"Ja, ein Kaiser gehört immer dem ganzen Reich.", wiederholte ich eine der Aussagen des Aurelius Ursus, "Diesen Gedanken möchte ich aufgreifen."
Mein Blick heftete sich auf die mit Notizen ganz vollgekritzelte Wachstafel vor mir, und ich furchte die Stirn vor Konzentration. So langsam wurde es zu einer echten Herausforderung, all die Argumente meiner beiden Gegen-Diskuttanten zu überblicken. Wobei es mir durchaus Spass machte, die Worte mit dem scharfsinnigen Aurelier zu kreuzen.
"Denn weil das so ist, gerade weil sich in der Person des Kaisers der Geist unseres römischen Reiches, all das, wofür unser Imperium steht, verkörpert, gerade darum muss der Kaiser den Bürgern die Virtutes auch vorleben. Und zu den höchsten und edelsten Virtutes romanae gehört, da stimme ich dir zu, Iunius, die Tapferkeit.
In den Augen der Welt ist der Kaiser Rom. - Rom ist tapfer, Rom stellt sich jeder Herausforderung, Rom ist siegreich. Da macht ein Kaiser, der den Kampf scheut, der sich hinter Palastmauern vor dem Krieg versteckt, nicht nur persönlich eine schlechte Figur – er wirft auch ein denkbar schlechtes Licht auf die Stärke unseres Imperiums."
Ich hoffte, verdeutlicht zu haben was ich meinte... der Kaiser war eben nicht nur ein Mann an der Spitze des Staates, und auch viel mehr als ein Symbol, er war auch auf eine sakrale, ja, mystische Weise verbunden mit dem Heil des Reiches. Dann wandte ich mich wieder den konkreteren Aspekten des Themas zu. Über Tiberius konnte man ja wunderbar herziehen, und Aurelius Ursus selbst hatte mich freundlicherweise in seinem Cursus mit den Mängeln dieses Mannes vertraut gemacht.
"Was deine positive Einschätzung des Tiberius angeht, Aurelius, – ich kann sie nicht teilen. Ganz im Gegenteil, ich halte ihn für eine Paradebeispiel dafür, wie fatal sich das von euch geforderte Übergewicht des Militärischen in der Ausbildung des Thronfolgers erweisen kann", begann ich vergnügt.
"Seine lange Abwesenheit von Rom während der Kampagnen, die er für Augustus führte, haben ihn dem politischen Betrieb doch vollkommen entfremdet. Ohne Frage war er ein tüchtiger Feldherr, doch ein Imperium muss anders beherrscht werden als eine Legion kommandiert! Und Tiberius hatte nicht gelernt, ein Herrscher zu sein, er wusste sich auf dem politischen Parkett nicht zu behaupten und ist dort ausgeglitten. Den Senat und das Volk machte er sich durch die grausamen Majestätsprozesse zum Feind. Selbst die Truppen, die, eurer beider Argumentation nach, ja besonders treu zu diesem verdienten Feldherren hätten stehen müssen, waren ihm keine verlässliche Unterstützung – direkt nach seiner Machtübernahme meuterten bereits die Legionen an Donau und Rhein.
Letztendlich entzog er sich seinen Pflichten, als er Rom verließ, und sich lieber in seine privaten Ausschweifungen stürzte, als das Reich zu regieren. Bekanntlicherweise erinnert man sich an ihn als einen Tyrann, bei dessen Tod die aufgebrachten Bürger forderten: 'Tiberium in Tiberim'. "
Ich wusste wohl, dass diese Einschätzung nicht sehr differenziert war, aber es war ja nicht meine Aufgabe den Tiberius zu loben. Aber – Upps! - hoffentlich wurde mir die Kritik am Rückzug aus Rom nicht als Kritik an unserem aktuellen Kaiser ausgelegt... Die Situation, das fiel mir zum wiederholten Male auf, hatte schon die ein oder andere Parallele. Aber der entscheidende Unterschied bei der Sache war natürlich, dass Vescularius Salinator, den ich als Kommandant wirklich zu respektieren gelernt hatte, ein fähiger und integrer Stellvertreter war.
"Die beeindruckenden militärischen Erfolge des Domitian als pures Glück zu bezeichnen, damit macht man es sich doch ein wenig zu leicht. Die lange Reihe seiner Siege habe ich ja bereits aufgezählt – Fortuna ist viel zu wankelmütig, als das man sie allesamt ihrer Gunst zuschreiben könnte. Ganze zweiundzwanzig Mal wurde er für seine Siege mit der Acclamatio zum Imperator geehrt. Bei Tiberius waren es dagegen insgesamt nur acht Mal.
Zudem war Domitian nicht der einzige Kaiser, der, ohne als Thronfolger ein Kommando innegabt zu haben, entscheidende Siege errang. Ich möchte an Claudius erinnern, der sich selbst nach Britannien begab, und dort die Expansion des Reiches so erfolgreich vorantrieb, dass er mit einem Triumph geehrt wurde. Selbstverständlich stützte er sich dort auf die Erfahrung seiner altgedienten Offiziere, von denen Plautius der bekannteste ist.
Es steht ja, wie ich bereits sagte, ausser Frage, dass ein kluger, doch militärisch unerfahrener Herrscher an der Front, sich für die Fragen der Taktik auf seine verlässlichen Generäle stützen wird. Die Anwesenheit des Kaisers schmälert dann keineswegs die Rolle seiner Offiziere - nein, an der Seite des Kaisers selbst eine Schlacht zu schlagen, kann einen jeden Soldaten, sei er Miles gregarius oder Legatus legionis nur mit Stolz erfüllen und über sich selbst hinauswachsen lassen.
Dein Vorschlag, Aurelius, dass der Kaiser sich auf Truppenbesuche in möglichst sicherem Rahmen beschränken und bei den Schlachten durch Abwesenheit glänzen soll, das wäre dagegen ein ganz falsches Signal an die Soldaten... nämlich, dass unser oberster Befehlshaber, der, für den wir geschworen haben, ohne Zögern unser Leben zu geben, dass dieser Mann seine Soldaten genau dann im Stich lässt wenn es darauf ankommt. Wenn es gefährlich wird."
Nachdem ich mir den Mund schon so fusselig geredet hatte, griff ich mir aus den deutlich polemischeren Worten des Iunius Brutus nur noch den ein oder anderen Punkt heraus.
"Hm... Du überträgst da die Verhältnisse aus der früheren Zeit des Prinzipats, als die Herrschaft und die Nachfolge noch viel weniger gefestigt und die Verhältnisse bei Hofe viel ungeordneter waren, einfach auf die heutige Zeit. Die logische Konsequenz deiner Befürchtungen im Bezug auf Intrigen und Prätorianer wäre wohl tatsächlich, den Thronfolger irgendwo bei den Truppen, völlig isoliert von der Stadt Rom und ihren möglicherweise verderblichen Einflüssen aufwachsen zu lassen – doch Rom ist das Herz des Imperiums, und später, wenn er von dort aus regieren muss, wird der stets wohlbehütete und damit gänzlich unerfahrene Herrscher sich um so weniger gegen diese Einflüsse behaupten können.
Zu den Ereignissen im Vierkaiserjahr – Otho unterlag in der ersten Schlacht von Bedriacum vor allem deshalb, weil die Truppen des Vitellius ihm zahlenmäßig zwei zu eins überlegen waren. Und Vitellius blieb ja auch nur unwesentlich länger an der Macht, schon sechs Monate später unterlag er seinerseits Vespasian...
Was du über die Senatoren sagst, dass sie vom Kaiser berufen werden – ähm... sicher, aber ich sehe da nicht so recht den Zusammenhang? Ein Kaiser, der neu die Macht übernimmt, wird ja immer einen in seiner Besetzung bereits bestehenden Senat vorfinden. Meinst du etwa, er solle dann umgehend die Senatoren austauschen, um ihm loyale Männer dort sitzen zu haben? So ein Schritt wird ohne Proskriptionen schwerlich möglich sein. Und damit würde jener Kaiser sich doch eher unbeliebt machen." Jetzt war ich auch polemisch.
"Immerhin ist der Senat eine altehrwürdige Institution, mit auf Lebenszeit berufenen Mitgliedern. Ritterliche Posten lassen sich da tatsächlich leichter neu besetzen, aber die Unterstützung der senatorischen Aristokratie lässt sich wohl kaum durch Personalwechsel gewinnen."
Was auf jeden Fall klar wurde, war dass mein Gegenüber die Prätorianer nicht mochte. Ich rieb mir das Kinn, und zeigte ein nachdenkliches Gesicht.
"Hm... ich höre hier immer wieder, ein Kaiser brauche bei seinem Machtantritt militärische Erfahrung, um seine Vertrauten gut zu wählen. Du betonst vor allem, wie wichtig dies bei der Wahl des Prätorianerpräfekten sei. Doch die Vergangenheit unseres Reiches führt das ad absurdum – denn sie zeigt uns, dass genau der Kaiser, der bei Machtantritt die meisten Feldzüge hinter sich hatte, in der Hinsicht den schlimmstmöglichen Fehlgriff tat: Tiberius, der den Seianus als Stellvertreter wählte, und damit das Reich einer Schreckensherrschaft sondergleichen auslieferte."
Ich ließ das so im Raum stehen, gespannt, wie die beiden das kontern wollten, und gönnte mir einen wohlverdienten großen Schluck Wassser.