Ach, wäre Maron doch in diesem Moment so geistesgegenwärtig gewesen und hätte mir einen Spiegel vorgehalten - zu gerne hätte ich mein Gesicht gesehen, wie sein Ausdruck wohl fließend ineinander überging zwischen Freude, Glück und völliger Verblüffung, dieses Göttergeschenk hier vor mir zu sehen: meinen Bruder Lupus, gesund und immer zu Späßen aufgelegt!
Aber warum Maron Vorwürfe machen - ich hätte ja selbst so geistesgegenwärtig sein und mir von ihm einen Spiegel vorhalten lassen können, war es aber nicht gewesen. Und auch wenn mir der Spiegel direkt vor die Nasenspitze gehalten worden wäre, so hätte ich ja wahrscheinlich doch nicht hineingesehen, denn der Anblick meines Bruders und seine rechte Hand in meinem Nacken bedeuteten mir in diesem Moment mehr als alles andere.
Lupus lebte also, und ganz offensichtlich ging es ihm gut. Vor dieser beglückenden Erkenntnis verblassten fast sogar die freundlichen Worte, die er sofort für mich fand nach all den Jahren. Ich wusste gar nicht so genau, was ich nun als erstes sagen sollte, denn mir gingen so viele Gedanken und Fragen gleichzeitig durch den Kopf.
Vielleicht war es deswegen, dass ich für einen Augenblick wieder ein wenig stärker auf das Äußere meines Bruders achtete. Der Tag in Roma war zweifellos heiß, und ich konnte mir denken, warum mein Sklave Lupus direkt ins balneum gebracht hatte. Unwillkürlich musste ich ein bisschen schmunzeln, denn mir kam da ein Gedanke:
"Ach Lupus, da ist so vieles, was ich dich fragen muss, aber auch so vieles, was ich dir selber zu erzählen habe, besonders auch aus den letzten Tagen, denn ich bin zwar erst seit kurzem hier in Roma, aber diese Zeit war gleich sehr turbulent. Und weißt du was? Jetzt, wo sowieso schon mal ein Bad bereitet ist, werde ich gleich mit dir gehen, auch wenn der Tag noch nicht vorbei ist."
Ich drehte mich zu Maron um, der auch gleich damit anfing, nun auch mich auszukleiden. Zu Lupus sagte ich grinsend:
"Aber zum Abwaschen und Saubermachen ins Kaltwasserbecken gehst du alleine, du Dreckspatz! Ich gehe dann gleich ins tepidarium."
Da es naturgemäß ein wenig dauerte, bis man mich aus meiner toga gewickelt hatte, redete ich gleich weiter, denn ich wollte keine Minute mit meinem Bruder verlieren:
"Lupus, über dich hat man sich, ehrlich gesagt, die wüstesten Gerüchte erzählt. Sag, was daran ist Wahrheit, was war Übertreibung? Stimmt es, dass du dich den Kynikern angeschlossen hast?"
Sein Äußeres deutete ja nun darauf hin, allerdings hatte er augenscheinlich mit dieser Phase seines Lebens gebrochen oder doch mindestens manche Vorsätze dieser philosophischen Bewegung in Zweifel gezogen, sonst wäre er ja nicht nach Roma in die villa Aurelia gekommen und hätte sich direkt ins balneum führen lassen, denn solches lehnten die Kyniker ja rundheraus ab.
So gespannt ich war auf die Erzählungen meines Bruders über seine Erlebnisse und seinen Werdegang - und natürlich auch über seine Zukunftspläne -, so unvermeidlich war es auch für mich, ihn schnellstmöglich in Kenntnis zu setzen von all den Nachrichten, die auf mich schon an meinem Ankunftstag in der villa Aurelia in Roma niedergeprasselt waren.
"Ich habe es eben schon angedeutet, Lupus, es gibt da einige Dinge über unsere gens, die ich auch erst bei meiner Ankunft hier in Roma erfahren habe und die du unbedingt wissen solltest. Sophus und Cicero befinden sich beide auf Reisen, und niemand von der gens weiß, wo sie sind und wann bzw. ob sie je zurückkommen werden. Cicero hat sich sogar als amtierender comes von Italia einfach auf und davon gemacht - und hat seine kleine Tochter Sisenna einfach alleine zurückgelassen. Zu allem Überfluss ist dann auch noch ihre Mutter Curitia Icela verstorben, und man brachte die Kleine hierher, wo sie dann eine ganze Weile allein unter den Sklaven gelebt hat, nämlich bis ich kam."
Ich bemerkte deutlich meinen aufkeimenden Unmut, während ich diese Worte aussprach. Natürlich kannte ich diese ganzen Zusammenhänge ja schon seit einiger Zeit, aber nun, da ich sie nochmals im Zusammenhang und laut aussprach, konnte ich meine Gefühle nicht völlig verleugnen. Aber ich musste fortfahren, um Lupus auf den neuesten Stand zu bringen.
"Ich habe aber auch erfreulichere Nachrichten, Lupus. Ich weiß nicht, ob du irgendwie davon erfahren hast, dass unser Vetter Corvinus in Mogontiacum ein Militärtribunat als tribunus laticlavius absolviert hat. Er wird aber schon in Kürze heimkehren und dabei Deandra mitbringen, Helena und Prisca. Deandra und Corvinus sind jetzt übrigens verlobt, und unser Vetter tritt bei den bevorstehenden Wahlen für das vigintivirat an."
Etwas beschämt fügte ich hinzu:
"Und wenn ich deine Begrüßungsworte eben richtig gedeutet habe, hälst du es ja auch für eine gute Nachricht, mich hier in Roma anzutreffen. Ich habe meine Studienjahre in Athen beendet und bin danach direkt hier nach Roma gekommen. Ich hoffe, hier Corvinus zunächst einige Dienste leisten zu können, um dann irgendwann eine eigene Karriere im Dienst unserer gens und des Kaisers aufzubauen."
Bei den nun folgenden Worten war allerdings jede Spur von Beschämung aus meinem Gesicht verflogen, da ich nun froh verkündete:
"Die schönste Nachricht aber an diesem Tage ist für mich deine Heimkehr und dass du offensichtlich gesund und guter Dinge bist!"
Maron hatte mich inzwischen mit geübten Handgriffen aus der toga geschält, so dass nur noch tunika und Schurz übrig blieben. Ich freute mich darauf, mit meinem Bruder gleich gemeinsam im tepidarium zu entspannen.