Beiträge von Aureliana Siv

    Als die Römerin sie anfauchte, gesellte sich zu der ersten Augenbraue auch noch die zweite – allerdings nur kurz, dann sanken beide wieder herab in Ausgangsstellung. Siv hatte mit Prisca nicht viel zu tun gehabt, bevor diese aufgebrochen war auf ihre Reise, aber sie hatte von anderen gehört, dass sie Sklaven gegenüber… eher wenig Toleranz zeigte. Vor allem wenn sie frech wurden. Wie die Aurelia gerade mit ihr umsprang, schien das zu bestätigen, und Siv hatte keine Lust auf Ärger. Darüber hinaus meinte sie unter dem fauchenden Tonfall fast so etwas wie Unsicherheit herauszuhören – was sie angesichts der Bilder, auf die sie gerade einen Blick hatte erhaschen können, weniger verwunderte. Zumindest von dem, was Siv bisher in Rom mitbekommen hatte, war das nichts, worüber hier ausgiebig gesprochen wurde. "Ich, lustig machen? Nein", versicherte sie daher, bemüht, glaubwürdig zu klingen, aber da immer noch dieses vermaledeite Grinsen auf ihre Lippen wollte, misslang das ein wenig. "Ich bin nur… Germanisch ist leichter. Nach wie vor", fügte sie noch erklärend hinzu. Sie wollte nicht den Eindruck vermitteln, dass sie sich tatsächlich lustig machte, schlicht weil es nicht so war.


    Nachdem das Tablett abgestellt war, herrschte für einen winzigen Moment Schweigen, bis Siv mit ihrer Frage herausrückte. Und dann herrschte das Schweigen erneut. Für einen winzigen Moment. Gleich darauf ertönte Priscas Stimme wieder, nicht mehr fauchend, dafür schnippisch, und Siv lag eine ebenso schnippische Antwort auf der Zunge. Sie ließ nicht so mit sich reden. Um die Wahrheit zu sagen: sie war es nach wie vor nicht wirklich gewöhnt. Corvinus sprach nie so mit ihr. Selbst wenn er irgendwelche Anweisungen hatte, er schlug nicht diesen Du-bist-nur-Sklavin-Tonfall an, nicht ihr gegenüber. Und sie umgekehrt hörte auf ihn, zumeist jedenfalls. Wenn ihr etwas nicht passte, dann fing sie trotzdem keine Diskussion an, wenn andere dabei waren, sondern bemühte sich, sich angemessen zu verhalten – nicht weil es das war, was Sklaven zu tun hatten, sondern ihm zuliebe. Gleichzeitig rang Siv immer noch mit einem Grinsen, das nun zu einem Lachen zu werden drohte. Auch wenn der Germanin das nicht wirklich bewusst klar wurde, machte Prisca fast den Eindruck eines in die Enge getriebenen Tiers, das zuzuschnappen begann, nachdem kein Fluchtweg mehr möglich war.


    Das Grinsen gewann schließlich, sowohl gegen den Wunsch, etwas Schnippisches zu erwidern, als auch gegen Sivs Selbstbeherrschung. "Ich weiß schon, wie das geht. Aber das…" Sie deutete auf die Zeichnungen, "Das ist…" Sie griff nach der Schriftrolle, die Prisca ihr hinhielt, und öffnete sie. Unbewusst zog sie die Unterlippe zwischen die Zähne, während ihr Kopf sich wieder in eine leichte Schräglage begab. "Das ist…" murmelte sie erneut, immer noch ohne zu sagen, was es nun genau war. Stattdessen fragte sie sich, ob Corvinus so was vielleicht schon mal ausprobiert hatte, während ihr Kopf nun auf die andere Seite wanderte und sie gleichzeitig das Pergament gelegentlich etwas drehte.

    "Den Rest", wiederholte Siv murmelnd. Die Erfahrung hatte sie bereits gemacht, dass sie sich Verbesserungen leichter merken konnte, wenn sie es noch einmal laut aussprach. Dann grinste sie Nordwin an. "Das richtige Thema? Ja, das ist wichtig. Also, da gibt es-" Siv stockte, als ihr bewusst wurde, dass sie schon wieder ins Germanische fiel. "Also", setzte sie dann erneut an, "da sind die Schimpfwörter wie Bona Dea, oder die Götter, oder so. Aber das, weiß nicht, da sag ich unsere Götter. Bei Hel. Oder so." Sie grinste und ließ sich ebenfalls an der Wand nach unten sinken, bis sie neben ihm saß. "Aber weiß schon, hier, bei Römer, da ist besser zu sagen Pluto… Hades… Geh zum Hades… Damit sie verstehen. Mh, die Furien sind gut. Dich holen die Furien. Sollen holen." Siv wusste gar nicht mehr, von wem sie von den Furien gehört hatte, aber sie hatte Brix gefragt, was die Furien waren – wohlweislich ohne ihm zu sagen, dass das nicht bloß reine Neugier war, sondern noch einem anderen Zweck diente. Sie konnte nicht einfach anfangen zu fluchen, wenn sie selbst nicht wusste, was sie gerade sagte. Sie nickte auf seine Anweisung, dass sie die Briefe einfach beim Ianitor abgeben solle, und antwortete dann: "Griechisch? In der Villa Aurelia, da sind Sklaven, es gibt Sklaven, aus Griechenland. Ich mag es, also, andere Sprachen, das ist… mit Eindruck, ich meine, eindrucks… beeindruck… beeindruckt. Und ich mag nicht, wenn ich nicht verstehe, wenn andere reden. Also ich lerne. Hör zu, frag nach. Wie in Latein, am Anfang. Nur, geht viel langsamer, weil nicht alle reden Griechisch. Niki, unsere Köchin, kann Schimpfwörter. Und sagt sie auch." Bei den letzten Worten grinste Siv breit.

    "Ehm. Ja, war Germanisch." Siv grinste. "Nicht so wichtig", fügte sie dann aber noch an. War es auch nicht. Ihr Kommentar war spontan gewesen, weswegen sie auch ohne nachzudenken Germanisch gesprochen hatte, und spontane Reaktionen ließen sich schlecht im Nachhinein übersetzen. Die Germanin jedenfalls hatte die Erfahrung gemacht, dass sie dabei etwas verloren und das Gespräch eher ins Stocken brachten. Noch ein Grund, Latein endlich so vernünftig zu lernen, dass sie jederzeit aussprechen konnte, was sie dachte. Obwohl, es gab genug Gelegenheiten, da hatte sie die Tatsache, dass sie in solchen Fällen eher unbewusst ins Germanische wechselte, gerettet. Ein Römer konnte schlecht wütend auf eine Sklavin werden, wenn er nicht verstand, was sie gerade vor sich hin murmelte.


    Und schon wieder hoben sich ihre Augenbrauen leicht an. Sie, ein Edelstein? Jetzt hätte sie am liebsten doch gelacht. Cassim war vermutlich der einzige, der von ihr so dachte, und sie war sich unschlüssig darüber, ob sie ihm tatsächlich glauben sollte, dass er das ernst meinte. Nein, wohl eher nicht. Es war einfach zu übertrieben, um ernst gemeint zu sein. Aber sie verstand den Vergleich, der dahinter lag, und grinste schief bei seinen weiteren Worten. "Oh, Geduld, ja… Geduld ist nichts, was ich gut kann." Sie zog kurz die Nase kraus. Nicht, wenn es sie selbst betraf jedenfalls. Im Garten hatte sie alle Geduld der Welt – natürlich, wenn sie darauf wartete, dass eine Pflanze endlich austrieb, dann wuselte sie beinahe ständig herum, aber sie drängte die Pflanze nicht. Was sie ohnehin nicht konnte, aber es ging ja ums Prinzip. Sie hatte kein Problem damit, der Pflanze die Zeit zu lassen, die sie brauchte, sie war einfach nur gespannt und aufgeregt, bis es endlich so weit war. Aber wenn es um sie selbst ging, wie in diesem Fall, fiel es ihr schwer, sich die Zeit zu geben, die es brauchte, um eine Sprache wie Latein wirklich fließend zu beherrschen.


    Im nächsten Moment setzte sie sich kerzengerade auf. "Der Falke? Du hast einen Falken? Kann ich ihn sehen?" Tiere und Pflanzen hatten es ihr ohnehin angetan, wenn es dann noch welche waren, die selten waren oder die man – vor allem hier in Rom – selten zu Gesicht bekam, war sie Feuer und Flamme. Ihre Erwähnung, dass in Germanien jetzt wohl Schnee lag, schien ihn hingegen zu überraschen. "Ja, Schnee. Alles ist zu damit. Manchmal so hoch, dass Schnee in Stiefel geht, das ist dann, hm… eklig. Also, hm, nicht schön. Und deine Heimat ist noch weniger kalt wie hier?" Sicherlich hatte sie inzwischen davon gehört. Auch davon, dass es Länder gab, in denen es angeblich auch im Winter überhaupt nicht wirklich kalt werden sollte. Aber so wirklich vorstellen konnte sie sich das nicht. Als Cassim ihren Satz von zuvor jedoch wiederholte, waren die Gedanken daran erst mal fort. "Mh. Also… In meiner Heimat, es ist viel kälter." Da hatte sie sich selbst schon verbessert. Als sie es aber erneut aussprach, fiel ihr noch etwas auf. "In meiner Heimat… ist es… viel kälter? … Und… Das hier… ist nicht kalt. Hier ist nicht kalt. Nicht zu… nicht zu… nicht für…"

    Siv sagte auch nichts mehr dazu. Es war, wie sie gesagt hatte – sie wollte nicht vergessen. Was ihr das bringen würde, würde sie abwarten müssen, etwas anderes blieb ihr ohnehin nicht übrig. Und sie hatte keine Ahnung, was die Götter noch für sie geplant hatten, also war es wohl müßig, darüber nachzudenken.


    "Aber es ist einfacher", konterte sie dann mit einem schiefen Grinsen, sich wohl bewusst darüber, dass sie es ja eigentlich nicht einfacher haben, sondern Latein lernen wollte. Dann wurde ihr Grinsen plötzlich stetig breiter. "Schimpwörter? Oooh ja! Ein paar kann ich. Ich kann auch ein paar in Griechisch." Mittlerweile musste ihr Gesicht wohl den Eindruck vermitteln, als wollten ihre Mundwinkel unbedingt an ihren Ohrläppchen knabbern. Für Schimpfwörter war sie immer zu haben. "Cassim. Also, eigentlich Kleochares – aber der ist für Unterricht für die, die mehr können. Die Latein gut können, richtig gut. Und Cassim, er macht Unterricht für Rest." Endlich stieß Siv sich von der Wand ab, an der sie bis eben noch gelehnt hatte, und drehte sich, so dass sie Nordwin nun zugewandt war. Dann lehnte sie sich wieder an, diesmal mit einer Schulter. "Wirklich? Ich hab noch nie geschrieben, also, einen Brief. Das ist, das mach ich gern. Würde ich gern machen." Sie grinste. Die Aussicht, jemanden zu haben, dem sie Briefe schreiben konnte, freute sie wirklich – die ganzen Schreibübungen waren schön und gut, aber in ihren Augen doch irgendwie… nun ja, sinnlos. Sie machte die Übungen, und danach strich sie über das Wachs, und die ganze Mühe war umsonst gewesen. Wozu das also? Aber jemandem einen Brief schreiben, war etwas ganz anderes.

    Siv hörte sich schweigend an, was Nordwin zu sagen hatte. Sie konnte das nicht glauben, sie wollte es nicht glauben, dass es besser wäre, einfach alles zu vergessen, was sie zu dem gemacht hatte, was sie war. Sie holte tief Luft, ohne etwas zu sagen, zuckte nur leicht mit den Achseln. Es musste doch möglich sein, die Erinnerungen auf eine Art zu behalten, die ihr Kraft geben konnte, die schön war… ohne ihr dabei Leid zu bescheren. Dass sie verblassten, das merkte Siv ja jetzt schon, aber dennoch waren sie noch da – verblassen war nicht das gleiche wie vergessen. Oder verdrängen. "Ich weiß nicht", murmelte sie, und man konnte ihr anhören, dass sie definitiv nicht überzeugt war von seiner Sichtweise. "Ich… will nicht vergessen."


    Danach seufzte sie und musterte Nordwin. "Ja", maulte sie, der Tonfall halb gespielt, halb ernst. "Kein Germanisch. Klar. So viele Germanen gibt es hier nicht, mit denen ich Germanisch reden könnte… Und mit anderen, ich rede Latein. Immer." Noch ein Seufzen. "Ich lerne schreiben, aber ist noch nicht so gut. Ich möchte fragen, den Lehrer. Für mehr Unterricht. Ach, und das ist das Problem: keiner verbessert, wenn ich falsch sage. Weil sie alle verstehen." Jetzt zog Siv die Nase kraus. Das war von Anfang an so gewesen, kaum jemand hatte sie verbessert, wenn er verstanden hatte, was sie hatte sagen wollen – und so hatten sich einige fehlerhafte Gewohnheiten eingeschliffen, die ihr jetzt zu schaffen machten.

    "Wia haben gedoffn. Bei Saddunalien." Siv hätte das Gesicht verzogen, hätte der Bereich um ihre Nase herum nicht so geschmerzt. Ihre Aussprache wurde immer schlimmer, hatte sie das Gefühl. Das war auch der Grund, warum sie nichts weiter dazu sagte, dass die beiden zu den Flaviern mitkommen würden. Dass sie zu der Mitgift gehörten, wäre Siv vielleicht klar geworden, hätte sie tatsächlich nachgedacht, aber das tat sie nicht, und so nahm sie es einfach als Information hin. Möglicherweise traf sie sie dann häufiger, hatten die Aurelier doch mit den Flaviern mehr Kontakt als mit den Claudiern.


    Der Leibwächter dagegen hatte ein Talent dafür, Sivs Temperament zum Brodeln zu bringen. Immer wieder tat er irgendetwas, was sie dazu brachte, ebenso häufig zu ihm zu schielen, was sie eigentlich strikt vermeiden wollte, schon allein um zu zeigen, wer im Moment am längeren Hebel saß. Allerdings war das keiner von ihnen beiden, sondern die Römerin, was spätestens in dem Moment klar wurde, als die Claudia ihn ansah. Beide, der Leibwächter und Siv, hörten augenblicklich damit auf, sich gegenseitig mit diesen winzigen Gesten zu provozieren. Stattdessen tastete Siv, durch die Frage hiernach provoziert, erneut ihre Nase ab. "Nichd wiaglich", seufzte sie. Dann sah sie erfreut hoch. Wenn die Claudia sie vor Corvinus tatsächlich lobte, dann hatte es sich gelohnt, Brix zu bearbeiten. Allerdings rief ihr die Erwähnung ihres Herrn nur einen Augenblick später in Erinnerung, dass sie eigentlich – und ausdrücklich – nur diese Botschaft hatte abliefern sollen. Und anschließend gleich wieder zurückkommen sollte. Brix würde ohnehin sauer sein, wenn er ihre Nase sah, sie wollte sich nicht auch noch verspäten und dann wirklich Ärger kriegen. "Vielen Dang. Auch dafüa", sie deutete noch einmal auf die Münze. "Dann… ih will dih nichd, nichd… aufhaldn, länga. Und ih muss auch gehn." Sie lächelte Epicharis noch einmal zu, und als klar wurde, dass diese nichts einzuwenden hatte, verabschiedete sie sich – Epicharis bekam ein "Vale", der Leibwächter eine Grimasse, die eine herausgestreckte Zungenspitze mit einschloss, als Siv so stand, dass die Claudia das nicht würde sehen können. Dann machte sich die Germanin auf den Heimweg.

    Siv verdrehte die Augen, als Sofia einfach weitersprudelte, ohne auf ihren Kommentar auch nur im Mindesten einzugehen. Alexandros. Ja, sicher. Genau. "Er k a n n mit Frauen nichts anfangen", murmelte sie, wohlweislich auf Germanisch, und so leise, dass Sofia sie vermutlich überhaupt nicht hörte. Alexandros. Ausgerechnet. Sie schüttelte den Kopf und setzte sich auf die Bank, während sie die Fragen der Griechin ignorierte und, natürlich: Alexandros hereinspazierte. Siv schob ihm den Oliventopf ein bisschen entgegen, nachdem sie sich selbst ein paar herausgenommen hatte, dann nahm sie noch einen Keks, tunkte ihn in die Fischbrühe, platzierte etwas Käse oben drauf und vollendete das Kunstwerk mit einem Klecks Honig, bevor sie sich das Arrangement in den Mund schob. Die Reaktionen der anderen auf Sofias Verkündung, sie sei schwanger, ignorierte sie genauso wie Sofias weiteren Wortschwall und Nikis kurzen Ausbruch. Ursus schien überrascht gewesen zu sein, bei ihrem ersten Blick, aber er hatte nichts gesagt, und seitdem die Frage nach dem Vater aufgetaucht war, bemühte sie sich ohnehin, niemanden anzusehen. Corvinus selbst hatte ebenfalls kein Wort gesagt, und als sie ihn angesehen hatte, hatte sie auch nicht wirklich in seinem Gesicht lesen können, was er wohl denken mochte.


    Erst als Caelyn mit Fragen herausplatzte, sah Siv doch wieder hoch. Irgendwie fühlte sie sich unwohl in dieser Situation. Und sie hatte nicht vor, es dabei zu belassen und sich in Zukunft ständig unwohl zu fühlen, sobald sie in Gesellschaft war. Irgendwas musste sie tun, damit die Fragerei ein Ende hatte. Wenigstens die offensichtliche, dass die Bewohner der Villa sich auch weiterhin ihre Gedanken machen würden, war ja ohnehin klar. "Ich bin schwanger. Und Sofia", Siv gestikulierte mit einem Stück Käse, das diesmal einer Olive und Honig gekrönt war, in Richtung der Griechin, "traut Alexandros", jetzt schwenkte die Hand mit dem Essen zu ihm, "nicht zu, er wär der Vater." Ungerührt schob die Germanin sich den Käse samt Olive und Honig in den Mund, während das Gespräch wieder auf die Saturnalien kam. Was sie betraf, hatte sie ja schon gesagt, dass sie nicht wusste, was sie tun würde. Erneut huschte ihr Blick zu Corvinus. Es war ein römisches Fest, ihm bedeutete es etwas, und das war für sie der einzige Grund, es doch zu feiern – mit ihm. Aber sie hatte keine Ahnung, was er vorhatte, und so würde es vermutlich darauf hinauslaufen, dass es Tage wie andere auch werden würden, nur mit dem Unterschied, dass sie gar nichts zu tun hatte. "Was für ein Wettkampf?" fragte sie dann nach, als Louan davon anfing. Mantua. Mantua klang gut. Wegfahren klang gut. Sie fragte sich, ob die Geschwister unbedingt alleine sein wollten… und wenn ja, wen sie wohl fragen könnte, etwas mit ihr zu unternehmen.

    Als Siv die Keltin umarmte, verlor sich das Gefühl der Unbeholfenheit, das sie, fast ohne es zu merken, bis dahin gespürt hatte. Nicht zu wissen, was sie sagen, wie sie sich verhalten sollte, war ungewohnt für sie. Natürlich verhielt sich die Germanin bei weitem nicht immer richtig, aber das änderte nichts daran, dass sie selten Unsicherheit verspürte. Als Fhionn aber ihre Umarmung erwiderte, schien wenigstens etwas richtig zu sein. Ohne noch ein Wort zu sagen, ließ sie die Keltin schließlich los, lächelte nur noch einmal traurig, als diese ihren Dank erwiderte. Schweigend verschränkte sie die Arme und sah zu, wie Fhionn zu dem Wagen ging, der bereits fertig beladen war, und aufstieg, und schweigend beobachtete sie, wie er sich in Bewegung setzte und den Hof verließ. Als Fhionn sich noch einmal umdrehte und zurücksah, da spürte Siv den Impuls, hinterher zu rennen und den Wagen aufzuhalten, ihr all das zu sagen, was sie hätte sagen sollen und nie über die Lippen gebracht hatte, aber sie rührte sich nicht. Vielleicht wäre es richtig gewesen, vielleicht war es nie zu spät, um solche Dinge zu sagen. Aber sie tat es nicht – ob nun, weil sie zu feige war, oder ob das Gefühl zu stark war, dass es doch schlicht zu spät war dafür, war ihr selbst nicht so ganz klar. Aber es hinterließ einen bitteren Nachgeschmack, und als der Wagen aus ihrem Sichtfeld entschwand, blieb Siv dennoch stehen und rührte sich nicht.

    Sivs Augen weiteten sich etwas. Dass zu viel Arbeit dazu führen könnte, dass sie das Kind tatsächlich verlor, daran hatte sie bisher nicht wirklich gedacht. Es war nicht so, dass ihr die Gefahren nicht bewusst waren, aber sie hatte eher die Einstellung, dass ihr das schon nicht passieren würde. Zumindest nicht jetzt, wo man doch noch gar nichts sah. Aber es Corvinus laut aussprechen zu hören, erschreckte sie dann doch etwas, und sie nahm sich vor, ab jetzt wirklich vorsichtig zu sein. Egal wie langweilig ihr war. "Ist es", murmelte sie dementsprechend nur leise, ohne auch nur den Versuch zu starten, eine erneute Diskussion anzufangen. Dann schloss sie kurz die Augen und seufzte. "Ja. Das nervt. Also, die Übelkeit. Ich hoff das ist vorbei, bald. Meinst du, er kann was tun? Der Iatros?" Die Kräutermischung, die er ihr gegeben hatte, verwendete sie, jeden Morgen, nach seinen Anweisungen. Und es war auch etwas besser geworden, meinte sie jedenfalls. Immerhin beschränkten sich ihre Übelkeitsanfälle nun tatsächlich nur noch auf den Morgen, während sie gegen Mittag langsam nachließen. So kam sie wenigstens dann zum Essen, ohne Gefahr zu laufen, es gleich wieder loszuwerden.


    Sie bewegte sich kurz, um eine bequemere Lage für ihren Kopf zu finden, achtete aber darauf, nicht die Schulter zu bewegen, an der der seine lag. "Weil… da kein Fortschritt ist. Ich übe… also… mh, hab geübt, und da ist jetzt so lang nichts besser. Das ist…" Es nervt, aber das wollte sie nicht schon wieder sagen. Sie nickte, als er sie sagte sie solle aufpassen, auch wenn sie nicht ganz verstand warum. Dann fiel ihr auf, dass er das ja nicht sehen konnte, und murmelte leise ein "Ja", während sie ihre Wange wieder an seine Haare legte. Im nächsten Moment hob sie ihren Kopf schon wieder leicht an. "Du hast was?" Gespielte Empörung schwang in ihrer Stimme mit, und eine ihrer Hände glitt über seinen Oberkörper und begann ihn zu kitzeln, ehe ihr wieder einfiel, dass das bei ihm nicht wirklich brachte. "Schäm dich! Das ist nicht gut, gar nicht." Sie grinste breit bei diesen Worten, was ihrer Stimme auch anzuhören war. "Du hast Übung nicht mehr. Mehr reden… Mh, ich rede ja Latein. Nur, jeder versteht. Also, was ich sage. Und ich verstehe andere. Da ist nicht Problem. Aber, jeder versteht so gut, mich, dass… keiner verbessert."

    Siv grinste, als Cassims Antwort genauso ausfiel wie seine Begrüßung. Kosenamen wie Strahlende konnte sie nicht so ganz ernst nehmen, aber die ordnete sie in die Kategorie Cassim ist Parther ein. Er war zwar der einzige Parther, den sie kannte, aber sie ging trotzdem davon aus, dass Parther einfach… nun ja, so waren. "Ist das so? Vielleicht sollte ich dann was dafür verlangen, dass du mich siehst", scherzte Siv auf Germanisch. "Trotzdem. Danke." Sie setzte sich auf den Stuhl, den er ihr angeboten hatte, und seufzte dann auf seine Frage hin. "Alles", murmelte sie, ohne Cassim dabei anzusehen. Stattdessen schob sie mit der linken die Wachstafel ein Stück weg und drehte mit der rechten eine Strähne um die Finger, bevor sie sie hinter ihr Ohr strich. Allerdings wusste sie, dass diese Aussage – oder dieses Verhalten – Cassim nicht sonderlich helfen würden dabei, ihr zu helfen, und so sah sie schließlich doch hoch. "Es ist einfach… ich, da ist nichts… kein Fortschritt mehr. Verstehst du? Ich kann reden, auf Latein, und ist gut genug, um zu verstehen und dass andere mich verstehen. Aber das… da fehlt. Da… Ich will das können, richtig reden. Richtig gut. Ich mache Übungen, aber…" Sie zuckte die Achseln und schüttelte leicht den Kopf. "Es macht nicht Spaß, so. Wenn das nicht besser wird. Und ich weiß nicht, was tun. Was üben." Jetzt klang ihre Stimme ein klein wenig missmutig. Sie hatte verschiedene Dinge ausprobiert, verschiedene Dinge geübt, aber nichts schien augenblicklich zu helfen. "Ach ja. Und schreiben, das ist auch, auch nicht gut. Nicht so gut, wie ich will."


    Cassim unterdessen zog sich nach einer Entschuldigung seine Tunika aus, was Siv dazu veranlasste, eine Augenbraue leicht anzuheben – zu der sich die zweite gesellte, als sie sah, dass er darunter noch eine zweite trug, beide aus dicker Wolle. "Du trägst, das? Beide?" Natürlich konnte man es nicht unbedingt warm draußen nennen, man brauchte einen Umhang, wenn man unterwegs war, aber zwei wollene Tuniken… Sie grinste. "Oh. In meiner Heimat, es ist viel mehr kalt. Kälter, mein ich. Viel kälter. Das hier, das ist nicht kalt, nicht zu Germanien. Jetzt liegt Schnee…" Ein leicht wehmütiges Lächeln zupfte an ihren Mundwinkeln, als sie sich kurz in Erinnerungen verlor.

    Nachdem Siv, wann immer sich die Gelegenheit geboten hatte, doch irgendwelche Dinge erledigt hatte, die ihr zwar mehr Spaß machten, aber unter Corvinus’ Definition von zu anstrengend fielen, war es ihr nun hochoffiziell verboten. Brix hatte dafür gesorgt, dass jeder Bescheid wusste, was ihre neuen Aufgaben waren, mehr noch: dass jeder Bescheid wusste, was sie auf gar keinen Fall mehr tun durfte. Und das ließ ihr praktisch kein Schlupfloch mehr. Zwar heizte das die Gerüchteküche im Haus nur an, aber Siv wusste auch, dass sie Brix keine andere Wahl gelassen hatte. Und so erledigte sie nun nur noch das, was körperlich nicht anstrengend war – was die Möglichkeiten auf ein Minimum reduzierte. Und dazu führte, dass sie unausgelastet war. Ihr Leben lang hatte sie immer irgendetwas zu tun gehabt, wenn sie zu Hause nicht hatte helfen können, hatte sie andere Dinge gefunden, die sie tun konnte – sie war im Wald unterwegs gewesen, sie hatte sich um die Pferde gekümmert, sie hatte den Heilern und dem Schmied geholfen. Hier, in Rom, hatte es sich für sie ähnlich eingependelt. Sie kümmerte sich um den Garten und um Corvinus, das waren ihre Hauptaufgaben, und wenn sie damit fertig war, sah sie sich selbst um und erkundigte sie sich in der Regel bei Brix, was noch zu tun war. Für Corvinus war immer noch sie zuständig, aber der Garten fiel nun weg – sie gab die Anweisungen, aber sie durfte nichts tun. Ebenso fielen eine Menge Dinge im Haus weg. Siv hasste diesen Zustand. Es war nichts für sie. Sie langweilte sich, und ihr graute jetzt schon vor den nächsten Monaten, wenn sie sich nach nur ein paar Tagen schon so unausstehlich fühlte. So kam es, dass die Germanin häufig einfach nur im Haus herumlief, nach dem Rechten sah, den anderen hier und dort half, in der Hoffnung, etwas zu finden was sie wirklich tun konnte – was, ohne dass sie es beabsichtigt hätte oder ihr anfangs auch nur selbst auffiel, tatsächlich zu einer neuen Aufgabe führte. Mehr und mehr fand Siv sich in einer Position wieder, in der sie den Überblick behielt über das, was getan wurde und sich innerlich Listen machte von den Dingen, die noch erledigt werden mussten. Sie begann, bei der Organisation des Haushalts zu helfen – und sie stellte fest, dass ihr das sogar Spaß machte.


    Dennoch ließ ihr das immer noch zu viel Freizeit, und so sprang sie überall dort ein, wo Arbeit anstand, die nicht zu anstrengend war. Und so war sie es, die wenige Tage nach Priscas Rückkehr vor ihrem Cubiculum stand und anklopfte, in der einen Hand ein Tablett mit Wasser und Wein, die sie ihr bringen wollte, und auf den Lippen bereits die Frage, ob sie noch etwas brauchte, bevor sie sich schlafen legen wollte. Auf die Aufforderung hin öffnete sie die Tür und grüßte, während sie zu dem Tisch ging, an dem Prisca saß. Die war offenbar vertieft in eine Schriftrolle, und als Siv sich näherte, konnte sie einen Blick auf die Zeichnungen erhaschen. Unwillkürlich legte sie den Kopf leicht schräg, während ihre linke Augenbraue langsam nach oben rutschte. Für einen winzigen Augenblick formten ihre Lippen ein O, ohne jedoch dass der entsprechende Laut hervordrang, dann schloss sich ihr Mund wieder, als Prisca den Papyrus zusammenrollte und sie anfauchte. "Ich hab mich nicht angeschlichen, du warst vertieft in das Zeug da", murmelte sie halblaut auf Germanisch, während sie Mühe hatte, ihr Grinsen zu unterdrücken. "Ja", antwortete sie dann laut auf die Frage, ob sie Corvinus’ Leibsklavin sei. "Ich heiße Siv." Vorsichtig stellte sie das Tablett nun ab, fragte aber nicht nach, ob Prisca noch etwas brauchte. Stattdessen zögerte sie einen Moment, nur um dann auf die Schriftrolle zu deuten. Die Zeichnung war ebenso interessant wie eindeutig gewesen, und Siv war neugierig auf den Rest. Vielleicht fand sich ja das ein oder andere, das sie ausprobieren konnte… "Darf ich mal sehen?"

    Einen Moment herrschte auch nach ihrer Frage noch Schweigen, ein Schweigen, das in ihren Ohren zu dröhnen schien. Aber dann antwortete Niki, und gleich darauf schienen mehrere Dinge auf einmal zu geschehen. Siv drehte sich etwas vom Tisch weg und wollte den Topf holen, auf den die Köchin gedeutet hatte, als Ursus neben Corvinus trat. Das die Stimmung etwas seltsam war, fiel ihm natürlich auf, und noch während Corvinus auf eine entsprechende Nachfrage hin antwortete, passierten zwei Dinge: Caelyn trat ein und verpasste Sivs Überzeugung, dass Garum einfach perfekt zu den Keksen passen würde, einen Dämpfer, und gleichzeitig sprang Sofia hoch, sprudelte los und kam gleichzeitig auf Siv zu. "Äh." Bevor sie es verhindern, bevor sie überhaupt etwas sagen konnte, legte die Griechin ihr schon die Hand auf den Bauch, und Siv hob nur hilflos die Hände auf Schulterhöhe und ließ Sofia gewähren. Ihr Blick huschte zu Ursus und Caelyn, die es beide nun also auch wussten, und zuckte dann unwillkürlich zu Corvinus, als Sofia nach dem Vater fragte.


    Im nächsten Augenblick starrte sie wieder die Griechin, Ungläubigkeit im Blick. "Alexandros?!?" Entgeisterung schwang in ihrer Stimme mit. Wie kam Sofia auf die Idee, dass von allen männlichen Sklaven ausgerechnet Alexandros der Vater sein sollte? "Wie kommst du auf Alexandros?" Eigentlich musste sie ja dankbar sein für diese Vermutung, bot das doch die perfekte Ablenkung von der Frage nach dem Vater. "Egal. Ich will Garum. Auch egal, aus was das ist." Nun endlich schnappte sie sich besagten Topf und stellte ihn zu ihren anderen Sachen. Sie ignorierte die böse Karotte in Sofias Hand und holte einen der Kekse hervor, nur um ihn in die Fischbrühe zu tauchen und dann abzubeißen. Die Frage nach dem Vater hatte sie immer noch nicht beantwortet, auch auf die Vermutung mit den Flaviern war sie nicht eingegangen, aber wie bereits zuvor, in jenen Momenten, in denen sie noch gezögert hatte, Sofia ihre Schwangerschaft zu gestehen, vermied sie es, jemanden anzusehen. Sie hasste diese Situation. Das war einer der Gründe gewesen, warum sie noch nichts von dem Kind erzählt hatte. Aber wo es unvermeidlich war, dass ihre Schwangerschaft irgendwann bekannt werden würde, war es möglich, den Vater zu verheimlichen, zumindest jenen, die nicht viel mit ihr zu tun hatten. Und Siv war sich nicht so sicher, was sie wollte. Ein Teil von ihr wünschte sich, sie könnte es sagen, immerhin war ihre Verbindung zu Corvinus nichts, dessen sie sich schämte. Ein anderer Teil wollte es geheim halten, wegen dem Geschwätz, das mit Sicherheit beginnen würde. Es würde so schon genug geredet werden, sobald erst einmal ihre Schwangerschaft die Runde machte. Und dann war da noch der Vater selbst, was er darüber dachte, und Siv war sich recht sicher, dass Corvinus das nicht unbedingt breit treten wollte. Die Bewohner der Villa mochten vermuten, was sie wollten, aber es zu bestätigen war eine ganz andere Sache.

    Siv blickte Brix nur kurz hinterher, als er sich etwas zurückzog, um sie beide allein zu lassen. Dann wandte sie sich wieder Fhionn zu. Der Keltin schien es ähnlich zu gehen wie ihr, das meinte Siv in ihrem Blick lesen zu können, auch wenn es ihr schwer fiel, ihren Gesichtsausdruck zu interpretieren. Fhionn sah so ernst drein, und unwillkürlich regte sich in Siv das schlechte Gewissen noch stärker. Die Keltin sah nicht so aus, als ob sie sonderlich glücklich über ihre Anwesenheit war. Auf der anderen Seite würde sie selbst vermutlich auch nicht fröhlich sein, wenn sie mehr oder weniger verbannt wurde.


    Fhionns Worte dann überraschten Siv. Mit vielem hätte sie gerechnet, aber nicht damit – dass es so einige gab, die inzwischen vermuteten, was mit ihr los war, war ihr durchaus bewusst, aber dass Fhionn es ansprechen würde, jetzt, wo es doch eigentlich nur um sie gehen sollte… "Fhionn…" Sivs Lächeln wurde etwas stärker, auch wenn die Traurigkeit blieb. "Danke." Im Grunde bedankte Siv sich nicht für die Glückwünsche, sondern vielmehr für die Hilfe, die letztlich dazu geführt hatte, dass Fhionn nun gehen musste. Es fiel Siv schwer, zu trennen – sicherlich hätte Fhionn Matho nicht töten müssen. Sie selbst hätte niemals an so etwas gedacht, und sie hatte unter dem ehemaligen Maiordomus ebenso gelitten, gerade nach ihrem Fluchtversuch. Es war die Entscheidung der Keltin gewesen, diesen Schritt zu tun. Und dennoch konnte Siv das Schuldgefühl nicht wirklich loswerden. Aber wieder sagte sie nichts davon. Sie sagte nicht, welcher Sache ihr Dank wirklich galt. Sie sagte nicht, dass es ihr leid tat. Nie war ihr ein Moment richtig erschienen, um Fhionn diese Dinge zu sagen, und auch dieser schien es nicht zu sein, obwohl Siv wusste, dass es wohl der letztmögliche war, es jemals zu tun. Aber die Worte wollten einfach nicht hinaus.


    Nach einem weiteren Moment des Schweigens, in dem sie Fhionn einfach nur angesehen hatte, trat sie schließlich vor und umarmte die Keltin. "Danke", wiederholte sie wispernd. "Dir auch alles Gute, Fhionn."

    Siv musste grinsen, als sie Niki schimpfen hörte. Flüche, das war es, was sie am schnellsten in einer fremden Sprache lernte. Ihr Griechisch war inzwischen gar nicht mal so schlecht, auch wenn es sich sehr stark auf Umgangssprache beschränkte und einfache Wendungen – und so lange es so war, hielt sie das auch lieber geheim, vor Corvinus, beispielsweise. Aber auf Griechisch fluchen, dass Hafenarbeitern in Athen die Ohren schlackern würden, das konnte sie schon wunderbar. Und Niki hatte einen nicht geringen Anteil an diesem Können.


    Währenddessen schnitt die Germanin die Zwiebel auf, die sie nun von den äußeren Lagen befreit hatte, so dass dicke Halbringe entstanden. Der Honigtopf wurde geöffnet und etwas von dem zähflüssigen Inhalt mittels eines Löffels in eine kleine Schüssel verfrachtet, dann tunkte Siv eines der Zwiebelstücke in den Honig und schob es danach in den Mund. Im nächsten Augenblick fingen ihre Augen an zu leuchten, als Sofia Garum erwähnte. "Oh, Garum, das klingt gut, das ist…" Ihre Stimme erstarb, als Sofia weitersprach. "Also… das… hrm." Siv sah Sofia nicht an. Und auch Niki und Corvinus nicht. Sie log nicht, wenn sie jemand – wie Niki – darauf ansprach, aber bisher zumindest hatte sie es auch niemandem von sich aus erzählt, außer Corvinus. Sie wusste selbst, dass das nicht mehr lange so weiter gehen konnte, nicht bei den Leuten, die sie wirklich mochte, aber sie wusste auch nicht, wie sie es sagen sollte – übrigens, nur so nebenbei, ich bin schwanger? Und was sollte sie sagen, wenn Fragen nach dem Vater kamen? Im Grunde dürfte zumindest denen hier im Haus, die mehr mit ihr zu tun hatten, klar sein, wer der Vater war, aber vielleicht würde gerade das die Neugier anstacheln. Und sie wollte keine Fragen danach beantworten. Sie wollte keine Kommentare hören, keine Blicke sehen. Dass sie mehr oder weniger eine Sonderstellung bei ihrem Herrn hatte und noch dazu recht schnell zu dieser gekommen war, hatte lange genug für Gesprächsstoff gesorgt, zu lange, für Sivs Geschmack, und sie war froh gewesen, als die anderen irgendwann die Lust verloren hatten. Nachdem sie nach ihrer Flucht in Ungnade gefallen war, war der Tratsch mit einer deutlich gehässigen Note wieder aufgeflammt, und erst recht, als offensichtlich wurde, dass Corvinus ihr verziehen hatte – und sie dann sogar zu seiner Leibsklavin machte, trotz dem, was sie getan hatte. Nein, sie hatte nicht die geringste Lust auf das Geschwätz. Aber sie wusste auch, dass sie es nicht würde vermeiden können. Und mit denen, mit denen sie sich verstand, würde sie es sich nur verderben, wenn sie zu lange wartete.


    Und trotzdem… zögerte sie. Schob es auf, Tag für Tag. Auch jetzt stand sie da, während ihre Finger mit den Zwiebelringen spielten, während ihre Zähne ihre Unterlippe malträtierten. Als Corvinus das Wort ergriff und das Thema wechselte, sah sie immer noch nicht hoch. "Weiß nicht", murmelte sie auf seine Frage hin. Sie war sich nicht so sicher, ob sie die Saturnalien feiern wollte. Sie bedeuteten ihr nicht wirklich etwas, waren sie doch ein römisches Fest, und große Feiern mit vielen Menschen mochte sie ohnehin nicht sonderlich – was das Forum ebenso ausschloss wie größere Zusammenkünfte von bekannten Sklaven in anderen Villen. Vielleicht entschloss sie sich kurzfristig noch, Brix und Trautwini zu begleiten, im Übrigen würde sie sich nach der aurelischen Feier wohl eher zurückziehen. Vielleicht nutzte sie auch die Gelegenheit, um dem Ort in jenem Pinienwäldchen einen Besuch abzustatten. Jul stand an. Die Jagd der Geister. Siv blinzelte und zwang sich, in der Realität zu bleiben. Es war so einfach, abzuschweifen. Auf den Themenwechsel einzugehen. Aber es war einfach nicht richtig, Sofia nun immer noch nichts zu sagen – es war eine Sache, nichts zu erzählen, und eine ganz andere, sie so im Unklaren zu lassen, wo jeder außer ihr im Raum Bescheid wusste. Ein tiefer Atemzug hob ihre Brust, dann hob sie endlich ihren Blick. Ein leises "Danke" ging gemeinsam mit einem Blick und einem angedeuteten Lächeln in Corvinus’ Richtung, und sie hoffte er verstand, was sie meinte – dass sie dankbar war, weil er hatte ablenken wollen, weil er sie damit in Schutz nahm, weil er es ihr überließ. "Ich b i n schwanger, Sofia", fuhr sie dann fort. Einen Augenblick lang sagte keiner etwas, und Siv, der das Schweigen beinahe sofort zu viel wurde, fragte gleich darauf in die Stille hinein, als ob nichts wäre: "Hast du Garum, Niki?"

    Der Raum war noch leer, was Siv aber nicht sonderlich irritierte. Vielleicht hatte Cassim noch zu tun, immerhin fand das hier mehr oder weniger in ihrer beider Freizeit statt. Sie zog die Tür hinter sich zu und platzierte Wachstafel und Schriftrollen auf einem der Tische, bevor sie zum Fenster ging und in den Garten hinaussah. Bis heute hatte sie keine Gelegenheit gefunden, einmal hinaus zu gehen und sich den flavischen Garten anzusehen. Sie war überzeugt davon, dass er nicht an den aurelischen heranreichen konnte, um den kümmerte ja immerhin sie sich, aber das musste er ja gar nicht, um trotzdem schön zu sein. Selbst jetzt, wo es Winter war, zog es sie nach draußen, auch wenn es dort nur nasskalt war und nicht eisigkalt, mit jeder Menge Schnee und Eiszapfen, die von den Dächern hingen. Etwas wie Sehnsucht regte sich in ihr, aber bevor sich diesbezüglich irgendein Gedanke manifestieren konnte, hörte sie das Geräusch der Tür, und sie drehte sich um und grinste vergnügt, als sie Cassim hineinspazieren sah. Sie mochte den Parther. Bisher hatten sie immer nur während der Unterrichtsstunden miteinander zu tun gehabt, und wirklich viel Zeit für private Plaudereien blieb da nicht, aber doch für den ein oder anderen Kommentar. Und Cassim schien immer die Zeit zu haben für ein Lächeln und ein Kompliment, und Siv, obwohl sie in vielen Dingen pragmatischer veranlagt war als viele Frauen, schmeichelte das, auch wenn es sie nicht dazu verleitete, albern zu kichern oder dergleichen. Immerhin, wem würde das nicht gefallen? Gerade weil sie das einzige Mädchen unter eine Horde von Brüdern gewesen war, gerade weil es fast nur Jungen waren, mit denen sie früher gespielt hatte, genoss sie es, von Cassim so zu behandelt zu werden – hatte sie doch eine derartige Behandlung allzu selten erfahren. Gleichzeitig führte das allerdings auch dazu, dass sie sich nicht wirklich Gedanken darüber machte, was er bezwecken mochte damit. Siv dachte schlicht, dass es seine Art wäre, immerhin ging er mit jeder Frau so um, so weit sie es mitbekommen hatte.


    So schmolz sie zwar nicht im wörtlichen Sinne auf sein strahlendes Lächeln hin dahin, aber sie erwiderte es arglos und beinahe ebenso strahlend, und sie freute sich nur noch mehr auf den Unterricht – gerade wenn Cassim gut gelaunt war, hatte er einfach eine Art, diesen angenehm zu gestalten. "Hallo, Cassim! Wie geht's?" Sie kam ihm entgegen, so dass sie sich an dem Tisch trafen, auf dem sie ihre Sachen abgeladen hatte, und zog sich einen Stuhl heran, setzte sich aber noch nicht. "Noch mal danke, dafür. Also, für das hier." Dass er einen Teil seiner Freizeit opferte, um sie zusätzlich zu unterrichten, dafür hatte er etwas gut bei ihr.

    Abgesehen von kurzen Seitenblicken zu den beiden Männern, die neben ihr standen, blieb Sivs Blick auf Corvinus und der anderen Sklavin hängen. Ihre Stirn runzelte sich, je länger die Frau Corvinus ansah, aber der schien, jedenfalls in ihren Augen, kein gesteigertes Interesse zu haben als normalerweise, wenn er Sklaven kaufte. Auf der anderen Seite, fiel ihr ein, würde er das vor dem Händler kaum zeigen, wenn es so wäre… Sie presste die Zähne aufeinander und blitzte Trautwini wütend an. "Oh, das kann er mal schön vergessen", fauchte sie, dabei offen lassend, was Corvinus ihrer Meinung nach nun genau vergessen könne – von ihnen beiden massiert oder überhaupt von einer anderen als ihr massiert zu werden. Oder von ihr, vorausgesetzt, er kaufte diese Sklavin wirklich für solche Dinge. Siv zog die Unterlippe zwischen die Zähne und kaute darauf herum. Sie war schwanger. Sie würde in den nächsten Wochen und Monaten immer unförmiger werden. Eigentlich war das nichts, was sie wirklich störte, aber wusste sie schon, was Corvinus darüber dachte? Vielleicht war es ja kein Zufall, dass die andere Sklavin blond war. Und sie schien mehr zu können als sie. Siv entließ ihre Unterlippe wieder in die Freiheit und erhöhte stattdessen den Druck auf ihre Kiefer. Das war Unsinn, sie wusste, was Corvinus für sie empfand, er würde doch nicht einfach losgehen und Ersatz für sie kaufen, das tat er nicht… In der Villa gab es genügend Sklavinnen, die gut massieren konnten, und prinzipiell hatte Siv eigentlich kein Problem damit, wenn Corvinus mal eine von ihnen rief, einfach weil sie wusste, dass er sich nicht für sie interessierte, dass sie ihm nicht das bedeuteten, was sie ihm bedeutete, dass sie für ihn Sklavinnen waren, nicht mehr. Aber diese hier war neu, wer wusste schon, welches Interesse sie in Corvinus weckte, und auch wenn Siv sich einzureden versuchte, dass das nicht der Fall sein würde: sie war schlecht gelaunt, sie war schwanger, und das ließ sie weit irrationaler sein als normalerweise.

    Ihre Verkündung, dass sie Hunger hatte, schien die beiden Germanen dagegen überhaupt nicht zu interessieren. Und eigentlich hatte sie auch nicht wirklich Hunger – obwohl sie, wenn ihr nicht gerade schlecht war, irgendwie ständig essen könnte. Nein, es war mehr ein Ablenkungsmanöver gewesen, sie hatte einfach die Nase voll, sie wollte fort von hier, und als beim ersten Mal keiner reagiert hatte, hatte Trotz sie veranlasst, dennoch darauf zu bestehen. Gerade überlegte sie, ob sie ein drittes Mal kundtun sollte, dass sie etwas essen wollte – bei den Göttern, Corvinus bestand sogar darauf, dass sie nichts tragen sollte, weil sie schwanger war, konnte er da nicht darauf achten, dass sie regelmäßig was zu essen bekam? Sie waren immerhin schon den halben Vormittag unterwegs –, da fragte Corvinus, ob sie – die Sklavin, Charis – massieren könne. Und Sivs Finger krampften sich um den Beutel mit Münzen, der das einzige war, was sie tragen durfte, hatte sie sich doch um die Bezahlung der Händler zu kümmern, wenn Corvinus fertig war. Am liebsten hätte sie ihm das doch recht schwere Ding an den Kopf geworfen, oder noch besser, die Schnur in der Hand behalten und den Beutel daran herumgeschleudert, damit sie ihn ihm mehrmals um die Ohren schlagen konnte. "Massieren", knurrte sie leise. "Wart’s nur ab." Unbewusst machte sie mit der Hand, in der der nun leise klimpernde Beutel ruhte, eine leichte auf und ab Bewegung, als würde sie abwägen wollen, mit welcher Wucht sie ihn werfen musste, damit er mit größtmöglicher Wirkung traf.

    Siv war aufgeregt. War sie nicht. War sie irgendwie doch. Nicht wirklich aufgeregt, immerhin würde sie nichts neues, nichts ungewohntes, nichts außergewöhnliches erleben, nein, es war nur… Unterricht. Bei den Flaviern. Wie die letzten Wochen schon. Aber irgendetwas wie Aufregung war doch da, freudige Aufregung, einfach weil sie doch einige Hoffnungen in das Treffen jetzt setzte. Ihre Fortschritte, Latein betreffend, ließen zu wünschen übrig in den letzten Wochen, um genau zu sein, sie waren praktisch nicht mehr vorhanden. Schreiben und Lesen, das ging vorwärts, aber Reden? Sie konnte die Sprache der Römer inzwischen gut genug, um sich jederzeit und in fast allen Lagen verständlich zu machen, aber sie konnte sie nicht gut genug, nicht für ihren Geschmack. Sie machte noch viel zu viele Fehler. Aber die bekam sie einfach nicht raus, egal was sie tat, und sie hatte die Lust verloren zu lernen – was logischerweise nicht dazu führte, dass sich etwas an ihrer Situation änderte. Allerdings nagte es an ihr, dass sie nicht weiterkam. Und so hatte sie beschlossen, Cassim zu fragen, oder eher: zu bitten, ob er ihr nicht Unterricht geben könnte. Zusätzlich zu dem normalen Unterricht, und zwar nur ihr. Wenn ihr die Lust am Lernen abhanden kam, dann musste sie eben dafür sorgen, dass sie wieder Spaß daran hatte, und sie hatte definitiv den nötigen Ehrgeiz – der sich in der letzten Zeit noch einmal drastisch verstärkt hatte. Sie wollte Latein endlich fehlerfrei sprechen können.


    Mit den besten Voraussetzungen kam Siv mit ihren Sachen also an diesem Nachmittag in die Villa Flavia, um sich mit Cassim zu treffen. Der Nachmittag als Zeitpunkt war absichtlich von ihr so gewählt worden – je weiter der Tag fortschritt, desto geringer war die Wahrscheinlichkeit, dass ihr schlecht wurde. Dafür stieg zwar die Wahrscheinlichkeit, dass sie irgendetwas Seltsames essen wollte, an, aber das konnte sie eher unterdrücken. Und es fehlte ihr gerade, dass Gerüchte über eine mögliche Schwangerschaft ihrerseits in der Villa Flavia die Runde machten, wenn es noch nicht einmal bei den Aureliern wirklich bekannt war. Was auch wieder eines der Dinge war, die sie angehen wollte. Es gab doch einige in der Villa, denen sie es sagen wollte – nicht warten, bis sie es sahen. Allerdings war das nichts, worüber sie sich im Augenblick Gedanken machte, vielmehr war sie schon gespannt darauf, was sie erwarten würde. Nachdem Cassim zugestimmt und sie den Zeitpunkt für das erste Treffen ausgemacht hatte, hatte sie nicht weiter nachgefragt, was dazu führte, dass sie keine Ahnung hatte, was – ob – er etwas geplant hatte. Schwungvoll öffnete sie die Tür, die zu dem Gemeinschaftsraum der flavischen Sklaven führte, in dem der Unterricht immer stattfand.

    Siv fiel es schwer, in seinem Gesicht zu lesen. Sie meinte in dem fahlen Licht zu sehen, wie auch sein Mund sich zu einem Lächeln verzog, aber sie konnte nicht erkennen, ob es auch seine Augen erreichte. Wenn sie an die gedrückte Stimmung dachte, die ihn noch kurz zuvor im Griff gehabt hatte, vermutete sie eher nicht, und das folgende Seufzen schien ihr Recht zu geben. Ihr Lächeln wurde etwas traurig, als sie seinen Kopf nun an ihrer Schulter spürte, und sie drehte den ihren ebenfalls, bis ihre Wange an seinem Haar lag und ihre Lippen an seiner Stirn, die sie kurz küsste. Einmal mehr wünschte sie sich, sie könnte seine Gedanken lesen, könnte sehen, was ihn wirklich so umtrieb. Wünschte sich, sie könnte ihm helfen. Aber vielleicht standen da auch einfach die Unterschiede zwischen ihnen, die unbestreitbar da waren – nicht die Tatsache, dass sie Sklavin war, sondern dass sie aus Germanien stammte. Sie wusste inzwischen, was ihm wichtig war, was in Rom wichtig war, aber das hieß nicht, dass sie es auch wirklich verstand. Auch in ihrer Heimat hatte es gewisse Standesunterschiede gegeben, hatte es Anforderungen gegeben an die jungen Menschen, aber nicht derart extrem wie hier. Bei weitem nicht.


    "Ich habe schon, was von Arzt. Er hat gemischt, etwas, als er hier war. Aber hilft nur bisschen." Sie zog eine leichte Grimasse, als Corvinus erneut davon sprach, warum er nicht wollte, dass sie schwere Arbeit verrichtete. "Ich weiß", seufzte sie. "Nur… das ist… langweilig, weißt du? Betten, und Wäsche, und Aufräumen… Aber ich weiß. Ich weiß, das ist besser." Sie gab es nur ungern zu, aber sie war zu gerührt davon, dass er sich solche Sorgen machte. Im nächsten Augenblick stockte sie. "Mh", brummte sie, etwas verlegen nun. Ihr Latein wurde in letzter nicht wirklich besser, das wusste sie. Irgendwie… stockten ihre Fortschritte, und das schon seit ein paar Wochen. "Jaaa…", antwortete sie dann gedehnt. "Ich übe schon. Nur… Es ist… so schwer, gerade, egal wie ich lerne, und da… na ja." Die Wahrheit war, dass ihr ein wenig die Lust vergangen war, seit die Fortschritte sich eingestellt hatten. "Ich übe nicht genug. Denke ich. Weiß ich. Es macht nicht Spaß, mehr. Im Moment", gestand sie dann doch. "Ich will fragen, den Lehrer, bei den Flaviern. Vielleicht gibt er Unterricht, zusätzlich, ich meine allein. Vielleicht ist das besser."