Nikolaos ließ mehrmals seinen Blick durch die Reihen wandern. Es schien jedem der Pyrtanen die Sprache verschlagen zu haben, oder aber niemand wagte, etwas zu sagen, da diese Sache durchaus heikel war.
"Um es nicht spannender zu machen, als es ist, möchte ich einmal, und, da wir uns unter Ehrenmännern und einer ehrbaren Frau befinden, in ganzer Offenheit nun meine eigene Meinung äußern:
Dieser Brief ist eine Beleidigung unserer Polis und eine unverhohlene Drohung, die an Dreistigkeit, wie ich glaube, nicht zu übertreffen ist. Der Gruß am Ende des Briefes, dieses höhnische >hochachtungsvoll<, ist, wie ich denke, die Krone des ganzen Spotts und der Häme, die der Mann da über uns ausgießt.
Ich möchte euch jedoch bitten, diese Aussage meinerseits und alles was diesen Brief überhaupt betrifft, nicht nach außen dringen zu lassen.
Ich würde vorschlagen, dass wir dem Statthalter im Anschluss an diese Sitzung unsere Aufwartung machen, um ihm uns als neugewähltes Pyrtaneion vorzustellen.
Die Frage, die sich mir stellt, ist: Sollen wir etwas von diesem Brief bei der Gelegenheit verlautbaren oder nicht?
Dabei gibt es folgende Gefahr: Der Statthalter könnte, gereizt durch alle Unstimmigkeiten der letzten Tage und Wochen, die Beschwerde über diesen Brief als Querulantentum und als Ärgernis auffassen und ungehalten reagieren.
Die Chance, die sich böte, ist die: Wenn der Statthalter uns geneigt ist, könnte er diesen Brief zum Anlaß nehmen, sich deutlich auf die Seite des Friedens zu stellen und gegen alle die vorzugehen, die mit solchen Drohgebärden, Provokationen und ähnlichen Dingen ihr Bestes tun, um, wie sie hoffen, einen Aufstand zu provozieren oder gar selbst einzufädeln, ja vorzuspielen, um anschließend ihre Blutrünstigkeit an uns allen auszulassen und sich ihren Lüsten hinzugeben.
Ich bitte euch alle im übrigen noch einmal, von dem, was ich soeben sagte, nichts außerhalb dieser heiligen Hallen zu sagen, ja nicht einmal anzudeuten. Tut es einer von euch, ob nun unbedarft und wie aus Versehen, oder aber, um daraus, wie er meinen könnte, einen politischen Vorteil zu ziehen, so ist die einzige Folge nicht nur die, dass ihr dann euren Gymnasiarchos irgendwo in den Dünen besuchen könnt, da er dort am Kreuz hängt, nein, nicht nur ich würde dafür büßen müssen, sondern es würde sich der Zorn der Römer auf euch alle ergießen. Zwar würden außer mir vielleicht niemand, vielleicht nur einer, vielleicht nur zwei, vielleicht nur drei, vielleicht nur vier, vielleicht nur fünf, vielleicht nur sechs, vielleicht nur sieben ehrbare Bürger der Polis mit ihrem Leben den Zorn der Römer gewissermaßen bezahlen, doch nicht nur einzelne, sondern die ganze Polis müsste bluten: Wenn das römische Heer meint, in diesen heiligen Hallen würden- in ihrem Sinne- aufrührerische Reden gehalten, so frage ich euch: Wird das römische Heer dieses Heiligtum verschonen? Wird es gar überhaupt irgendein Heiligtum oder Haus dieser Stadt verschonen, wenn schon jetzt deutlich wird, wie sehr es manchem Heerführer nach Blut dürstet? Jeder von euch hat also die Wahl, ob er die Polis preisgeben will um seines eigenen - wie er meint! und irrt!!! - Vorteil willen oder ob er sie bewahren will.
Doch nur das dazu.
Die Frage ist noch unbeantwortet, doch muss eine Antwort gefunden werden."
Der Gymnasiarchos setzte sich wieder. Die Rede hatte an seinen Kräften gezerrt. Er wusste auch, dass er sich damit in große Gefahr begeben hatte. Aber er hoffte auf die Vernunft aller Pyrtanen. Außer diesen sieben obersten Beamten der Stadt war niemand zugegen. Auch konnte niemand von außerhalb die Sitzung belauschen, da die Türen des provisorischen Ratssaals verschlossen waren.