Beiträge von Aureliana Siv

    Siv war ebenfalls bereits anwesend – nicht, weil sie sich so sehr auf dieses Essen freute, sondern weil sie nichts anderes zu tun gehabt hatte. Über die Saturnalien freute sie sich nur in Maßen, hatte sie doch generell in letzter Zeit eher wenig zu tun gehabt. Nun ganz frei zu haben, konnte sie daher nicht so wirklich begeistern. Es gab einfach zu viel, über das sie nachzudenken hatte, und zu viel Zeit, um das zu tun. Sie hatte gerade erst angefangen sich darüber Gedanken zu machen, wie die Schwangerschaft – und das Kind, wenn es erst auf der Welt war – ihr Leben verändern mochte. Und sie wusste, wer heute im Lauf des Abends noch kommen würde. Flavia Celerina. Ihr Tod war ein Missverständnis gewesen. Gestern hatte Corvinus es ihr gesagt, langsam, zögerlich war er mit der Sprache herausgerückt. Sie lebte. Und er würde sie heiraten. Siv schloss die Augen in der Erinnerung an dieses Gespräch, das eigentlich gar keins gewesen war. Im Grunde hatte er ihr nur gesagt, dass Celerina lebte, woraufhin sie erst mal gar nichts gesagt hatte, nur um dann vor sich hinzustottern, dass das gut sei – für ihn. Sie wusste ja, dass er heiraten musste, und dass seine Verlobte doch noch am Leben war, dass er nicht erneut suchen musste, das war gut für ihn. Sie hatte sich bemüht, auch so zu wirken. Aber das war ihr scheinbar nicht sonderlich gut gelungen, denn Corvinus hatte sie nur wortlos in den Arm genommen.


    Den nächsten Tag, heute, hatte sie sich dann verkrochen, recht bald nach dem Aufstehen. Sie war in den Stall gegangen, zu Idolum, und erst irgendwann vormittags wieder ins Haus gekommen, um etwas zu essen. Corvinus war äußerst guter Laune, was sie zu spüren bekam, als sie sich begegneten, und mit einem leichten Lachen auf den Lippen hatte sie sich revanchiert. Ein wenig hatte sie das auch aufgemuntert, und das hatte letztlich dazu geführt, dass sie jetzt hier saß – ursprünglich hatte sie mit dem Gedanken gespielt, einfach fernzubleiben. Zu Idolum in den Stall zu gehen, vielleicht sogar dort zu schlafen, was sie schon lange nicht mehr getan hatte. Sie wollte nicht anderen die Laune verderben, nur weil sie sich seltsam fühlte, aber sie hegte die Hoffnung, dass sie sich anstecken lassen konnte von der guten Laune der anderen. So hatte sie sich hergerichtet, hatte ihre tiefblaue Tunika anzogen, die feinste, die sie besaß, hatte Saba gebeten, ihr mit ihren Haaren zu helfen – und hatte sie nur mit Mühe davon abhalten können, ihr eine Turmfrisur zu machen, sondern doch eine eher schlichte, die ihre Haare nur an den Schläfen in einigen kompliziert aussehenden Schnörkeln zusammennahm und sonst weitestgehend offen und in feinen Wellen den Rücken hinunter fallen ließ –, und sie hatte sich sogar Ohrringe angeklipst. Nur die Kette war die, die sie stets trug. Dann hatte sie nicht wirklich gewusst, was sie tun sollte, und so war sie ins Triclinium gegangen, weil der Stall in ihrem Aufzug nicht mehr in Frage kam. Und so war sie hier, mit einer Schriftrolle, die sie geistesgegenwärtig eingesteckt hatte, weil sie zu früh war, hatte sich in einer Ecke auf eine Kline gesetzt und las – langsam zwar, und sie brauchte ihre volle Konzentration dafür, aber inzwischen ging es einigermaßen flüssig, und dass ihr das gelang, darauf war sie stolz. Dass Laevina inzwischen eingetreten war und sich gesetzt hatte, hatte sie aufgrund ihrer Konzentration gar nicht gemerkt, und auch Corvinus’ Eintreten bemerkte sie nicht. Erst als Laevina das Wort ergriff, wurde ihre Aufmerksamkeit von der Schriftrolle weggelenkt, und sie sah hoch.

    Der Tag hatte für Siv nicht mehr viel zu bieten gehabt. Zu essen hatte sie dann noch etwas bekommen, aber ihre Laune gehoben hatte das nicht sonderlich, und sie hatte Corvinus weitestgehend ignoriert – so weit das möglich war, hieß das. Sie fand immer noch keine Erklärung dafür, warum er so plötzlich eine Sklavin gekauft hatte. Was auf der Hand lag, was Brix ihr sagte – dass mit Fhionn nun eine Kraft fehlte im Haus und dass Siv ebenfalls bereits größtenteils wegfiel, was sich in den nächsten Monaten noch verstärken würde – ignorierte sie auch. Sie wollte sich gerade aufregen, so einfach war das, und alles, was dem entgegenstand, wurde übersehen.


    Allerdings hatten die Menschen in ihrer näheren Umgebung, bei allem Verständnis für ihre Schwangerschaft, nur begrenzt Lust, sie in dieser Stimmung zu ertragen. Für Siv hatte das zweierlei Konsequenzen: sie hatte noch mehr Grund, sich aufzuregen und eingeschnappt zu sein, und sie war, kaum waren sie in der Villa angekommen, ziemlich allein. Am liebsten hätte sie irgendwas kaputt gemacht, aber dafür hatte sie sich dann doch zu gut im Griff. Stattdessen ging sie in den Garten und begann, dort herumzuwerkeln – und tatsächlich blieb sie lange genug unentdeckt, dass sie sich wenigstens etwas wieder abgeregt hatte, bis Brix sie dort endlich entdeckte. Nach der Standpauke von dem Maiordomus schmollte Siv jedoch wieder, und sie schmollte erst recht, als sie hörte, was sie den restlichen Nachmittag zu tun hatte: neben Leone sitzen und darauf warten, dass der Händler Charis brachte.


    Und so saß sie auch am Abend noch da, wartete und kabbelte sich mit Leone – das hieß, sie versuchte es, aber der gutmütige Nubier war ein Mensch, mit dem es sich schwer kabbeln ließ, wenn er nicht wollte, weil er sich. Einfach. Nicht. Provozieren. Ließ, weshalb Siv jedes Mal sehr schnell gelangweilt aufgab. Als es dann endlich klopfte, war Siv wesentlich schneller auf den Beinen als Leone und riss die Tür auf. Den tadelnden Blick des Ianitors – immerhin konnte sie ja nicht wissen, wer da vor der Tür stand – ignorierte sie. Und vor der Tür waren die, die sie erwartet hatte, was in Siv zum Teil wieder den alten Ärger über diesen Kauf auslöste, zum weitaus größeren Teil jedoch Erleichterung, hieß das doch, dass sie ihre Strafe damit abgesessen hatte und endlich wieder im Haus etwas tun durfte. "Salve", grüßte sie, sowohl die Händler als auch die Sklavin. Leone unterdessen trat nach einem grüßenden Nicken hervor und reichte einem der Männer einen Beutel, in dem sich die bereits abgezählte Summe befand.

    Siv war nicht wirklich müde, als sie ebenfalls in den Hof trat. Zwei Tage Saturnalien reichten bei ihr nicht aus, um die Routine zu brechen, die sie das restliche Jahr über im Griff hatte. Darüber hinaus hatte sie auch nicht wirklich gefeiert – so sehr sie sich an das Leben in Rom, in einer Stadt, gewöhnt hatte, es gab manche Dinge, die würden ihr wohl immer fremd bleiben. Sich in Menschenmassen über das Forum zu wälzen und das dann als Fest zu bezeichnen, gehörte eindeutig dazu. Darüber hinaus war ihr nicht sonderlich nach Feiern zumute gewesen, und das war es ihr immer noch nicht. Ihr war momentan nicht einmal mehr wirklich danach, nach Mantua zu fahren – aber sie kam trotzdem mit, zum einen, weil sie Louan versprochen hatte ihn anzufeuern, zum anderen, weil es sie ablenken würde, hoffte sie jedenfalls. Die Flavia war zurückgekehrt. Es war nicht sie gewesen, die den Flammentod in Ostia gefunden hatte, stattdessen war sie offenbar entführt und schließlich befreit worden. Und die Hochzeit würde stattfinden.


    Es war nicht so, dass Siv damit nun ein größeres Problem gehabt hätte als zuvor. Es hatte sich nichts geändert an ihrer Situation. Aber Tatsache war, ein Teil von ihr hatte sich gefreut, dass Corvinus nun doch nicht heiratete, oder besser: dass eine mögliche Heirat wieder in weitere Zukunft gerückt war. Dass sich das nun so plötzlich wieder geändert hatte, schlug ihr im wahrsten Sinne des Wortes auf den Magen, und so war sie auch fast den gesamten gestrigen Tag im Haus geblieben, anstatt durch Rom zu ziehen oder sonst etwas zu tun. Auch jetzt wirkte ihr Gesicht zwar nicht müde, war aber dennoch blass, hatte sie doch die erste Übelkeitswelle hinter sich gebracht und bahnte sich die zweite bereits an – und dabei hatte sie noch nicht einmal etwas gegessen bisher. Sie konnte Louan und Caelyn entdecken, ebenso wie Ursus und Corvinus, der zwischen den Karren stand. Ein sehnsüchtiger Blick traf das gesattelte Pferd, dass einer der Sklaven gerade aus dem Stall führte, dann trat sie etwas näher heran an die Karren. Corvinus würde nicht mitkommen, das wusste sie bereits, und sie konnte sich auch denken warum. Auch das war etwas, was eher gemischte Gefühle in ihr auslöste. Auch wenn sie vermutete, dass Dina mit Rollo als Aufpasserin weniger streng sein würde als Corvinus, hatte sie sich doch auch darauf gefreut, einen Ausflug mit ihm zu machen. Einfach nur einen Ausflug, der nichts anderes zum Ziel hatte, als Spaß zu machen. Darüber hinaus, wäre er nach Mantua mitgekommen, hätte sich sicher die Gelegenheit ergeben, dass sie zwei alleine irgendetwas unternahmen, und das war etwas, was sie noch nie getan hatten. Sie verbrachten ohnehin recht wenig Zeit allein miteinander, und auch wenn Siv wusste, woran das lag, dass er einfach viel zu tun hatte und selbst in seiner Freizeit nicht einfach so mit seiner Sklavin zusammen sein konnte, änderte das doch nichts daran, dass sie sich vor allem in letzter Zeit danach sehnte.

    Siv war sich nicht so sicher, was sie nun hoffen sollte – dass der Händler einschlug oder nicht. Für die Sklavin wäre es sicher besser, verkauft zu werden, wer wusste schon, wie lange sie sonst noch in dem Käfig bleiben würde – oder wer sie sonst kaufte. Und eigentlich war Siv niemand, der einem anderen Menschen das wünschte. Aber nach dem, wie dieses Verkaufsgespräch gelaufen war, nach dem, wie Siv sich dabei gefühlt hatte, wäre es ihr lieber, wenn der Händler nun ablehnte. Was er allerdings nicht tat, wie sie zähneknirschend mitanhören musste. Er nahm an, er schlug ein, und Siv presste die Lippen zusammen. Es war zum Haare raufen! Warum? Warum kaufte er diese Sklavin, wofür? Sie brauchten keinen Ersatz für Fhionn. Brauchten sie nicht. Trotzig funkelte sie Corvinus’ Rücken an, und ihre Hand krampfte sich schon wieder gefährlich um den Beutel. Bevor Siv allerdings wieder in Gefahr geraten konnte etwas Dummes zu tun, legte Brix ihr schon wieder eine Hand auf die Schulter, und einen Augenblick später verneinte Corvinus, Charis sofort mitzunehmen, und nach einem letzten Kommentar in Richtung des Händlers wandte er sich auch schon ab und ging. Siv blieb noch für einen winzigen Augenblick stehen, unschlüssig, was sie nun tun sollte, aber Brix verstärkte den Druck auf ihre Schulter. "Na komm schon", murmelte er und schob sie hinter Corvinus her, und Siv fügte sich, wenn auch etwas widerwillig. "Ich hab immer noch Hunger", maulte sie, und das letzte, was von der kleinen Gruppe noch zu sehen war, bevor sie in der Menge verschwanden, war Trautwinis aufblitzendes Grinsen und Sivs bitterböser Blick, den er sich dafür einfing.


    ~~~ finis ~~~

    Ob nun die Tatsache, dass sie sie tatsächlich Herrin genannt hatte, Prisca besänftigte, oder diese einfach nicht in der Stimmung war, Siv in irgendeiner Form zu maßregeln, wurde der Germanin nicht so ganz klar, aber die Aurelia ging nicht weiter darauf ein, dass Sivs grinste. Und es dauerte auch nicht lang, bis sie ohnehin hinreichend abgelenkt war von eventuellen Gesichtsentgleisungen der Sklavin, die bei ihr stand, betrachteten sie beide doch bald beinahe andächtig die Zeichnung. "Öfter. Mit der Zunge", bestätigte Siv noch einmal, dann blinzelte sie überrascht, als Prisca begann versonnen an ihrem Ohr zu zupfen – und im nächsten Augenblick weitersprach. Verblüfft sah sie erneut auf das Pergament und musste sich zusammenreißen, um sich nicht die Augen zu reiben, hatte sie doch die Zunge an einem ganz anderen Ort vermutet :D Aber nein, tatsächlich, der Mann beschäftigte sich mit dem Ohr – was den Grad der Verrenkung beider Körper noch einmal deutlich erhöhte, gemessen an dem Bild, das Siv zuvor zu sehen gemeint hatte. Flüchtig überlegte sie, woran das wohl gelegen haben mochte – vermutlich war da einfach der Wunsch Vater des Gedanken gewesen… Ebenso flüchtig strich der Gedanke durch ihren Kopf, Prisca darüber zu informieren, dass eine Zunge – beide Zungen – noch wesentlich vielseitiger eingesetzt werden konnten, aber das verwarf sie wieder.


    Als Prisca dann wieder das Wort ergriff, wandte Siv den Blick von der Zeichnung endgültig ab. Ein leichtes Schulterzucken war zunächst die einzige Reaktion auf ihre Worte, dann sagte die Germanin: "Ich bin Sklavin." Was im Grunde alles sagte. Corvinus hatte sie nie zu etwas gezwungen, die Römer, die sie gefangen genommen und hierher verschleppt hatten, dagegen schon, sobald klar gewesen war, dass sie keine Jungfrau mehr war und sie dafür ohnehin keinen höheren Preis hätte erzielen können. Aber an diese Zeit erinnerte Siv sich nur ungern. Sie hatte innerlich ihre Mauern gebaut, sie war irgendwie damit fertig geworden, was sich bei ihr größtenteils in Wut und Hass geäußert hatte – beides Gefühle, die sie mit Vorliebe an den Römern ausgelassen hatte und die erst hier, in der Villa Aurelia, langsam geschwunden waren. "Und ich hatte Mann, in Germanien. Ich war verheiratet", fügte sie dann noch hinzu, um deutlich zu machen, dass sich ihre Erfahrungen nicht nur auf das beschränkten, was eine Sklavin in Priscas Augen erleben mochte – sie glaubte kaum, dass die Aurelia eine Ahnung hatte, was sich zwischen Corvinus und ihr abspielte, selbst wenn die Vermutung nahe lag, dass die Germanin das Bett mit ihrem Herrn teilte. Immerhin war sie eine Sklavin, was sie wollte oder nicht, spielte für die meisten Römer kaum eine Rolle, und obwohl Siv von Corvinus wusste, dass er und Prisca ein recht enges Verhältnis hatten, war sie sich nicht sicher, ob Prisca ihren Onkel dahingehend wirklich einzuschätzen wusste.


    Siv griff nach der nächsten Schriftrolle, um sie sich anzusehen, nachdem Prisca sie geradezu dazu aufgefordert hatte, als diese auf ihre Frage antwortete. Etwas überrascht sah sie sie daraufhin an. Sie wusste nicht genau, wie prüde Römer – oder besser Römerinnen – waren, sonderlich viel hatte sie mit anderen Römern, jedenfalls der Oberschicht, nicht zu tun, und bei den Gelegenheiten, bei denen sie ihnen begegnete, wurde über andere Dinge gesprochen. Allerdings war sie unbewusst davon ausgegangen, dass es ähnlich wie in Germanien – sicherlich gingen unverheiratete Mädchen jungfräulich in die Ehe, aber sie wussten doch Bescheid, irgendwie, sogar sie hatte Bescheid gewusst, und dabei hatte sie weder eine Mutter noch eine ältere Schwester gehabt, die sie hätten aufklären können. Oder lag es gerade daran? Weil Siv nur Brüder gehabt hatte und lange Zeit eher wie ein Junge aufgewachsen war denn wie ein Mädchen? Wenn sie sich zurückerinnerte, musste sie gestehen, dass sie vieles von dem, was sie über das Eheleben und Sex wusste, aus Erzählungen und rauen Scherzen ihrer Brüder hatte. Wie es bei anderen Mädchen gewesen war, konnte sie nicht sagen, hatte sie doch nie wirklich eine Freundin gehabt, sondern immer nur Freunde. Fest stand jedoch, dass Siv schon recht genau gewusst hatte, was auf sie zukam, als sie verheiratet worden war. Und sie war zu jenem Zeitpunkt fünfzehn gewesen, Prisca war älter als sie damals. "Oh", machte sie. "Ehm. Und du… Was ist mit, ähm, Mutter von dir? Oder Geschwister, sonst Verwandte?" Irgendwen musste es doch geben, mit dem Prisca sprechen konnte. Abgelenkt wurde Siv dann, als auch sie einen Blick auf die Zeichnung war, die die Aurelia gerade zu Tage gefördert hatte. Ihr Mund formte für einen winzigen Moment ein stummes O. "Ist das…"nicht mindestens ein Arm zu viel?, hatte sie sagen wollen, aber sie ließ den Satz unvollendet, sondern legte nur erneut ihren Kopf schräg, um irgendwie zu ergründen, welches Körperteil wohl zu wem gehören mochte.

    Fantastisch. Säuerlich und vor unterdrückter Wut beinahe bebend beobachtete Siv, wie der Händler die Sklavin herumdrehte und ihr die Tunika ein Stück weit hinunter zog, um ihren Rücken zu präsentieren. Hätte sie nicht alle Hände voll zu tun gehabt mit ihren schier überbordenden Gefühlen, Siv hätte Mitleid mit Charis gehabt, damit, wie sie behandelt wurde. Sie konnte sich noch allzu gut an die Zeit erinnern, als die Sklavenhändler sie von Germanien nach Rom geschleppt hatten, auch wenn sie es vorzog, nicht daran zu denken. Ihre Haut war damals nicht makellos gewesen, sondern im Gegenteil übersät mit Schrammen und blauen Flecken, hatte sie doch keine Gelegenheit ausgelassen, sich zur Wehr zu setzen – was die Römer nie ungestraft gelassen hatten. Sie hatten lediglich darauf achten müssen, ihr keine Wunden zuzufügen, die bleibende Narben hinterlassen würden. Absurderweise aber war es ausgerechnet das Handeln, das sie wenigstens etwas wieder beruhigte – im Grunde verabscheute sie sich dafür, so zu denken, zumal sie sich selbst damit herabwürdigte, aber auf eine gewisse Art und Weise war es befriedigend für sie zu wissen, dass Corvinus für sie mehr bezahlt hatte, auch wenn er damals bei ihrem Kauf gar nicht dabei gewesen war.

    "Im Traum sprechen, also Latein? Manchmal, da ist das schon so", lachte Siv. Als ihr das das erste Mal passiert war, hatte sie das ebenso erschrocken wie wütend gemacht. Sie hatte nicht in der Römersprache träumen wollen, aber da sie fast nur von lateinsprechenden Menschen umgeben war, hatte es sich irgendwann nicht vermeiden lassen. Faszinierend wäre es allerdings zu wissen, ob sie im Traum auch Fehler machte, und wenn ja, ob es genauso viele waren oder vielleicht weniger, weil sie im Grunde vieles, was sie beim Sprechen falsch machte, ja eigentlich wusste. Allerdings dachte sie da jetzt zum ersten Mal bewusst darüber nach, und sie konnte sich nicht wirklich daran erinnern, wie es war, wenn sie auf Latein träumte. Überhaupt erinnerte sie sich nicht sonderlich häufig an ihre Träume, aber sie nahm sich vor, das nächste Mal nach dem Aufwachen daran zu denken – und zu versuchen zu behalten, wie fehlerbehaftet ihr Latein im Traum gewesen war. "Ich weiß nicht. Ich glaube… im Traum, da ist Germanisch lieber, mir. Aber, wenn ich wach bin, dann will ich das können. Ich verstehe alles, und Latein von mir, das ist so gut, dass andere auch verstehen. Aber…" Siv zuckte andeutungsweise die Achseln. Sie wollte Latein eben flüssig beherrschen, und nicht nur flüssig, sondern auch fehlerfrei. Als Cassim dann anschließend ein Loblied auf die Geduld sang, zog Siv erneut die Nase kraus. "Aaah, ja…", machte sie. "Ich weiß schon. Aber, Ehrgeiz… und Sturheit, das gibt auch Ausdauer." Sie grinste schon wieder, war Sturheit – ganz im Gegensatz zu Geduld – doch etwas, was sie im Übermaß in sich finden konnte, wenn sie es wollte. "Na ja. Geduld ist leicht, wenn da Fortschritt ist. Aber bei gar keiner mehr…"


    Der Falke hingegen faszinierte sie tatsächlich, und sie zog ihre Augenbrauen hoch, als sie hörte, dass Cassim den Vogel offenbar abgerichtet hatte. Allerdings fragte sie sich, wie er das angestellt hatte – ein Falke war immerhin kein Hund, den man vergleichsweise leicht für die Jagd abrichten konnte. Und der ohnehin ein Rudeltier war und somit stets zu dem Menschen zurückkehren würde, den er einmal als seinen Rudelführer akzeptiert hatte. Aber Raubvögel flogen nicht in Schwärmen. "Fliegen lassen? Und er kommt wieder? Wie das? Er ist doch nicht Hund, ein Hund." Ihre Augen glitzerten schon vorfreudig – so schlug sie noch dazu zwei Fliegen mit einer Klappe. Sie bekam nicht nur endlich den flavischen Garten zu Gesicht, den sie hatte sehen wollen, seit sie davon gehört hatte, sondern auch noch einen abgerichteten Falken. Dass der Garten im Winter kaum einen großartigen Eindruck machen konnte, spielte für Siv keine Rolle, waren einerseits ihre Augen doch kundig genug, um auch in dieser Jahreszeit zu erkennen, was er zu bieten hatte, und war sie andererseits der Meinung, dass die Natur in jeder Jahreszeit Schönheit zu bieten, nur eben jeweils eine ganz eigene, die nicht immer so offensichtlich war wie die Blütenpracht des Frühlings. "Die Artikel", seufzte sie dann. Das war eine ihrer großen Schwächen, die vergaß sie ständig. "Also… Der Schnee… ist so hoch, dass er in Stie-… in d i e Stiefel geht. Was ist richtig für zu Germanien? Also, dass hier nicht so kalt ist, zu…? Zu ist falsch, oder?" hakte sie dann bei dem Satz nach, den er nicht verbessert hatte. Das war ein weiteres Problem. Im Grunde konnte sie Latein inzwischen gut genug, dass sie meistens sogar wusste, wenn etwas falsch war, was sie sagte – aber die richtige Wendung fehlte ihr dann doch, oder sie wollte ihr nicht einfallen.

    Ihr letzter Herr hatte sie also im Garten arbeiten lassen. Und mit Kräutern kannte sie sich besonders gut aus. Es kostete Siv einiges an Anstrengung, die andere Sklavin nicht laut nachzuäffen, während sie mit Brix ein wenig rangelte, um freizukommen. Allerdings erreichte sie damit nur, dass Trautwini – allerdings erst nach einem auffordernden Blick von Brix und nicht ohne ein breites Grinsen – an ihre andere Seite trat, die Pakete auf seinen Armen etwas hin und her jonglierte und so eine Hand freimachte, um sie ihr ebenfalls auf die Schulter zu legen. Es dauerte noch einen weiteren Moment, dann gab die Germanin nach und hörte auf, sich zu wehren. "Ist doch wahr", murmelte sie trotzig, obwohl keiner der beiden Germanen etwas gesagt hatte. Es war schon schlimm genug, dass sie momentan kaum noch im Garten arbeiten konnte, sie würde einen Dreck tun und ihn sich vollends wegnehmen lassen – war diese Arbeit doch lange so ziemlich die einzige gewesen, die ihr wirklich Spaß gemacht hatte. Abgesehen von Stallarbeit, aber so sehr sie sich das gewünscht hatte, dafür war sie nie eingeteilt worden. Aus Langeweile geboren, weil sie ständig auf der Suche nach etwas zu tun war, hatte sie inzwischen begonnen zu entdecken, dass die Organisation des Haushalts ebenfalls spannend war und zumindest ihr Spaß machte. Körperlich anstrengend war das nicht, und Brix war durchaus froh darum, wenn ihm das ein oder andere abgenommen wurde. Dennoch weigerte sie sich, die Gartenarbeit komplett aus den Händen zu geben.


    Und: da schwebte immer noch die Frage herum, für was Corvinus die Sklavin noch kaufen wollte. Warum musste sie ausgerechnet blond sein, war das der Grund, warum er auf sie aufmerksam geworden war? Siv knirschte mit den Zähnen, als Corvinus sich umwandte und ihr einen Blick zuwarf, der vor Missbilligung nur so zu strotzen schien. Hätte er sie nicht aufmunternd ansehen können? Lächelnd? Mit irgendeinem Zeichen, dass ihre Eifersucht unbegründet war? Wenigstens ein Zwinkern? Aber da war nichts, nur Tadel. Sie schüttelte mit einem Ruck die Hände der Germanen ab, deren Griff lockerer geworden war, tat dann allerdings nichts weiter, als sich zu bücken und den Beutel mit Sesterzen wieder aufzuheben. Corvinus unterdessen hatte sich wieder dem Händler zugewandt, und er klang neutral, als er sprach, seiner Stimme war kein sonderliches Interesse an der Sklavin zu entnehmen. Andererseits war er niemand, der sich so etwas vor anderen anmerken lassen würde. Schon gar nicht vor dem Händler, von dem er die Sklavin kaufen wollte. Siv presste die Lippen aufeinander und wünschte sich, die Verhandlungen würden endlich zu einem Ende kommen, so dass sie gehen konnten. Im Augenblick sehnte sie sich danach, sich im Garten oder im Stall zu verkriechen – oder wahlweise Corvinus zur Rede zu stellen.

    Siv grinste noch breiter, als Nordwin ihr noch ein Schimpfwort sagte, und dann noch eine ganze Reihe weiterer. Einige davon kannte sie bereits, andere waren ihr dagegen neu, aber egal um welche es sich handelte, sie wiederholte sie alle. Kam ja überhaupt nicht in Frage, das Risiko einzugehen sie gleich wieder zu vergessen. Nur ob und wann sie sie würde anwenden können, war wohl noch dahingestellt. In Corvinus’ Gegenwart wohl besser nicht, und manche vielleicht auch nicht in Gegenwart von Menschen, mit denen sie noch befreundet bleiben wollte… Aber in dem Fall konnte sie immer noch auf Germanisch umsteigen. Was Corvinus wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass sie hier saß mit einem Germanen, der ihr lateinische Schimpfwörter beibrachte? Siv musste schmunzeln, als sie sich das vorstellte. Im Gegensatz zu Nordwin befürchtete sie nicht wirklich, dass er sie irgendwie bestrafen könnte dafür. Er würde sie höchstens missbilligend ansehen, wenn er das mitbekam. Im Moment stellte sie sich aber lieber vor, dass er es nach einem kurzen Moment der Missbilligung mit Humor nahm und darüber lachte.


    "Hm", brummte sie dann. "Ja, also, nein. Sicher will ich verstehen, andere." Sie dachte an ihre ersten Wochen unter Römern, nach ihrer Gefangennahme, wo sie alles daran gesetzt hatte, so schnell wie möglich Latein zu lernen – und das, ohne dass die Römer etwas davon merkten. Sie hatte nicht gewollt, dass diese wussten, wie viel sie tatsächlich von dem verstand, was sie sprachen. Spätestens als sie dann aber in Rom verkauft worden war, hatte sie das irgendwann aufgeben müssen. Die anderen Gefangenen während des Transports hätten im Traum nicht daran gedacht, den Römern irgendetwas zu verraten, selbst wenn es sich nur um die Farbe des Hauses hinter ihnen gehandelt hätte. Aber die Sklaven in der Villa Aurelia waren da anders, ihr Verhältnis zu den Römern war anders, und so hatte Siv vor der Wahl gestanden, entweder zuzugeben, wie viel Latein sie wirklich konnte – vor allem wie viel sie verstand –, oder sich zu isolieren, um weiterhin den Eindruck aufrecht zu erhalten, sie könnte wenig. Dennoch, dass sie jetzt immer noch weiterhin Latein lernen wollte, lag an ihr, ihrem Ehrgeiz, und weil sie Sprachen mochte. Denn andere verstehen konnte sie schon seit längerem problemlos, und auch sich verständlich gelang ihr. "Aber ich verstehe andere. Trotzdem, ich will mehr, ich will das können." Artikel merken. Das sollte ihr gelingen. Eigentlich, immerhin hatte sie sich das auch schon öfter vorgenommen. "Rollen… spiel… was? Was ist das?" fragte sie dann etwas verwirrt, nur um aus seinen folgenden Worten zu schließen, was er wohl meinte. "Schluss machen? Mit dir? Eh, aber…" Dann begriff sie. "Ach so, vorstellen." Ein Grinsen schlich sich auf ihr Gesicht. "Ha, dann kann ich die Schimpfworte schreiben. Weil, wenn, dann bist du schuld. Und nächstes Mal, kann eine Geschichte sein, über Römer oder so."

    Siv guckte zuerst etwas empört, als Nordwin sich offensichtlich über sie lustig machte. Sie stieß ihm ihren Ellbogen in die Seite und zog ihre Nase kraus. "Das ist ja nur Anfang", verteidigte sie sich. Dann musste sie kichern, als er ihr plötzlich etwas ins Ohr flüsterte. "Oooh, das kenn ich, das kenn ich, das ist gut. Aber ich hab das nicht gesagt, bis jetzt, also noch." Jetzt grinste sie ebenso breit wie er – als sie jedoch das zweite hörte, wurden ihre Augen groß. "Ouuh… Das ist…" Ihre Lippen bewegten sich weiter, aber ihre Stimme erstarb, während sie lautlos das Wort wiederholte. "… das ist guuut", murmelte sie dann. "Danke! Hast du mehr?"


    "Eindrucksvoll. Beeindruckend." Siv wiederholte die Worte und versuchte sie sich einzuprägen, was ihr allerdings erst gelingen sollte, nachdem sie das auch von Corvinus noch einmal hören würde. "Mmh", machte sie dann. Corvinus würde ganz sicher nicht begeistert sein, wenn sie Fluchen lernte. Oder wenn er wüsste, dass sie es gern lernte, obwohl er sie gut genug kannte um zu wissen, dass sie sich derartige Worte zumindest leicht merken konnte. "Nein. Kaum. Aber… ach. Fluchen, das ist, das muss man können. Finde ich", grinste sie. "Ich mag Sprachen. Daher ich lerne Griechisch. Und Latein… Na ja, am Anfang, da war Fortschritt da, und recht schnell. Nur jetzt…" Siv musste kichern, als Nordwin davon sprach, wie er einen Römer Dominum genannt hatte. "Ich vergess immer Artikel. Bis heute. Aber das, das ist nicht so lustig. Dominum…" Sie lachte.

    Siv ignorierte alles, was sonst noch vor sich ging – die kleine Unterhaltung zwischen Louan und Caelyn, die sie ohnehin nicht wirklich verstanden hätte, selbst wenn sie hingehört hätte –, Ursus’ Nachfragen nach dem Haus in Mantua, Nualas Schweigsamkeit. Sie musterte nur Corvinus und wartete auf das, was er sagen würde. Und schließlich kam etwas, allerdings nicht wirklich das, was sie hören wollte. Darüber würden sie noch reden. Sie wusste, was das hieß, und sie unterdrückte ein Seufzen. Sie wollte nicht hier bleiben, schon gleich gar nicht, wenn es sonst jedem zumindest offen stand. Es konnte dem Kind doch gar nicht schaden. Sie konnte vorher opfern, Hel und Iuno, und sie würde aufpassen, sie würde alles tun, was Corvinus verlangte – und das meinte sie in diesem Moment, in dem sie es dachte, auch ganz ehrlich –, sie würde sich freiwillig unter die Aufsicht von sonst wem stellen… dann konnte dem Kind doch einfach nichts passieren. Zum ersten Mal dachte sie daran, wie es wäre zu reiten, aber diesen Gedanken schob sie gleich wieder weg. Sie war sich nicht sicher, ob das Reiten selbst ein Problem sein könnte, aber man wusste nie, was passierte – und ein Sturz würde dem Kind schaden, da war sie sich sicher. Dieses Risiko würde sie nicht eingehen.


    Allerdings: es blieb Corvinus’ Entscheidung. Zumal wenn es über die Saturnalien hinausging. Und dass sie darüber reden würden, ließ sie auf der einen Seite zwar hoffen, auf der anderen allerdings auch zweifeln. Sie sagte nichts weiter auf seine Worte hin, nickte nur zum Zeichen, dass sie verstanden hatte – und gleich darauf war es Corvinus selbst, der zuerst Zweifel und dann doch wieder Hoffnung die Oberhand in ihr gewinnen ließ. Zuerst ließ er sie aus, bei seiner Aufzählung, am Schluss jedoch war sie dabei, wenn sie richtig mitgezählt hatte. Es sei denn, er meinte noch jemanden anderen im Haus. Siv unterdrückte abermals ein Seufzen. Sie hasste dieses emotionale Auf und Ab in ihr derzeit, in das selbst derartige Kleinigkeiten sie zu stürzen vermochten. Es drängte sie danach, mit Corvinus sofort zu reden, einfach um es geklärt zu haben, aber jetzt war das nicht möglich. Sie nahm sich einen weiteren Zwiebelring und knabberte eher unlustig daran herum. Allerdings musste sie schon wieder schmunzelte, als Corvinus davon sprach, selbst bei dem Wettkampf mitzumachen. "Das will ich sehen", grinste sie, nur um Anschluss schon mit etwas mehr Elan an der Zwiebel herumzuknabbern.

    Geschichten, vor allem Gerüchte, wurden auch in der Villa Aurelia erzählt – und das nicht nur abends, sondern auch tagsüber, wenn es die Arbeit zuließ. Diese Art von Geschichten meinte Siv allerdings nicht. Ihr ging es mehr um Sagen, um Legenden. Geschichten wie die eben, die Corvinus ihr erzählt hatte darüber, wie Athen zu seinem Namen gekommen war. Dass sie die Gerüchteküche weitestgehend verpasste, machte ihr nicht sonderlich viel aus, im Gegenteil. Es hatte einen Grund, warum sie nun, da ihr die Gartenarbeit nur noch in sehr beschränktem Ausmaß möglich war, ausgerechnet in der Küche so häufig anzutreffen war. Niki wusste eine Menge, weil die Küche nun mal der Ort war, wo die Sklaven tagsüber am ehesten aufeinander trafen und den ein oder anderen Schwatz abhalten konnten. Aber sie hielt nicht viel von Tratscherei, und Siv fand das sehr angenehm.


    Im Moment allerdings verlor die Situation etwas von der angenehmen Atmosphäre, die sie bis vor kurzem noch gehabt hatte. Er würde nachdenken über ihren Vorschlag. "Nachdenken", murmelte sie. Nachdenken. Das konnte alles heißen. Warum musste er überhaupt nachdenken darüber, ob sie zusätzlich Geld verdienen könnte? Cadhla hatte er es erlaubt, welchen Grund könnte er haben, es ihr zu verneinen – nach wie vor weigerte sie sich zu glauben, er könne wollen, dass ihr gemeinsames Kind als Sklave aufwuchs. Aber er sagte sonst nichts, machte nicht einmal eine Andeutung – er sagte nicht einmal, ob sie richtig lag mit ihrer Vermutung, ob er tatsächlich ein Problem darin sah, dass sonst für andere, auch für Menschen außerhalb der Familie, eindeutig sein könnte, dass er der Vater war, wenn er das Kind einfach so freiließ. Er sagte ihr nichts von seinen Gedanken, und das machte es für Siv so schwer, sich damit abzufinden. Sie vertraute ihm, aber wenn sie nicht einmal wusste, worüber er überhaupt nachdachte, fühlte sie sich, als ob ihr jegliche Grundlage fehlte. Sie war Sklavin, nach wie vor, und selbst wenn sie es nicht gewesen wäre, sie war die Frau, Entscheidungen wie diese waren seine – aber Siv gehörte einfach nicht zu den Frauen, die das einfach so akzeptierten. Für die meisten mochte es richtig sein, sie hatte sich immer dagegen aufgelehnt – was auch der Tatsache geschuldet war, dass ihr Vater so weichherzig gewesen war und ihr diese Flausen nie ausgetrieben hatte. Es fiel ihr so schwer, nicht einbezogen zu werden in eine so wichtige Entscheidung wie diese.


    Sivs Körper in seinem Arm war nun nicht mehr so entspannt wie noch zuvor, hatte im Gegenteil an unterdrückter Spannung zugenommen. Ihre Finger ruhten nun auf seiner Brust und strichen nicht mehr darüber, und sie sah in die Dunkelheit, ohne die Wand oder etwas anderes wirklich wahrzunehmen, während sie den Kloß in ihrem Hals zu bekämpfen versuchte, der auf einmal da war. Sie hasste es, so empfindlich zu sein, plötzlich von dem Bedürfnis zu weinen überwältigt zu werden, und das war etwas, was sich in letzter Zeit bei ihr häufte. Corvinus selbst schwieg ebenfalls einen Moment, was ihr die Möglichkeit gab, sich etwas zu beruhigen. Als er dann jedoch weitersprach, zuckte Siv nur leicht mit einer Achsel. "Für mich? Ich weiß nicht, wie sollen sie behandeln?" Schlimmer als in der Zeit nach ihrem Fluchtversuch konnte es gar nicht sein, aber dieser Gedanke streifte nur flüchtig durch ihren Kopf, und sie sprach ihn nicht aus. "Auf Gerede höre ich nicht. Und sonst… Ich kann umgehen, damit." Dann fiel ihr etwas anderes ein. Worüber sie auch noch nicht nachgedacht hatte: ob das Kind mit dem Wissen aufwachsen würde, wer sein Vater war – oder ob es das, zumindest in den ersten Jahren, nicht würde erfahren dürfen. Wenn es nach ihr ging, dann würde es wissen, dass Corvinus sein Vater war, aber sie war sich nicht so sicher, ob er das genauso sah. "Was…" Siv verstummte wieder und nagte an ihrer Unterlippe, wusste nicht, ob sie das einfach auf sich zukommen lassen sollte, einfach abwarten sollte, was er sagte, wenn es so weit war – aber das war nicht ihre Art, und so platzte sie doch damit heraus. "Was ist mit Kind, wenn es da ist? Kann es wissen, dass du der Vater bist? Ich meine, aufwachsen, und es wissen, nicht offen, aber geheim?" Und nun hielt sie es auch nicht mehr aus, stillschweigend zu akzeptieren, dass er nicht vorhatte sie wenigstens in irgendeiner Weise über die Zukunft des Kindes einzubinden. Ihr Kopf hob sich an und drehte sich etwas, so dass sie ihn ansehen konnte. "Und was, wieso denkst du nach, ich meine, worüber? Was ist da zu nachdenken? Bitte, ich will nicht wissen, was, was sein wird, aber jetzt, was, warum du denkst. Was ist Problem?"

    "… zu machen", wiederholte sie, kaum dass er sie verbessert hatte, und fuhr fort zu erzählen und zu erklären. Sie konnte nicht wirklich erkennen, ob er nun verstand oder nicht, aber er schien nichts mehr einzuwenden zu haben. Und dass sie eines Tages Latein fehlerfrei sprechen würde, hatte Siv sich fest vorgenommen – auch wenn sie ihren germanischen Akzent wohl nie losbekommen würde, hieß das nicht, dass sie nicht erreichen konnte, irgendwann fließend reden zu können. "Keiner besonders. Papyrus eben. Was steht, in Schriftrollen. Über Pflanzen, meinte ich gerade, aber auch andere Sachen. Lesen, lesen können ist auch faszinierend. Wie andere Sprachen. Früher hat Brix geholfen, hat gesucht in Schriftrollen und erzählt davon. Also, wenn ich da gebraucht habe, etwas, für Garten. Jetzt kann ich selbst lesen. Hm. Langsam. Und wenn Texte einfach sind, jedenfalls", fügte sie dann noch hinzu. Bei schwierigen brauchte sie noch wesentlich länger, und manchmal verlor sie die Geduld, wenn sie sich in gar zu schwierigen Satzkonstruktionen verhedderte. Aber ehrlicherweise musste sie auch zugeben, dass das keine Texte waren, die sie im Zuge des Unterrichts bekommen, sondern Brix oder sonst wem abgeschwatzt hatte, weil sie das Thema interessierte. "Doch, Geschichten mag ich. Nur, da ist selten Zeit dafür. Dass andere erzählen Geschichten. Dass ich zuhören kann. Oder selbst erzählen, Geschichten aus Germanien."


    Sie hob den Oberkörper kurz leicht an, als Corvinus seinen Arm darunter schob, legte ihren Kopf dann wieder an seine Schulter und ihren Arm auf seine Brust. Versonnen begannen ihre Finger, darüber zu streichen, während sie nachdenklicher wurde, als sie das Gespräch bei der Zukunft ihres Kindes hielt. Corvinus antwortete ausweichend, und gleich darauf wechselte er das Thema – was Siv zugegebenermaßen etwas irritierte, sowohl die nichtssagende Antwort als auch der Wechsel, denn immerhin hatte er davon angefangen. Sie überlegte, ob sie nachfragen sollte, was er nicht wusste – ob er ihr Kind nicht freilassen konnte oder nicht freilassen wollte. Oder ob er dessen Zukunft ganz allgemein meinte. Sie schwieg eine ganze Weile, bevor sie schließlich doch wieder etwas sagte. "Die Geburt", murmelte sie zunächst nur, um wenigstens etwas auf seine letzte Anmerkung einzugehen. Dann fragte sie doch: "Was weißt du nicht? Wegen Zukunft? Oder freilassen?" Im Grunde hatte sie ja eine Vermutung, wo das eigentliche Problem lag. Es war eine Art Eingeständnis. Warum sollte er das Kind einer Sklavin freilassen, wenn es nicht sein eigenes war? Sie holte Luft. "Wenn… also, wenn Problem… wenn das Problem ist, dass dann…" Ihre Stimme wurde etwas leiser. "… dass dann andere wissen, oder vermuten, dass du Vater bist… der Vater", verbesserte sie sich gleich, "dann… Ich weiß nicht. Kann ich… Sesterzen verdienen, irgendwie? Für, dass ich es freikaufen kann? Dann, das ist, das kann Erklärung sein für andere." Natürlich gehörte alles, was sie in irgendeiner Form verdiente, ihm, einfach weil sie seine Sklavin war. Aber immerhin hatte er mit Cadhla ja eine ähnliche Vereinbarung getroffen. Siv wusste nichts über die Details, aber sie wusste, dass Cadhla kämpfte – und dass sie mit jedem Sieg, mit jeder Siegprämie, die Corvinus dafür erhielt, der Freiheit ein Stück näher rückte. Vielleicht, überlegte sie, könnte Corvinus zusätzlich noch verbreiten, dass sie selbst dadurch auf jede Chance auf Freiheit verzichtet hatte. Viele Sklaven dienten ihren Herren doch gut, weil sie hofften, auf diese Weise irgendwann die Freiheit zu erlangen, und von dem, was sie gehört hatte, wurde es auch vielen Sklaven in Aussicht gestellt. Müsste das dann nicht ein fairer Tausch sein, in den Augen der meisten Römer? Die Freiheit ihres Kindes gegen einen gewissen Preis, den sie irgendwie zusätzlich zu ihrer Arbeit hier verdiente, sowie die Aussicht auf ihre Freilassung. Dass sie die ohnehin nicht anstrebte, musste ja keiner wissen. Sie wünschte sich nur, eine Möglichkeit zu finden, irgendeine, die ihrem Kind die Freiheit sicherte. Es musste ja nicht unbedingt am Tag seiner Geburt sein, oder kurz danach. Es konnte auch erst in ein oder zwei Jahren so weit sein – sie vertraute Corvinus, wenn er das versprechen würde, dann würde er es auch halten –, so lange es passierte, bevor ihr Kind realisierte was es hieß, Sklave zu sein.

    Nein, sie hatte den Tonfall nicht falsch gedeutet, dass wurde deutlich, als Corvinus weitersprach und nun sogar tadelnd klang. Sie musterte ihn einen Augenblick lang schweigend, wusste nicht so recht, was sie darauf antworten sollte. Natürlich wäre es besser, wenn sie Latein bereits fehlerfrei sprechen könnte, aber warum sollte sie sich nur darauf konzentrieren? Aber wenigstens hatte er nichts dagegen, jedenfalls sagte er das. "Ich übe Latein, weiter. Ganz sicher. Ich will ja Latein können, ich meine, ganz richtig, und ohne Fehler zu haben. Und bei Griechisch, da ich kann mehr, als Schimpfwörter. Einfache Sachen. Küchensachen." Ein Mundwinkel hob sich leicht. Im Griechischen machte sie derzeit Fortschritte, denn dadurch, dass ihr Tätigkeitsbereich so stark eingeschränkt worden war, hatte sie nun nicht nur mehr mit Niki, sondern auch mit Sofia und Dina zu tun. Dennoch machte es ihr am meisten Spaß, mit Niki zu lernen – die Köchin war zwar zuweilen etwas ruppig, aber damit kam Siv klar. Und sowohl Sofias plapperhafte Art als auch Dina, die fast nie ohne Rollo anzutreffen war, wurden auf Dauer anstrengend. "Und es hilft, also für Latein", meinte sie dann überzeugt. "Niki und die anderen, die sagen und erklären ja in Latein, was was heißt, in Griechisch." Eine kurze Pause folgte, während der sie ihn erstaunt ansah. "Wenig Wissen, hier in Rom? Echt? Hier ist doch so viel, ich meine… viel mehr als in Germanien. Und anderes Wissen. Ich weiß gar nicht, was besonders… Pflanzen, ich lerne gern von Pflanzen, von fremden. Was Händler erzählen. Was auf Papyrus steht. Und Sprachen, das ist faszinierend." Ein leises Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, als sie das Wort verwendete, an dem sie zuvor gescheitert war. "Mh. Wie es ist, in andere Länder. Geschichten davon. Überhaupt, Geschichten mag ich. Weißt du noch, als du erzählt hast, von Sterne, im Garten? Und Geschichten, dazu? Von Celeris, und wie Athen Namen bekommen hat, weil Meergott und Athene beide wollen." Versonnen schwieg Siv, als sie sich an jenen Abend zurückerinnerte, an den sie sich noch so gut erinnern konnte. Ohne es bewusst zu merken, wanderte ihre Hand zu dem kleinen Anhänger, den er ihr geschenkt und an eben jenem Abend umgehängt hatte.


    Auf ihre Worte, die Zukunft ihres Kinds betreffend, reagierte Corvinus zunächst gar nicht. Siv musterte ihn weiterhin, aber immer noch fiel es ihr schwer zu erkennen, was er nun darüber dachte. Langsam ließ sie sich seitlich auf das Kissen zurücksinken und beobachtete, wie er anfing mit einer ihrer Haarsträhnen zu spielen. "Kind braucht Eltern. Aber wer weiß, was er – oder sie –", Siv lächelte leicht, "macht, in 15 Jahren. Oder so." Dann verlosch ihr Lächeln, langsam, einer verglühenden Kohle gleich. Wenn ihr Kind ein Sklave sein würde, dann hatte es nicht großartig die Wahl, was es tun würde. Sklave oder Freier, das würde einen riesigen Unterschied machen, und Siv dachte überhaupt nicht an die Möglichkeiten, die ein frei geborenes Kind in Rom haben würde. Jetzt war sie es, die ihren Kopf an seine Schulter legte – teils, weil sie die Nähe wollte, teils, weil sie ihn so nicht ansehen musste. "Was denkst du, von Zukunft… Es wird Sklave sein", murmelte sie, dann drehte sie ihren Kopf doch so, dass sie zu ihm hinauf sehen konnte. "Kannst du es freilassen? Gleich nach Geburt?"

    "Eh, ich?" wiederholte Siv fragend, dann setzte ihre Geistesgegenwärtigkeit ein – etwas verspätet –, und sie verkniff sich einen weiteren Kommentar. Hätte sie jetzt abgestritten zu grinsen, hätte sie vermutlich alles nur noch schlimmer gemacht. Sie grinste ja, das konnte sie kaum leugnen, und sie bekam es auch nicht weg, war die Situation doch irgendwie… nun ja, komisch. Fand sie jedenfalls. "In Ordnung. Herrin", fügte sie noch hinzu, was sie eher selten sagte. Prisca hatte eine Art an sich, die sie irgendwie dazu drängte, sie besänftigen zu wollen, jedenfalls in dieser Situation. Je mehr sich die Aurelia echauffierte, desto mehr gewann Siv den Eindruck, dass ihr die ganze Sache peinlich war, und das wiederum war etwas, was die Germanin nicht wollte. Zumal sie definitiv nichts Peinliches daran finden konnte, sich weiterzubilden. Auch nicht, wenn es dieses Thema betraf. Jetzt musste sie schon wieder grinsen.


    Obwohl Prisca auf eine Antwort drängelte, ließ Siv sich Zeit und sagte nicht wirklich etwas zu der Zeichnung, die sie betrachtete – und als Prisca ihr das Pergament aus der Hand riss, trat sie einen Schritt näher und betrachtete die Abbildung weiter mit schief gelegtem Kopf. Diesmal blitzten sogar ihre Zähne auf, als sich auf ihrem Gesicht ein Grinsen ausbreitete. "Na ja…", murmelte sie, während sie sich bemühte, ihre Gesichtszüge wenigstens einigermaßen unter Kontrolle zu halten. "Das ist, also, weniger die Zunge, das ist öfter. Aber wie sie… sich verrenkt. Und er." Siv fragte sich unwillkürlich, ob das tatsächlich bequem war. Sie drehte ihren Kopf erneut ein Stück, aber da legte die Aurelia die Zeichnung auf den Tisch. "Abenteuerlich? Mh, ja, schon. Ein bisschen. Ich glaub, man braucht Öl, dafür. Und muss warm sein, für Entspannung für Körper, Muskeln und so", kommentierte sie. Sie langte nach dem Papyrus und drehte ihn so, dass sie die Zeichnung richtig herum sehen konnte. "Aber sonst… also, ausprobieren kann man das sicher. Was ist mit den anderen?" Dann musterte sie Prisca einen Moment, überlegte kurz und gab sich schließlich einen Ruck. Ihre Neugier war zu groß – aber immerhin hatte sie den Anstand, ihrem Tonfall einen zurückhaltenden, fast schon vorsichtigen Klang zu geben, der vielleicht nicht der Frage, aber immerhin einer Sklavin angemessen war. "Warum du siehst das an?"

    Siv presste die Lippen kurz aufeinander, als sie Corvinus hörte. Sie kannte diesen Tonfall – und sie wusste, dass die Chancen darauf, dass sie tatsächlich mitkommen konnte, schlecht standen. Der Appetit war ihr vorübergehend vergangen, und so spielten ihre Finger nur mit einem weiteren Keks herum und zerbröselten ihn langsam, aber sicher. Dass sie keine schwere Arbeit mehr erledigen sollte, um das Kind nicht zu gefährden, wusste sie, auch wenn sie von schwerer Arbeit eine etwas andere Definition als Corvinus hatte. Aber jetzt durfte sie nicht einmal mehr irgendwohin fahren? Wenn es nach ihr gegangen wäre, sie wäre liebend gern nach Mantua geritten, aber daran hatte sie noch nicht einmal gedacht, Louan hatte schließlich von einem Wagen gesprochen. Daran konnte doch wirklich nichts Gefährliches sein für ihr Kind. Altbekannter Trotz wallte in ihr auf und kämpfte mit der Seite in ihr, die ihn schlicht bitten wollte. Keins von beiden gewann, und ohnehin konnte sie hier, mit all den Leuten um sie herum, nicht so mit ihm reden wie sie es getan hätte, wären sie allein.


    "Ich bin schwanger. Nicht krank oder so", erwiderte sie schließlich nur, Corvinus dabei ansehend. "Ich passe auf, das ist doch dann in Ordnung. Und Louan und Caelyn, die können auch passen auf." Ihr Tonfall war eine seltsame Mischung, wollte sie doch so klingen, als ob sie schlicht eine Tatsache aussprach, und schimmerten doch ungewollt sowohl Trotz als auch Bitte unterschwellig durch. Saturnalien hin oder her, wenn Corvinus wirklich strikt dagegen war, würde sie wohl nicht mitfahren. Was den Wettkampf selbst betraf, war es ohnehin seine Entscheidung, auch wenn sie sich das gerne angesehen und Louan angefeuert hätte. Dann allerdings, beschloss sie insgeheim, wollte sie irgendetwas anderes unternehmen – es konnte doch nicht wahr sein, dass Alexandros problemlos mit konnte, aber für sie alles verboten war, was in irgendeiner Form interessant war oder Spaß machte, nur weil sie schwanger war. Und wenn das Kind erst mal auf der Welt war, würde sie auf diese Sache zurückkommen und auf einem Ausflug bestehen, ob nun Mantua oder woandershin, war ihr egal.


    Der Keks hatte sich inzwischen schon zur Hälfte in Krümel zerbröseln lassen, als Louan Corvinus aufforderte, ebenfalls mitzukommen. Sivs Blick flog erneut zu ihm, und wer sie kannte, mochte in ihren Augen lesen können, was jetzt in ihr vorging – wenn Alexandros oder andere Sklaven mitkonnten, das ließ sie sich noch eingehen. Wenn aber Corvinus ebenfalls mitfuhr, während sie hier in der Villa versauern musste, dann ging ihr das eindeutig zu weit. Andererseits, wenn er mitkam, hatte er keinen Grund mehr, sie hier zu lassen, konnte er dann doch selbst auf sie acht geben. Was im Umkehrschluss aber bedeutete, dass sie tatsächlich würde aufpassen müssen, nach seinen Maßstäben, nicht nach ihren. Es sei denn, sie musste nicht die ganze Zeit in seiner Nähe sein, was auch gut sein konnte – oder eben nicht. Immerhin kannte er sie, und wenn sonst keiner dabei war, der acht gab… Siv unterdrückte ein Seufzen, als ihr ihre Gedankengänge selbst etwas zu wirr wurden. Es spielte auch nicht wirklich eine Rolle. Sie konnte schlecht nein sagen, wenn Corvinus die Karte mit der Gesundheit ihres Kindes ausspielte. Das war einfach der höchste Trumpf, ein unschlagbares Argument, zumal Siv selbst kaum Erfahrung mit Schwangeren hatte und dem, was sie aushielten oder was gefährlich war – und schon gar nicht damit, selbst schwanger zu sein. Trotzdem hatte ihre Stimme – trotz aller bemühten Unschuld – einen leicht lauernden Unterton, als sie nachfragte: "Ja, willst du mit?"

    Ein wenig verwundert ob seiner Frage musterte Siv Corvinus. Sie hätte eher erwartet, dass er sich freute, weil sie sich nicht nur mit dem begnügte, was ihr hier nützte, weil sie mehr lernen wollte, hatte gedacht, dass er sie vielleicht sogar ermutigte. Ein winziger Hauch von Enttäuschung streifte sie, dass er, wenn sie den zweifelnden Unterton in seiner Stimme richtig deutete, sie nicht zu verstehen schien. Sie war immer schon wissbegierig gewesen. Früher, in Germanien, war sie durch die Wälder gestreift und hatte alles erkundet, was sich ihr bot, sie hatte vor allem in den Ställen mitgeholfen und bei den Heilkundigen gearbeitet, sie hatte sogar dem Schmied bei seiner Arbeit zugesehen und geholfen, so weit es ihr gestattet war – das einzige, worauf sie nie neugierig gewesen war und wovor sie sich immer gedrückt hatte, waren die typischen Frauenarbeiten gewesen, und obwohl viele ihres Stammes den Kopf geschüttelt hatten, hatte ihr Vater es nie fertig gebracht, ihr diese Arbeiten zu verbieten. Vieles von dem, was sie früher gern getan und gelernt hatte, war hier nicht mehr möglich, aber dafür boten sich andere Möglichkeiten, und ungleich mehr, als sie sich noch vor zwei Jahren je hätte träumen lassen. "Warum nicht?" fragte sie zurück. "Neues ist gut. Ich mag neues, neues zu sehen, zu lernen. Das ist… interessant, das ist aufregend. Und andere Sprache, das… ich finde das… eindruckt… fas, faszi… mh. Faszinierend" behalf sie sich schließlich doch mit Germanisch. "Also, dass die einen reden und andere nicht verstehen. Und, wie ich langsam anfange, das verstehen, und immer mehr, je mehr ich kann. Und… ich mag zu verstehen, das, also, wenn andere reden." Siv musterte ihn, sein Gesicht, suchte nach Zeichen dafür, dass er doch verstand. Dass Corvinus möglicherweise den Wunsch hegen könnte, dass ihrer beider Kind einsprachig aufwuchs, auf die Idee kam Siv gar nicht. Für sie war klar, dass sie nicht nur Germanisch sprechen würde in Gegenwart ihres Kindes, sondern dass sie es ihm auch beibringen würde. Germanien war ein Teil von ihr und würde es immer bleiben, und damit war es auch ein Teil ihres Kindes. "Ich mag neues Wissen. Und hier, hier ist so viel davon."


    Seine rasche Antwort auf ihre Gegenfrage überraschte sie beinahe ebenso sehr wie die Frage danach, ob sie nach Hause gehen würde. Die Zukunft des Kindes? Siv hatte noch nicht wirklich darüber nachgedacht – hauptsächlich, weil sie es verdrängte. Sie wusste, dass die Kinder von Sklaven ebenfalls Sklaven waren, und auch wenn sie sich mit diesem Schicksal mehr oder weniger abgefunden hatte – woran Corvinus und ihr Verhältnis zueinander einen großen Anteil hatte –, war das doch nichts, was sie ihrem Kind wünschte. Aber noch merkte sie kaum etwas von ihrer Schwangerschaft, außer der Übelkeit. Ihre Figur war normal, und bis sie tatsächlich Tritte oder ähnliches in ihrem Leib spüren würde, würde noch einige Zeit vergehen. Noch war es leicht zu verdrängen, dass ihr Kind ebenfalls Sklave sein würde, wenn sich nicht irgendeine Lösung fand, noch hatte sich für sie nicht einmal der richtige Zeitpunkt ergeben, sich damit tatsächlich bewusst auseinander zu setzen, zumal Corvinus – der der einzige war, der daran etwas ändern könnte – ihr aus dem Weg gegangen war, seit ihrer Unterhaltung im Stall. Und in den Momenten, in denen sie darüber nachgedacht hatte, hatte sie sich versichert, dass Corvinus das Kind freilassen würde. Es war auch sein Kind, sein Sohn oder seine Tochter. Er würde nicht wollen, dass es ein Sklavendasein führte, da war sie sich sicher. Ob das nach römischen Gesetzen überhaupt möglich war, daran verschwendete sie keinen Gedanken. Sie schwieg einen Augenblick, während sie ihre Unterlippe zwischen die Zähne zog und sie langsam wieder freigab. "Mh", machte sie. "Seine Zukunft ist hier. Bei mir. Bei dir. Jedenfalls, erst mal."

    "Es hilft ja. Etwas. Davor, das war schlimmer", antwortete Siv. Dann zog sie nachdenklich die Nase kraus. "Mh, aber… das ist doch normal. Nicht? Also, dass ich hab Hunger, auf seltsame Sachen?" Sonderlich viel Erfahrung hatte Siv mit Schwangeren auch nicht – sie hatte zwar geholfen, bei denen, die sich auf Heilkunde verstanden, aber wenn es um Schwangere ging, hatte sie sich dann doch häufig gedrückt, wenn es ging. Sie hatte kein Problem mit Kranken, aber schwangere Frauen hatten ihr immer ein bisschen Angst gemacht – weil schwanger zu werden in ihren Augen nur allzu häufig für das gestanden hatte, was sie um jeden Preis hatte vermeiden wollen: zu heiraten, sich niederzulassen, ihrem Mann eine gute Frau zu sein und nicht mehr. Den Erwartungen zu entsprechen. Ihre Freiheit aufzugeben. Und wer wusste es schon, wäre sie damals von Ragin schwanger geworden, hätte es das vermutlich für sie bedeutet, hätte er sie dazu gedrängt, mehr und mehr in diese Rolle zu schlüpfen. Ein Mundwinkel zuckte kurz nach oben, als sie daran denken musste, und daran, wie anders ihre Situation nun war.


    "Mühsam, ja." Sie seufzte. Es störte sie ja selbst, dass es nicht mehr vorwärts ging, und sie hoffte, dass sich das bald wieder änderte. Bei seinen nächsten Worten dann musste sie schmunzeln. "Ah, wenn ich fluche, das verstehst? Sehr gut. Das ist wichtigstes. Und bitte verbesser mich. Das hilft. Das muss helfen. Ich will auch Griechisch lernen, weißt du das? Ein bisschen kann ich schon. Fluchen." Siv grinste breit, nur um gleich darauf zusammenzuzucken und einen amüsierten Laut hören zu lassen, als sein Zeigefinger sein Ziel fand und sie piekste. Dann, als sein Kopf von ihrer Schulter glitt und wieder seinen Platz auf dem Kissen fand, drehte sie sich auf die Seite, so dass sie sein Profil betrachten konnte. Im nächsten Augenblick hob sie ihren Kopf erstaunt an, stützte sich mit dem Ellbogen ab und musterte im fahlen Schein sein Gesicht. Nach Hause zu gehen? Siv konnte sich nicht erklären, warum er das nun auf einmal fragte. Sie konnte nicht so recht glauben, dass er befürchtete, sie würde einen erneuten Fluchtversuch starten. Aber aus welchem Grund er sonst auf einmal diese Frage stellte, wusste sie auch nicht. Lange überlegen musste sie allerdings nicht. "Nein", antwortete sie schlicht. Sie brauchte nicht mehr Worte, um auf seine Frage zu antworten. Sie wollte nicht weg, wollte nicht gehen, auch nicht nach Germanien – nicht wenn das hieß, dass sie ihn dafür verlassen musste, und das würde es heißen. Germanien bedeutete ihr immer noch viel, aber letztlich war es nicht mehr ihre Heimat. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es sein mochte dort wieder zu leben – oder irgendwo anders –, wenn Corvinus nicht bei ihr war. Und jetzt, wo sie sein Kind erwartete, kam es für sie noch viel weniger in Frage zu gehen. "Warum fragst du?"

    Da Siv sich größtenteils auf Corvinus und die andere Sklavin konzentrierte, entging ihr Trautwinis Grinsen – zum Glück. Hätte sie es gesehen, hätte Brix’ Kommentar nicht mehr viel gebracht. So aber warf sie dem Maiordomus nur einen grimmigen Blick zu. "Du hast leicht reden", murrte sie. Dann lenkte sie ihren Blick wieder nach vorne. Gerade rechtzeitig, um, im Gegensatz zu Corvinus, die rüde Geste des Griechen zu sehen. "Oooh du widerliches kleines Stück Dreck, du", zischte sie leise und funkelte den Händler an. Was bildete der sich ein? Sicher wusste Siv, dass der Händler von etwas ausging, was im Grunde für viele Römer normal war – aber trotzdem, was bildete der sich ein?!? Er konnte doch nicht einfach davon ausgehen, dass Corvinus aus diesem Grund Interesse hatte, aber er tat es nicht nur, er unterstellte es ihm sogar fast. Siv freute sich schon auf die Abreibung, die er nun bekommen würde. Sie kannte Corvinus, sie wusste, dass er von solchen Anspielungen nicht viel hielt, schon gar nicht, wenn sie von einem schmierigen Kerl wie diesem Händler da kamen. Sie freute sich darauf, weil der Grieche nichts anderes verdient hatte. Und sie freute sich darauf, weil Corvinus’ Reaktion gleich zeigen würde, dass sie nichts zu befürchten hatte, dass dieses ungute Gefühl, das sie noch nicht bereit war als Eifersucht anzuerkennen, unbegründet war.


    Dann machte Corvinus den Mund auf. Und Sivs Unterkiefer sank ein Stück nach unten, langsam nur, wie zäher Honig, der von einem Löffel tropfte. "Das… aber…" Brix’ Hand auf ihrem Arm spürte sie kaum in diesem Moment. Sie war fassungslos. Sie hatte fest damit gerechnet, dass der Händler, wenn schon keine komplette Abfuhr, dann so doch wenigstens einen deutlichen Kommentar zu hören bekommen hätte. Aber Corvinus, jedenfalls sah es für sie so aus, nahm eben jene Geste zum Anlass, nach dem Preis zu fragen. Der Beutel mit dem Geld fiel aus ihrer Hand und landete mit einem Klirren auf dem Boden vor ihren Füßen, und Corvinus fragte, ob Charis mit Pflanzen umgehen konnte. "Was? Was, wieso-" Siv schnappte nach Luft. Pflanzen? Wieso interessierte es ihn, ob sie mit Pflanzen umgehen konnte? Für einen winzigen Moment wurde Siv beinahe schwindlig. Es war Unsinn, versuchte sie sich zu sagen, sie bildete sich irgendwas ein, Corvinus würde keine Sklavin kaufen als Ersatz für sie, aber alles, was sie zu sehen und zu hören bekam, deutete darauf hin. Ohne nachzudenken machte sie einen Satz nach vorn, um an Corvinus’ Seite zu kommen – das hieß, sie wollte einen machen, aber Brix’ Hand lag immer noch auf ihrem Arm und hielt sie zurück. Siv versuchte sich loszumachen und drehte sich gleichzeitig zu dem Maiordomus um, während sie mit dem freien Arm gestikulierte. "Lass mich los! Das ist nicht sein Ernst, oder, ich meine, er braucht niemanden für irgendwelche Wünsche, egal wie besonders, und er braucht niemanden, der sicht mit Pflanzen auskennt, der Garten ist m e i n e Sache, wieso will er das wissen?"

    Zwiebeln. Bei den letzten Happen hatte sie die Zwiebelhalbringe vernachlässigt, fiel Siv auf. Geradezu sträflich vernachlässigt hatte sie sie. Ein weiterer Keks wurde aus der Dose gezogen, mit etwas Honig beträufelt und dann mit gleich mehreren Zwiebelstückchen belegt. Obenauf kam eine Olive, und dann wanderte auch dieses Gebilde in Sivs Mund. Alexandros grinste sie nur zu, als dieser – etwas verspätet – endlich begriffen hatte, wovon sie gerade gesprochen hatte, aber da sie gerade kaute, blieb sie ihm eine Antwort schuldig. Stattdessen zuckte sie nur die Achseln und bemühte sich, unschuldig auszusehen. Noch ein paar mehr dieser Andeutungen, nicht auf Alexandros bezogen, sondern andere männliche Sklaven, und sie würde hoffentlich bald ihre Ruhe haben. Caecus eignete sich dafür, und Trautwini, überlegte sie. Die beiden würden vermutlich gar nicht groß reagieren, wenn irgendjemand ankam und sie darauf ansprach. Ihr Blick wanderte zu Sofia, und sie zog kurz die Nase kraus. Dass das Soffchen aufgeben würde, konnte sie sich nicht vorstellen, und auch Dina war kritisch – jedenfalls wenn Rollo sich in den Kopf setzte, den Vater erfahren zu wollen. Aber der Rest ließ sich damit vielleicht abspeisen, genug jedenfalls um zu begreifen, dass sie über den Vater nicht reden wollte.


    Während Gesprächsfetzen durch die Küche flogen und Louan von dem Wettkampf berichtete, und damit von ihr und ihrer Schwangerschaft ablenkte, wofür sie ihm sehr dankbar war – sogar Sofia sagte nichts mehr –, kam Nuala herein, und wie sie alles zusammenwürfelte, was sie mitbekommen hatte, ließ die Germanin erneut grinsen, auch wenn ihr nach wie vor etwas unbehaglich zumute war. Sie musterte Nuala kurz, dann streifte ihr Blick Corvinus, der sie ebenfalls ansah. Einen Augenblick blieben ihre Augen auf seinen haften, und sie fragte sich, was er gerade dachte, was in ihm vorging, ob er sich so unwohl fühlte wie sie. Es gab Momente, da wünschte sie sich, sie wäre so gut wie er in der Lage zu verbergen, was in ihr vorging. "Ich möchte mit", sagte sie dann, an Louan gewandt. "Auch bei dem Wettkampf. Wenn das in Ordnung ist", fügte sie hinzu, in Richtung Corvinus. So wie sie es verstanden hatte, würde der nicht innerhalb der Saturnalien stattfinden, also lag es an ihm zu entscheiden, ob er sie brauchte.