Beiträge von Appius Aurelius Cotta

    Mein Herz schlug höher, als Sisenna einen Moment lang ihre Hand in meine legte, während ich noch vor ihr hockte und zu ihr sprach. Das Gefühl, ihre kleine, weiche Hand in meiner zu halten, die mir nun riesig vorkam und deren leichter Flaum auf dem Handrücken mir erst jetzt so richtig auffiel, machte mich stolz und glücklich. Ich empfand aber auch die große Verpflichtung, die ich auf mich nahm, indem ich diesen Vertrauensbeweis von ihr empfing.


    Dieses leises Band, das die Berührung unserer Hände zwischen uns gewoben hatte, wurde allerdings jäh zerrissen, als ich mich wieder aufrichtete und Sisenna bat, schon einmal mit Maron in den Hortus zu gehen, während ich nachkommen wollte; ich wollte doch nur noch ganz kurz mit Leone reden. Für Sisenna aber musste in diesem Augenblick eine Welt zusammengebrochen sein; zu oft wohl war sie schon von Erwachsenen bitter enttäuscht worden in den vergangenen Wochen. Sie sah mich unendlich traurig an, und es kostete mich alle, wirklich alle Mühe, ihrem Blick nun nicht auszuweichen, sondern sie ebenfalls anzusehen, ohne Verstellung, ohne zu lächeln, sondern einfach so traurig, wie ich in diesem Moment eben war. Sisenna wandte sich schließlich um und ging schweigend von dannen, begleitet von Maron.


    Es dauerte einen Moment, bis ich die Verzweiflung, die mich nun übermannte, meinerseits überwinden konnte. Machte ich etwas falsch? Hätte ich Sisenna sofort, auf der Stelle, noch hier im Officium des Corvinus sagen sollen, was Leone mir gerade zugeraunt hatte? Wie würde ich ihr überhaupt alles sagen? Und warum musste ausgerechnet ich es sein, dem es nun oblag, sie mit all diesen furchtbaren Nachrichten vertraut zu machen?


    Endlich, nach einer Weile des Schweigens, hatte ich mich wieder soweit gefasst, dass ich mich an Leone wenden konnte. Es half ja nichts; ich musste nun schon alles hören.


    "Ich danke dir, Leone, für die Diskretion, mit der du mir eben die Information über Aurelius Cicero hast zukommen lassen! Nun also noch der Rest: Ich nehme an, Sisennas Mutter weilt nicht mehr unter den Lebenden? Und: Weiß Domina Sisenna davon?"

    Noch immer hockte ich vor der kleinen Sisenna. Die - wahrscheinlich nur kurzen - Augenblicke, die vergingen, nachdem ich zu ihr gesprochen hatte, und die mit Schweigen gefüllt waren, bevor Sisenna ihrerseits ihre ersten Worte an mich richtete, kamen mir vor wie eine Ewigkeit. Wieder gingen mir viele Gedanken durch den Kopf, eine Ahnung davon, wie einsam und geängstet sich das kleine Mädchen hier so allein in der Villa unter lauter erwachsenen Sklaven gefühlt haben musste. So gesehen, konnte es natürlich auch nicht überraschen, dass sie solche wunderlichen Angewohnheiten angenommen hatte wie die, mit einem bewaffneten Sklaven durch das Haus zu marschieren. Die Sache mit dem Gladius ging nun allerdings zu weit, und ich würde das unterbinden müssen.


    Zunächst aber sprach nun auch Sisenna endlich mich an. Ihre Frage nach meiner Loyalität zum Kaiserhaus ließ das Schmunzeln wieder in mein Gesicht zurückkehren, das in den vergangenen Augenblicken aus ihm gewichen war. Soviel patrizische Erziehung hatte die Kleine dann wohl doch genossen, dass sie wusste, dass auf diese Loyalität für uns entscheidend ankam - wer auch immer es gewesen war, der ihr das beigebracht hatte. Oder nahm man dies als Patrizier schon mit der Milch der Amme auf?! Jedenfalls konnte ich ihr wahrheitsgemäß antworten:


    "Sei versichert: Dem Kaiser gegenüber werde ich immer treu sein!"


    ... und dir gegenüber auch - hätte ich gerne hinzugefügt, doch tat ich das nur in Gedanken, dort aber umso entschlossener. Mit der hörbaren Antwort hatte ich mir wohl immerhin mein Wohnrecht in der Villa Aurelia gesichert.


    So dachte ich ganz wohlgemut, als ich mitansehen musste, wie die Kleine plötzlich die Maske der eisernen Herrscherin fallen ließ und zu dem ängstlichen, zitternden Mädchen wurde, das sie in ihrer Situation einzig sein konnte. Die nächsten beiden Fragen, die sie an mich stellte - nun in einem ganz anderen und nicht mehr verstellten Ton -, schnitten mir ins Herz, besonders, als sie nach ihren Eltern fragte. Einen kurzen Augenblick lang konnte ich ihrem flehenden Blick nicht standhalten und musste die Augen senken.


    Leone trat nun an mich heran und flüsterte mir eine Antwort auf die Fragen zu, die ich ihm gestellt hatte, gerade als Sisenna das Officium betrat. Diese Antworten entsprachen ganz dem, was ich befürchtet hatte: Sisennas Vater Cicero war - ganz unglaublich - verschollen, leider auch nicht das erste Mal, wie ich wusste. Und dass Sisenna von ihrer Amme hierher gebracht worden war, ließ mich für Sisennas Mutter das Schlimmste annehmen.


    Ich nickte Leone leicht zu als Dank für die Informationen, die er mir so diskret hatte zukommen lassen. Ihr Inhalt war nun keine echte Überraschung mehr für mich. Vielleicht war das der Grund dafür, dass in mir plötzlich eine Idee aufstieg: Während ich diese Antworten schon geahnt hatte, hatten die Götter doch ein Einsehen gehabt und mir einen Einfall gegeben.


    Ich hob meine Augen wieder zu Sisenna, die zwar von all dem noch nichts wusste, wie Leone mir gerade, ganz meiner Befürchtung entsprechend, gesagt hatte, die aber offenbar schon etwas Schlimmes ahnte. So jedenfalls erklärte ich mir die Salve an - zumeist belanglosen - Fragen, die sie nun auf mich abschoss: Ihr Tun hatte etwas von einem letzten Aufbäumen an sich. Langsam streckte ich meine Hand zu ihr hin, so dass es nun bei ihr lag, sie zu erfassen. So behutsam wie möglich sagte ich:


    "Sisenna, ich bleibe jetzt bei dir. Du warst jetzt lange hier allein in Rom mit all den Sklaven; vielleicht war das ein bisschen langweilig für dich und vielleicht hast du auch manchmal Angst gehabt. Wie ich sehe, haben aber alle gut auf dich aufgepasst und hätten dich sogar mit Waffen verteidigt. Jetzt bin ich aber hier und passe auf dich auf, deshalb kann dein Leibgardist sein Gladius auch wieder wegbringen. Solche Waffen sind gefährlich, deswegen tragen wir sie nicht im Haus."


    Ich sah zu dem entsprechenden Sklaven und gab ihm ein Zeichen, sich zu entfernen und den Gladius wegzubringen. Dabei fiel mein Blick auf Maron, der in der Nähe der Tür stand. Seine Anwesenheit kam mir sehr gelegen, und ich winkte ihn zu uns heran. Zu Sisenna gewandt, sagte ich:


    "Ich habe auch neue Sklaven mitgebracht, besonders Maron. Er kommt aus Thrakien, das ist weit weg von hier. Er ist sehr stark und passt auf dich auf und kann dir aus seiner Heimat schöne Lieder vorsingen."


    Ich deutete auf Maron, der sich mittlerweile zu uns gesellt hatte. Eigentlich hatte ich ihn noch nie singen hören, und an dem Gesicht, das er bei meiner entsprechenden Bemerkung zu Sisenna machte, konnte ich ablesen, dass Singen offenbar auch nicht zu seinen Stärken gehörte. Ich musste schmunzeln: Das war jetzt ganz allein sein Problem! Dann wandte ich mich aber sofort wieder Sisenna zu:


    "Deine bemalte Truhe sehe ich mir ganz bestimmt an! Und ich bekomme auch heraus, was es heute noch so zu essen gibt, ich habe nämlich Hunger. Vorher möchte ich aber noch etwas mit dir in den Hortus gehen. Auf meiner langen Reise habe ich den ganzen Tag in einer Sänfte gesessen; jetzt muss ich mich unbedingt etwas bewegen."


    Ich richtete mich langsam wieder auf, schaute aber unverwandt Sisenna an.


    "Zeig doch Maron schon einmal den Hortus; er kennt sich hier ja noch gar nicht aus! Ich komme dann gleich nach."


    Denn ich wollte unbedingt noch ein paar Worte mit Leone wechseln. Mit den schlimmen Nachrichten aber wollte ich Sisenna im Hortus vertraut machen. Irgendeine Stimme in mir sagte, dass dort in der lebendigen Natur vielleicht der beste Ort sei, um Nachrichten von Tod und Verlassenheit zu überbringen.

    Ich war nie der typische Trunkenbold und Tunichtgut gewesen wie andere in meinem Alter, aber natürlich hatte auch ich schon so meine Erfahrungen mit dem Wein gemacht, und ja: In der erst kürzlich vergangenen Studienzeit in Athen hatte ich so manches Mal mit meinen Kommilitonen des Abends bei diesem Getränk gesessen. Der Wein hatte unsere Zungen gelöst und so manchen geistigen Höhenflug ermöglicht. Und wenn die Nacht dann vorrückte, hatte so mancher von uns das Jammern angefangen, warum die Götter uns ihre eigenen Wege führten und nicht doch lieber diejenigen, die wir vorgezogen hätten.


    Am Tag meiner Ankunft in der Villa Aurelia in Rom hatte ich nur beim kurzen Mittagsmahl ein paar Schlucke Wein getrunken und war somit weit von dem Zustand der Trunkenheit entfernt, den man für gewöhnlich haben musste, um sich in derartigen "moralischen" Überlegungen zu verlieren. Weniger weit entfernt allerdings war ich von der Frage, warum uns die Götter bisweilen auf Wege führen, die wir nicht wollen - als sich nämlich, wie ich dunkel befürchtet hatte, auf einmal doch die Tür zum Officium des Corvinus öffnete und ein kleines Mädchen eintrat, das nur Aurelia Sisenna sein konnte.


    Irgendwie war ich gar nicht überrascht; irgendwie hatte es wohl so kommen müssen. Allerdings fühlte ich mich in diesem Augenblick vollkommen überfordert. Ich war ein junger Mann, hatte die letzten Jahre fast ausschließlich unter anderen Männern zugebracht und sollte nun den Weg eines adeligen römischen Mannes gehen. Selbst hatte ich ja keine eigene Familie; mit kleinen Kindern hatte ich nie zu tun gehabt, und noch dazu mit einem kleinen Mädchen. - So wäre es jedem jungen patrizischen Mann in meiner Lage und in meinem Alter ergangen.


    Hier aber kam etwas hinzu: Irgendetwas musste in der unmittelbaren Familie des Mädchens Sisenna passiert sein, irgendetwas sehr Trauriges, dass sie hier allein in der Villa Aurelia in Rom lebte. Leider hatte die Zeit für mich trotz meiner Bemühungen nicht mehr dazu gereicht, in Erfahrung zu bringen, was eigentlich passiert war. Und schlimmer noch: Ich wusste auch nicht, was Sisenna selbst über all die vermutlich traurigen Hintergründe wusste.


    Und nun stand die Kleine vor mir, begleitet von Sklaven, mit niemandem aus ihrer Familie als mit mir. Innerlich schickte ich ein Gebet zu den Göttern, sie möchten mich nun zu Sisenna das Rechte sagen lassen; diese eine Bitte wenigstens mussten sie mir doch jetzt erfüllen, es ging dabei doch nicht um mich, sondern um dieses arme unschuldige Mädchen!


    Als diese merkwürdigen und teils verworrenen Gedanken gingen mir in rasender Geschwindigkeit durch den Kopf, als sich die Tür des Officiums öffnete und Sisenna eintrat; sie hatten wohl schon eine ganze Weile in meinem Inneren geruht, nämlich seitdem ich die ersten bösen Nachrichten über unsere Gens noch an der Porta erhalten hatte.


    Als nun aber Sisenna durch die Tür schritt wie eine Königin, geschah noch etwas anderes mit mir. Ich sah sie an und musste trotz aller düsteren Befürchtungen lächeln; ja, ein Strahlen breitete sich unwillkürlich über mein ganzes Gesicht aus. Denn dieses kleine, süße Geschöpf stand da vor mir mit einer Würde, die eine gewisse Trauer nicht verbarg, aber gleichzeitig eine Tapferkeit ausstrahlte und, ja, auch trotz allem eine gehörige Portion Schalkhaftigkeit, dass sie mich ganz gefangen nahm.


    Ich sprang auf und versuchte, so langsam wie möglich auf sie zuzugehen, denn ich wollte sie nicht erschrecken; am liebsten wäre ich natürlich regelrecht auf sie zugelaufen. Nein, ich versuchte, behutsam zu sein, und blieb auch noch in einem gewissen Abstand vor ihr stehen; jetzt sah ich auch, dass sie von einem Sklaven begleitet wurde, der ein Gladius bei sich trug: Wollte diese kleine Königin mich etwa schon wieder vertreiben aus ihrem Reich?


    Unwillkürlich musste ich schmunzeln. Ich bereitete mich, mich ihr vorzustellen, wie es sich vor einer amtierenden Herrscherin gehörte, und warf mich ein wenig in die Brust:


    "Sei gegrüßt, Aurelia Sisenna! Vor dir steht dein Verwandter Appius Aurelius Cotta. Die letzten Jahre habe ich in Achaia verbracht, um mich in den Wissenschaften auszubilden. Jetzt weiß ich genug und habe den weiten Weg nach Rom zurückgelegt, um hier bei dir zu wohnen. Ich hoffe, ich werde dir ein guter Hausgenosse sein."


    Diese - zugegebenermaßen recht talentlose - schauspielerische Darbietung sollte Sisenna ein bisschen aufheitern, befürchtete ich doch, ihr in den nächsten Stunden einige überaus traurige Wahrheiten sagen zu müssen. Nachdem ich mein Deklamieren beendet hatte, konnte ich jedoch nicht mehr an mich halten; ich machte einen weiteren Schritt auf sie zu und ging in die Hocke, damit sie nicht immer so zu mir aufschauen musste. Sie hatte grüne Augen wie ich; ach, sie hätte ja meine Schwester sein können! In nicht ganz so erhobenem Ton wie zuvor sagte ich zu ihr:


    "Salve Sisenna, ich bin also Cotta, dein Verwandter, Sohn von Decimus Aurelius Galerianus! Ich freue mich sehr, dass ich dich heute endlich kennen lerne! Und ich hoffe, dass du mich auch hier wohnen lässt. Denn, ehrlich gesagt, dein bewaffneter Sklave da macht mir schon ein wenig Angst. Ist er dein Leibgardist?"


    Dabei blickte ich leicht nach oben zu dem Sklaven mit dem Gladius. Schnell aber lächelte ich wieder die kleine Sisenna an, an der ich mich gar nicht sattsehen konnte.

    An der zögerlichen Art, mit der Leone meiner neuen - und veränderten - Weisung nachkam, konnte ich deutlich ablesen, in welche Verwirrung ich ihn gestürzt hatte. Seine Verwirrung entsprach dabei aber leider nur allzu genau der meinen, in der ich mich befand, seit ich die ersten beunruhigenden Andeutungen aus seinem Munde an der Porta hatte vernehmen müssen. Was auch immer sich hier in den vergangenen Monaten zugetragen hatte - mir war klar, dass ich mit Klarheit und Konsequenz würde agieren müssen. Genau diese beiden Eigenschaften hatte ich bisher durchaus vermissen lassen.


    Ich konnte mich nicht enthalten, tief und hörbar durchzuatmen, hoffte aber, dass dies dem Sklaven in seiner eigenen Konfusion nicht ganz so auffallen würde. Um meine Unsicherheit zu überspielen, griff ich nach einem Wachstäfelchen, das auf dem aufgeräumten Schreibtisch bereit lag. Wie ich schon an der Porta angekündigt hatte, würde es das Beste sein, mir einige Notizen zu machen. Endlich wandte ich mich erneut an den Sklaven:


    "Bevor ich mit Domina Sisenna spreche, möchte ich dir einige Fragen stellen, um über die Vorgänge hier im Hause auf dem Laufenden zu sein. Die erste und wichtigste Frage dabei ist: Wo befindet sich Sisennas Vater, Aurelius Cicero?"


    Ich hatte mich angestrengt, diese Frage in einem sicheren Ton zu sprechen, doch in Wirklichkeit zitterte ich vor der Antwort, denn eine fröhliche würde sie gewiss nicht sein. Und dies galt dann wohl auch für die Antworten auf die folgenden Fragen:


    "Offen gesagt, bin ich auch ein wenig verwundert darüber, Domina Sisenna überhaupt hier anzutreffen. Wer hat sie hierhergebracht? Und warum?"


    Von den Antworten auf diese Fragen hing nun alles ab, die ganze Art, wie ich Sisenna gegenüber treten würde. Inständig hoffte ich, die Antworten aus dem Munde des Leone noch zu hören, bevor Sisenna selbst den Weg in dieses Officium finden würde. Denn im Grunde wunderte ich mich schon darüber, dass sie selbst noch nicht aufgetaucht war. Das Getöse, das im Haus dadurch verursacht wurde, dass mein Gepäck entladen wurde - wohin wohl? -, musste die Kleine doch schon längst aufmerksam gemacht haben.

    Die ganze Zeit über hatte ich den Sklaven Leone starr angesehen, wie ich selbst bemerkt hatte. Es stand zu befürchten, dass der Arme sich dadurch sehr in Verlegenheit gesetzt fühlte, was gar nicht meine Absicht gewesen war. Ich war nur selbst immer noch ein wenig gelähmt von den Nachrichten, die ich gleich an der Porta der Villa Aurelia in Rom zu hören bekommen hatte, und suchte fieberhaft nach einer guten Idee, wie ich mit dieser ganzen Situation zurecht kommen könnte.


    Meine Frage nach einem Officium hatte Leone in neuerliche Verlegenheit versetzt, doch immerhin standen ganze drei Officia bereit, und ich war froh, dass ich dem Sklaven nun endlich ins Innere der Villa folgen konnte. Er führte mich zum Officium Corvini, und das wäre zwischen den drei Büroräumen auch meine eigene Wahl gewesen. Insgesamt hatte ich von Leone nun doch einen sehr guten Eindruck.


    Ob er mich allerdings auch vollständig verstanden hatte? Seiner letzten Äußerung über Sisenna glaubte ich entnehmen zu können, dass er sie vielleicht sofort zu mir führen wollte - und gerade das wollte ich ja verhindern. Als wir am Officium des Corvinus anlangten, wandte ich mich daher noch einmal eindringlich an ihn:


    "Das mit der Post und den alten Acta-Ausgaben, was ich dir eben aufgetragen habe - das hat noch Zeit. Komm kurz mit mir ins Büro und schließ die Tür hinter dir."


    Ich ging voran in den geschmackvoll und zweckmäßig eingerichteten Raum und ließ mich gleich auf dem Stuhl hinter dem Schreibtisch nieder.

    Nach all dem, was Leone - wie der Hausverwalter also hieß - mir nun erzählt hatte, konnten mich auch seine Auskünfte über den verwaisten Rennstall nicht weiter aus der Fassung bringen. Dennoch verspürte ich in mir nun den immer dringenderen Wunsch, nach all diesen furchtbaren Botschaften und nicht zuletzt auch den Strapazen der Reise mich endlich zu setzen. Da nun ja auch die Zuständigkeiten geklärt waren, wollte ich schon die entsprechende Anweisung erteilen, mich ins Atrium zu führen, als mir plötzlich ein Gedanke kam.


    "Leone, weilt die Herrin Sisenna in diesem Moment im Hause?"


    Natürlich wollte ich mit dem Hausverwalter noch weiter sprechen; die eigentlichen und entscheidenden Fragen, die ich ihm stellen musste, standen ja noch aus. Nach allem, was ich bisher gehört hatte, musste ich davon ausgehen, dabei weitere bedrückende Nachrichten in Erfahrung zu bringen. Ich wollte daher verhindern, dass die kleine Sisenna Zeugin dieses Gesprächs werden würde. Und weil ich mich aus eigenen Kindertagen noch recht gut daran erinnern konnte, wie findig Kinder sein konnten, wenn es darum ging, Erwachsene zu belauschen, wollte ich diese Möglichkeit ausgeschlossen wissen. Ich wandte mich daher erneut an Leone.


    "Wenn sie nämlich hier ist ... Führe mich in einen Raum, in dem wir möglichst unbemerkt von ihr alles besprechen können. Vielleicht in ein Officium? Dann könnte ich mir gleich Notizen machen."


    ... und dann schnellstmöglich an Corvinus nach Mogontiacum schreiben. Und noch etwas fiel mir ein:


    "Lass auch die Post, die sich hier gesammelt hat, dann zu mir bringen, ebenso die letzten Ausgaben der Acta Diurna. - Und eine Erfrischung wäre nicht schlecht."

    Während der Ianitor seine Erklärungen abgab, hatten sich meine Augen unwillkürlich geweitet. Ich muss diesen Sklaven wohl mit ziemlichem Entsetzen angeblickt haben und schaute deshalb auch rasch zur Seite, nachdem er geendet hatte. Dass Corvinus mit Deandra und Helena in Mogontiacum weilte, war mir natürlich bekannt gewesen; dass die Verhältnisse hier in Rom aber derartig schlecht standen, erschütterte mich.


    Unwillkürlich blickte ich an der Fassade der Villa Aurelia hoch, die mich noch wenige Augenblicke zuvor so gefangen genommen hatte. Wie mochte es drinnen aussehen, wenn, wie der Ianitor gesagt hatte, nur wenige Sklaven für die Villa sorgten - vom Hortus ganz zu schweigen?


    Dies alles aber war jetzt eigentlich nebensächlich. In meinem Kopf drängten sich die Gedanken und mehr noch die Fragen, vor allem eine, die mir die ganze Zeit schon auf der Zunge lag. Bevor ich sie aber stellte, wollte ich doch noch die Zuständigkeiten ein für allemal abgeklärt wissen. Denn auch wenn der erste Eindruck, den dieser Sklave mit seinen dürftigen Begrüßungsworten auf mich gemacht hatte, nicht erfreulich gewesen war, so hatte ich nun, da er mir Auskunft gegeben hatte, das Gefühl, dass er sich in den Angelegenheiten des Hauses und der Gens durchaus auskannte. Wer weiß, vielleicht hatte sich dieser energische Ianitor in der Abwesenheit aller erwachsenen Aurelier zu einer Art Hausverwalter aufgeschwungen. Ich sah ihn wieder an:


    "Wo finde ich denn den Hausverwalter? Oder hast du diese Funktion inne? - Wie ist übrigens dein Name?"

    Ich wollte schon in Richtung Atrium gehen, da ich mich an den Weg dorthin von meinem letzten Besuch in der Villa Aurelia in Rom her noch dunkel erinnerte. Irgendetwas hielt mich jedoch zurück. Dies war natürlich zum Einen meine Bestürzung ob der kaum glaublichen Nachrichten, die ich soeben erhalten hatte. Zum Anderen schien irgend etwas mit diesem Ianitoren nicht zu stimmen; er sah mich so seltsam an.


    Ich bemühte mich, Energie in meine Stimme zu legen, um hier nicht sofort eine schlechte Figur zu machen; was dann herauskam, überdeckte meine Unsicherheit jedoch nur schlecht.


    "Gibt es noch etwas?"


    Eine kurze Pause entstand, in der mich mehr und mehr ein böses Gefühl beschlich, das ich nicht näher hätte beschreiben können. In mir wuchs jedoch die Gewissheit, dass hier in Rom mit der Familie irgendetwas nicht in Ordnung war.


    "Ich frage dich: Gibt es sonst noch etwas, was ich jetzt sofort wissen müsste?"

    Selbstverständlich hatte ich mich während des Wortwechsels zwischen den beiden Sklaven im Inneren der Sänfte völlig ruhig verhalten und meine Ungeduld und Unruhe durch kein Geräusch verraten. Glücklicherweise hatten die zwei Servi die wesentlichen Dinge ja auch schnell geklärt, so dass ich nach der anstrengenden Anreise mit dem mehrmaligen Umsteigen nun nicht auch noch eine Streiterei zwischen Sklaven mitanhören musste.


    Mit einem Ruck erhob ich mich und entstieg der Sänfte. Einen Moment lang nahm mich der überwältigende Anblick der Villa ganz in Beschlag, die nichts von ihrer Schönheit eingebüßt hatte. Aus meiner Bewunderung wurde ich allerdings abrupt gerissen, als ich einige Wortfetzen des Ianitor-Sklaven mitbekam: "in der Villa hält sich derzeit niemand auf außer der kleinen Domina Sisenna"? "- die vom Personal betreut wird"?


    Ich mochte nicht glauben, was ich da hörte. Unwillkürlich blieb ich stehen und konnte nicht umhin, den Ianitor-Sklaven anzusprechen.


    "Sag, ist das wahr, was du gerade erzählt hast? Niemand ist hier außer Sisenna?"


    Fast hätte ich noch all die weiteren Fragen, die mich in diesem Augenblick bedrängten, an den Ianitor-Sklaven gestellt. Gerade noch rechtzeitig konnte ich mich jedoch besinnen.


    "Schick mir sofort jemanden ins Atrium, der mir Auskunft über diese Angelegenheiten geben kann!"

    Der Sklave des Cotta wunderte sich nicht wenig über das seltsame und überhebliche Betragen des Ianitors. Offenbar war dieser auf diesem Posten noch neu; einem geübten Ianitoren-Auge wäre nämlich nie und nimmer entgangen, dass in einer solchen Sänfte, wie sie jetzt vor der Porta der Villa Aurelia stand, nur eine hochgestellte Persönlichkeit sitzen konnte, der gegenüber verschränkte Arme und kurz angebundene Redeweise alles andere als angebracht war. :P


    Cottas Sklave war bestrebt, seinem Ianitoren-Kollegen ein Vorbild zu sein. Außerdem wollte er sich in Hörweite seines Dominus natürlich keine Blöße geben. So sagte er:


    "In der Sänfte, die du hinter mir siehst, sitzt mein Dominus Appius Aurelius Cotta."


    Dies würde doch sicher seine Wirkung nicht verfehlen!

    Wenn ich natürlich auch nicht so empfindlich war wie so mancher Frauenmagen, war ich doch froh, als meine Schiffs-Überfahrt in Ostia an ihr Ende kam und ich wieder festes Land betreten konnte. "Treu ist die Erde, untreu das Meer", wie die Griechen so schön zu sagen pflegen, in deren Landen ich soeben meine Studien beendet hatte. Nun hatte mich also italischer Boden wieder, und ich war gespannt, ob und wie es mir gelingen würde, meine neu erworbenen Kenntnisse in den Dienst des Kaisers und nicht zuletzt unserer Familie zu stellen.


    Diesen Gedanken und so mancher Erinnerung an meine Studienzeit in Athen hing ich nach, als der Reisewagen, den meine Sklaven in Ostias Hafen sofort für mich herbeigeschafft hatten, von zwei kräftigen Rappen durch die italische Landschaft gezogen wurde. Ich genoss die Zugluft durch die geöffnete Fensterklappe, denn um diese Jahreszeit brannte die Sonne betäubend auf Italias Fluren nieder. Mir grauste es aus diesem Grund auch schon ein bisschen vor den engen Gassen Roms, durch die wir uns noch bis zur Villa Aurelia würden quälen müssen.


    Zum Glück organisierten meine findigen Sklaven kurz vor den Toren Roms noch eine recht geräumige Sänfte, auch wenn das neuerliche Aus- und Einsteigen und das Verladen des Gepäcks, das ich nun doch nicht ganz aus den Augen lassen wollte, mich ein wenig zu nerven begann. Wenigstens bot mir die Sänfte im Inneren einiges an Komfort und zum Glück auch den Platz dafür, dass ein Sklave noch einmal nach meiner Frisur sah und einige neu gewachsene Stoppeln an meinem Kinn entfernte. Ich wollte auf jeden Fall einen guten Eindruck machen bei meiner Ankunft in Rom.


    Mit den letzten kosmetischen Verschönerungen verging mir die Zeit in der Sänfte schnell, so dass ich schon ein wenig verwundert war, als mich ein Sklave darauf aufmerksam machte, dass die Villa Aurelia bereits in Sichtweite war. So hatte ich also an meinem ersten Tag in der ewigen Stadt nichts von ihr gesehen!


    Meine Aufmerksamkeit richtete sich aber in diesen Momenten auch ganz und gar auf die Begegnungen, die sicherlich gleich stattfinden würden. Wen würde ich hier in Rom von unserer Gens antreffen? In den letzten Wochen und Monaten waren die Nachrichten immer spärlicher geworden, so dass ich dem Sklaven auch mit einer gewissen Unruhe das Zeichen dafür gab, an der Tür der Villa Aurelia in Rom zu


    KLOPFEN.