Beiträge von Aureliana Siv

    "Öhm." Sivs Griff um die Dinge in ihren Händen verstärkte sich etwas, fast als fürchtete sie, man könnte sie ihr wegnehmen. "Ich hab Hunger", verteidigte sie sich dann, zu Niki gewandt. Nebenbei grübelte sie, woher die Köchin wissen wollte, ob sie einen Jungen bekam, aber bevor sie nachhaken konnte, ergriff nun auch Corvinus das Wort. Als ob sein Blick nicht schon genug gesagt hätte. Einen Augenblick schien Siv zu schrumpfen unter der Wucht des geballten Angriffs gegen ihre Essgelüste, aber dann straffte sie die Schultern. "Ja, zusammen. Das ist lecker", antwortete sie im Brustton der Überzeugung. "Ihr habt doch nicht Ahnung, nicht ein bisschen!" Oh nein, sie hatten mit Sicherheit keine Ahnung. Sie war ja immerhin die einzige Schwangere hier im Raum. Unschlagbares Argument, wie sie fand.


    Die Germanin ging hinüber zu Sofia, änderte aber kurzentschlossen ihren Kurs, als sie die Karotten sah. Das bisschen Blut darauf war kein Problem, nur die Karotten… fand sie gerade eher Übelkeit erregend. Etwas weiter von den bösen Karotten entfernt also stellte sie ihre Schätze ab und angelte nach einem Messer, um die Zwiebel aufzuschneiden, während sie sich leicht an den Tisch lehnte. Das Schälen und Schneiden unterbrach sie gelegentlich, wenn sie mit Zwiebel und Messer gestikulierte. "Mir ist nicht übel, weil ich so esse. Sonst kommt Übelkeit gleich. Ich meine, gleich nach Essen. Oder nicht?"

    Das Rumoren in der Speisekammer kam von Siv. Sie rumorte. Und rumorte. Auf der verzweifelten Suche nach etwas Essbarem. Sie hatte Hunger, das heißt, nein, sie hatte Appetit – ihr Problem war, dass sie nicht so genau wusste worauf. Sie ignorierte die Geräusche aus der Küche, Sofia, die vor sich hinplapperte, und Niki, die gelegentlich misstrauisch in die Speisekammer äugte, sie aber gewähren ließ. Die Köchin wusste inzwischen, dass Siv schwanger war, nicht weil die Germanin es ihr erzählt hatte, sondern weil sie sie darauf angesprochen hatte, nachdem sich zu der andauernden Übelkeit seltsame Essgelüste gesellten, die gerade der Köchin nicht verborgen blieben. Siv ignorierte also die Geräusche genauso wie die Blicke. Stattdessen fielen ihr die Oliven ins Auge. Oliven. Das war gut! Noch dazu aus eigenem Anbau, die hatten sie in Massen, die durften die Sklaven auch essen. Wäre was anderes gewesen, wenn es irgendein aus irgendeinem fernen Land importiertes Zeugs wäre, oder Obst, das zu dieser Jahreszeit teuer war, weil schwer zu bekommen… Allerdings waren Oliven nicht alles, nein, da fehlte noch was… Draußen ertönte ein leiser Schmerzensschrei, der ebenso ignoriert wurde wie alles andere zuvor und ebenso wie das, was danach kam. Siv stöberte weiter, griff sich eine Zwiebel und etwas Käse und stieß dann auf eine Dose mit Keksen. Wunderbar. Dazu noch der Honigtopf. Perfekt.


    Mit diesen Dingen beladen wandte Siv sich um und trat wieder in die Küche zurück. Und klappte den Mund auf, als sie sah, wer da im Türrahmen stand. "Äh."

    Corvinus reagierte kaum auf ihre Worte, sagte nur einen Satz – und sowohl die Worte als auch der Tonfall machten klar, dass er ihr nicht glaubte. Siv presste für einen winzigen Augenblick die Lippen zusammen, und ihre Lider senkten sich und blieben kurz geschlossen, bevor sie ihn wieder ansah. Sie wollte ihm helfen, wollte ihn überzeugen, dass es nicht seine Schuld war, auch wenn es ihm so erscheinen mochte, aber sie wusste nicht wie, außer dass sie einfach für ihn da war. Und so schwieg sie und musterte ihn weiterhin, legte nur erneut ihre Hand an seine Wange und strich darüber, bevor sie sie ein weiteres Mal sinken ließ. Dieses Mal blieb sie jedoch so ruhen, dass ihre Finger noch seine Brust berührten.


    Auch Corvinus sagte nichts mehr, aber Siv spürte, wie seine Hand sich bewegte, sich einen Weg unter ihre Tunika suchte und schließlich auf ihrem Bauch zu ruhen kam. Eine Weile lagen sie schweigend so da, und Siv genoss die Berührung, genoss es, dass er auf diese Art Kontakt suchte. Seine Stimmung schien sich etwas zu verändern, sie spürte es, wie ein sachter Windhauch, der die Atmosphäre etwas auflockerte. Ein Lächeln hob ihre Mundwinkel ein, als sie seine Frage hörte. "Gut." In diesem Moment ging es ihr gut, eindeutig. All die lästigen Begleiterscheinungen der Schwangerschaft spielten gerade keine Rolle. Vergessen waren sie allerdings bei weitem nicht. "Da ist, na ja, da ist Übelkeit. Am Vormittag, vor allem. Aber das ist normal. Mh. Da ist mehr, was nervt. Und ich bin, will mehr tun. Aber…" Den Satz vollendete sie nicht, stattdessen zuckte sie nur andeutungsweise mit den Achseln. Corvinus war deutlich gewesen, was sie und schwere Arbeit betraf, oder besser, was er unter schwerer Arbeit verstand, ebenso wie sie deutlich gemacht hatte, was sie davon hielt – und er hatte, wie so häufig, die Oberhand behalten, oder eher: hatte ihre Argumente ab einem bestimmten Zeitpunkt einfach ignoriert. Sie zog kurz die Nase kraus bei dem Gedanken daran und lächelte anschließend wieder, nur leicht, aber doch sichtbar. "Sonst geht es gut."

    Siv konnte nicht anders als grinsen, als sie Trautwini hörte, aber bevor sie noch einen Kommentar hinterher schieben konnte, tat Brix das schon – wenn auch etwas anders formuliert, als sie es getan hätte. Am doch recht beleidigten Gesichtsausdrucks des Leibwächters konnte sie allerdings erkennen, dass es gut war, dass Brix ihr zuvor gekommen war. Wenn er da schon eingeschnappt war, dann hätte er ihr vermutlich die Leviten gelesen, wäre sie dazu gekommen das loszuwerden, was ihr auf den Lippen gelegen hatte. Zu viele Jahre mit zu vielen großen Brüdern hatten ihre Zunge scharf werden lassen, und gerade in Momenten wie diesen konnte ihr das leicht zum Verhängnis werden. Wiederum hätte sie allerdings vehement abgestritten, dass sie auch nur ansatzweise auf Krawall gebürstet war und eine kleine Streiterei mit Trautwini ihr eigentlich gerade recht gekommen wäre. Sie wippte leicht mit den Zehen, zog sie an, stellte sich im nächsten Moment auf die Ballen und sank gleich darauf wieder runter.


    Gleich darauf traf Brix ein strafender Blick, und das Grinsen, das sie sah, machte es nicht besser. "Eifersüchtig?" Gerechte Empörung färbte den Klang ihrer Stimme. "Ich? Wie kommst du darauf?" Siv brummte etwas in ihren nicht vorhandenen Bart, das verdächtig nach Sooo gut sieht sie nun auch wieder nicht aus klang, und wandte ihren Blick wieder der Sklavin und Corvinus zu, der gerade begann, sich mit dem Händler zu unterhalten. Gleich darauf streifte Brix jedoch ein erneuter Seitenblick. "Ich bin nicht eifersüchtig", murmelte sie noch einmal, während ihr in genau dem Moment, in dem sie die erneute Bekräftigung aussprach, klar wurde, dass es wohl doch so war. Und dass Brix das nun auch klar sein musste. Siv rollte die Augen und seufzte. Sie hatten nicht mehr wirklich darüber gesprochen, das hieß, eigentlich hatten sie noch nie wirklich darüber gesprochen, dennoch war spätestens seit dem Zwischenfall in der Küche vor einiger Zeit, als die Flavia das erste Mal zu Besuch da gewesen war, klar, dass Brix wusste, was zwischen ihr und Corvinus vorging. Oder eher, er wusste, was in ihr vorging. Inwiefern der Maiordomus Corvinus’ Seite kannte oder etwas davon ahnte, wusste Siv nicht. "Ich bin… vielleicht… nein. Was will er denn mit ihr?" Sie hatte keinen Grund eifersüchtig zu sein, das wusste sie auch, und das nervte sie fast noch mehr – dass sie es dennoch war, nicht dass sie keinen Grund hatte, verstand sich. "Und Hunger hab ich trotzdem", fügte sie noch hinzu. Und hätte sich am liebsten verflucht für den mauligen Unterton, der in ihrer Stimme lag, anstatt des kühlen, etwas hochnäsigen, der deutlich klar machen sollte, wie sehr sie über solchen Kindereien wie Eifersucht stand, den sie eigentlich hatte hinein legen wollen.

    Dass Fhionns Abreise irgendwann bevorstand, war klar gewesen. Jeder hatte gewusst, dass es so kommen würde, seit jenem Abend, an dem Corvinus sein Urteil gefällt hatte. Es war in den letzten Wochen noch aufgeschoben worden, warum, wusste Siv nicht so recht – sie hatte auch nicht nachgefragt, hatte sie doch genug mit sich selbst zu kämpfen gehabt, mit ihrer Situation. Und dann, als Corvinus und sie sich endlich versöhnt hatten, da hatte sie nichts zur Sprache bringen wollen, was wieder an die alten Querelen erinnerte. Sein Urteil stand ohnehin fest, und dass Fhionn in irgendeiner Form eine Strafe verdient hatte, das war auch Sivs Meinung. Nur den Tod, den hatte sie nicht verdient gehabt.


    Brix hatte ihr Bescheid gesagt, gestern, nachdem er bei Fhionn gewesen war und sie von der Abreise informiert hatte. Der Maiordomus wusste, dass Fhionn und Siv etwas verband, seit jenen Vorfällen mit Matho. Siv hätte es ihm übel genommen, hätte er ihr keine Gelegenheit gegeben, sich noch einmal zu verabschieden. Leise schlich sich die Germanin also vor Sonnenaufgang hinaus, nachdem sie Corvinus geweckt hatte, und sah im Hof bereits einen Wagen, einige Kisten, einen Mann – und auch Fhionn. Langsam näherte sie sich der Keltin. Es gäbe so viel, was sie noch sagen könnte, was sie nie gesagt hatte. Dass ihr dankbar war, für ihre Hilfe und Unterstützung, in Germanien und auf der Rückreise. Dass es ihr leid tat. Dass sie sich zu einem Teil mitschuldig fühlte, weil sie nie etwas gesagt hatte, und weil es nie so weit gekommen wäre, hätte Fhionn ihr nicht geholfen. Sie sagte nichts davon. Es war zu spät dafür, das war ihr klar.


    Ein "Hey", war alles, was vorerst über ihre Lippen kam, die sich anschließend kurz zu einem vagen, traurigen Lächeln verzogen. Sie wusste nicht, was sie sonst hätte sagen sollen.

    Gemeinsam mit den beiden anderen Germanen folgte Siv Corvinus über die Märkte. Seit dem Morgen waren sie nun schon unterwegs – das allein machte ihr nicht viel aus, wenn da nur nicht diese vermaledeite Übelkeit wäre. Bisher war es ihr gelungen, sämtliche wie auch immer gearteten Unfälle zu vermeiden, aber die Gerüche, die ihr hier um die Nase wehten, waren zu stark, zu vielfältig. Während sie versuchte, unauffällig durch den Mund zu atmen, bezahlte sie die Händlerin, von der Corvinus gerade eben einen Gürtel erstanden hatte, und sah zu, wie Trautwini das nächste Päckchen aufgetürmt bekam. "Ich würde ja was tragen." Siv schnitt eine Grimasse. Das würde sie wirklich. Genauso wie sie im Haus mehr machen würde. Wenn es nach ihr ginge. Sie war schwanger, nicht krank, aber irgendwie schienen das weder Corvinus noch Brix zu verstehen. Es war ja auch nicht so, dass sie vorhatte, schwere Weinkrüge in den Keller zu hieven oder im Garten ein komplettes Beet umzugraben, das nicht, aber sie wollte wenigstens etwas tun, was sie körperlich ein bisschen anstrengte. Sie fühlte sich unausgelastet, und kombiniert mit der Übelkeit ließ sie das manchmal etwas unleidlich werden. Die Germanin weigerte sich strikt zuzugeben, dass ihre gelegentlichen Launen möglicherweise auch an der Schwangerschaft selbst liegen könnten. Sie brauchte mehr zu tun und weniger von dieser Übelkeit, das war alles.


    "Wenn ihn jemand angreift, kannst du den Kerl ja erst mal mit Päckchen bewerfen. Beeindruckt sicher jeden Angreifer", spottete sie, während sie alle drei Corvinus hinterhergingen, der nun den Sklavenmarkt ansteuerte. Mit gemischten Gefühlen betrachtete Siv die Händler und Stände. Sie konnte diesen Teil der Märkte noch viel weniger leiden als den Rest. Inzwischen war sie weitestgehend in der Lage, sich unbeeindruckt durch Menschenmengen zu schlängeln, ohne Luftnot zu bekommen oder die Orientierung zu verlieren – trotzdem mochte sie zu viele Menschen um sich herum nicht. Was sie allerdings mochte, war, über die Märkte zu schlendern. Sie fragte sich, ob sie sich jemals an diese Vielfalt würde gewöhnen können, die hier geboten war, all die Dinge, die zu sehen waren… und zu riechen. Leider, hieß das, jedenfalls im Moment. Sie näherten sich Corvinus, der ihnen ein wenig voraus gewesen war, und als Siv sah, wo er stehen geblieben war, wurden ihre Gefühle gleich noch etwas gemischter. Sie zog ihre Nase kraus und verschränkte die Arme, während sie die Sklavin kritisch musterte. "Meinst du?" Vielleicht als Ersatz für Fhionn, überlegte sie, aber das sagte sie nicht laut. Fhionn und vor allem der Grund, aus dem sie gehen musste, war kein Thema, über die Sklaven gern sprachen. Und die Römer vermutlich ebenso. Sie musterte weiter Corvinus und die Sklavin. Er mochte blonde, helle Frauen, das war kein Geheimnis. Und sie wusste nicht, ob ihr gefiel, dass er eine neue kaufen wollte. Wenn er sie denn kaufte. "Mmh. Ich hab Hunger", murmelte sie plötzlich – weil sie tatsächlich hungrig wurde oder weil sie ablenken wollte, war ihr selbst nicht ganz klar.

    Jeder, der auf dem Flur stand, war in seine eigenen Gedanken versunken. Vielleicht hätte Brix zu Tilla gehen und sie trösten sollen, aber seine Rolle als Maiordomus war noch viel zu neu und das Geschehene auch für ihn ein zu großer Schock. Er dachte in diesem Moment nicht daran. Es wurde ihm erst klar, dass es ein Fehler gewesen war sie nicht weiter zu beachten, als sie erneut zur Tür huschte und sie einen Spalt breit öffnete – und Corvinus die Tür im nächsten Moment heftig aufriss. Brix zuckte zusammen und sah erschrocken zu seinem Herrn, während Siv weiterhin teilnahmslos an die Wand gelehnt da stand. Auch das war etwas, was dem Germanen in seiner neuen Position hätte auffallen müssen, und auch das entging ihm. Die Nacht war lang gewesen, zu viel war passiert. Tilla hingegen wurde von Corvinus zurückgestoßen und landete auf dem Boden, während die Tür sich wieder schloss. Trotz der erneuten Abweisung aber schien die kleinen Sklavin entschlossen zu sein, in dieses Zimmer zu gelangen. Sie rappelte sich auf, lief hin und wollte auf das Holz eintrommeln, aber diesmal reagierte Brix und hielt sie auf. "Nicht, Tilla. Lass es gut sein." Seine Stimme klang irgendwie brüchig und rau, hatte er das Gefühl, und ebenso hatte er das Gefühl, er müsse mehr sagen, aber ihm fiel beim besten Willen nicht ein, was. Ein hilfesuchender Blick traf Siv, aber die stand nach wie vor einfach nur da, das Gesicht unnatürlich blass, die Augen starr auf die gegenüberliegende Wand gerichtet, ohne sie jedoch wirklich zu sehen. Es schien, als ob sie überhaupt nicht mitbekam, was hier vor sich ging. Brix bekam das Gefühl, dass ihm das Ganze hier über den Kopf zu wachsen drohte, noch bevor sein erster Tag als Maiordomus überhaupt richtig begonnen hatte.


    Bevor ihm etwas einfallen wollte, war Tilla auch schon weinend davon gelaufen. Und der große Germane seufzte kaum hörbar. Wieder stellte er sich neben Siv, musterte sie kurz von der Seite und setzte an, etwas zu sagen – ließ es aber dann doch. Und Siv stand weiter da und starrte vor sich hin. Sie hatte tatsächlich nichts von dem mitbekommen, was vorgegangen war. Sie fühlte sich… seltsam losgelöst von sich selbst, als ob es gar nicht sie wäre, die dort stand und wartete. Seit sie zum ersten Mal allein gewesen war, nachdem sie Mathos Tod beobachtet hatte, fühlte sie sich taub und kalt. Davor war es… noch anders gewesen. Alles war so schnell passiert – der Mord, die Alarmierung von Corvinus, den sie geweckt hatte. Die erste Befragung, und wie sie versucht hatte auf ihn einzureden. Fhionns Leben zu retten. Dann die Nacht, die die Keltin und sie im Atrium verbracht hatten, die meiste Zeit schweigend, aber doch miteinander. Da hatte es zum ersten Mal angefangen, dass die Bilder vor ihren Augen tanzten. Aber sie hatten sich noch vertreiben lassen, war doch stets jemand da gewesen. Nur als sie dann allein gewesen war, da hatte sie sie nicht mehr vertreiben können. Da waren sie geblieben und hatten begonnen, diesen irren Reigen aufzuführen in ihrem Kopf. Zuerst noch war sie standhaft gewesen, hatte versucht, dem zu trotzen, irgendwie damit fertig zu werden, aber es war ihr nicht gelungen. Die Tränen versiegten, je apathischer sie wurde, und als sie von Corvinus befragt worden war, war sie schon nicht mehr wirklich in der Lage gewesen, mehr zu tun als einfach nur auf seine Fragen zu reagieren – die immerhin etwas Ablenkung boten. Doch seit sie erneut hier draußen stand und wartete, schien es für den Moment gänzlich mit ihrer Beherrschung vorbei zu sein. Nichts davon zeigte sich nach außen. Sie stand einfach nur da. Innerlich jedoch hatte der Reigen die Oberhand gewonnen, der ihren Geist davon trieb, irgendwohin, wo er nicht mehr so direkt diesem kreisenden, wirbelnden, tobenden Tanz ausgesetzt war, bestehend aus roten Bildern, aus Blut, das überall hinkroch, über ihre Füße, ihre Kleider, sich schlangengleich ihren Körper hinaufwand und sich einen Weg in ihren Mund, ihre Nase und ihre Ohren suchte, nur unterbrochen von einem gelegentlichen Aufblitzen eines länglichen Gegenstands, der sich hob und senkte.


    Als Fhionn die Tür öffnete und aus Corvinus’ Officium hinaustrat, merkte Siv auch davon nichts. Nur Brix sah auf und musterte die Keltin, wollte etwas sagen – und schwieg dann doch, als er den Ausdruck auf Fhionns Gesicht sah. Er vermochte nicht darin zu lesen, dennoch hielt es ihn ab, etwas zu sagen. Und die Keltin beachtete weder ihn noch Siv, sondern ging wortlos an ihnen vorbei und verschwand. "Was für ein Chaos", murmelte der Germane erschöpft, dann streifte ein erneuter Seitenblick die regungslose Siv. Wieder setzte er dazu an, etwas zu sagen, schüttelte gleich darauf jedoch den Kopf und ging hinüber zu der Tür, die Fhionn offen gelassen hatte. Auf der Schwelle blieb er stehen und klopfte leicht an. "Gibt es noch etwas, was ich tun kann, Dominus?"

    Siv bewegte ihren Körper etwas, so dass sie nicht mehr wirklich auf dem Rücken lag, sondern noch mehr ihm zugewandt war. Nun war er es, der ihrem Blick auswich, und sie konnte nicht wirklich sagen, was in ihm vorging – ob es dafür schlicht zu dunkel war oder er es nicht zu erkennen gab, konnte sie nicht sagen. Aber was hätte sie noch sagen sollen? Sie hätte lügen müssen, hätte sie behauptet es tue ihr leid. Und sie beide hätten das gewusst. Als Corvinus sie dann wieder ansah und weitersprach, schoben sich Sivs Augenbrauen um eine Winzigkeit näher aneinander heran, wodurch ihr Blick eine traurige Nuance bekam. Wieder gab es wenig, was sie hätte sagen können. Sie hätte sich darüber freuen sollen, aber das konnte sie nicht, genauso wenig, wie sie über Celerinas Tod traurig sein konnte. Sie fühlte sich seltsam, als ob sie zwischen zwei Stühlen stünde und sich nicht entscheiden könnte, welchen sie wählen sollte. Sie sollte sich freuen, dass Corvinus Abstand von einer Hochzeit nahm, und ein Teil von ihr tat das sicherlich auch, irgendwie. Aber es freute sie nicht, ihn so zu sehen. Diesen Klang in seiner Stimme zu hören. Zu hören, dass er offenbar glaubte, es laste ein Fluch auf ihm.


    Sie schwieg weiterhin, musterte ihn nur und wich seinem Blick nicht mehr aus. Eine Hand hob sich, und langsam strichen die Kuppen ihrer Finger über seine Wange, bevor sie sie wieder sinken ließ. Es traf sie, ihn so zu sehen, und so gern sie ihm geholfen hätte, es gab nichts, was sie tun konnte – außer einfach da zu sein. "Du machst nichts falsch", antwortete sie, und ihre Stimme, obwohl nach wie vor leise, klang überzeugt. Sie war überzeugt davon. "Du… versuchst bestes. Mehr kannst du nicht. Und Dinge passieren. Du kannst nicht alles, alles… bessern. Einfluss haben." Nachdenklich sah sie ihn an. "Es passiert viel, so viel. Und keiner hat Einfluss, nicht für alles. Das ist nichts deine Schuld, was passiert gewesen ist, mit Celerina. Oder Deandra. Und deine Familie… wird wieder besser, irgendwann. Ich glaube das." Das tat sie tatsächlich. Prisca würde nicht weit fortgehen, und sie würde sicherlich weiterhin Kontakt halten und oft zu Besuch kommen. Die drei anderen Frauen würden ihren Weg finden, schon allein, weil sie Unterstützung aus der Familie bekamen, und was die männlichen Aurelier betraf… Siv war bei weitem nicht involviert genug, um tatsächlich zu wissen, wie abgekühlt das Verhältnis war, aber auch hier glaubte sie, dass es sich wieder ändern würde, mit der Zeit. Alles änderte sich doch, irgendwie. "Sie vielleicht auch haben, schwere… Gedanken. Schwere Zeit. Es wird wieder anders." Nur wie es werden würde, das konnte keiner wissen. Sie seufzte lautlos, wusste sie doch, dass ihm mit diesen Worten wohl kaum geholfen war. Aber ihm zu versichern, dass alles gut werden würde, konnte sie auch nicht. "Du machst nichts falsch, jedenfalls", wiederholte sie stattdessen leise.

    Im vage schimmernden Mondlicht konnte Siv das Lächeln sehen, das kurz in seinem Gesicht aufblitzte, und als er anschließend wortlos ein Stück seiner Decke anhob, hoben sich auch ihre Mundwinkel ein Stück. Ebenso schweigend kam sie der Einladung nach und schlüpfte zu ihm unter die Decke, legte sich auf den Rücken, nah genug bei ihm, dass sich ihre Körper an mehreren Stellen berührten, aber nicht so nah, dass sie sich tatsächlich an ihn geschmiegt hätte. Ihr Kopf war ihm leicht zugewandt, musterte ihn in dem fahlen, nur unzureichenden Licht, sein Gesicht, das etwas über dem ihren schwebte, die Augen, die um so vieles dunkler schienen. Dass er ebenso wenig wie sie hatte schlafen können, war offensichtlich, und es schien, als hätte ihr Kommen ihn zumindest für den Moment dazu bewegt, auch nur den Versuch dahingehend aufzugeben. Auch als sie lag, herrschte Stille, und sie brach das Schweigen nicht, empfand sie es doch keineswegs als unangenehm. Es war nicht feindselig, nicht einmal unbeholfen oder peinlich, sondern einfach… gemeinsam.


    Es dauerte noch ein paar Augenblicke, bis Corvinus schließlich als erster das Wort ergriff. Sie wusste, von wem er sprach. Natürlich wusste sie es. Es gab nur eine Person, die er meinen konnte. Ihr Kopf wandte sich kurz ab, ihr Blick ging zur Decke streifte darüber, wanderte zum Fenster hin und sah durch den Spalt, den die Vorhänge frei ließen, nach draußen. Schließlich sah sie wieder zu ihm, zu dem Gesicht, das nach wie vor schräg oberhalb dem ihren schwebte, wandte ihm ihren Kopf zu, ein Stück mehr noch als zuvor. "Ich weiß", antwortete sie leise, während sie ihn aufmerksam musterte und zu ergründen versuchte, was in ihm vorging. Er wusste, musste wissen, wie sie letztlich darüber dachte. Ein Mensch war gestorben, das war nichts, was ihr gefallen sollte, aber wirklich traurig konnte sie über den Tod dieses speziellen Menschen auch nicht sein. Aber sie wusste auch, was das für ihn hieß. Eine neue Suche. Nach einer Frau, die geeignet war, sowohl was ihre Familie betraf als auch ihr Wesen. Nicht dass sie selbst Celerinas Wesen als sonderlich angenehm empfunden hätte, aber sie hatte auch gesehen, wie anders die Flavia sich gegenüber Gleichen verhielt, und damit war sie bei weitem kein Einzelfall. Und daran, dass er heiraten würde, heiraten musste, würde ihr Tod nichts ändern. Es würde die ganze Sache nur etwas aufschieben.

    Siv lag auf dem Rücken, regungslos, starrte an die Decke. Sie konnte nicht schlafen. Genauer gesagt hatte sie seit Tagen Probleme mit dem Schlafen. Seit dem Tag, als sie Corvinus ihre Schwangerschaft gebeichtet hatte. So viel war passiert, die Opfer, die sie dargebracht hatte, ihren Göttern genauso wie Iuno, der Besuch des Arztes, dann der Zusammenstoß mit Corvinus… Und wie er zurückgekommen war. Wie er sie im Stall aufgesucht hatte. Und wie er gegangen war. Wie er sie allein gelassen hatte. Nicht nur an jenem Nachmittag, sondern im Grunde seitdem. Er ging ihr aus dem Weg, sie kannte ihn gut genug, um das zu wissen. Er beeilte sich in der Früh und rief andere Sklaven zu Hilfe, damit sie nicht allein waren, und abgesehen von der morgendlichen Routine, die er kaum durchbrechen konnte – immerhin schlief sie in der Kammer nebenan –, hatte er keine Aufgaben für sie. Er nahm sie nicht mit, wenn er in die Stadt ging, er ließ sich von jemand anderem das Essen bringen, wenn er nach Hause kam, und er rief nicht nach ihr, wenn er sonst etwas brauchte. Dass er jede Nacht in ihrer Nähe schlief, nur durch eine Tür getrennt, machte es auch nicht unbedingt leichter. Und sie hatte noch nicht einmal mehr die Möglichkeit, den Frust und die Zweifel irgendwie durch Schuften loszuwerden oder wenigstens für einige Zeit zu verbannen. Brix nahm Corvinus’ Anweisung ernst, dass sie keine schweren Arbeiten mehr erledigen sollte, allzu ernst in ihren Augen. Wann immer sie mehr zupacken wollte, tauchte irgendjemand auf, der sie genau davon abhielt.


    Ihre Zweifel und die Grübeleien vertrugen sich jedoch mehr schlecht als recht mit der Tatsache, dass sie nicht ausgelastet war, und dazu kam, dass sie nach wie vor unter heftigen Übelkeitsanfällen litt. Die Medizin, die der Arzt zusammengerührt hatte, half etwas, aber nicht viel. So kam es, dass sie nachts kaum schlafen konnte und tagsüber wortkarg und entweder abweisend oder schlecht gelaunt war. Und so lag sie auch jetzt da, starrte die Decke an und wartete vergebens auf den Schlaf, der sich nicht einstellen wollte. Eine Hand glitt unter die Decke zu ihrem immer noch flachen Bauch, um sich darauf zu legen. Sie vermisste Corvinus. Sie wollte nicht einmal so unbedingt mit ihm reden wegen dem, was nun kommen würde, in der nächsten Zeit, obwohl es gut wäre, weil sie keine Ahnung hatte, ob es einfach so weiter gehen sollte wie bisher oder ob sich etwas ändern würde. Aber in erster Linie vermisste sie ihn, seine Gesellschaft, seine Nähe. Es ging weniger um die besonderen Augenblicke, es ging ihr um den Alltag, all die Momente, die sie gemeinsam verbrachten und in denen sie sich kaum mehr Beachtung schenkten als in einem Blick oder einem kurzen Wort. Ihre Gedanken wanderten weiter, drifteten aber nicht zu dem Kind, sondern zu der Flavia. Sie hatte von dem gehört, was passiert war. Es war schwer, nicht davon zu hören. Ihr erster Impuls war gewesen, zu Corvinus zu gehen, genauso wie der zweite. Beide entsprangen jedoch widersprüchlichen Beweggründen, der eine, weil sie sich freute, dass er nun doch nicht heiratete, nicht so bald jedenfalls, und schon gar nicht diese Frau, die sie einfach nur grässlich fand – nicht einmal ihr Tod änderte etwas daran, Siv hatte noch nie zu den Menschen gehört, die von anderen besser dachten, nur weil sie gestorben waren –, der andere, weil sie für ihn da sein wollte, weil sie wusste, dass es einen Rückschlag für ihn bedeutete. Sie war sich nicht sicher, wie sie ihm gegenüber reagiert hätte – und sie war sich nicht sicher, ob der Tod der Flavia, seiner Verlobten, nicht inzwischen mit eine Rolle spielte, warum er sie nicht sehen wollte. Die Wahrheit war, sie war unsicher und hatte Angst, und so sehr sie sich selbst dafür auch verfluchte und sich einen Feigling der erbärmlichsten Sorte schimpfte, sie brachte es nicht über sich, zu ihm gehen.


    Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Das Mondlicht, das durch das schmale Fenster in die Kammer fiel, zeigte an, dass es schon spät sein musste, sehr spät, was auch die Stille bezeugte, die in der Villa herrschte. Sie bohrte ihren Kopf noch tiefer in das Kissen hinein und seufzte leise, als sie von nebenan ein Geräusch zu hören meinte. Ihr Kopf drehte sich in Richtung der Tür, während sie angestrengt lauschte, nicht sicher, ob es Einbildung gewesen war oder real. Es wiederholte sich, und Siv setzte sich auf. Wenn Corvinus auch noch wach war und nicht schlafen konnte… Sie überlegte nicht lange. Hätte sie lange überlegt, hätte sie den Gedanken wieder verworfen, aber sie hatte nicht den Ruf weg, vorschnell und temperamentvoll zu sein – oder auch frech, ungehorsam und undiszipliniert, je nachdem wie man es betrachtete –, weil sie nachdachte, bevor sie handelte. Kurzentschlossen schlug sie ihre Decke also ganz zurück, stand auf und ging hinüber zu der Tür, welche sie gleich darauf leise öffnete. Ebenso leise betrat sie Corvinus’ Schlafgemach und ging langsam auf sein Bett zu, das beinahe genau gegenüber der Tür lag. Mondlicht fiel herein durch nur halb zugezogene Vorhänge, und der silbrige Schimmer fiel auf Corvinus und brach sich in winzigblitzendem Funkeln in der feuchten Oberfläche seiner geöffneten Augen. Siv hielt für einen Moment inne und betrachtete ihn einfach nur, dann kam sie noch näher, bis sie vor dem Bett stand – blieb dann aber erneut zögernd stehen. Eine Hand hob sich und deutete halb in die Richtung der kleinen Kammer, aus der sie gekommen war, nur um gleich darauf wieder seltsam kraftlos hinab zu sinken. "Ich… kann nicht schlafen."

    Siv stand da, an ihn gelehnt, und atmete tief den ihr so vertrauten Geruch ein, den er ausströmte. Sie bemerkte nichts davon, dass er innerlich wieder zunehmend auf Distanz ging, merkte nichts von seinen Gedanken, die ihn zweifeln ließen, nicht an der Richtigkeit, ihrem Kind das Leben zu schenken, sondern an dem, was sie beide hatten. In diesem Moment fühlte sie sich geborgen, bei ihm. Einfach nur seine Nähe zu spüren und die Gewissheit zu haben, dass es ihm letztlich ging wie ihr, dass er dieses Kind wollte, egal was für Komplikationen damit verbunden waren, reichte. Nur einen Augenblick später wünschte sie sich, sie hätte diesen Moment festhalten können. Corvinus löste sich von ihr. Immer noch ahnte Siv nichts von seinen wahren Beweggründen, ahnte nicht, dass ihr Dank zum Teil ausgelöst hatte, was ihn nun umtrieb. Hätte sie geahnt, was sie damit angerichtet hatte, sie hätte nichts gesagt. Sie war dankbar – aber es verhielt sich nicht so, wie er dachte. Dass er darauf bestehen würde, dass sie das Kind verlor, war eine Möglichkeit gewesen – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Sie wusste um seine Situation, und sie wusste, dass diese Variante die einfachste für ihn wäre. Umso mehr bedeutete es, dass er sie eben nicht gewählt hatte.


    Nein, Siv ahnte nicht, was ihn umtrieb. Aber sie spürte, von einem Moment auf den anderen, dass die Nähe, die sie gerade noch geteilt hatten, verschwunden war. Wieder war da diese Distanz, die er zwischen sie brachte, und dass sie nicht wusste warum, machte es noch schmerzlicher. Sie suchte in seinen Augen nach Anzeichen von der Freude, die sie selbst spürte, die sie vorhin noch gemeint hatte in seinen Augen zu sehen, aber da war nichts mehr. Wenn es denn überhaupt da gewesen war. Siv ließ hilflos die Arme sinken, und hilflos sah sie ihn an. Er wirkte verschlossen, abweisend, und unwillkürlich fröstelte sie etwas. "Nicht mehr… so schwer arbeiten", wiederholte sie, ihre Stimme etwas dumpf. Das war das letzte, woran sie nun gedacht hätte. Corvinus sah sie nicht einmal mehr an. "Ich… In Ordnung. Ich werde… achten, darauf." Schweigend blieb sie stehen und sah zu, wie er den Stall verließ. Erst, als seine Schritte draußen schon längst verklungen waren, flüsterte sie: "Marcus." Ihre Stimme schwankte dabei. Einen Augenblick blieb sie noch stehen, dann griff sie, entgegen dessen, was sie gerade noch zugesichert hatte, nach der Heugabel und fuhr fort, frisches Stroh zu verteilen. Sie konnte das Kind behalten. Er hatte sich sogar entschuldigt. Er hatte gesagt, dass es ihr gemeinsames Kind war. Warum war ihr dann trotzdem zum Heulen zumute?


    ~~~finis~~~

    Siv hielt nach wie vor die Augen geschlossen und den Kopf an seine Brust gepresst, während sie nun seine Finger in ihrem Nacken spürte. Es gab nichts zu sagen, in diesem Moment, nicht für sie, nicht für ihn. Sie bemerkte seine Verwirrung nicht, als sie schließlich doch etwas sagte, als sie ihre Frage stellte. Dass er mit einer Antwort zögerte, erschien ihr nicht abwegig, im Gegenteil, für ihn konnte es doch auch nicht leicht sein – war er es doch, der die Entscheidung treffen musste. Erst als er den Mund öffnete und Worte über seine Lippen kamen, erklärende Worte, die das Gegenteil von dem kundtaten, was sie bis vor einem Moment noch geglaubt hatte zu wissen, ging ihr auf, dass sie ihn falsch verstanden hatte. Sie löste ihr Gesicht von dem Stoff seiner Tunika und sah zu ihm hoch, sah ihn an. Ihr Magen zog sich zusammen, und ausgehend davon schienen kleine Schlangen in sämtliche Regionen ihres Körpers gesandt zu werden, die dafür sorgten, dass ihr heiß und kalt zugleich wurde. Es ist dein Kind. Unseres. Siv stockte für Momente der Atem, als sie endgültig realisierte, was Corvinus ihr sagte. Der Arzt würde nicht kommen, würde nicht dafür sorgen, dass sie das Kind verlor. Sie würde es bekommen. Einige Male blinzelte sie, während ihr Atem wieder einsetzte, langsam zunächst, dafür aber tief, bewusst eingesogen bis in die letzten Verästelungen ihrer Lunge, so schien es ihr. Sie sah ihn die braunen Augen, die etwas über ihr auf sie herab blickten, und sie konnte nichts darin erkennen, was darauf hätte schließen lassen, dass er es nicht ernst meinte. Da schien… Verunsicherung zu sein, und Zweifel, Gefühle, die sie auch empfand, wenn auch in anderer Intensität und teils aus anderen Gründen. Aber da schien auch Reue zu sein, und nun begriff Siv auch, warum er seine ersten Worte Es tut mir leid gewesen waren. Und, jedenfalls bildete Siv sich das ein, sie meinte auch so etwas wie Freude zu sehen. Wenigstens ein winziges bisschen. Vielleicht sah sie es nur, weil sie es sehen wollte, aber darüber machte sie sich keine Gedanken.


    "Das ist… danke", wisperte sie. Die Finger ihrer rechten Hand lösten sich von dem Stoff und fuhren hinauf, strichen sacht über sein Gesicht, seine Wange, seine Lippen. Sie hätte getan, was er von ihr verlangt hätte, aber sie war unendlich dankbar dafür, dass er sich für das Kind entschieden hatte. Sie hatte versucht, Abstand zu wahren zu dem winzigen, ungeborenen Mensch in ihrem Leib, hatte versucht sich zu distanzieren, solange sie nicht wusste, ob sie wirklich Mutter werden würde – aber in diesem Moment wurde ihr klar, dass ihr das nicht wirklich gelungen war. Oder ging es jetzt nur einfach rasend schnell, dass sie sich darauf einließ? Sie konnte es nicht sagen, und es war ihr auch egal, genauso wie ihr ihre Angst vor der näheren Zukunft in diesem Augenblick egal war, auch wenn sie sie nicht ganz verdrängen konnte. Die Freude überwog. Sie schlang die Arme um seinen Hals und drückte sich an ihn. "Ich weiß", murmelte sie. "Ich weiß, wegen anerkennen. Dass das nicht geht. Ich weiß, wegen Überraschung, und das tut mir leid, das… das war auch Überraschung, für mich. Das ist so neu, und ich… Ich weiß nicht… Ich will nur…" Es gab so viel, was sie hätte sagen können, so viel, was ihr auf dem Herzen lag, ihre Freude, ihre Angst, ihre Zweifel und noch viel mehr, und doch wollte nichts so recht seinen Weg aus ihrem Mund hinaus finden. Und so stand sie einfach nur da, hielt ihn fest und ließ sich von ihm halten, und hoffte, dass er auch so verstand.

    Er sah sie an, und sie erwiderte seinen Blick. Kein Wort fiel. Keiner rührte sich, bis auf den kurzen Moment, in dem Corvinus die Hand nach der Heugabel ausstreckte und sie ihr abnahm, um sie an der nächsten Boxenwand abzustellen. Die typischen Stallgeräusche schwebten um sie herum. Siv vernahm die Vögel, das gelegentlich Aufstampfen eines Hufes, das rhythmische Kauen eines Pferds, das etwas Heu zermalmte, hörte ein Schnauben. Über allem lag der Geruch, der so typisch war für einen Pferdestall. Und all das zog wie nebensächlich an ihr vorbei. Sie sahen sich einfach nur an. Und Siv schien wie gefesselt von seinem Blick, konnte sich nicht losreißen, konnte nichts sagen oder tun. Konnte nicht einmal die Frage stellen, die ihr im Herzen brannte. Sie dachte in diesem Moment nicht einmal wirklich, versuchte nicht in seinem Blick zu lesen, weil ihr Kopf wie leer gefegt war.


    Irgendwann löste sich sein Blick von ihrem, wanderte an ihr vorbei, heftete sich kurz auf etwas hinter ihr und schweifte dann weiter, wie in endlose Ferne. Zum ersten Mal, seit sie Corvinus dort gesehen hatte, holte Siv bewusst Atem. Immer noch war ihr Kopf leer, wusste sie nicht, was sie sagen sollte, und immer noch schwieg er ebenso wie sie. Plötzlich trat er dann vor, überbrückte den kurzen Abstand zwischen ihnen beiden und schloss sie in seine Arme, so vorsichtig zunächst, dass sie schon fürchtete, es würde so unpersönlich wie zuvor im Tablinum werden, so als wäre es gar nicht sie, die er in den Armen hielt. Aber im nächsten Moment schon wurde die Umarmung fester, inniger, schenkte die Geborgenheit, nach der sie sich die ganze Zeit so gesehnt hatte. Sie schmiegte sich an ihn, schlang ihre Arme um seinen Hals und blieb wiederum einfach stehen, ohne sich zu rühren, ohne ein Wort zu sagen. Sie spürte, wie er durch ihre Haare strich, wie er daran herumzupfte und schließlich Strähne um Strähne auf ihren Rücken verbannte, bis Schulter und Hals frei waren. Sie rührte sich immer noch nicht wirklich, als sein Kopf sich ihrem Hals näherte, neigte den ihren lediglich ein wenig in die entgegengesetzte Richtung. Warmer Atem strich über ihre Haut, und mit geschlossenen Augen konzentrierte sie sich darauf, spürte, wie feine Nackenhärchen sich aufstellten. Gleich darauf spürte sie seine Lippen, ganz sanft nur, und sie sog jede Empfindung in sich auf, jede seiner Berührungen, und verbarg sie tief in sich wie einen Schatz. Er hatte immer noch nichts gesagt, aber das musste er in diesem Moment auch gar nicht. Er war einfach nur da.


    Dann, auf einmal, sagte er doch etwas. Es tut mir leid. Im ersten Moment reagierte sie nicht, brauchten die Worte doch, bis sie eingesickert waren in ihr Bewusstsein. Es tut mir leid. Für einen winzigen Moment dann versteifte Siv sich in seinen Armen. Es tut mir leid. Für sie war klar, was das hieß. Er hatte sich entschieden. Auf einmal war da ein Kloß in ihrem Hals, und sie spürte, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten. Er hatte sich entschieden. Es ging nicht. Er konnte nicht. "Das… es ist…" Was? In Ordnung? Genau das war es nicht. Eine ihrer Hände sank hinab, über seine Schulter, bis sie schließlich auf seiner Brust zu ruhen kam, wo sich die Finger in den Stoff seiner Kleidung klammerten. Sie drängte sich noch enger an ihn. Sie wollte das Kind behalten, aber sie selbst war es ja gewesen, die ihm angeboten hatte, die Dienste des Arztes in Anspruch zu nehmen, wenn er das wollte. Und sie hatte es ernst gemeint. Sie wusste, dass er sich diese Entscheidung keineswegs leicht gemacht haben konnte, so wie er sich kaum eine Entscheidung leicht machte, und eine wie diese schon gleich gar nicht – und wenn es nur um ihretwillen war. Sie vertraute ihm. Aber sie hatte nicht geahnt, wie sehr es schmerzen würde. Wie weh es tun würde. Sie hatte die Tatsache, dass sie ein Kind bekam, doch selbst erst vor wenigen Tagen wirklich akzeptiert, auch wenn sie es schon länger geahnt, gewusst hatte. Und doch füllten sich ihre Augen mit Tränen, immer mehr, immer weiter. Siv vergrub ihr Gesicht in dem Stoff, der seine Brust bedeckte. Jetzt, in diesem Moment, konnte sie noch nichts sagen. Sie brauchte ihn, brauchte seine Nähe, und er war da. Er ging nicht auf Distanz zu ihr wie sonst so oft, sondern blieb, umarmte sie, hielt sie fest, und es war genau das, was sie in diesem Moment brauchte. Sie wusste nicht, konnte nicht sagen, wie lange sie so da standen, bis sie schließlich, ohne ihren Kopf zu heben, ohne sich aus der Umarmung zu lösen, murmelte: "Wann?" Sie sagte nicht mehr. Für sie war klar, was dieses Wörtchen ausdrückte. Wann kam der Arzt. Sie hoffte, betete, dass er heute noch kam. Wenn es nicht anders ging, wollte sie es so schnell wie möglich hinter sich haben.

    Die Verschläge hatte sie der Reihe nach gesäubert, hatte Mist und verdrecktes Stroh nach draußen befördert – komplett gereinigt werden mussten sie nicht, es genügte, wenn dies einmal in der Woche geschah. Die Regelmäßigkeit der Bewegung tat ihr gut, ebenso wie die damit verbundene Anstrengung. War sie anfangs noch nahezu verbissen dabei gewesen, die Mistgabel ins Stroh zu rammen, hatte bald schon eine ruhige Routine von ihr Besitz ergriffen, die erst durchbrochen wurde, als sie mit der letzten Box fertig und der Mist draußen war. Es half ihr nicht dabei, ihre Grübeleien abzuschließen, es half ihr nicht dabei, Möglichkeiten zu entdecken, wie sie mit ihrem persönlichen Scherbenhaufen umgehen sollte, es half ihr nicht dabei, fertig zu werden mit dem, was passiert war und noch passieren mochte. Aber es half ihr, zur Ruhe zu kommen. Wenigstens etwas Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Und die Wartezeit mit etwas Sinnvollem zu füllen und zu verkürzen. Einen Moment zum Durchatmen gönnte Siv sich nicht, als sie fertig war, vielmehr holte sie neues Stroh und begann, es mit ebenso ruhigen Handgriffen großzügig in den Boxen zu verteilen, um das entfernte zu ersetzen und den Pferden eine gute Unterlage zu geben. Sie wollte nicht aufhören, wusste sie doch, dass sie die Grübeleien, die Zweifel und die Angst nur so lange auf Abstand halten konnte, wie sie beschäftigt war.


    Sie wollte dieses Kind. Sie hatte Angst vor dem, was kommen mochte, Angst vor der Schwangerschaft und der Geburt und vor dem, was danach war. Sie hatte keine Ahnung, ob sie als Mutter geeignet war. Sie hatte selbst nie eine gehabt, hatte sie nie erleben dürfen. Und bis vor wenigen Tagen hatte sie sich noch nicht einmal vorstellen können, wie es sein mochte ein Kind zu haben. Aber jetzt, wo sie schwanger war, wo sie es wusste und akzeptiert hatte… Wo sie den Göttern geopfert hatte… Stroh rieselte auf den Boden und wurde von den Zinken der Gabel verteilt. Ein Gedanke streifte Ragin, und die Frage tauchte auf, was gewesen wäre, wäre sie vor drei Jahren schwanger geworden. Siv musste nicht darüber nachdenken – sie wusste, dass sie anders reagiert hätte. Panischer. Zorniger. Sie hatte Ragin nie geliebt. Aber sie liebte Corvinus. Und genau das war mit ein Grund, warum ihr dieses Kind jetzt schon so viel bedeutete, obwohl sie die Schwangerschaft, sah von man von der Übelkeit ab, noch nicht einmal wirklich spürte, obwohl es ihr bisher nur Schwierigkeiten gebracht hatte und noch weitere bringen würde. Sie musste an Cadhla denken. Sie waren draußen gewesen, hatten Herbstlaub zusammengerecht. Die Germanin war erst seit kurzem bei den Aureliern gewesen, damals, und sie hatten sich über alles mögliche unterhalten. Siv wusste gar nicht mehr so genau, über was alles, aber sie wusste noch, wie die Keltin ihr plötzlich versichert hatte, sie würde eines Tages eine gute Mutter werden. Die Heugabel stach ein weiteres Mal in einen Ballen frisches Stroh und verteilte ihn. Sie wollte zumindest die Chance haben, es zu versuchen. Aber diese Entscheidung lag nicht bei ihr, und das wusste sie.


    Siv verteilte weiter das Stroh, bis sie nach einem kurzen, prüfenden Blick entschied, dass es auch für diese Box genug war. Die Schritte, die sich genähert hatten, hatte sie nicht gehört, waren sie doch leise genug gewesen, um in den Geräuschen, die die Pferde verursachten, unterzugehen. Und aufmerksam gelauscht hatte sie ohnehin nicht, im Gegenteil, sie war ganz in der Arbeit aufgegangen, hatte ihre Aufmerksamkeit auf ein Minimum gesenkt. Kurz stützte sie sich auf der Gabel ab mit einer Hand, während sie mit der anderen der Stute über die weichen Nüstern fuhr, dann den Kopf hinauf, bis hin zu der Stelle zwischen den Ohren, um sie dort zu kraulen. Die Stute schnaubte leise und bewegte ihren Kopf auf und ab, und Siv streichelte noch einmal ihre Nüstern und drehte sich dann um, um ihren Verschlag zu verlassen und zum nächsten zu gehen. Sie packte die Heugabel mit einem festen Griff und überquerte die Schwelle zum Gang – und erstarrte. Erst jetzt sah sie, dass dort jemand war und sie beobachtete. Corvinus. Nicht wissend, wie lange er schon da stand und sie betrachtete, ihre Gedanken auf einmal wieder jagend, rührte sie sich nicht, sondern erwiderte einfach seinen Blick, ohne ein Wort zu sagen.

    Genauso wenig wie Siv wusste, wie lange sie im Tablinum noch gesessen und geweint hatte, konnte sie nicht sagen, wie lange sie so da gestanden und Idolum umarmt hatte, das inzwischen verweinte Gesicht in seine Mähne vergraben. Der Hengst hatte sich kaum gerührt, hatte nur gelegentlich den Kopf nach ihr gewandt und sie angestupst. Es tat ihr gut, einfach nur die Nähe eines anderen Lebewesens zu spüren, das ruhige Atmen und der kräftige Herzschlag, doch der Aufruhr in ihrem Inneren beruhigte sich nur langsam ein wenig. Sie hatte es Corvinus sagen müssen, das wusste sie. Es noch länger hinaus zu zögern hätte es nur noch schlimmer gemacht. Trotzdem wünschte sie sich, sie hätte sich noch mehr Zeit gelassen, hätte noch mehr Zeit gehabt. Eine Schonfrist. Sie hatten doch gerade erst wieder zueinander gefunden, und es war ja nicht so, dass es nicht noch genug Schwierigkeiten gab. Siv fröstelte kurz, als sie daran denken musste, wie Corvinus sie im Arm gehalten hatte. Trotz der körperlichen Nähe war da ein Abstand gewesen, der sie sich hatte fühlen lassen wie einen Fremdkörper. Dass er so… distanziert gewesen war, schmerzte sie, mehr als sie zugeben wollte, und es half ihr auch nicht viel sich zu sagen, dass er Zeit brauchte.


    Irgendwann ließ sie Idolum los. Sie wurde wieder rastlos, unruhig, sie brauchte irgendetwas zu tun, weil sie meinte es nicht mehr aushalten zu können, einfach nur zu warten. Kurz überlegte die Germanin, ob sie ins Haus gehen und nachsehen sollte, ob Corvinus schon wieder da war, aber sie entschied sich dagegen. Wenn er wieder da war und mit ihr reden wollte, würde er nach ihr rufen lassen. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass sie es vermutlich gerade in so einer Situation nur schlimmer machen würde, wenn sie ihn zu einem Gespräch zwang, solange er noch nicht bereit war. Und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie auch Angst davor. Sie hasste es zu warten, aber der Gedanke hinein zu gehen und sich wieder ihm zu stellen, die Distanz zu spüren und keinen Weg zu sehen, wie sie das überbrücken konnte, verursachte ihr Übelkeit. Mit einem Kopfschütteln streichelte sie Idolum noch einmal und löste sich dann endgültig von ihm. Danach schlüpfte sie aus der Box und ging hinter zu der kleinen Kammer, aus der sie sich eine Mistgabel holte. Sie brauchte etwas zu tun, irgendetwas, was anstrengend genug war, dass es sie von den Grübeleien ablenkte, die ohnehin nichts brachten. Ins Haus wollte sie nicht, und auch im Garten war ihr die Gefahr zu groß, irgendjemandem zu begegnen, der sie dann fragen würde, was los war – denn dass etwas los war, konnte man ihr ansehen. Und so machte sie sich daran, die Unterstände der Pferde auszumisten, eigentlich eine Arbeit, die jeden Tag frühmorgens erledigt wurde, aber am nächsten Tag würden sich die für den Stall zuständigen Sklaven freuen können, dass die Boxen weit sauberer als sonst waren.


    Sim-Off:

    Reserviert

    Mir würde es schon reichen, wenn du nicht verlangst, dass ich genauso in der Vergangenheit herumstochere wie du. Sie wollte doch gar nicht stochern. Sie wollte sie sich nicht ausgiebig und in aller Breite mit ihm über Germanien unterhalten. Das tat sie mit Brix doch auch nicht. Aber was war so falsch daran, zu dem zu stehen, was man war, in ihrer Muttersprache reden zu wollen, wenn sie die Gelegenheit dazu hatte? Das bot sich ihr ohnehin viel zu selten. Und ihr Trotz flackerte wieder auf, als Nordwin weiterhin behauptete, dass ihr Hiersein sie veränderte. Aber immer noch schwieg sie, und Nordwin kam zu ihr hinüber und sprach weiter. Und schließlich wandte Siv den Kopf und sah den Germanen an. "Ja. Natürlich, ich werde anders, alle werden anders, aber das ist doch nicht, das heißt nicht, dass ich meine Heimat vergesse. Dass ich nicht mehr Germanin bin. Dass…" Wieder gestikulierte sie, aber diesmal wirkte es eher hilflos. Warum fiel es ihr nur so schwer, wirklich auszudrücken, was sie meinte? "Ist nicht möglich, ich meine, kann man nicht haben beides? Hier sein, hier leben, hier… Weg finden, das glücklich ist… Und bleiben, was man ist? Heimat und Erinnerung von früher behalten, hier und hier?" Ebenso wie er kurz zuvor wies nun sie auf ihre Stirn und ihr Herz. Machte sie sich denn etwas vor, wenn sie daran glaubte, dass das möglich war? Sie wollte ja gar nicht mehr zurück. Sie wollte hier bleiben, oder besser: sie wollte nicht fort von Corvinus. Und sein Platz war nun mal hier, und nur hier. Etwas anderes gab es nicht für sie, wenn sie in seiner Nähe sein und das bisschen Glück genießen wollte, das sie mit ihm haben konnte. Sie wollte bei ihm sein, und wenn sein Platz hier war, war es ihrer auch. Aber das änderte doch nichts daran, wo sie geboren und aufgewachsen war, wer ihre Familie war, wo ihre Wurzeln lagen…


    Sie schob kurz die Unterlippe vor und seufzte dann. "Ich weiß. Wegen Latein lernen." Dann nickte sie, während sie sich nach ihren Sachen umsah, die jedoch nicht zu sehen waren. Irgendwo musste sie sie noch einmal fallen gelassen haben, unbemerkt von ihr – vermutlich, als Nordwin sie nach draußen gezerrt hatte. "Ja, gerade war Unterricht. Aber, das ist so langsam, weißt du? Im Moment. Ich bin langsam, im Moment. Ich will mehr lernen. Es ist… es nervt einfach, dass ich mich auf Latein immer noch nicht so ausdrücken kann, wie ich will!"

    Siv starrte Nordwin an und war um Worte verlegen – was ihr nicht häufig passierte. Sie konnte nicht sagen, was es für einen Unterschied machte. Sie konnte nicht benennen, warum es sie so aufgeregt hatte, dass Nordwin sich weigerte Germanisch zu sprechen. Dass er so gar keinen Wert auf seine Herkunft mehr legte. Sie wusste nur, dass es für sie einen Unterschied machte. Das war es doch, was sie ausmachte – ihre Herkunft, wie sie aufgewachsen war, was sie dort erlebt hatte. Das war, wer sie war. Wenn sie das einfach vergaß oder wegschob, wer war sie denn dann noch? "Ich versteh nicht, was du denkst. Wie du denkst. Da ist Unterschied, aber…" Hilflos zuckte sie die Achseln. Ihre Stimme klang leise, fast schien es, als ob sie zumindest vorläufig ihre Energie verpulvert hätte. "Ich will nicht weinen. Aber… das ist ich, ich bin Germanin, egal dass ich hier bin. Egal dass ich nicht zurück kann. Das bleibe ich."


    Sie blieb an der Wand gelehnt stehen, rührte sich nicht, während sie abwechselnd ihn und die Umgebung musterte. Ihm ging es anders als ihr, das war offensichtlich, aus welchen Gründen auch immer. Oder lag es nur daran, dass er schon so viel länger Sklave war? Würde sie eines Tages auch so werden? Siv biss die Zähne aufeinander. Sie würde nicht so werden, davon war sie überzeugt. Sie durfte nicht so werden. Sie war stolz darauf, Germanin zu sein, stolz auf alles, was ihre Herkunft war und sie ausmachte. Gerade jetzt, wo sie schwanger war, musste sie das umso mehr sein. Ob ihr Kind jemals ihre Heimat zu Gesicht bekommen würde, war fraglich, das war auch ihr klar, aber an ihr war es dafür zu sorgen, welchen Eindruck es von dem Teil seines Erbes bekam, das von ihr stammte. "Du kannst nicht helfen", antwortete sie, nun schon wieder eine Winzigkeit an Trotz in ihrer Stimme mitschwingend. Er hatte doch gefragt, ob sie ihn begleiten wollte, oder nicht? "Oder du willst Latein lehren?" fragte sie dann, jedoch eher scherzhaft. Aber dafür müsste er dann wohl doch wieder Germanisch sprechen – gerade das wäre ja der Vorteil, wenn jemand wie Nordwin mit ihr lernte, weil er ihr in ihrer Muttersprache alles erklären konnte, was sie auf Latein nach wie vor noch nicht verstand. Ihre Frage war mehr ein Versöhnungsangebot.

    Siv presste inzwischen nicht nur ihre geballten Fäuste, sondern auch sich selbst gegen die Wand. Sie kämpfte gegen ihre eigenen Dämonen, gegen Bilder aus der Vergangenheit, die sie nie wirklich verarbeitet hatte, die sie immer nur unter einer Flut aus Zorn und Hass zu vergraben versucht und später irgendwann verdrängt hatte. Sie bemerkte weder, wie falsch sie Nordwin verstand, noch wie sehr sie ihm im Grunde Unrecht tat. Sie hörte, was sie hören wollte, oder besser: sie überhörte, was sie nicht hören wollte. Und sie war nicht gewillt, sich etwas sagen zu lassen, was ihr derzeitiges Leben schlecht machte. Wie auch – sie hatte sich, mehrmals sogar, bewusst dafür entschieden inzwischen. Und sie stand dazu, nach wie vor. Dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, war ihr bewusst, was andere wohl darüber denken mochten, von ihr denken mochten, und das musste ihr nicht gefallen. Dazu kamen ihre Erinnerungen und die Tatsache, dass sie derzeit ohnehin, für ihre Verhältnisse jedenfalls, eher empfindlich war.


    Wieder vergingen einige Momente in Schweigen, wieder ließ Nordwin sich Zeit, bis er endlich etwas sagte. Und wieder sagte er Dinge, mit denen sie nicht gerechnet hatte und die sie trafen, diesmal nicht, weil er damit etwas in ihr aufwühlte – sei es nun Vergangenheit oder Gegenwart –, sondern weil ihr nun, zum ersten Mal im Lauf ihrer Unterhaltung, dämmerte, dass sie womöglich zu weit gegangen war. Trotzdem fiel es ihr schwer, das auch zuzugeben, vor sich selbst und erst recht vor ihm. Und nach wie vor nagte die Tatsache an ihr, dass er ebenso über sie geurteilt hatte wie sie über ihn. "Du doch auch. Du hast auch Urteil. Ohne mich zu kennen. Ohne Fragen." Betthäschen, so hatte er sie genannt, hatte festgestellt sie müsste das sein, im selben Moment in dem er sie gefragt hatte, was sie denn tat. "Ich wollte nur… ich war froh. Dich zu treffen, einen Germanen. Und du, dass du gesagt hast, ist nicht wichtig, das, und redest Latein, und…" Siv verstummte wieder. Was sie eigentlich sagen wollte war, dass es ihr leid tat, ihn so angegangen zu haben. Was er erlebt hatte, klang furchtbar, es war nicht fair gewesen von ihr, das zu nutzen, um ihn anzugreifen, ganz egal wie verletzt sie sich gefühlt hatte oder wie sehr sie in ihre eigene Vergangenheit abgetaucht war, und das wusste sie auch. Allerdings fiel es ihr sichtlich schwer, das über die Lippen zu bringen.

    Siv wusste nur zu gut, wovon Nordwin sprach. So furchtbar lange, dass sie den Punkt erreicht hatte, jenen Punkt, ab dem Hass nicht mehr alles war, nicht mehr alles sein konnte. Nicht mehr alles sein durfte, wollte man sich nicht genau dadurch selbst verlieren. "Man wird keiner von ihnen, nur weil man sucht das Beste für sich, weil man sucht zu leben." Sie starrte ihn an und wollte nicht so recht glauben, was sie da hörte. War er wirklich so verbittert? Sah er wirklich in sich selbst und in anderen nicht mehr als einen von ihnen, einen, der genauso war, wie die Römer ihn haben wollten? Sie knirschte mit den Zähnen in ohnmächtiger Wut, sie hätte ihm am liebsten den Besen aus der Hand gerissen und ihn damit verprügelt, um ihn zum Schweigen zu bringen, aber sie tat nichts und sagte nichts, und so sprach Nordwin weiter. "Ich rede mir nicht, dass ich das will." Das tat sie tatsächlich nicht. Oder wenn, dann nur zum Teil. Die Arbeit im Garten liebte sie, diese Arbeit war es gewesen, die ihr von Anfang geholfen hatte, sich zurecht zu finden, ihren Platz zu finden, die ihr etwas gegeben hatte, woran sie sich festhalten konnte – vor allem auch in der Zeit, in der Corvinus sie ignoriert hatte. Nun, und was diesen betraf, war die Sache ohnehin klar. Sie liebte ihn. Und zumindest, wenn sie allein waren, genoss sie es, Zeit mit ihm zu verbringen. Trotzdem kam ihr Widerspruch nur gemurmelt, und das nicht, weil sie nichts über Corvinus verraten wollte. Es gab, natürlich, auch die anderen Momente. Die, in denen sie nicht allein waren. Die, in denen sie Römern begegnete, die in ihr tatsächlich nicht mehr sahen als einen folgsamen Maulesel – und die sie auch noch bedienen musste. Die, in denen sie sich zusammenreißen musste, sich verstellen musste, um keinen Ärger zu verursachen und keinen zu bekommen.


    Dann jedoch sprach Siv doch weiter, wechselte ins Germanische, sprudelte wie ein Wasserfall – und sagte jenen Satz, der sie verstummen ließ. Die beiden Germanen starrten sich an, und für Augenblicke war es so still, dass man fast eine Nadel hätte fallen hören können. Siv biss sich auf die Unterlippe, rang mit sich selbst, ob sie sich entschuldigen sollte, und brachte es doch nicht über sich, genau das zu tun. Dann antwortete Nordwin schließlich doch. Und sie starrte ihn schon wieder ungläubig an. "Das ist nicht dein Ernst, oder?" fragte sie, wieder auf Germanisch, weil es so viel leichter für sie war, sich in dieser Sprache auszudrücken. Noch war Unglauben in ihrer Stimme, aber schon begann wieder Zorn aufzuglühen darin. "Für euch Männer ist das ja herrlich einfach, wie? Was soll eine Frau denn schon tun, wenn sie nicht die Wahl hat? Was ist schlecht an denen, die Gelegenheit haben es ein bisschen leichter zu machen und das auch nutzen?" Bequemerweise vergaß Siv, wie sie selbst über die Frauen gedacht hatte, die sich gemeinsam mit ihr in Gefangenschaft befunden hatten und genau das getan hatten, wovon sie nun sprach. Sie hatte sich damals nicht die Mühe gemacht nachzufragen, wenigstens zu unterscheiden zwischen jenen, die sich tatsächlich Vorteile hatten verschaffen wollen, ohne Rücksicht auf Verluste, und jenen, die es einfach nur ein bisschen leichter hatten haben wollen. Daran dachte Siv nicht, aber sie dachte sehr wohl an diese Zeit, die Gefangenschaft, die Soldaten und später die Händler, die sie nach Rom gebracht hatten, an das, was passiert war, und stocksteif stand sie an der Wand, die Hände fest zu Fäusten geballt, das Gesicht bleich mit Ausnahme einiger roter Flecken auf den Wangen, die Augen funkelnd in Schmerz und Zorn. "Oh, aber das ist was anderes, richtig? Genauso wie es was anderes ist, dass ich als verheiratete Frau in Germanien nicht unbedingt ein schöneres Leben haben würde als im Moment, weder was die Tatsache betrifft, mit wem ich das Bett teilen muss, noch was meine Arbeit angeht!"

    Nordwin reagierte, aber nicht so, wie Siv erwartet hätte. Er rechtfertigte sich nicht für das, was er gesagt hatte, für die Andeutungen, die er gemacht hatte. Stattdessen begann er, ihr Vorwürfe zu machen. Sivs geballte Fäuste lockerten sich etwas, während sie ihm zuhörte. "Mo-, Moment mal, das-" Aber Nordwin ließ sich von ihr nicht unterbrechen, sondern redete einfach weiter. Als er fertig war, erwiderte sie seinen Blick. Stumm. Für Augenblicke schien ihr Kopf wie leergefegt, so als hätte der Germane dort gekehrt und nicht in dem Hof. Dann zog sie die Brauen zusammen und schüttelte den Kopf. "Ich urteile nicht! Das, das ist was anderes, das vorhin, als das mit Betthäschen!" Das Wort wurde regelrecht ausgespuckt, und ihre Stimme troff vor Verachtung. "Du bist doch, du hast doch gesagt, dass man einer wird von ihnen, dass egal ist, woher dass man ist!" Siv sah überhaupt nicht ein, nun auf sich sitzen zu lassen, sie wäre die erste gewesen, die vorschnell geurteilt hatte, auch wenn ihr irgendwo klar war, dass es stimmte. Aber sie wäre nicht sie gewesen, hätte sie das so einfach zugeben können. "Und es ist nicht egal. Dir auch nicht. Oder? Es kann dir gar nicht egal sein, das glaub ich nicht! Es geht doch gar nicht darum, hier das Beste draus zu machen, das versuchen wir doch alle irgendwie, aber deswegen musst du nicht so tun, als wärst du kein Germane, und du musst nicht über andere herziehen, die auch nur versuchen, irgendwie zurecht zu kommen, oder würdest du deine Frau vielleicht auch Betthäschen nennen?" Kaum hatte Siv das ausgesprochen, blieben ihr alles, was sie sonst noch sagen wollte, im Hals stecken. Mit einer Mischung aus Wut und aufkeimendem Schreck sah sie Nordwin an. Sie wusste, dass sie damit zu weit gegangen war, es spielte keine Rolle, was sie selbst erlebt hatte mit römischen Soldaten. Aber die Worte ließen sich nicht mehr zurücknehmen.