Priscas Reserviertheit - sofern es denn Sextus so vorkommen sollte - hatte im übrigen nichts mit Abneigung gegen ihn zu tun. Ganz und gar nicht. Er hatte ihr schließlich nie etwas getan oder etwas ungebührliches zu ihr gesagt. Aber oftmals sind es eben Kleinigkeiten an einer Person, die unscheinbar und flüchtig erscheinen mögen und deshalb nicht jedem auffallen. Nicht so aber Prisca, die eines sehr gut konnte: Beobachten! Ja, im beobachten war Prisca durchaus geübt und so fielen ihr einige Dinge an ihrem Cousin auf, die ihm selbst eventuell gar nicht bewusst waren. Seine Mimik zum Beispiel, bei den Gladiatorenkämpfen. Das Blecken der Zähne, einem hungrigen Wolf gleich, gerade in jenen Momenten wenn unten in der Arena Blut spritzte. Oder ein anderes Beispiel: Im Theater, als er Piso gespielt in den 'Schwitzkasten' nahm und ihm etwas zu raunte, als seien sie die besten Freunde. Tat man das unter Männern, beim ersten Aufeinandertreffen? ... Weiter auf dem Nachhauseweg, als er sie einfach gegen eine Hauswand gedrückt und leidenschaftlich geküsst hatte. Mich, seine eigene Cousine! Und schließlich ihr gemeinsames Spiel der Anzüglichkeiten, welches Prisca zwar durchaus genoss, aber gleichwohl in ihr dir Frage aufwarf wie weit er tatsächlich bereit wäre zu gehen. Und jetzt, gerade eben, hatte er völlig ahnungslos getan, dass er nichts von der Hochzeit von ihr und Piso wisse und wenige Augenblicke später sprach er sie direkt auf das Testament von Marcus an, in dem doch genau geschrieben stand, aus welchem Grunde Piso ein Erbteil zugedacht war. Da kann er sich doch Eins und Eins zusammen reimen, oder nicht?, grübelte Prisca ein wenig darüber nach, zu welcher Zeit, wie viel Wahrheit in den Worten ihres Cousins liegen mochte.
Prisca war also lediglich vorsichtiger geworden im Umgang mit ihrem Cousin, da sie ihn eingehend studiert hatte und dabei einige Eigenheiten an ihm entdeckt zu haben glaubte. Interessant und durchaus anziehend fand sie ihn nach wie vor. Sollte er es allerdings jemals wagen ihrem Liebsten etwas anzutun, oder ihn öffentlich zu diffamieren - und sie würde das heraus bekommen - dann, … dann würde Sextus ihren ganzen Zorn und ihre Rache zu spüren bekommen, egal ob es nun gegen sie persönlich gerichtet gewesen wäre - oder nicht. Aber gut, das waren mehr so flüchtige Gedankenspielereien, mehr nicht, die der Aurelia manchmal durch den Kopf gingen (und nicht nur in Bezug auf Sextus) und die sie deshalb sehr schnell wieder als absurd abtat. Warum sollte sich die Familie schließlich gegenseitig schaden wollen? Ob nun direkt oder indirekt. Probleme hatten die Aurelier ohnehin schon genug und nicht erst seit den Nemoralia und den vielen Todesfällen in Folge.
Orestes und Imbrex auch! Und von ihrem Halbbruder Pegasus fehlte seit Monaten jede Spur. Ob er ebenfalls bereits ...? Prisca nickte nachdenklich und mit trauriger Miene zu den Erklärungen ihres Cousins, warum sich seine Hochzeit weiter nach hinten verschob. Die jüngsten Todesfälle waren der Aurelia zwar bei weitem nicht so nahe gegangen, da sie die beiden Verwandten kaum gekannt hatte, aber es waren zwei weitere Aurelier die der Tod ganz plötzlich aus ihrer Mitte geholt hatte. Ja ja, die Götter stellen uns derzeit wahrlich auf eine harte Probe.
Zu seiner bereitwilligen Hilfe bezüglich der Gästeliste bemerkte Prisca dann wieder mit einem ehrlichen und dankbaren Lächeln: "Das ist wirklich sehr freundlich von dir Sextus! Ich danke dir! …"Nicht das die Aurelia grundsätzlich die Arbeit davor gescheut hätte, aber ein Großteil der Gäste würden bestimmt zu beiden Hochzeiten geladen werden, also warum sich doppelt die Arbeit mit der Liste machen. " Und natürlich werden wir unsere Termine so abstimmen, dass jede Hochzeit für sich zu einem großen und unvergesslichen Ereignis werden wird!" Das war für Prisca nur selbstverständlich, denn sie gönnte Nigrina und Sextus den großen Auftritt von Herzen, so wie sie es sich letztendlich für ihre eigene Hochzeit wünschte. "Wenn ich dir bei irgend etwas helfen kann, du weißt, du kannst ebebnfalls auf mich zählen!", bot Prisca im Gegenzug ihre Hilfe an. Natürlich ging sie dabei mehr von den einfachen und üblichen Gefälligkeiten aus und nicht von einem Gefallen, den sie auf Iuppiters Stein schwören müsste.
Ach ja, diesen Gefallen gab es ja auch noch! Was ist nun damit? Nun wurde Sextus etwas direkter was den Grund seiner Anwesenheit betraf und Prisca hörte ihm aufmerksam zu. Aha, es geht ihm also um das Erbe und wie es verteilt werden soll. ... Wie bitte? Die Gesetze erlauben die Annahme des Erbes nur unter bestimmten Voraussetzungen?! Und wenn diese nicht gegeben sind, dann ... hieße das ja, hmm, ... dass Marcus daran nicht gedacht hat??, grübelte Prisca für sich, denn sie hatte sich darüber in der Tat keine Gedanken gemacht. Für sie stand fest, dass der letzte Wille ihres Onkels vollumfänglich erfüllt wird. Blumen für die Vestalinnen, ein Mausoleum für ihn und Celerina und die Verteilung des Vermögens an alle, genau so wie er es in seinem Testament bestimmt hatte. Dass nun einige nichts bekommen sollten war für Prisca neu und insbesondere die Tatsache, dass die beiden Blümchen leer ausgehen würden, da sie unverheriatet waren, gefiel Prisca überhaupt nicht. Da muss es doch einen Weg geben?! Seltsam nur, warum ausgerechnet Sextus damit zu mir kommt. Oh Nachtigall, ich hör dir trapsen.
Prisca ließ die Worte ihres Cousins kurz im Raum stehen und scheinbar nachdenkend zu ihrem Glas griff und einen Schluck Zitronenwasser nahm. Auf das Kinderthema ging sie indes nicht weiter ein denn eine Adoption käme für sie ohnehin nicht in Frage. Schließlich wollte sie ihrem Mann die Kinder schenken, so wie es von ihr erwartet wurde. Einen Jungen, oder auch mehrere, damit er ein stolzer Vater und Ehemann sein könnte.
"Hm, Und was genau willst du mir damit sagen, Sextus?", tat Prisca zunächst so als wisse sie nicht worauf er hinaus wollte, während sie gleichzeitig das Glas auf den Tisch zurück stellte. "Wollte sich nicht eigentlich Ursus um die Vollstreckung des Testamens kümmern?", stellte sie sich weiter absichtlich "dumm" und desinteressiert was das Erbe und die Verteilung betraf. Zu einem gewissen Grad interessierte es Prisca tatsächlich nicht, denn auf dieses Erbe hätte sie liebend gern verzichtet, wenn dafür Marcus noch leben könnte. Gleichwohl war ihr bewusst, dass sie als Haupterbin künftig durchaus eine unabhängige und reiche Frau sein würde. Abwartend und gelassen blickte Prisca nun zu Sextus, innerlich jedoch sehr gespannt um welches Anliegen es sich wohl handeln würde ...