaven haben Deine Ankunft erwartet, heute, zu dem... Fest... meiner Herrin. Nun, wir hatten eigentlich früher mit Dir gerechnet, und zuerst dachten wir, das Gewitter hätte Dich aufgehalten, aber dann brachte Dich Dein Leibwächter - Remus heißt er, nicht? - auf seinen Armen her, und ich habe mich wirklich erschreckt! Du bist nämlich überfallen worden, und noch dazu vom Pferd gestürzt, furchtbar, Du Arme! - Fällt es Dir jetzt wieder ein?"


    Mitleid lag in Olivias Blick, doch zugleich etwas unstetes, flackerndes.
    "Remus wäscht sich, glaube ich, gerade. Der sah vielleicht aus. Wenn Du gestattest, werde ich Dir auch ein Bad richten, und Dir frische Kleidung reichen, bevor die Herrin Dich empfängt. Sicher wird sie mit Dir speisen wollen. Und bestimmt kann sie Deine Fragen viel besser beantworten als ich, weißt Du, denn ich sehe Dich heute zu ersten Mal, werte Antonia Lavinia."
    Wieder schlug Olivia die Augen nieder. Dumpf heulte der Wind im Kamin, die Flammen duckten sich nieder, und es wurde einen Moment lang ganz dunkel. Ein kalter Luftzug ließ die zerschlissenen Bettvorhänge tanzen, und kurz streifte der staubige Stoff Arrecinas Arm.

    "Feldeinwärts flog ein Vögelein
    Und sang im muntern Sonnenschein..."
    summte Olivia leise vor sich hin, und schob mit einem Schürhaken die Scheite im Kamin zurecht. Draußen rauschte der Regen, der Sturm heulte noch immer wild, und ließ die geschlossenen Fensterläden klappern.
    "...Mit süßem, wunderbarem Ton:
    Leb wohl, ich fliege nun davon..."
    Sie prüfte den Stein, befand ihn für warm genug, und schlug ihn in ein Leintuch ein.
    "...hm, hm, ...hm, hmm,
    weit, weit, reis ich noch heut. "
    Mit dem Wärmstein in den Händen, trat die junge Frau wieder an Arrecinas Bett heran. Ihre Augen weiteten sich schreckhaft, und einen Augenblick verharrte sie, ja, duckte sich sogar ein wenig, als diese sich so plötzlich aufsetzte. Das Kaminfeuer in ihrem Rücken umstrahlte sie, und legte einen roten Glanz auf ihr strähniges Haar, ihr Gesicht lag dagegen im Schatten, als sie dann schnell an das Bett herantrat.
    "Werte Antonia Lavinia."
    Sie schlug die Augen nieder, und verbeugte sich vor Arrecina.
    "Ich bin froh, daß Du erwacht bist. Wie geht es Dir? Oh, Vorsicht..."
    Sie legte den Stein beiseite, und umfasste leicht Arrecinas Hand, die soeben den Verband berührte.
    "Nicht. Rühre besser nicht dran. Du hast da eine kleine Verletzung, von deinem Sturz."
    Olivia lächelte, ein klein wenig starr.
    "Aber nun bist Du in Sicherheit. Dein Leibwächter brachte Dich her - ziemlich zerknirscht - er ist gleich nebenan. Es ist furchtbar, daß Du so überfallen wurdest. Meine Herrin ist sehr ungehalten. War es hier in der Nähe? Und wieviele waren es? Ach, willst du etwas trinken?"
    Sie griff nach einer Karaffe, füllte einen angeschlagenen Pokal aus feinem blauem Glas, und machte Anstalten, ihn Arrecina an die Lippen zu setzen.