Nikolaos fand es durchaus bedenklich, dass der Gesandte bereits beeinflusst war in seinem Bild von den Ereignissen. Offenbar war er aber ebenso faul, die passenden Fragen zu stellen.
"Wie du sicher weißt, war Alexandria noch nie eine Stadt, die vollkommen ruhig gewesen wäre. Ich selbst weiß nur zu gut um diesen Umstand, da ich vor einigen Jahren Strategos der Stadt und des Umlandes der Polis Alexandreia war. Dies aber beschränkte sich meist auf das übliche räuberische Gesinde, es gab Einbrüche, es gab Beutelschneiderei und dergleichen. Auch Morde gab es zuweilen aufzuklären, der, der am meisten Aufsehen erregte, war der Mord am ehemaligen Bibliothekar des Mouseions. Einmal jedoch hatte sich eine Gruppe Aufständischer zusammengefunden und in Rhakotis in einem Haus Pläne für einen Aufstand ausgeheckt. Unter diesen waren vor allem Ägypter, aber auch viele Römer. Zusammen mit der Legion, die damals noch unter dem Befehl des ehrenwerten Eparchos Dekios Germanikos stand, konnte die Stadtwache, die ich befehligte die Verschwörung aufdecken, die Schuldigen entweder direkt an Ort und Stelle überwältigen und Hintermänner ausfindig machen. Es gab unter dem Vorsitz des Eparchos einen Prozess, der mit einigen Todesurteilen abgeschlossen wurde, und danach war es zunächst ruhig.
Es blieb ruhig, bis das Kommando der Legion an Appios Terentios übergeben wurde. Dieser befahl kurze Zeit nach der Amtsübergabe einen großen Truppenaufmarsch mitten auf der Agora und in unmittelbarer Nähe zum Heiligtum der Agathe Tyche, wodurch viele Bürger um die Unversehrtheit des Heiligtums beunruhigt worden. Doch nicht nur das: Während des Aufmarsches kam es zu gewaltsamen Ausschreitungen einiger Soldaten gegen Bürger, ohne dass es dazu einen Anlass gegeben hätte. Ein Vorgesetzter wollte die Soldaten dafür zur Rechenschaft ziehen, wurde jedoch vom Kenturio dafür scharf zurechtgewiesen, den Soldaten wurde gesagt, sie hätten recht gehandelt.
Nach diesem Vorfall sind wir, die damaligen Prytanen, unter denen auch ich war, zum Eparchos gegangen, um ihm unsere Besorgnis zu schildern. Wir fürchteten, solches Verhalten könnte Unruhe erzeugen bei den ängstlichen Bürgern. Vermutlich durch einen Schreiber in der Regia, der des Terentiers Klient war, erfuhr der Befehlshaber der Legion von unserer Beschwerde. Dies riss ihn zu einem Drohbrief hin. Er kündigte an, er würde Menschen kreuzigen lassen, ob sie nun Ägypter wären, Griechen oder gar Römer, wenn er sie für Unruhestifter hielte, und er meinte, käme Unruhe auf, würde er uns Prytanen für die Anstifter halten.
Wir waren also in einer schlimmen Lage: Wir hatten keine Mittel, weitere Ausschreitungen der Legion zu verhindern, die Unruhe im Volk hätten aufkommen lassen können, hatten aber ebenso wenig Mittel, eine einmal aufgebrachte Menge zu beruhigen. Übrigens ist dieser Brief eine Amtsanmaßung. Für die Abrichtung von Ägyptern und Griechen ist der Eparchos zuständig, Römer dürfen nur in Rom von einem Prätor gerichtet werden.
Ferner kündigte er in diesem Brief an, er würde ein Manöver stattfinden lassen, dass Belagerung der und Kämpfe in der Stadt nachstellen würde. Den Brief werde ich dir, wenn du möchtest, im Original im Archiv des Tychaons zeigen.
Dieses Manöver wurde tatsächlich durchgeführt, obwohl wir Prytanen starke Bedenken hatten und diese dem Legionsbefehlshaber und auch dem Eparchos mitteilten.
Die Lage spitzte sich zu, als ein römischer Offizier in vor einem Hurenhaus in Rhakotis tot aufgefunden worden ist. Die Leiche ward vom Pöbel der Ägypter geschändet worden. Das Volk von Rhakotis war aufgebracht und hatte sich vor dem Tor der Königsstadt versammelt. Als ich dies hörte, eilte ich zur Basileia, um mit dem Eparchos zu sprechen, denn ich wollte das Schlimmste verhindern. Ich wollte mit ihm Maßnahmen planen, wie die Menge zu beruhigen sei. Aber die Torwache ließ mich nicht ein. Sie hatte diesen Befehl vom Legionspräfekten. Zuerst wollten sie nicht einmal ein römisches Mädchen, das in meiner Schreibstube arbeitet, in das Viertel lassen, wo dieses wohnte - und ich übrigens auch mein Haus hatte! Mit Drohungen, ich würde dem einstigen Vormund des Mädchens schreiben, wie hier mit der Jungfrau verfahren würde, konnte ich schließlich bewirken, dass wenigstens das Mädchen in Sicherheit gelangt ist. Auf mich jedoch wurden Angriffe vom Pöbel verübt, als ich versuchte, die Menge mit Reden zu beschwichtigen. Noch als ich verwundet war, wollte die Torwache mich nicht einlassen. Die Stadtwache hat schließlich den Aufruhr aufgelöst. Dann erst durfte ich in die Basileia eintreten, um nach Hause zu gehen, wo ich einige Zeit lang ans Bett gefesselt blieb.
Der Legionspräfekt machte uns Prytanen für den Tod des Offiziers verantwortlich. Wir hätten das Volk aufgehetzt - obwohl wir es beruhigt hatten. Noch wenige Wochen zuvor habe ich in der Volksversammlung zu Ruhe gemahnt. Doch nicht die Polites haben den Mann getötet, sondern der Pöbel der Ägypter. Aber für den Legionspräfekten sind scheinbar Makedonen und Ägypter ein und dasselbe Volk.
Ein weiterer Aufruhr entstand am Hafen, als dort ein Schiff der römischen Flotte einlief. Ein Grieche namens Markos Achilleos tötete mehrere Menschen, weil er meinte, diese würden die Soldaten auf dem Schiff gefährden. Diese Tat ließ die Stimmung hochkochen. Schließlich konnten Stadtwache und römische Soldaten die Volksmenge zerstreuen. Seltsamerweise ist gegen den Griechen Markos Achilleos nie Anklage erhoben worden, obwohl erwiesenermaßen er nicht den Aufruhr eingedämmt hat, bevor er eskalieren konnte, sondern maßgeblich zu seiner Provokation beigetragen hat.
Seitdem ist es ruhig geblieben. Die Legion hat keine Übergriffe auf Unschuldige mehr durchgeführt. Ich vermute, der gütige und kluge Eparchos hat Dinge dieser Art dem Legionspräfekten untersagt.
Hier endet mein Bericht."
Er sah den Gesandten tief in die Augen, um Zeichen einer Reaktion auf das Gesagte zu finden.