Noch immer hockte ich vor der kleinen Sisenna. Die - wahrscheinlich nur kurzen - Augenblicke, die vergingen, nachdem ich zu ihr gesprochen hatte, und die mit Schweigen gefüllt waren, bevor Sisenna ihrerseits ihre ersten Worte an mich richtete, kamen mir vor wie eine Ewigkeit. Wieder gingen mir viele Gedanken durch den Kopf, eine Ahnung davon, wie einsam und geängstet sich das kleine Mädchen hier so allein in der Villa unter lauter erwachsenen Sklaven gefühlt haben musste. So gesehen, konnte es natürlich auch nicht überraschen, dass sie solche wunderlichen Angewohnheiten angenommen hatte wie die, mit einem bewaffneten Sklaven durch das Haus zu marschieren. Die Sache mit dem Gladius ging nun allerdings zu weit, und ich würde das unterbinden müssen.
Zunächst aber sprach nun auch Sisenna endlich mich an. Ihre Frage nach meiner Loyalität zum Kaiserhaus ließ das Schmunzeln wieder in mein Gesicht zurückkehren, das in den vergangenen Augenblicken aus ihm gewichen war. Soviel patrizische Erziehung hatte die Kleine dann wohl doch genossen, dass sie wusste, dass auf diese Loyalität für uns entscheidend ankam - wer auch immer es gewesen war, der ihr das beigebracht hatte. Oder nahm man dies als Patrizier schon mit der Milch der Amme auf?! Jedenfalls konnte ich ihr wahrheitsgemäß antworten:
"Sei versichert: Dem Kaiser gegenüber werde ich immer treu sein!"
... und dir gegenüber auch - hätte ich gerne hinzugefügt, doch tat ich das nur in Gedanken, dort aber umso entschlossener. Mit der hörbaren Antwort hatte ich mir wohl immerhin mein Wohnrecht in der Villa Aurelia gesichert.
So dachte ich ganz wohlgemut, als ich mitansehen musste, wie die Kleine plötzlich die Maske der eisernen Herrscherin fallen ließ und zu dem ängstlichen, zitternden Mädchen wurde, das sie in ihrer Situation einzig sein konnte. Die nächsten beiden Fragen, die sie an mich stellte - nun in einem ganz anderen und nicht mehr verstellten Ton -, schnitten mir ins Herz, besonders, als sie nach ihren Eltern fragte. Einen kurzen Augenblick lang konnte ich ihrem flehenden Blick nicht standhalten und musste die Augen senken.
Leone trat nun an mich heran und flüsterte mir eine Antwort auf die Fragen zu, die ich ihm gestellt hatte, gerade als Sisenna das Officium betrat. Diese Antworten entsprachen ganz dem, was ich befürchtet hatte: Sisennas Vater Cicero war - ganz unglaublich - verschollen, leider auch nicht das erste Mal, wie ich wusste. Und dass Sisenna von ihrer Amme hierher gebracht worden war, ließ mich für Sisennas Mutter das Schlimmste annehmen.
Ich nickte Leone leicht zu als Dank für die Informationen, die er mir so diskret hatte zukommen lassen. Ihr Inhalt war nun keine echte Überraschung mehr für mich. Vielleicht war das der Grund dafür, dass in mir plötzlich eine Idee aufstieg: Während ich diese Antworten schon geahnt hatte, hatten die Götter doch ein Einsehen gehabt und mir einen Einfall gegeben.
Ich hob meine Augen wieder zu Sisenna, die zwar von all dem noch nichts wusste, wie Leone mir gerade, ganz meiner Befürchtung entsprechend, gesagt hatte, die aber offenbar schon etwas Schlimmes ahnte. So jedenfalls erklärte ich mir die Salve an - zumeist belanglosen - Fragen, die sie nun auf mich abschoss: Ihr Tun hatte etwas von einem letzten Aufbäumen an sich. Langsam streckte ich meine Hand zu ihr hin, so dass es nun bei ihr lag, sie zu erfassen. So behutsam wie möglich sagte ich:
"Sisenna, ich bleibe jetzt bei dir. Du warst jetzt lange hier allein in Rom mit all den Sklaven; vielleicht war das ein bisschen langweilig für dich und vielleicht hast du auch manchmal Angst gehabt. Wie ich sehe, haben aber alle gut auf dich aufgepasst und hätten dich sogar mit Waffen verteidigt. Jetzt bin ich aber hier und passe auf dich auf, deshalb kann dein Leibgardist sein Gladius auch wieder wegbringen. Solche Waffen sind gefährlich, deswegen tragen wir sie nicht im Haus."
Ich sah zu dem entsprechenden Sklaven und gab ihm ein Zeichen, sich zu entfernen und den Gladius wegzubringen. Dabei fiel mein Blick auf Maron, der in der Nähe der Tür stand. Seine Anwesenheit kam mir sehr gelegen, und ich winkte ihn zu uns heran. Zu Sisenna gewandt, sagte ich:
"Ich habe auch neue Sklaven mitgebracht, besonders Maron. Er kommt aus Thrakien, das ist weit weg von hier. Er ist sehr stark und passt auf dich auf und kann dir aus seiner Heimat schöne Lieder vorsingen."
Ich deutete auf Maron, der sich mittlerweile zu uns gesellt hatte. Eigentlich hatte ich ihn noch nie singen hören, und an dem Gesicht, das er bei meiner entsprechenden Bemerkung zu Sisenna machte, konnte ich ablesen, dass Singen offenbar auch nicht zu seinen Stärken gehörte. Ich musste schmunzeln: Das war jetzt ganz allein sein Problem! Dann wandte ich mich aber sofort wieder Sisenna zu:
"Deine bemalte Truhe sehe ich mir ganz bestimmt an! Und ich bekomme auch heraus, was es heute noch so zu essen gibt, ich habe nämlich Hunger. Vorher möchte ich aber noch etwas mit dir in den Hortus gehen. Auf meiner langen Reise habe ich den ganzen Tag in einer Sänfte gesessen; jetzt muss ich mich unbedingt etwas bewegen."
Ich richtete mich langsam wieder auf, schaute aber unverwandt Sisenna an.
"Zeig doch Maron schon einmal den Hortus; er kennt sich hier ja noch gar nicht aus! Ich komme dann gleich nach."
Denn ich wollte unbedingt noch ein paar Worte mit Leone wechseln. Mit den schlimmen Nachrichten aber wollte ich Sisenna im Hortus vertraut machen. Irgendeine Stimme in mir sagte, dass dort in der lebendigen Natur vielleicht der beste Ort sei, um Nachrichten von Tod und Verlassenheit zu überbringen.