Während ich Sisenna von dem Brief erzählte, sah diese mich ein wenig verständnislos an, wie mir schien. Sie musste wirklich schon müde sein - oder wollte sie das alles nach diesem Tag erst einmal nicht an sich heranlassen? Jedenfalls war es schon mehr als hohe Zeit, ins Bett zu gehen, und so nahm ich die Kleine, wie angekündigt, auf meinen Arm. Sie war viel leichter, als ich gedacht hatte, und doch drückte ich sie eng an mich, denn als ich sie einmal auf meinem Arm hatte, begann auch mein Herz heftig zu schlagen vor Sorge, ihr könnte etwas geschehen oder ich die kostbare Last fallen lassen. Dieser mein starker Druck schien aber Sisenna gar nichts auszumachen; sie legte ihre Arme um meinen Hals und lehnte ihr Köpfchen an meine Schulter. Ich konnte gar nicht anders und legte auch meinerseits vorsichtig meinen Kopf an den ihren.
So hätte ich trotz meiner Müdigkeit noch stundenlang weiterlaufen können, Sisenna in meinen Armen und ihren warmen Atem an meiner Schulter. Und tatsächlich wurde unser Gang durch die Villa Aurelia in Rom auch kein kurzer, denn schließlich war ich nach Jahren den ersten Tag wieder hier und konnte in der Dunkelheit das cubiculum des Mädchens nicht so leicht finden. Sisenna schienen diese Irrungen aber nichts anhaben zu können; sie verhielt sich ganz ruhig, und ich dachte schon, sie sei eingeschlafen. Da aber meldete sie sich schlaftrunken noch einmal zu Wort, um sich zu versichern, dass ich auch wirklich bei ihr bleiben würde, bis sie eingeschlafen sei. Außerdem erinnerte sie an ihre Mutter, die immer gewollt habe, dass Sisenna ihr zuhöre statt selbst Geschichten zu erzählen. Ich musste lächeln.
"Ja, ich bleibe bei dir, bis du einschläfst. Und wenn du lieber eine Geschichte hören möchtest, dann wird mir schon noch eine einfallen."
Nun langten wir auch am cubiculum Sisennas an. Vorsichtig versuchte ich, ihr Gewicht auf meinen Armen ein bisschen anders zu verteilen, um sie mit einer Hand halten und mit der anderen die Tür öffnen zu können. Dies gelang mir, und ich stieß die Tür weit auf, damit von außen Licht in das cubiculum falle und ich Sisenna sicher in ihr Bettchen legen könnte. Zum Glück war ich ja schon am Nachmittag kurz bei ihr gewesen, so dass ich das Bett leicht fand. Ich beugte mich und legte das Mädchen behutsam nieder. Mit meinen nun wieder freien Händen ertastete ich den Stuhl, den ich am Nachmittag in der Nähe des Bettchens erblickt hatte, und nahm darauf Platz. Ich legte eine Hand auf Sisenna und begann zu erzählen:
"Es war einmal eine Krähe, die an einem eiskalten Wintertag auf einem Baum saß, der auf einem Feld in der Nähe eines Waldes stand. Die Krähe war allein, das Feld lag da wie tot und war mit Rauhreif überzogen, und an dem Baum hingen nur noch einige weniger dürre, verschrumpelte und braune Blätter. Da erblickte die Krähe am Boden unter dem Baum ein kleines Stückchen Leder, das die Bauern hier irgendwann vergessen haben mussten; es hätte gut von einem Gürtel stammen können. Weil der Krähe so alleine langweilig war, beschloss sie, sich das gute Stück einmal genauer anzusehen. Sie stieß sich ab von dem Zweig, auf dem sie saß, glitt elegant zu Boden und untersuchte dort das Stück.
Interessiert griff sie es mit ihrem Schnabel und erhob sich wieder in die Luft. Sie nahm an Geschwindigkeit auf, stieg mit ihrer Beute höher und höher und warf das Stück Leder schließlich voller Übermut und Lebensfreude in die kristallklare Winterluft. Geschickt gelang es ihr, das Stück noch im Fluge wieder mit ihrem Schnabel aufzufangen. Dies tat sie immer wieder: Hoch in den blauen Himmel mit dem Stück Leder, und dann wieder auffangen im Flug.
Eine andere Krähe, die in der Nähe des Waldes auf dem Boden gehockt hatte, sah dies voller Neid. Nun stieg auch sie in die Lüfte, und als die erste Krähe das Stück Leder wieder einmal gen Himmel geworfen hatte, flog sie dazwischen und schnappte ihr das Stück vor dem Schnabel weg. Dies aber hatte auch eine dritte Krähe gesehen, die noch an einer anderen Stelle in der Nähe des Waldes gehockt hatte. Auch in ihr stieg Neid auf, als sie die anderen beiden Krähen derart beschäftigt sah; und so hob auch sie sich in die Luft und schloss sich den beiden anderen an - wenn schon nicht zum Spielen, dann doch wenigstens, um den beiden anderen ihre Freude zu vergällen.
Dieser Dreikampf der Krähen in der Luft um das Stück Leder und um Neid und Freude führte die Vögel immer höher in die Luft und zugleich immer weiter über den Wald. Mittlerweile waren die Krähen auch dazu übergegangen, nicht mehr nur das Stück Leder zu erjagen, sondern auch, sich gegenseitig mit ihren Flügeln anzugreifen. Und so kam es, wie es kommen musste: Bedrängt von einem Angreifer, öffnete eine Krähe ihren Schnabel, und da dies die Krähe gewesen war, die das Stück Leder zuvor gehabt hatte, fiel dieses nun senkrecht nach unten und mitten in den Wald an die Stelle, wo dieser am dichtesten war. Einer kleinen braunen Waldmaus kam dies gelegen; sie stiebietzte das Stück und verwendete es, um den Eingang zu ihrem unterirdischen Loch damit zu verdecken.
Da die drei Krähen an und für sich erfahrene Krähen waren, war ihnen, als das Stück Leder in den Wald fiel, sofort klar, dass sie es nun verloren hätten, denn im Wald kannten sie sich nicht aus, schon gar nicht an jener Stelle, wo er so dicht war. So flogen sie missmutig alle zusammen zu dem einsamen Baum auf dem Feld, wo die erste Krähe am Anfang alleine gesessen hatte. Unterwegs machten sie sich heftige Vorwürfe und beschuldigten sich gegenseitig, schuld zu sein am Verlust ihres Zankapfels, und als sie auf dem Baum anlangten, waren sie nahe daran, einander die Augen auszuhacken. Weil eine Krähe der anderen aber bekanntlich keine Augen aushackt und da es sich, wie gesagt, um erfahrene Krähen handelte, ließen sie schließlich davon ab und schwiegen einander nur böse an.
Irgendwann aber machte sich unter ihnen die Erkenntnis breit, dass dies doch noch gar nicht das Ende vom Lied sein musste. Sie sahen einander an und hätten gelächelt, hätten sie einen so süßen Mund gehabt wie du. So aber erhoben sie sich gleichzeitig in die Luft, um zu einem Dorf oder einer Stadt der Menschen zu fliegen, denn wer konnte schon wissen, ob sie dort nicht noch viel schöneres Spielzeug finden würden."
Ich horchte einen Moment lang in die Stille hinein, doch von Sisenna war nichts mehr zu vernehmen als tiefe, ruhige Atemzüge. Vorsichtig löste ich meine Hand von ihr, erhob mich von meinem Stuhl und verließ, leise hinter mir die Türe schließend, das Zimmer.
Sim-Off:Sorry, aber Kinderaugen bringen auch schmale Lippen zum Beben.