Für Mara war die Aurelia bildlich gesehen ein Vulkan, bei dem man nie wusste wann er das nächste Mal ausbrach. Oft blieb es nur bei ein paar harmlosen Rauchschwaden oder ein paar Feuerzungen, doch ab und zu gab es auch gewaltige Eruptionen, bei denen man sich lieber schnell in Sicherheit brachte. Doch hier und jetzt gab es dieses Alternative nicht, also blieb die junge Griechin stumm auf ihrem Platz stehen und sah demütig zu Boden während sie insgeheim betete, dass der Vulkan heute nicht ausbrechen würde. Prisca kannte zwar den Vergleich mit dem Vulkan nicht, aber sie wusste natürlich, dass man bei den meisten Sklaven den gewünschten Effekt am schnellsten erzielte, wenn man die unberechenbare und strenge Herrin gab. Bei ihrer Leibsklavin funktionierte das auch bestens und manchmal ertappte sich Prisca dabei, wie sie es regelrecht genoss die junge Griechin mit ihrer Unberechenbarkeit schier zur Verzweiflung zu bringen. Bin ich böse, weil ich mir einen Spaß daraus mache sie zu ängstigen? Nein, die Aurelia hielt sich nicht wirklich für böse, aber sie hatte auch kein schlechtes Gewissen dabei.
Zunächst ignorierte Prisca die Leibsklavin bewusst, während ihre Augen auf Lyciscus ruhten und sie ihm dabei zu sah, wie er seelenruhig einen weiteren Keks aus dem Korb nahm und diesen in ihre Hand legte. Bei ihm werde ich mit dieser Masche wohl nicht so viel Erfolg haben wie bei Mara, aber das will ich auch gar nicht, dachte sie nur, als der Thraker ihr wieder mit diesem Grinsen tief in die Augen sah, wie er es bereits auf dem Sklavenmarkt getan hatte. Und wieder spürte Prisca dieses sanfte Kribbeln unter der Haut, wie sie es oft verspürte wenn sie den Blicken der Männer gewahr wurde, die augenscheinlich ihre Schönheit bewunderten. Ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass es mir nicht gefällt so angesehen zu werden… Selbst von einem Sklaven ..nun ja, er ist ja auch kein gewöhnlicher Sklave. Ganz in Gedanken ertappte sich Prisca dabei, dass sie gerade im Begriff war den Sklaven zu verteidigen und schlimmer noch, dass sie seine Blicke sehr genoss und er es damit tatsächlich schaffte, ihre Stimmung zu heben.
"Es ist nicht deine Schuld, Lyciscus …", entgegnete Prisca auf die Entschuldigung ihres Leibwächters und schenkte ihm ein gütiges Lächeln, ehe sie mit einem strengen Blick zu Mara sah. Die junge Griechin bemerkte den Blick und duckte sich gleich noch mehr, was wiederum der Aurelia innerlich Freude bereitete. Gleichzeitig kam der Aurelia spontan der Gedanke für einen weiteren Test ihres neuen Leibwächters. Also spielte sie dieses Spiel noch ein wenig weiter, indem sie so tat als würde sie sprichwörtlich "aus einer Maus einen Elefanten machen": "Mara! Hatte ich dir nicht befohlen, dass du Lyciscus über das heutige Opfer aufklären sollst? Stattdessen lässt du zu, dass er ahnungslos die ganzen Opfergaben auf isst. … Aus meinen Augen! Hole neue Kekse aus der culina und dann begib dich zur Mauer! Dort wartest du bis ich über deine Bestrafung entschieden habe", herrschte Prisca ihre Sklavin an und natürlich erzielte sie den gewünschten Effekt bei Mara, die beinahe vor Verzweiflung auf die Knie gefallen wäre. Entsetzt und ungläubig starrte Mara ihre Herrin an, ehe sie ergeben nickte und schluchzend davon rannte.
Arme Mara! … Naja sie wird es überleben Nun tat es Prisca fast wieder leid, dass sie ihre Leibsklavin heute absichtlich zu Unrecht beschuldigte, nur, um den neuen Sklaven zu testen. Aber gut. "Lyciscus … Komm mit!", sprach Prisca ihren Leibwächter mit sanfter Stimme an und deute ihm, sie zu begleiten: "Du wirst die Peitsche führen. Ich denke fünf Hiebe sollten reichen um Mara´s Gedächtnis wieder zu auf zu bessern. Sie wirkt mir schon seit längerem viel zu nachlässig bei ihren Arbeiten. Oder wären zehn Hiebe eventuell angebrachter ...?" Mit dieser augenscheinlich offenen Frage setzte sich die Aurelia in Richtung der Sklavenunterkünfte in Bewegung, hinter denen die besagte Mauer zu finden war.