Ein blasses, mageres Männchen mit ergrauten Haaren - obgleich der Träger nicht sehr alt zu sein schien - schlich, auf einen Stock gestützt durch die heiligen Hallen und gab mit kränklicher Stimme den Sklaven Anweisungen.
"Wo sind die Neuerwerbungen? Warum hat man sie noch nicht in die Bestandslisten eingetragen? Wie soll man sie wiederfinden?"
Trotz seines offensichtlich schlechten Gesundheitszustandes schien der Mann energisch zu sein.
"Wo ist die Plinius-Ausgabe, die ein gewisser Markellos Kornelianos der Bibliothek stiftete, vor achtundsiebzig Jahren? Sie steht nicht an ihrem Platz. - Bevor du mir widersprichst, wie das deine Art ist, Aristion, hier siehst du, dass es sie gibt."
Der Bibliothekar tippte auf eine Zeile der Papyrusrolle, die er bei sich trug.
"Vielleicht ist sie entliehen-"
"Entliehen? Gibt es denn keine Kopien davon, die man entleihen könnte? Das Papyrus ist brüchig, und diese Ausgabe beinhaltet wertvolle Zeichnungen. Seit achtundsiebzig Jahren bei uns, und es soll keine Kopien geben? Und mit so etwas muss ich mich herumplagen!"
Er schüttelte den Kopf.
"Bin ich etwa Bücherabstäuber? Habe ich denn nicht Besseres zu tun, als die Unordnung zu beseitigen, die ihr hinterlasst? Wollt ihr vielleicht den Tempeldienst für mich verrichten? Bin ich euer Latrinenjunge? Aristion, ich hoffe, du nimmst mir diese Annahme nicht übel, dass ich vermute, du wollest mich töten."
"Heute entlieh ein Rhomäer das Buch-"
"Die gesamte Ausgabe?"
"Nur die Naturgeschichte."
"Und wo ist das Übrige, es sind hundertsiebzehn* Rollen - ?"
"Siebenunddreißig hat der Rhomäer-"
"Nicht siebenunddreißig, es sind immer zwei oder drei Bücher auf einer Rolle-"
"Aber der Rhomäer-"
"Und das übrige, wo ist das nun?"
"Ich weiß nicht-"
Der Bibliothekar fuchtelte wild mit den Händen in der Luft, machte einige furchterregende Gesten und sagte schließlich leise und fast verzweifelt:
"Dann sucht!"
"Ich weiß doch, ihr stehlt die Bücher und verkauft sie...", murmelte er anschließend. Er raufte sich die Haare, ging scheinbar ziellos in den Hallen umher. Dabei lief er - kopflos wie er war- gegen einen Tisch, auf dem ein Mann in einer anscheinend sehr unbequemen Offizierskluft arbeitete.
"Verzeihe, ehrenwerter Herr.", sagte Nikolaos, da durch den Stoß die Schriftrolle ein Stück aufgerollt war und der Leser vielleicht in der Zeile verrutschte. Ein seltsamer Zufall, der Mann las gerade die Naturgeschichte des Plinius. Auch die "Erkundungen" des Herodots lagen dort. Nikolaos musste sich eingestehen, dass er durchaus an diesem von Thukydides geschmähten Werk Gefallen fand, obgleich er keinesfalls einer jener Leser war, die nur den Wohlgefallen suchten. Auf der anderen Seite schienen ihm auch jene Autoren, die Herodot als Vielschreiber schmähten und ihm unterstellten, einen Haufen wundersamer Geschichten zusammenzutragen, die nicht sicher belegt waren, einen Makel zu haben: Den der zu engen Sichtweise. Er hatte freilich vor allem die zahlreichen Geschichten seiner Heimatpolis auswendig lernen müssen, und schnell war ihm aufgefallen, dass einige Sippen demnach so viel geleistet hätten, dass jedes männliche Mitglied ein großer Staatsmann hätte sein müssen. Freilich hatten diese Geschichtsschreiber sich die Erzählungen der Adelsfamilien angehört, sie verglichen und geordnet - sollten denn die Geschichten eines Herodots weniger glaubwürdig sein, der sie vielleicht von Kaufleuten erfahren hatte? Nikolaos zweifelte auch daran, dass man Dichtung und Geschichtsschreibung je würde ganz trennen können-
"Kann ich dir helfen? Ich möchte behaupten, dass ich diese Bibliothek besser als jeder andere kenne.", sagte er, wie um sich zu entschuldigen. Als Bürger Alexandrias war es außerdem gewohnt, vor purpurbestreiften Soldaten zu kuschen. Glücklicherweise schien die Zeit, in der sich die Rhomäer wie nie zuvor in der Geschichte in die Belange der Stadt einmischten, vorbei zu sein. Allerdings hatte Nikolaos auch nur geringe Kenntnis von dem, was während seiner Krankheit geschehen war.
*Völlig fiktive Zahl. Auch eigentlich egal, da man ja von unterschiedlich dicken Schriftrollen mit unterschiedlich vielen Büchern darauf ausgehen kann.