Siv gelang es, den Schrei zu unterdrücken. Nicht einmal ein verdächtiger Laut kam über ihre Lippen – dafür war der Abdruck ihrer Zähne auf ihrem Handrücken deutlich zu sehen, als sie – mit der Hoffnung, sich nun wieder unter Kontrolle zu haben – ihre Arme wieder sinken ließ. Sie starrte darauf und presste die Kiefer aufeinander, dann wandte sie sich ruckartig um, hielt ihre Rechte so, dass der Abdruck nicht zu sehen war, und sah wieder zu Corvinus und seiner Besucherin, die sich gerade in Bewegung setzten. Immerhin schienen die beiden nichts gemerkt zu haben – Siv wagte zu bezweifeln, dass sie in der Lage gewesen wäre so zu tun, als ob sie sich gerade dem Busch widmete, weil sie vorgeblich ein trockenes Blatt oder ähnliches entdeckt hatte. Sie folgte ihnen, nach wie vor schweigend, hin bis zur nächsten Vorzeige-Pflanze. Siv war sich im Klaren darüber, warum er die Römerin zu welchen Pflanzen führte, welche er noch zeigen würde. Natürlich waren die seltenen, die nicht in Italien Heimischen, diejenigen, die sich am besten eigneten um bewundert zu werden. Und das waren auch die, die am meisten ihrer Aufmerksamkeit bedurften und ihr selbst am meisten am Herzen lagen, hatte sie doch nicht wenig Mühe investiert in gerade diese Pflanzen – und nicht zuletzt war sie auch stolz darauf, was sie geleistet hatte. Trotzdem störte es sie, dass die anderen so wenig Beachtung fanden. Immerhin kümmerte sie sich auch um diese – und sie gediehen ebenso gut. Als Corvinus dann aber zu ihr sah, sich positiv überrascht zeigte, sie sogar lobte, war für diesen einen Moment sowohl der Ärger als auch die Verwirrung vergessen. Der Anflug eines Lächelns zeigte sich auf ihrem Gesicht, und der innere Aufruhr legte sich vorübergehend. Sie bemerkte nicht, wie die Flavierin erstarrte, es machte ihr in diesem Moment nicht einmal etwas aus, dass Corvinus sich, noch bevor sie antworten konnte, schon wieder an die Römerin wandte.
Lange dauerte der Moment allerdings nicht an. Ein vages Gefühl der Erleichterung blieb nach wie vor, aber schon bald musste sie wieder daran denken, wie Corvinus sich verhalten hatte, gerade an diesem Tag, und das Unverständnis dafür war wieder da. Zusätzlich ergriff jetzt die Flavierin das Wort – und man musste Latein nicht fließend beherrschen, um ihren Kommentar zu verstehen. Der Ton und wie sie sie dabei ansah, sagte deutlich genug, was sie von Siv hielt – dass sie in ihren Augen weder ein anspruchsvoller Mensch war, noch dass sie einem anspruchsvollen Menschen geben konnte, was er brauchte. Mühsam schluckte Siv ihren Ärger hinunter. Sie war Sklavin, sie wusste es, und dass die Frau vor ihr zu den Römern gehörte, die Sklaven auf gleiche Stufe stellten mit Tieren, die mal nützlich waren, mal lästig, und dass sie Siv in die Kategorie 'Ungeziefer' gesteckt hatte, war der Germanin auch klar. Sie konnte sich nicht verteidigen dagegen. Corvinus würde es nicht zulassen. Und selbst wenn er unter anderen Umständen, gegenüber einem anderen Römer, verhalten angemahnt hätte, dass keiner das Recht hatte, so mit seiner Sklavin zu reden – wovon Siv bei weitem nicht überzeugt war, dass er das überhaupt tun würde –, so wie er sich gegenüber der Besucherin verhielt, würde ihm das bei ihr nicht einmal im Traum einfallen. Sie presste die Lippen aufeinander, atmete tief ein – und verkniff sich diverse germanischen Flüche und Beschimpfungen, die ebenso schillerten wie die Blütenpracht um sie herum. Es lohnte sich nicht. Nicht gerade jetzt, wo sich zu bewahrheiten schien, was Brix ihr gesagt hatte, nämlich dass Corvinus nach wie vor zu schätzen wusste, was sie im Garten leistete. Selbst wenn er sie tatsächlich nur deswegen behalten hatte, wie er gesagt hatte. Nicht verhindern konnte sie, dass ihre Augen blitzten und ihre Stimme nicht ganz so zurückhaltend klang, wie sie vorgehabt hatte. "Pflanzen brauchen Zuwenden, Aufmerksamkeit. Wie Tiere. Oder Menschen", fügte sie noch an. "Die Ravenala habe ich getan in Erde, mit gemischt von… aus Stall. Mit Mist. Und Wärme ist gut, das ist weil sie da steht. So ist die Sonne fast den, den ganzen Tag da, scheint da." Für den Winter würde sie sich etwas überlegen müssen. Die Temperaturen waren kein Vergleich zu denen in Germanien, aber es konnte auch sehr kühl werden, und Siv wollte nicht herausfinden, wie viel die Ravenala aushielt.
Sie sah kurz zu dem vergleichsweise noch kleinen Baum hinüber, der erst seit kurzem hier war, aber schon sichtbar an Höhe gewonnen hatte. Siv verriet nicht, dass sie momentan noch an ihrer eigenen Körpergröße alle paar Tage maß, wie viel die Ravenala gewachsen war, auch wenn sie wusste, dass es sinnlos war. Sie war nicht bei allen Neuzugängen derartig aufgeregt, aber wenn der Händler schon sagte, dass die Chancen auf ein gutes Gedeihen eher gering waren, fühlte sie sich bei ihrem Stolz gepackt. Noch schlimmer war es bei der Orchidee, die ebenfalls zur Sprache kam. Sie hatte noch keine Ahnung, wie diese Pflanze aussehen würde, wenn sie erst mal erblühen würde, aber Sklavenjunge, der sie vom Markt hergebracht hatte, hatte ihr glaubhaft versichert, sie würde traumhaft aussehen. Siv sah täglich nach der Orchidee, die einen allzu kläglichen Eindruck gemacht hatte, als sie sie bekommen hatte, und das obwohl sie angeblich das beste Exemplar gewesen war, das der Händler zur Verfügung gehabt hatte. Orchideen seien furchtbar empfindlich, so der Junge, während des Transports seien etliche eingegangen. Eine Weile hatten sie im Garten gestanden und gefachsimpelt, bevor der Junge sich wieder auf den Weg hatte machen müssen, und Siv hatte anschließend nach einem Plätzchen gesucht für die Orchidee, ihre Orchidee. Bei dieser Pflanze war es nicht nur ihr Stolz, der sie trieb, und auch nicht nur ihre Liebe zu Pflanzen. Sie fühlte sich auf seltsame Art verbunden mit ihr, gerade mit diesem Exemplar, das einer so empfindlichen Pflanzenart entstammte und doch sämtliche Strapazen überstanden hatte, nicht gewillt war aufzugeben, obwohl sie ihrer Heimat entrissen und weite Wege transportiert worden war, nur um in Rom verkauft zu werden. Siv wollte ihr um jeden Preis hier, in diesem Garten, ein neues Zuhause bieten, ein echtes Zuhause. Und es schien, als ob ihr das gelang – die Blätter gewannen an Kraft und Farbe, und erst gestern, als sie abends noch einmal in den Garten gegangen war, hatte sie einen neuen Trieb gesehen. Es war keine neue Wurzel, die teils in der lockeren Erde waren, teils in der Luft hingen, so wie der Junge es ihr geraten hatte. Es war auch kein neues Blatt, da war sie sich sicher. Es war etwas anderes, und was konnte es anderes sein, als der Austrieb einer neuen Blüte? Sie hatte eine halbe Stunde vor der Pflanze gesessen und ihr gut zugeredet, sie gelobt, sie angetrieben. Sie war viel zu aufgeregt gewesen, um darüber nachzudenken, wie sie dabei auf andere hätte wirken können.
"Die Orchidee ist Pflanze, die will viel, viel Aufmerksamkeit, mehr als andere Pflanzen. Sie ist dort", Siv wies auf eine Stelle nicht weit entfernt und setzte sich, nach einem kurzen Blick zu Corvinus, in Bewegung. Wollte sie der Flavierin überhaupt die Orchidee zeigen, oder ihr erzählen, wie sehr sie sich um diese Blume bemühte? Nein, wollte sie nicht. Aber die Römerin würde ohnehin den gesamten Garten zu Gesicht kriegen, wenn sie das wollte, dafür würde Corvinus schon sorgen. "Es geht ihr gut." Nun hatte ihre Stimme unterschwellig sowohl einen stolzen wie auch leicht herausfordernden Tonfall. Als sie angekommen waren, überließ sie es aber Corvinus, den neuen Trieb zu entdecken, falls er ihn nicht schon gesehen hatte.