Schweigen zog sich dahin wie zäher Honig, tropfte träge ins Meer der Zeit. Epicharis wusste nicht, was in Gracchus vorgehen mochte, doch sie ließ ihm die Zeit, die er brauchte. Starrend und starr saß er neben ihr, die Laken längst zerwühlt, so dass böse Zungen sonst etwas behaupten mochten, wenn Epicharis später Gracchus' Zimmer verlassen würde. Ihr war es in diesem Moment gleich, sie wollte nur für Gracchus da sein und vielleicht konnte sie ihm helfen, ein wenig mehr zu lächeln in seinem Leben. So, wie er glücklich schien, wenn er seinem Sohn zusehen konnte.
Die Worte, welche die träge Stille schließlich durchdrangen, ergaben für Epicharis zunächst keinen Sinn. Es klang auch eher, als redete Gracchus mit sich selbst und nicht mit ihr. Unweigerlich stellte sie sich eine brennende Öllampe vor, die ein Windstoß heimsuchte. Sie flackerte, dann stieg ein dünner Rauchfaden in die Dunkelheit auf. Er musste das Lebenslicht seines Vaters meinen, alles andere ergab keinen Sinn. Epicharis wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, und so betrachtete sie nur aufmerksam das Profil Gracchus', der seine Gesicht nun langsam wieder ihr zuwandte und sie aufmerksam ansah.
Was er ihr offenbarte... Epicharis war sich beinahe sicher, dass er sich zum ersten Mal jemandem anvertraute, vielleicht sogar zum ersten Mal so offen darüber sprach, was ihm passiert war. Sie erinnerte sich an sein ungläubiges Gesicht, das trotz all die Anstrengungen, es zu verbergen, deutlich gewesen war, als sie ihn besucht hatte. Und wie er sie nun ansah... Es war nicht das gleiche Gesicht, definitiv nicht. Es wirkte mehr wie das eines kleinen Jungens, der vergeblich hoffte, jemand würde ihm bestätigen, dass seine Eltern nicht wegen einer begangenen Dummheit gestorben waren. Zweifel überlamen Epicharis. Wie konnte sie ihm guten Gewissens sagen, dass es nicht seine Schuld war? Immerhin bestand doch eine Möglichkeit, dass er irgendwie... Nein. Sie durfte jetzt keine Schwäche zeigen, oder aber Gracchus würde zerbrechen. Wie er sie ansah... In Epicharis wütete ein Für und Wider. Natürlich wusste sie, dass Gracchus nicht Schuld war am Tod seines Vaters. Aber wer konnte schon wirklich sicher behaupten, dass die Götter nicht irgendeinen grund gefunden hatten in seinem Handeln, das Schicksal seines Vater zu besiegeln? Aber er war krank gewesen...wie Gracchus! Nur dass Gracchus stärker gewesen war. Die Götter hatten ihn geprüft. Und er hatte die Prüfung bestanden. Epicharis wusste nicht mehr, was sie denken sollte. Zu viel wirbelte in ihrem Kopf umher.
Noch immer hing Gracchus an ihren Lippen, wie ein Ertrinkender sich an ein Stück Treibgut klammerte. Er erwartete eine Antwort auf die Frage. Epicharis hatte sie sehr wohl verstanden. Aufrichtig sah sie Gracchus an, ergriff dann seine Hand und drückte sie. "Ja", sagte sie fest. "Früher oder später werden wir alle geprüft, Manius. Du lebst. Du teilst nicht das Schicksal deines Vaters. Du wirst deinen Sohn aufwachsen sehen und hast die Möglichkeit, es besser zu machen als dein Vater. Vielleicht ist das dein zweiter Versuch, deinem Sohn ein besserer Vater zu sein als deiner es für dich war." Was redete sie da nur? Natürlich hätte Gracchus niemals so über seinen Sohn geherrscht wie sein Vater! Oder doch? "Vielleicht hängt es damit zusammen. Das wissen wir nicht. Wir können nicht ergründen, was die Götter sich von uns erhoffen, wir können es nur vermuten. Aber wenn es etwas gibt, dessen ich mir sicher bin, dann ist es das: Dich trifft keine Schuld am Tod deines Vaters. Und auch nicht am Schicksal anderer." Jetzt, wo sie so darüber nachdachte, erschien es ihr schlüssig, dass die Götter Gracchus' Vater bestrafen hatten dafür, wie er mit seinen Söhnen umgesprungen war. Und dass sie Gracchus daran erinnern wollten, dass er es nicht ihm gleich tat, wollte er nicht die gleichen Konsequenzen tragen.