Beiträge von Aureliana Siv

    Cassim sah nicht so aus, als ob er mit Runen etwas anfangen könnte, aber das hatte Siv auch nicht wirklich erwartet. Darüber hinaus schien er auch nicht sonderlich begeistert zu sein von der Tatsache, dass sie nicht lesen und schreiben konnten, aber was hatte er auch erwartet? Sicher kannte sie inzwischen den ein oder anderen Buchstaben, und sie war auch neugierig darauf, aber das hier war das erste Mal, dass sie unterrichtet wurden, und sie waren Sklaven – die freie Zeit reichte ja schon kaum aus, um ihr Latein wirklich zu verbessern, über das Maß hinaus, welches sie für den Alltag brauchte. Und das, obwohl Siv durchaus wissbegierig war und sich bemühte, sich zu verbessern, im Gegensatz zu manchen anderen Sklaven. Abwartend setzte sie sich hin und beobachtete das kurze Intermezzo zwischen Kleochares und Cassim, die sich nicht so ganz einig schienen, wie sie denn nun am besten die Buchstaben lernen sollten, dann nahm sie von dem Parther eine der Wachstafeln entgegen.


    Ihre linke Augenbraue wanderte gleich darauf nach oben, als sie die Erklärung hörte. Eigentlich war Cassim ihr recht sympathisch erschienen, aber im Moment hatte sie eher das Gefühl, dass er sie für blöd hielt – und das nur, weil sie nicht lesen konnten? Dass ihr Latein weit davon entfernt war, wirklich korrekt zu sein, konnte es nicht sein, das hatte ihn zuvor ja auch nicht gestört. Sie machte den Mund auf, um zu protestieren, aber Cassim sprach bereits weiter, und Siv beschloss, sich erst einmal anzusehen, wie er sich weiter verhielt. Sie freute sich auf diesen Unterricht, freute sich darauf, etwas zu lernen, aber ob sie eine bequeme oder unbequeme Schülerin sein würde, hing ganz davon ab, wie dieser Parther mit ihr umsprang :D – unabhängig von den Parallelen, die sie entdeckt zu haben meinte, davon, dass er neu hier in Rom war und seine Heimat ebenso sehr zu vermissen schien wie sie die ihre. Vorerst aber schwieg sie, besah sich die Buchstaben, die er aufgeschrieben hatte, und startete einen eigenen Versuch.



    Kritisch begutachtete sie anschließend ihr "Werk". Nicht so perfekt wie die Vorlage, aber so häufig, wie die Menschen hier schrieben, hatte sie Runen zu Hause auch nicht in irgendeiner Form festgehalten. Sie waren einfach kein Mittel zur schriftlichen Kommunikation, wie die Römer ihre Buchstaben verwendeten. Die Übung, die sie hatte, reichte aber immerhin aus, das Ergebnis doch halbwegs gut aussehen zu lassen.

    Sim-Off:

    Ähm -.^ Dass es im Garten eine Orchidee gibt, hat Corvi zuerst erwähnt, nicht Siv ;)


    Siv bemerkte nicht, dass Corvinus ihr Kommentar zu amüsieren schien. Wann immer sie ihn mit einem Seitenblick streifte, sah sie nur, dass er sie nicht wirklich wahrnahm. Die Antwort der Römerin dagegen zeigte erneut zu deutlich, was diese von ihr hielt. Diesmal fühlte sich Siv tatsächlich getroffen, und für einen Moment fragte sie sich, wie ein Mensch mit simplen Worten so verletzend sein konnte, während sie um ihre Fassung rang. "Ja, Mist", antwortete sie, ihre Stimme lange nicht so bissig, wie sie es eigentlich wollte, dafür schwankender, als ihr lieb war. "Schöne Dinge brauchen Mist, für sein schön, oft." Siv meinte diesen Satz so, wie sie ihn sagte – gerade die Exoten in diesem Garten brauchten irgendeinen Dünger, um gedeihen zu können. Hintergedanken waren ihr fremd, und Worten eine andere Bedeutung zu verleihen ebenso, selbst in ihrer Muttersprache. Daher fiel ihr selbst nicht auf, dass man diesen Satz auch als auf die Flavia gemünzt verstehen konnte.


    Dieser ganze Tag schien bisher ein einziger Reinfall zu sein, und die Masse an Gefühlsstürmen, die sie heute schon durchlebt hatte, wurde langsam zuviel. Vermutlich lag es daran, dass es ihr ganz gegen ihre sonstige Art nicht gelang, sich in Wut zu flüchten, sondern sie ganz im Gegenteil Tränen unterdrücken musste. Mit Mist arbeiten. Das war also die richtige Aufgabe für sie. Sivs Hände zitterten, und der Blick, der Corvinus diesmal traf, war ein stummes Flehen. Tu mir das nicht an. Ich weiß, was ich alles falsch gemacht hab. Bestraf mich dafür wie du willst, aber tu mir das hier nicht weiter an. Wenn das so weiterging, würde sie auf kurz oder lang erneut die Beherrschung verlieren – und dann würde sie vermutlich etwas tun, wofür sie tatsächlich entweder weggesperrt oder verkauft werden würde, vorausgesetzt, sie schaffte es nicht wieder sich rechtzeitig in die Küche zu flüchten. Legte Corvinus es etwa darauf an? Dass sie ihm einen Vorwand lieferte, sie loszuwerden? Dass er keinen Vorwand brauchte, um eine seiner Sklavinnen zu verkaufen, daran dachte sie im Moment nicht. Stattdessen bemerkte sie nur, wie Corvinus sich wieder der Flavia zuwandte, und – ebenfalls ganz entgegen ihrer Art – ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, wandte sie sich ab. Auf einmal hatte sie es eilig, davon zu kommen, und so strebte sie der Orchidee entgegen, auch wenn sie an Corvinus’ Reaktion bemerkte, dass auch das falsch gewesen war – was sie nicht verstand, denn immerhin war nicht sie es gewesen, die von der Orchidee angefangen hatte, und davon, dass gerade bei dieser Pflanze die Pflege so schwierig war. Sie hatte das nur als Stichwort aufgefasst. Aber wer war sie schon zu verstehen, was Römer wie meinten. Worte schienen nicht ihre Stärke zu sein, nicht in der Art, wie die Römerin sie benutzte. Worte waren dazu da, etwas direkt zu sagen – nicht sie auf hinterlistige Weise so zu verdrehen, dass sie in Wahrheit etwas ganz anderes aussagten, und auf diese Weise sogar verletzten, ohne dass es allzu offensichtlich wurde, ohne dass man sich wehren konnte.


    Stumm ging Siv zu dem Platz, wo die Orchidee hingebracht worden war, ihre Bewegungen bei weitem nicht so anmutig, wie sie es für gewöhnlich waren – zu groß war die Anspannung, unter die sie ihren Körper augenblicklich gesetzt hatte, um sich zu beherrschen. Ebenso stumm blieb sie stehen und wartete, beobachtete, wie beide Römer hinter ihr herkamen, wie sie die Orchidee betrachteten, wie sie über sie schwärmten. Erst beim letzten Satz der Flavia sah Siv wieder hoch, mit brennenden Augen. "Nichts ist vollkommen", meinte sie, ihre Stimme rau und mit einem seltsamen Unterton. So sehr sie selbst die Orchidee liebte, so viel Mühe sie bereits in sie investiert hatte, Siv wusste, dass auch diese Pflanze nicht perfekt war. Sie mochte wunderschön anzusehen sein, wenn sie erblüht war, ebenso wie die Flavia wunderschön anzusehen war. Genauso gut konnte sie aber im Inneren bereits verrottet sein, oder andere aussaugen für ihre eigene Perfektion – bei Pflanzen war alles möglich. Genauso wie bei Menschen. Sie sah wieder auf die Orchidee hinunter, musterte den noch winzigen Trieb, der bisher niemandem außer ihr aufgefallen zu sein schien, und schwieg erneut. Jetzt würde sie sich eher die Zunge abbeißen, als darauf aufmerksam zu machen – oder darauf, dass die Pflanze nicht mehr so kläglich aussah wie noch vor kurzem, als der Händler sie hatte bringen lassen. Sie hatte ihre Methoden, die Pflanzen in diesem Garten zum Gedeihen zu bringen, und sie hatte Erfolg damit – was brauchte es sie zu interessieren, was diese Römerin davon hielt? Zumal sie nicht die geringste Ahnung hatte, was Siv noch alles tat. Herauszufinden, welcher Dünger für welche Pflanze am geeignetsten war, war nur ein Aspekt. Die Erde musste die richtige sein, der Standort, die Temperatur, die Wassermenge… es gab so vieles, was stimmen musste, damit der Garten so aussah, wie er es tat. Es gab so vieles zu wissen, und abgesehen von dem Wissen, das sie über die Gewächse aus ihrer Heimat hatte, hatte sie sich alles hier angeeignet, hatte sich von Händlern und Laufburschen erzählen lassen, was die gekauften Pflanzen bevorzugten, hatte sie und andere gefragt, wie es in den Ländern aussah, wo die Gewächse herstammten, hatte Brix genervt, damit er mit ihr in die Bibliothek ging und nach Hinweisen aller Art suchte und sie für sie übersetzte. Sie wusste es nicht, aber sie ging davon aus, dass keiner, auch Corvinus nicht, eine Ahnung hatte, wie viel ihrer Zeit, gerade ihrer spärlichen freien Zeit, und wie viel Mühe sie tatsächlich in diesen Garten investierte. Brix mochte eine Ahnung davon haben, war er doch derjenige, den sie laufend um Übersetzungen gebeten hatte und immer noch bat, und der jetzt, als Maiordomus, noch mehr darüber informiert war, was sie tat. Ob er das allerdings weitergegeben hatte, wusste sie nicht, und sie bezweifelte es. Sie hob den Blick und sah hinüber in die Ecke, in der die große Eiche stand, in einigem Abstand dahinter ein paar Tannen, und dazwischen einige Beete, in die sie die Blumen und Kräuter eingepflanzt hatte, die sie von Germanien mitgebracht hatte. Danach glitt ihr Blick in die Richtung, in der der Stall lag, bevor sie ihn mit zusammengebissenen Zähnen auf den Boden vor sich richtete. Sie konnte hier nicht weg, und auch wenn es ihr mit jedem Moment schwerer fiel, sie würde sich zusammenreißen müssen.

    Siv bemerkte durchaus die seltsamen Blicke, die die beiden anderen ihr zuwarfen, und zumindest Fhionns konnte sie auch einordnen – dass Louan sie möglicherweise verstanden hatte, auf die Idee kam sie nicht, obwohl er ja auch aus Germanien gekommen war. Sie ignorierte aber beide, Louans, weil sie nicht wusste was er dachte, Fhionns, weil sie nicht darauf eingehen wollte, weswegen sie sich gerade eher zierte. Sie hatte schon keine Lust, über Liebe und dergleichen zu reden, sie wollte erst recht nicht auf Corvinus zu sprechen kommen, oder das, was sie für ihn empfand. Was sie sich wünschte. Was sie nicht bekommen würde und daher so sinnlos war, dass sie es am besten vergaß. Wozu sie aber augenscheinlich nicht in der Lage war.


    Kaum hatte Siv, eher widerwillig, zugestimmt, wurde Louan zu einem Freudenbündel. Die Germanin argwöhnte, dass er am liebsten an die Decke gesprungen wäre, und sie war sich nicht ganz sicher, ob sie das hätte sehen wollen, oder ob sie doch froh war, es zu verpassen. Dann wanderte ihre linke Augenbraue nach oben, als er über Frauen sprach. Die Kinder basteln Bärenfiguren aus Naturmaterialien und dekorieren damit das Lager. "Frauen? Was ist mit Frauen?" Ihre Stimme klang ehrlich interessiert, aber ihre Augen begannen gefährlich zu funkeln. Sie war nicht wirklich gut drauf im Moment, nicht nur wegen Corvinus und dieser Sache mit der Liebe, sondern auch, weil sie im Garten ein paar Probleme hatte. Zwei Pflanzen machten Schwierigkeiten, beides Neuankömmlinge, die schön anzusehen waren, von denen aber der Händler selbst keine Ahnung gehabt hatte, was sie brauchten – und an Siv war es jetzt, das herauszufinden. Und sie war noch nicht erfolgreich gewesen. Wenn dann noch jemand mit dummen Sprüchen kam, oder die Andeutung eines dummen Spruchs machte…


    Wieder war es Fhionn, die zumindest für Ablenkung seufzte. Siv schwankte für einen Moment, ob sie nicht doch Caelyn etwas sagen sollte, und sei es nur, damit sie ihrem Bruder einen auf den Deckel gab – aber wenn Louan einen Denkzettel brauchte, dann konnte sie ihm den auch selbst verpassen. :D "Gut", meinte sie also schließlich. "Kein Wort, zu Caelyn. Wo ist sie?"

    Siv sah Alexandros dabei zu, wie er Fhionns Haar kämmte, sah, wie die Keltin die Augen schloss und einen friedlichen Gesichtsausdruck bekam, wie sie es genoss. Ihre Brust wurde eng, als der Wunsch auftauchte, irgendjemand würde sich um sie so kümmern – nein, nicht irgendjemand. Sie wünschte sich, Corvinus wäre da und würde ihr durchs Haar streichen, würde ihr helfen, die Bilder zu verbannen, die nach wie vor irgendwo in ihrem Kopf darauf lauerten, über sie herzufallen. Sie erschauerte kurz, als sie an die nächste Nacht dachte. An die Alpträume, die sie haben würde. Dann sah sie wieder zu Fhionn und schämte sich sofort. Sie wusste immerhin, dass sie die nächste Nacht noch erleben würde, die Keltin dagegen musste mit etwas ganz anderem fertig werden.


    Mit einem lautlosen Seufzen lehnte sie den Kopf zurück – und hob ihn gleich wieder, als Alexandros plötzlich anfing zu sprechen. Sie sah zu ihm, dann zu Fhionn, und nickte traurig. "Ich hab sagen, was Matho ist. Wie er ist. Aber…" Sie zuckte die Achseln und biss sich auf die Lippen. Alexandros wusste so gut wie jeder andere im Haus auch, wie es derzeit um ihr Verhältnis zu Corvinus bestellt war, genauer, dass Corvinus denkbar schlecht auf sie zu sprechen war. "Ich versuche neu, dann, morgen." Sie warf einen Blick aus dem Fenster und verbesserte sich: "Nachher." Langsam streckte sie die Beine aus – und zuckte im nächsten Moment zusammen. Ihre Augen weiteten sich, als sie den unteren Abschnitt ihrer Tunika und ihre nackten Füße sah. Sie waren über und über mit Blut beschmiert, was sie erst jetzt, durch das immer stärker werdende Licht der Sonne, sehen konnte. Sie bewegte ihre Zehen und konnte ihren Blick nicht davon wenden, als die roten Schlieren darauf in ihrer Fantasie zu Flammen wurden, zu schimmernden Lichtreflexen auf dunkelrotem Blut.

    Siv starrte den Ianitor überrascht an, als der ihr sagte, dass die Römerin gerade eben Epicharis gewesen sei. Im ersten Moment schien ihr Kopf leergefegt zu sein, dann fingen ihr Gedanken zu rasen an. Sie war weg? Wenn sie weg war, dann konnte sie ihr die Nachricht nicht überbringen. Bei allen Arten, auf die sie diese Sache hätte vermasseln können, die sie im Kopf durchgespielt hatte zuvor, war sie nicht auf die Idee gekommen, dass die Claudia schlicht nicht anwesend sein könnte. Die Germanin dachte nicht daran, dass das ja nicht ihre Schuld war, und dass ihr auch kaum jemand die Schuld dafür geben würde daheim – Corvinus nicht, und Brix schon gar nicht. Sie dachte nur daran, dass sie diesen Auftrag, den sie als eine Art letzte Chance sah zu zeigen, zu beweisen, dass sie eben doch zumindest ein gewisses Vertrauen verdiente, dass sie nicht nutz- und wertlos war, dabei war auch in den Sand zu setzen. Siv starrte den Ianitor noch einen Moment an, dann machte sie auf dem Absatz kehrt. "Danke! Ich lauf!" rief sie noch über die Schulter zurück, dann hetzte sie der Römerin hinterher, die sie gerade am unteren Ende der Straße um eine Ecke biegen sah.


    "Halt! Warte!" Dass sie möglicherweise gerade durch dieses Verhalten, das Rennen und Rufen, einen schlechten Eindruck hinterlassen könnte, daran dachte Siv ebenfalls nicht – genauso wenig wie daran, dass die Claudia und erst recht ihr Leibwächter vielleicht auch etwas ganz anderes vermuten könnten, wenn sie die Germanin sie verfolgen sahen. Siv beschleunigte noch einmal, flitzte um die Ecke, die die Claudia und ihr Begleiter zuvor genommen hatten, und wäre beinahe gestürzt. Sie stolperte ein paar Schritte, fing sich im letzten Moment und nahm dann wieder an Geschwindigkeit auf. Die Claudia war ihr immer noch ein gutes Stück voraus, aber immerhin war sie nun in Sichtweite, bis sie um eine weitere Ecke bog. Und Siv bemerkte, in welche Richtung die Römerin ihre Schritte lenkte. Noch einmal legte sie an Tempo zu – wenn Epicharis erst einmal die Märkte erreicht hatte, würde Siv sie mit Sicherheit verlieren, also näherte sie sich der Claudia in fast schon furchteinflößender Geschwindigkeit. Eine Vollbremsung würde ihr mit Sicherheit nicht gut bekommen, aber auch das interessierte sie im Moment wenig. "Warte! Du, Claudia, du, warte, ich hab was!"

    In ihren Augen begann sich ein Gewitter zusammenzubrauen. Oh nein, das war nicht die Reaktion, die sie erwartet hätte – und definitiv nicht die Reaktion, die ihr Ego gewollt hätte. Erst sah er weg, zu seinem Herrn, und Siv war der festen Ansicht, dass er das nur tat, um sie zu reizen. Dann sah er sie an. Aufreizend langsam ließ er seinen Blick an ihr hinunter schweifen und dann wieder hoch. Und die Germanin knirschte mit den Zähnen, während sie innerlich bebte. Das konnte doch einfach nicht wahr sein, was sich dieser Kerl anmaßte, und tatsächlich spürte sie das Bedürfnis, mit dem Fuß aufzustampfen – gerade in dem Moment, in dem sie allerdings dicht daran war es in die Tat umzusetzen, sprach er genau das an. Und Siv beherrschte sich. Sie hätte auch gern noch andere Dinge getan – ihn ein klein wenig nach hinten geschubst, zum Beispiel –, aber so sehr sie das auch reizte, wusste sie doch, dass das noch viel weniger die gewünschte Wirkung erzielen würde. Er würde sich vermutlich nur noch mehr über sie lustig machen, wenn sie sich nun so verhielt, wie er es sogar ankündigte. Für einen kurzen Moment huschte der Gedanke durch ihren Kopf, unter welchen Umstanden es doch befriedigend sein könnte, mit dem Fuß aufzustampfen – nämlich, wenn der ihre auf seinem landete, und das mit einer entsprechenden Wucht. Eine winzige Zeitspanne stellte sie sich vor, das tatsächlich zu tun, dann schob sie das Bild beiseite. Sie würde so was ohnehin nicht tun, nicht geplant, hieß das. Wenn überhaupt, dann in einer Kurzschlussreaktion, die nicht einmal sie vorhersehen konnte.


    Allerdings änderte all das nichts an dem Mann, der ihr gegenüber stand und sie auf provozierende Art musterte – und dass, selten genug, nicht sofort wusste, was sie erwidern sollte. Es dauerte einen Augenblick, bis sie schließlich antwortete, nicht wirklich lang, aber doch lang genug, dass die Pause wohl auffiel. "Oh, du bist toll, ja? Du denkst das, sicher." Ihre Stimme troff vor Sarkasmus. "Hels Höllenhunde können dich holen, wenn’s nach mir geht!" Wieder das Bedürfnis, etwas zu tun, was ihr im Nachhinein vermutlich furchtbar kindisch vorgekommen wäre. "Was du sagst, hast gesagst?"

    Siv gelang es, den Schrei zu unterdrücken. Nicht einmal ein verdächtiger Laut kam über ihre Lippen – dafür war der Abdruck ihrer Zähne auf ihrem Handrücken deutlich zu sehen, als sie – mit der Hoffnung, sich nun wieder unter Kontrolle zu haben – ihre Arme wieder sinken ließ. Sie starrte darauf und presste die Kiefer aufeinander, dann wandte sie sich ruckartig um, hielt ihre Rechte so, dass der Abdruck nicht zu sehen war, und sah wieder zu Corvinus und seiner Besucherin, die sich gerade in Bewegung setzten. Immerhin schienen die beiden nichts gemerkt zu haben – Siv wagte zu bezweifeln, dass sie in der Lage gewesen wäre so zu tun, als ob sie sich gerade dem Busch widmete, weil sie vorgeblich ein trockenes Blatt oder ähnliches entdeckt hatte. Sie folgte ihnen, nach wie vor schweigend, hin bis zur nächsten Vorzeige-Pflanze. Siv war sich im Klaren darüber, warum er die Römerin zu welchen Pflanzen führte, welche er noch zeigen würde. Natürlich waren die seltenen, die nicht in Italien Heimischen, diejenigen, die sich am besten eigneten um bewundert zu werden. Und das waren auch die, die am meisten ihrer Aufmerksamkeit bedurften und ihr selbst am meisten am Herzen lagen, hatte sie doch nicht wenig Mühe investiert in gerade diese Pflanzen – und nicht zuletzt war sie auch stolz darauf, was sie geleistet hatte. Trotzdem störte es sie, dass die anderen so wenig Beachtung fanden. Immerhin kümmerte sie sich auch um diese – und sie gediehen ebenso gut. Als Corvinus dann aber zu ihr sah, sich positiv überrascht zeigte, sie sogar lobte, war für diesen einen Moment sowohl der Ärger als auch die Verwirrung vergessen. Der Anflug eines Lächelns zeigte sich auf ihrem Gesicht, und der innere Aufruhr legte sich vorübergehend. Sie bemerkte nicht, wie die Flavierin erstarrte, es machte ihr in diesem Moment nicht einmal etwas aus, dass Corvinus sich, noch bevor sie antworten konnte, schon wieder an die Römerin wandte.


    Lange dauerte der Moment allerdings nicht an. Ein vages Gefühl der Erleichterung blieb nach wie vor, aber schon bald musste sie wieder daran denken, wie Corvinus sich verhalten hatte, gerade an diesem Tag, und das Unverständnis dafür war wieder da. Zusätzlich ergriff jetzt die Flavierin das Wort – und man musste Latein nicht fließend beherrschen, um ihren Kommentar zu verstehen. Der Ton und wie sie sie dabei ansah, sagte deutlich genug, was sie von Siv hielt – dass sie in ihren Augen weder ein anspruchsvoller Mensch war, noch dass sie einem anspruchsvollen Menschen geben konnte, was er brauchte. Mühsam schluckte Siv ihren Ärger hinunter. Sie war Sklavin, sie wusste es, und dass die Frau vor ihr zu den Römern gehörte, die Sklaven auf gleiche Stufe stellten mit Tieren, die mal nützlich waren, mal lästig, und dass sie Siv in die Kategorie 'Ungeziefer' gesteckt hatte, war der Germanin auch klar. Sie konnte sich nicht verteidigen dagegen. Corvinus würde es nicht zulassen. Und selbst wenn er unter anderen Umständen, gegenüber einem anderen Römer, verhalten angemahnt hätte, dass keiner das Recht hatte, so mit seiner Sklavin zu reden – wovon Siv bei weitem nicht überzeugt war, dass er das überhaupt tun würde –, so wie er sich gegenüber der Besucherin verhielt, würde ihm das bei ihr nicht einmal im Traum einfallen. Sie presste die Lippen aufeinander, atmete tief ein – und verkniff sich diverse germanischen Flüche und Beschimpfungen, die ebenso schillerten wie die Blütenpracht um sie herum. Es lohnte sich nicht. Nicht gerade jetzt, wo sich zu bewahrheiten schien, was Brix ihr gesagt hatte, nämlich dass Corvinus nach wie vor zu schätzen wusste, was sie im Garten leistete. Selbst wenn er sie tatsächlich nur deswegen behalten hatte, wie er gesagt hatte. Nicht verhindern konnte sie, dass ihre Augen blitzten und ihre Stimme nicht ganz so zurückhaltend klang, wie sie vorgehabt hatte. "Pflanzen brauchen Zuwenden, Aufmerksamkeit. Wie Tiere. Oder Menschen", fügte sie noch an. "Die Ravenala habe ich getan in Erde, mit gemischt von… aus Stall. Mit Mist. Und Wärme ist gut, das ist weil sie da steht. So ist die Sonne fast den, den ganzen Tag da, scheint da." Für den Winter würde sie sich etwas überlegen müssen. Die Temperaturen waren kein Vergleich zu denen in Germanien, aber es konnte auch sehr kühl werden, und Siv wollte nicht herausfinden, wie viel die Ravenala aushielt.


    Sie sah kurz zu dem vergleichsweise noch kleinen Baum hinüber, der erst seit kurzem hier war, aber schon sichtbar an Höhe gewonnen hatte. Siv verriet nicht, dass sie momentan noch an ihrer eigenen Körpergröße alle paar Tage maß, wie viel die Ravenala gewachsen war, auch wenn sie wusste, dass es sinnlos war. Sie war nicht bei allen Neuzugängen derartig aufgeregt, aber wenn der Händler schon sagte, dass die Chancen auf ein gutes Gedeihen eher gering waren, fühlte sie sich bei ihrem Stolz gepackt. Noch schlimmer war es bei der Orchidee, die ebenfalls zur Sprache kam. Sie hatte noch keine Ahnung, wie diese Pflanze aussehen würde, wenn sie erst mal erblühen würde, aber Sklavenjunge, der sie vom Markt hergebracht hatte, hatte ihr glaubhaft versichert, sie würde traumhaft aussehen. Siv sah täglich nach der Orchidee, die einen allzu kläglichen Eindruck gemacht hatte, als sie sie bekommen hatte, und das obwohl sie angeblich das beste Exemplar gewesen war, das der Händler zur Verfügung gehabt hatte. Orchideen seien furchtbar empfindlich, so der Junge, während des Transports seien etliche eingegangen. Eine Weile hatten sie im Garten gestanden und gefachsimpelt, bevor der Junge sich wieder auf den Weg hatte machen müssen, und Siv hatte anschließend nach einem Plätzchen gesucht für die Orchidee, ihre Orchidee. Bei dieser Pflanze war es nicht nur ihr Stolz, der sie trieb, und auch nicht nur ihre Liebe zu Pflanzen. Sie fühlte sich auf seltsame Art verbunden mit ihr, gerade mit diesem Exemplar, das einer so empfindlichen Pflanzenart entstammte und doch sämtliche Strapazen überstanden hatte, nicht gewillt war aufzugeben, obwohl sie ihrer Heimat entrissen und weite Wege transportiert worden war, nur um in Rom verkauft zu werden. Siv wollte ihr um jeden Preis hier, in diesem Garten, ein neues Zuhause bieten, ein echtes Zuhause. Und es schien, als ob ihr das gelang – die Blätter gewannen an Kraft und Farbe, und erst gestern, als sie abends noch einmal in den Garten gegangen war, hatte sie einen neuen Trieb gesehen. Es war keine neue Wurzel, die teils in der lockeren Erde waren, teils in der Luft hingen, so wie der Junge es ihr geraten hatte. Es war auch kein neues Blatt, da war sie sich sicher. Es war etwas anderes, und was konnte es anderes sein, als der Austrieb einer neuen Blüte? Sie hatte eine halbe Stunde vor der Pflanze gesessen und ihr gut zugeredet, sie gelobt, sie angetrieben. Sie war viel zu aufgeregt gewesen, um darüber nachzudenken, wie sie dabei auf andere hätte wirken können.


    "Die Orchidee ist Pflanze, die will viel, viel Aufmerksamkeit, mehr als andere Pflanzen. Sie ist dort", Siv wies auf eine Stelle nicht weit entfernt und setzte sich, nach einem kurzen Blick zu Corvinus, in Bewegung. Wollte sie der Flavierin überhaupt die Orchidee zeigen, oder ihr erzählen, wie sehr sie sich um diese Blume bemühte? Nein, wollte sie nicht. Aber die Römerin würde ohnehin den gesamten Garten zu Gesicht kriegen, wenn sie das wollte, dafür würde Corvinus schon sorgen. "Es geht ihr gut." Nun hatte ihre Stimme unterschwellig sowohl einen stolzen wie auch leicht herausfordernden Tonfall. Als sie angekommen waren, überließ sie es aber Corvinus, den neuen Trieb zu entdecken, falls er ihn nicht schon gesehen hatte.

    Siv knirschte mit den Zähnen. Was war nur mit manchen Leuten los? Konnten sie sich denn nicht von ihr provozieren lassen oder wenigstens reagieren? Sie konnte es nicht ausstehen, wenn ihr Gegenüber nicht reagierte auf das, was sie sagte! Am liebsten wäre sie stehen geblieben und hätte den anderen Sklaven sofort zur Rede gestellt, aber sie trug die Beine des Römers, und es war vermutlich keine gute Idee, sie fallen zu lassen. Also schwieg sie, bis sie im Cubiculum waren. Einen leicht trotzigen Tonfall konnte sie nicht ganz aus ihrer Stimme verbannen, als sie dann nachfragte, auch wenn sie auf dem Weg beschlossen hatte, Maron nicht an die Gurgel zu gehen, nur weil er sie ignoriert hatte zuvor. Dafür musterte sie ihn aber abwartend – sah ihm zu, wie er die Stirn fühlte und fragte sich zugleich warum, immerhin hatte sie das bereits getan, bemerkte, dass er verwirrt zu sein schien über den Zustand seines Herrn, was ebenfalls auf seinem Negativkonto verbucht wurde. Das drohte gerade bedenklich zu wachsen, suchte Siv doch augenblicklich – obwohl sie sich selbst zuvor lautlos vorgenommen hatte, seine Ignoranz von vorhin nicht zu beachten – nach Punkten, die sie an ihm stören könnten. Dass sie sich dabei, mal wieder, ein bisschen hineinsteigerte, übersah sie großzügig. Sie war die Jüngste in einem ansonsten reinen Männerhaushalt gewesen, mit allem, was das bedeutete – viele Streitereien mit ihren Brüdern, bei denen sie schon allein aufgrund des Alters oft den Kürzeren gezogen hatte, und weitere Nachteile; aber auch geliebt zu werden, auf die zärtlich-raue Art, die ihren Brüdern zueigen war, und die stille Weise ihres Vaters. Und: es hatte nahezu immer jemanden gegeben, der sich hatte provozieren lassen, ob nun sie diejenige war, von der es ausging, oder einer ihrer Brüder. Sie hatte sich in der letzten Zeit zwangsweise daran gewöhnen müssen, nicht beachtet zu werden, aber das hieß noch lange nicht, dass es ihr gefiel – oder dass sie es sich immer gefallen ließ. Erst recht nicht von einem anderen Sklaven, den sie heute zum ersten Mal sah.


    "Ach. Über müdet? Wie bist du nur darauf gekommen?" Sie verschränkte die Arme, sah kurz zu dem Römer und dann wieder zu Maron. Als er die Karaffe Wasser erwähnte, blitzte vor Sivs innerem Auge erneut das Bild auf, wie sie Wasser auf jemanden schüttete – diesmal war allerdings nicht Cotta, sondern sein Sklave der Empfänger, und in ihrer kurzen Vision wirkte er nicht sonderlich erbaut. Ein Grinsen zupfte an ihren Mundwinkeln, während sie flüchtig daran dachte, aber ihre Aufmerksamkeit blieb in der Realität. Nur um gleich darauf unverständliches Kauderwelsch zu hören. Für einen winzigen Moment war sie versucht, ihn fasziniert zu fragen, was für eine Sprache das war – Griechisch nicht, sie kannte inzwischen die Sprachmelodie gut genug und sogar mehrere Worte, Ägyptisch ebenso wenig, schimpfte Merit doch des öfteren in ihrer Muttersprache. Aber der Ärger überwog dann. Siv ließ die Arme sinken und trat einen Schritt auf Maron zu, um sich mit blitzenden Augen vor ihm aufzubauen. "Was du redest in Sprache anders wie Latein?" Dass sie selbst oft genug Germanisch sprach, war selbstverständlich etwas völlig anderes in ihren Augen. Im Gegensatz zu ihm war ihr Latein noch lange nicht perfekt, und manchmal gab es einfach Dinge, die gesagt werden mussten, selbst wenn keiner sie verstand. Außerdem, und nur nebenbei, wie sie sich selbst glaubhaft versicherte: sie hatte zuerst damit angefangen. Dass er jetzt einfach nachzog, konnte doch nur eins heißen. "Sag mal, machst du dich lustig über mich? Du hast Spaß, über mir? Ist das lustig? Zu reden, dass ich nicht verstehe?"


    Sim-Off:

    :P :D

    Während Corvinus mit der Flavierin vorausging in den Garten, musste Siv mit sich kämpfen. Zu sehen, wie er ihr den Arm bot, wie sie sich einhängte, wie sie gemeinsam losgingen und dabei unübersehbar turtelten, war fast zuviel für die Germanin. Und sie fragte sich, was sie übersehen hatte, was geschehen war, in der Zeit als sie in der Küche war, oder ob ihr dieses Verhalten zuvor einfach nicht aufgefallen war, in ihrer Wut, ihrer Verwirrung über das, was zuvor geschehen war – möglicherweise nahm sie die Zeichen, die schon da gewesen waren, jetzt auch einfach nur bewusst wahr, seit Sofia aufgeregt in der Küche herumgeplärrt hatte… Siv hatte das Bedürfnis, irgendjemandem den Hals umzudrehen, und gleichzeitig war ihre Kehle so eng, dass sie im Moment keinen Ton hervorgebracht hätte, ohne dabei fürchten zu müssen in Tränen auszubrechen. Wortlos folgte sie den beiden auf dem gewundenen Weg, der in den Garten hineinführte, bemühte sich angestrengt zu überhören, was sie sagten – und verstand es doch, weil sie Latein inzwischen schlicht zu gut konnte. Sie kannte derlei Geplänkel, bei dem der Tonfall so viel mehr sagte als die eigentlichen Worte. Wie oft hatte sie sich früher lustig gemacht über ihre Brüder, wenn sie Mädchen umworben hatten, hatte gemeint, ihr würde schlecht werden, wenn sie so etwas zu hören bekam? Sie zwang sich daran zu denken, konnte damit aber nicht einmal sich selbst täuschen, dass sie sich jetzt wünschte, Corvinus würde ihr diese Aufmerksamkeit schenken.


    Und es kam noch schlimmer. Sie hielten schließlich, bei zwei Pflanzen, die aus dem Süden kamen – beide überladen mit Blüten, die leuchtend orangerot waren. Siv wusste, dass die beiden aus noch südlicheren Gegenden stammten, wusste, dass eine der beiden Corvinus’ besonderer Liebling war, weil sie den Beginn seiner Pflanzensammlung bildete, wusste welche Pflege sie brauchten, wie bei inzwischen allen Pflanzen hier, auch bei denen, die sie vor ihrer Ankunft in der Villa Aurelia noch nie gesehen hatte. Sie blieb stehen, knapp zwei Schrittlängen entfernt von Corvinus – und erstarrte, als er auf einmal eine Blüte abbrach und der Flavierin damit über das Gesicht fuhr. Ihr Körper spannte sich auf einmal an, so stark, dass sie das Gefühl hatte ihr Hals würde brechen, wenn sie jetzt den Kopf drehte, und für Momente hörte sie auf zu atmen. Sie bemerkte den Blick nicht, den er ihr zuwarf, sie starrte einfach auf die Szenerie, die sich ihr bot, unfähig, den Blick abzuwenden, bis sie ihn schließlich gewaltsam losriss und zur Seite sah, in einen anderen Teil des Gartens. Es tat so unglaublich weh, Corvinus so zu sehen, und gleichzeitig hasste sie es, hasste sie sie, hasste sie ihn dafür – und nicht zuletzt sich selbst, weil es sie so traf, weil sie nicht fähig, darüber zu stehen. Wut brodelte wieder hoch, ohnmächtige Wut, über die Situation, in der sie sich befand, über Brix, der sie wieder hinausgeschickt hatte, obwohl er genauso wie sie es hätte besser wissen müssen, und über Corvinus, der sie zwang hier zu sein und sich das anzutun. Wie in einer Zwangshandlung öffnete und schloss sich ihre linke Hand ein paar Mal, bevor sie sich darüber klar wurde und sie ihre Hände auf den Rücken führte, um sie dort ineinander zu verschlingen – als ob sie sich an sich selbst festhalten wollte.


    Als das Geturtel dann die nächste Stufe zu erreichen schien, hatte sie das Gefühl, losschreien zu müssen. Hätte sie jetzt etwas in Reichweite gehabt, dass sie hätte werfen können, es hätte sich vermutlich postwendend in der Luft befunden und nur Augenblicke später Corvinus und die Flavierin getroffen. So aber grub sie nur die Fingernägel in ihre Haut, um sich dann abrupt abzuwenden. Sie machte einen Schritt zur Seite, auf einen Busch zu, drehte ihnen den Rücken zu und presste, eine über der anderen, beide Hände auf den Mund, während sie in den Handrücken ihrer Rechten biss, um den Schrei zu unterdrücken, der aus ihrer Kehle kommen wollte.

    Siv war nur kurz zur Schlafunterkunft gekommen, um sich eine andere Tunika anzuziehen – sie hatte den Vormittag über im Garten gearbeitet, und dementsprechend sah sie jetzt aus. Fhionn war ebenfalls da, und Siv nickte ihr kurz zur Begrüßung zu, zog sich dann den Stoff über den Kopf und ging zu einer kleinen Wasserschüssel, die am Rand stand, um sich den Schweiß wenigstens einigermaßen abzuwischen. Für ein Bad hatte sie keine Zeit, daher musste das reichen. Als sie ein Klopfen hörte, sah sie reflexartig zur Tür, dann griff sie nach einer frischen Tunika und zog sich diese über den Kopf, gerade als die Tür aufging und ein junger Mann den Raum betrat. Mit einem eher kritischen Gesichtsausdruck musterte Siv ihn. Sie kannte ihn nicht, meinte ihn mal gesehen zu haben, konnte ihn aber nicht einordnen, und mit denen, die aus Germanien zurückgekommen waren, hatte sie bisher wenig zu tun gehabt – sie gab es nicht offen zu, aber Tatsache war, dass sie sie bisher gemieden hatte. Zu frisch noch war die Erinnerung an das, was in Germanien passiert war, als sie gemeinsam hingereist waren. Und sie wurde täglich aufgefrischt – sie musste nicht einmal Corvinus begegnen und seine abweisende Haltung sehen, es reichte schon aus, dass sie hier war und ihn in jedem Raum zu spüren meinte. Und auf das Gerede gab sie ohnehin nichts. Daher wusste sie auch nicht, welche Gerüchte über diesen jungen Mann im Umlauf waren unter den Bewohnern der Villa Aurelia.


    Siv erwiderte seinen Gruß mit einem Nicken, lehnte sich an den Tisch, auf dem die Wasserschale stand, stützte sich den Händen an der Kante ab und hörte sich an, was er zu sagen hatte. Caelyn war seine Schwester? Und sie sollten ihr helfen, weil sie… Sivs Hände lösten sich von der Kante, und ihre Arme verschränkten sich unwillkürlich vor ihrem Oberkörper. Ausgerechnet sie sollte Caelyn in Liebesdingen helfen? Wo sie doch selbst so tief drin steckte und keinen Ausweg zu finden schien? Das Nein lag ihr schon auf der Zunge, aber Fhionn war schneller als sie, antwortete zunächst allgemein und sagte dann zu. Sivs Blick schnellte zu ihr, als die Keltin sie betont mit einschloss in ihre Zusage, dann zurück zu dem Jungen, dann wieder zu Fhionn. Sie hatte keine Erfahrung mit Liebe. Bisher war sie gut ohne dieses Gefühl ausgekommen, sie hatte sich immer dagegen gewehrt, und jetzt… jetzt hatte sie Momente, in denen sie sich wünschte, es wäre so geblieben. Dann würde sie sich jetzt nicht so fürchterlich danach sehnen, dass Corvinus sie wieder in den Arm nahm, oder wenigstens ein freundliches Wort oder einen Blick für sie übrig hatte, eine kleine Geste, irgendetwas… Sie presste die Kiefer aufeinander, als irgendwo in ihr wieder dieser Dolch zu wüten begann, der Schmerz verursachte und einfach nicht aufhören wollte. "Die Frage ist doch, will sie, ob das Leben weitergeht." Sivs Stimme klang spöttisch – Spott oder Wut, eines von beiden war immer da, wenn sie ihre wahren Gefühle unterdrücken wollte. Wollte sie denn, dass das Leben weiterging? Ohne die Möglichkeit, Corvinus nahe zu sein, hieß das, diese Vertrautheit zu spüren, wie es vor ihrem Fluchtversuch gewesen war? Sie wusste es nicht. Die Germanin unterdrückte ein Seufzen und sah noch einmal zu Fhionn, die sie auffordernd ansah. "In Ordnung. Klar." Ich weiß zwar nicht, inwiefern ich behilflich sein kann… Aber was soll’s. "Wir können reden, mit Caelyn, und… tun Versuch zu helfen."

    Maron nickte nur und reagierte sonst nicht weiter, weder auf ihre Feststellung noch auf den Zweifel, den sie eigentlich hatte ausdrücken wollen. Der Aurelier kam nicht zu sich, und Siv grübelte für einen Moment darüber nach, ob sie ihm vielleicht den ganzen Wasserkrug über das Gesicht schütten sollte – aber sie entschied sich dagegen. Könnte sie sich sicher sein, dass es ein einfacher Schwächeanfall war, aufgrund der Hitze oder ähnlichem, hätte sie es getan, gleichgültig ob einer ihrer Brüder vor ihr lag oder ein Römer, der zwar nicht ihr Besitzer war, aber doch zu ihren Herren hier zählte. Sie hatte noch nie viel davon gehalten, Kranke oder Verletzte zu zart anzufassen, und sie geriet nicht schnell in Panik oder entwickelte übertriebenes Mitleid – sie hatte auch kein Problem damit, mit anzupacken, wenn ein gebrochener Arm gerichtet oder eine stark blutende Wunde versorgt werden musste, was die Heilkundigen in ihrer Sippe recht schnell festgestellt hatten, weshalb sie sie schon früh dazu holten, um mitzuhelfen. Wirklich grob war sie aber nie, und sie wusste, wann es besser war vorsichtig zu sein. Wenn der Römer erst mal wieder wach war und auf dem Weg der Besserung, konnte sie ihn noch genug schikanieren, indem sie ihm Kräuteraufgüsse verordnete und Bettruhe, wenn er aufstehen wollte – oder Bewegung, wenn ihm nach Ruhe zumute war. Heilkundigen und Pflegern widersprach man nicht, das war eines der ersten Dinge gewesen, die sie gelernt hatte, und daran würde sich auch der Römer zu halten haben, oder er konnte sich auf Diskussionen mit ihr gefasst machen – die je nach seiner Gemütslage für Siv nichts Gutes bedeuteten, aber von diesem Wissen hatte sie sich noch nie abhalten lassen.


    Die Germanin fühlte erneut über Cottas Gesicht und runzelte leicht die Stirn, unschlüssig, was sie von dem Schwächeanfall halten sollte. Bevor sie aber weiter darüber nachgrübeln konnte, sprach sein Sklave sie an. Sie sah hoch und musterte ihn, während sie nachdenklich die Unterlippe zwischen die Zähne zog. Sie war sich nicht sicher, ob es nicht vorerst besser war, den Römer nicht zu bewegen – aber Maron hatte Recht, das Triclinium war kein Ort für ihn, und außerdem: er hatte seinen Herrn begleitet, er war sicher schon lang sein Sklave. Auch wenn ihr das nicht wirklich gefiel, aber sie musste sich widerstrebend eingestehen, dass er die Situation vermutlich besser beurteilen konnte als sie. Noch weniger gefiel ihr, dass er nicht einmal eine Antwort abwartete, sondern bereits nach dem Oberkörper des Römers griff und ihn anhob. "Hey! Du, das ist Frage gesein? Dann ist warten, auf Antwort, ist…" Siv suchte nach Worten, um ihren ironischen Kommentar zu beenden, aber ihr fiel auf Latein nichts Passendes ein. "…ganz gut", endete sie schließlich, inhaltlich etwas lahm, aber auf ihrem Gesicht der Anflug eines Lächelns, irgendwo zwischen Selbstironie und gutmütigem Spott. "Das wär ne Option, so beim nächsten Mal, weißt du?" fügte sie noch auf Germanisch hinzu, auch wenn die Wahrscheinlichkeit gering war, dass er sie verstehen würde. Dann griff sie nach den Beinen des Aureliers und hob sie an, und gemeinsam manövrierten sie den Körper aus dem Triclinium hinaus, durch einen Gang in einen zweiten hinein, bis sie zum Cubiculum des Römers kamen. Dort legten sie Cotta vorsichtig auf das Bett, und Siv richtete sich auf und blies sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht. "Und jetzt? Und jetzt?" wiederholte sie sofort. "Was hat er?"

    Vielleicht bildete es sich Siv nur ein, aber sie meinte Verstehen in Fhionns Gesicht zu lesen, obwohl sie den letzten Teil auf Germanisch gesagt hatte. Möglicherweise ahnte die Keltin, was sie gesagt hatte, weil sie selbst darum wusste, was es hieß, ein Leben zu führen, das von Kämpfen geprägt war – nicht nur Kämpfen mit den Römern, sondern auch mit anderen Stämmen, und mit der Natur, der man nur allzu oft das Lebensnotwendige abringen musste… wofür so mancher mit dem Leben bezahlte. So war das Leben, im freien Germanien, und dort wo Fhionn herstammte wohl auch. Was es erträglich machte, war das Wissen, dass es nicht umsonst war. Was die Kämpfe mit den Römern manchmal so unerträglich machte, war das Wissen, dass es umsonst war. Sie kamen ständig wieder. Sie schafften es nicht, wirklich weiter vorzudringen, aber sie zogen sich auch nicht dauerhaft zurück. Sie waren oft genug in der Überzahl, und es wirkte oft genug, als seien sie übermächtig. Ein Mitglied des Clans, einen Freund, einen Bruder oder den Mann zu verlieren, war leichter zu verarbeiten, wenn man wusste, dass es in einem fairen Kampf geschehen war. Und Siv vermutete, dass dort, in eben dieser Gefühlsregung, das Verständnis Fhionns herrührte, ohne ihre Sprache zu sprechen.


    Es blieb still im Atrium, nach dieser Zustimmung der Keltin, die einem Ausruf gleichkam. Es blieb still – kein Knistern war zu hören, brannten die Flammen doch stetig auf der Grundlage von Öl, ganz anders als dann, wenn sie Holz als Nahrung hatten… Siv versank in eine Art Trance, ihr Blick gebunden an die Flamme der nächsten Öllampe, die so ruhig, ohne Flackern vor sich hin brannte, nachdem keine Bewegung im Atrium mehr einen Luftzug verursachen konnte, und ließ so keine Bilder erscheinen vor ihrem inneren Auge, gab ihr etwas wie Halt. Erst als durch die Öffnung im Dach die ersten Sonnenstrahlen herein fallen, sachte noch wie frischgefallener Schnee hereinschwebten und das Licht der Flammen nicht verdrängen konnten, noch nicht, erst da tauchte Siv wieder auf, blinzelte kurz und sah zu Fhionn, die sie in diesem Moment aufforderte, zu gehen. Die Germanin wäre gern noch im Atrium geblieben, aber sie wusste, dass die momentane Stimmung nicht mehr lange anhalten würde. Also nickte sie nur und folgte Fhionn, durch die Gänge hindurch zu der Unterkunft.


    Als sie den Schlafraum betraten, rührte sich dort nichts. Siv war sich nicht sicher, ob die anderen Sklavinnen nur vortäuschten zu schlafen oder es tatsächlich taten, und sie sah auch zwei weitere leere Betten – vielleicht waren sie geweckt worden, um die Stelle zu säubern, an der Matho seinen Tod gefunden hatte, vielleicht hatten die Aurelier, Corvinus und der andere, etwas gebraucht, denn Schlaf gefunden hatten sie sicher auch nicht, davon ging Siv zumindest aus. Sie brachte Fhionn zu ihrem Bett, wo sich die Keltin hinlegte, und setzte sich dann am Fußende auf den Boden, lehnte sich an den Pfosten dort und starrte ins Dunkle. Als es klopfte, sah sie ruckartig zur Tür. Ebenso wie Fhionn fragte sie sich, ob es das nun war. Ob sie die Keltin nun holten. Versuchte sich zu sammeln, für einen neuen Versuch, Corvinus von dem zu überzeugen, wie Matho gewesen war, und fühlte sich doch nicht bereit dafür. Aber als die Tür aufging, stand Alexandros dort, und die Germanin schloss für einen Moment erleichtert die Augen. Schweigend musterte sie den Griechen, wie er hereinkam, wie er sich auf das Bett setzte, wie er anbot, Fhionn die Haare zu richten. Flüchtig zweifelte sie an Alexandros’ Verstand, aber das tat sie ohnehin des öfteren, und nach einem Moment meinte sie zu verstehen, dass er schlicht etwas tun wollte. Irgendetwas. Und Fhionn mochte es gut tun, ein wenig menschliche Nähe zu bekommen…

    Womit Siv am wenigsten gerechnet hatte war, dass die Tür sich öffnete, kaum dass ihre Hand das Holz berührt hatte. Verblüfft stand sie einen Moment da und starrte den Ianitor an, der ebenso verwundert zu sein schien wie sie. Der Mann war aber schneller als sie, seine Überraschung zu überwinden, denn noch bevor Siv überhaupt darüber nachdenken konnte, ihn zu grüßen oder ihr Anliegen vorzutragen, sagte er kurz etwas zu jemandem, der hinter ihm stand, dann wandte er sich ihr zu. "Ich…", begann sie, immer noch etwas verwirrt, auf Germanisch, dann meinte sie: "In Ordnung." Sie trat einen Schritt zur Seite, und gleich darauf verließ eine Römerin die Villa, in Begleitung eines Leibwächters, wenn Siv das Muskelpaket richtig einschätzte. Sie hatte keine Ahnung, dass das die Römerin war, der sie ihre Nachricht überbringen wollte, daher sagte sie nichts, sondern erwiderte nur deren Blick und unwillkürlich auch deren Lächeln.


    Dankbar für diese kleine Geste, die ihr etwas von ihrer Unruhe nahm, sie könnte irgendetwas vermasseln bei diesem eigentlich so simplen Auftrag, wandte sie sich wieder dem Ianitor zu, der sie angesprochen hatte. "Cor…" Sie stockte, als ihr bewusst wurde, dass sie außerhalb der Villa Aurelia ihren Herrn besser nicht nur Corvinus nannte, verschluckte den Rest und setzte neu an. "Aurelius Corvinus schickt mich. Ich habe eine Nachricht, für Claudia Epicharis." Sowohl die ihr in den letzten Wochen verstärktes Bemühen, Latein endlich vernünftig zu lernen, als auch die Unterrichtsstunden bei den Flaviern zeigten allmählich Wirkung, in diesem Moment vor allem aber die Tatsache, dass sie sich die Worte vorher zurecht gelegt hatte.

    Langsam ging Siv durch die Straßen Roms, auf die Villa Claudia zu. In der Villa selbst war sie noch nie gewesen, dennoch wusste den Weg, kannte sie sich doch inzwischen einigermaßen in Rom aus und fand sich auch tatsächlich zurecht, jedenfalls in dieser Gegend, wo die Straßen breiter und übersichtlich angelegt waren als beispielsweise auf den Märkten. Dort hatte Siv manchmal immer noch Orientierungsschwierigkeiten, vor allem wenn viele Menschen unterwegs waren. Aber das mochte auch daran liegen, dass sie Menschenmassen nach wie vor nicht leiden konnte, jedenfalls nicht wenn sie sich darin befand. Zu viel Gedränge machte sie einfach nervös, und es gab wenig, was sie dagegen tun konnte, obwohl sie sich inzwischen weit genug daran gewöhnt hatte, dass sie nicht mehr nahe daran war in Panik zu geraten. Nervös war sie allerdings auch jetzt, während sie sich ihrem Ziel näherte, was sich unter anderem darin äußerte, dass ihre Zähne ihre Unterlippe malträtierten und ihre Hände wie kleine unruhige Vögel herumflatterten, an ihrer Tunika herumfingerten, sich hinter ihrem Rücken verschränkten, Haarsträhnen verdrehten, nur um dann wieder an der Tunika zu zupfen. Sie wusste wohl, welches Risiko Brix einging, ausgerechnet sie zu schicken – und welchen Vertrauensvorschuss das bedeutete. Nachdem er das letzte Mal so auf die Nase gefallen war, ihretwegen, weil sie auf dem Fest der Fortuna ihr Temperament nicht im Griff gehabt hatte, obwohl sie doch wusste, dass sie gegen einen Römer immer den Kürzeren ziehen würde… Kurz, Siv war sich im Klaren darüber, dass Brix eigentlich nicht sie hätte schicken dürfen. Wenn Corvinus nicht extra betont hatte, dann wohl nur weil er dachte, dass auch Brix klar sein dürfte, dass sie nicht in Frage kam. Aber der hochgewachsene Germane vertraute ihr nun mal, und er schien es sich außerdem in den Kopf gesetzt zu haben, ihre Stellung im Haus wenigstens etwas wieder zu verbessern – jedenfalls gab er ihr noch eine Chance, diese nämlich. Wenn Siv ehrlich zu sich selbst war, dann musste sie sich eingestehen, dass sie nach allem, was sie sich geleistet hatte in der letzten Zeit – gerade auch gegenüber Brix, sie musste nur an ihren Ausraster in der Küche denken –, dass sie nach all dem sich keine Chance mehr gegeben hätte, nicht so und nicht so bald. Aber Brix schien überzeugt davon, dass man mit Vertrauen mehr erreichen konnte als Misstrauen und Strafen, und zumindest bei Siv lag er richtig. Sie war fest entschlossen, den Germanen nicht schon wieder zu enttäuschen, und wenn Corvinus dadurch merkte, dass Brix gute Arbeit machte als Maiordomus – und vielleicht auch, dass es ihr ernst war damit, sein Vertrauen wieder zu erringen –, umso besser.


    Vor der Villa angelangt, strich die Germanin ein letztes Mal ihre Tunika glatt und fuhr sich kurz durch die Haare, um ein paar widerspenstige Strähnen hinter die Ohren zu verbannen, dann holte sie Luft und zwang sich, die Hände ruhig zu halten. Kurz wünschte sie sich, Brix hätte ihr die Zusage schriftlich mitgegeben, dann hätte sie jetzt etwas, um ihre Hände zu beschäftigen, aber vermutlich hätte sie die Schriftrolle nur verknittert. Sie ging die wenigen Schritte, die sie noch von der Porta trennten, und klopfte an.

    Obwohl Siv kurz darüber grübelte, ob sie den Römer hatte trösten wollen, kam sie zu keinem Ergebnis – vielleicht weil sie sich nicht eingestehen wollte, dass es tatsächlich so war. Er hatte zumindest nicht sonderlich glücklich geklungen, als er gesagt hatte er habe noch keine Frau. Siv wiederum wäre froh gewesen, damals, wenn sie nicht hätte heiraten müssen. Wenn sie ihre Freiheit hätte behalten können. Aber sie wusste auch, hatte es im Grunde auch damals schon gewusst, dass es die Freiheiten eines Kindes gewesen waren, die sie genossen hatte – und sie hatte davon mehr gehabt als andere Kinder, vor allem andere Mädchen, war ihr Vater doch vernarrt gewesen in seine einzige Tochter. Dass sie, als Erwachsene, sich nicht mehr das würde herausnehmen können, was sie als Kind gekonnt hatte, war ihr klar gewesen, und das war auch der Hauptgrund gewesen, warum sie sich so gesträubt hatte gegen eine Heirat. Sie hatte den Moment hinauszögern wollen, in dem ihre Freiheit um ein weiteres, großes Stück beschnitten werden würde, und in dem im gleichen Maß ihre Pflichten zunehmen würden. Welche Ironie, dass ausgerechnet sie nun das Leben einer Sklavin führte, ein Leben, das ihr wenig von dem bot, was sie früher unter Freiheit verstanden hatte, dafür umso mehr Pflichten, die sie aber in der Regel gewissenhaft erledigte – und dass sie damit sogar klar kam. Fast hätte sie spöttisch gelächelt, aber ihr war ebenso klar, was sie zu Hause erwartet hätte, wäre sie nicht in Gefangenschaft geraten. Sie wäre nicht lange Witwe geblieben, nicht in ihrem Alter und ohne Kinder. Und sie hätte kaum ein zweites Mal so viel Glück gehabt wie mit Ragin. Die Chance, dass sie zu Hause ein Leben mit zwar anderen, aber zumindest was sie betraf ebenso großen Beschränkungen wie hier hätte führen müssen, war hoch. Und doch, so klar ihr das auch war, es war nichts, was sie gerne gestand, sich selbst nicht und schon gar nicht anderen gegenüber.


    Der Römer antwortete nicht, wirkte aber auf seltsame Art betroffen, ohne dass Siv hätte sagen können, warum. Auch zuvor hatte er schon besorgt gewirkt, in gewisser Weise, und die stille Art, die ihm zugleich zueigen war, die Ruhe, die er ausstrahlte und die sich so gegensätzlich zu dem schroffen Verhalten präsentierte, das er anfangs an den Tag gelegt hatte, weckten in Siv tatsächlich echte Anteilnahme. Einen Moment sahen sie sich an, dann richtete sich auf einmal die Aufmerksamkeit des Aureliers auf etwas hinter Siv, und bevor sie reagieren konnte, erklang auch schon eine Stimme. Die Germanin wandte sich um zu dem Sklaven des Römers, der das Cubiculum als bezugsfertig meldete, musterte ihn kurz, dann wandte sie sich wieder an Cotta. In ihren Augen war das Gespräch noch nicht fertig, aber für den Römer schien es das zu sein, und Siv hätte sich schon wieder aufregen können, über den Römer, aber am meisten über sich selbst – warum hatte sie sich auf das Gespräch überhaupt eingelassen, wo ihr doch hätte klar sein müssen, dass sie, als Sklavin, nur als Lückenfüller diente?


    Der Zorn darüber hatte aber nicht wirklich Zeit, Besitz von ihr zu ergreifen. Der Aurelier richtete sich auf, erhob sich – und sank sofort gen Boden, fiel in sich zusammen, als ob ihn irgendjemand seines Halts beraubt hätte. Mit einem schnellen Schritt war Siv bei ihm und fing ihn auf. Hätte er nicht noch direkt bei der Kline gestanden, hätte sie ihn kaum halten können, so aber trug die Liege einen guten Teil dazu bei, dass Cotta nicht zu Boden fiel. "Hey, hey, was machst du für Sachen!" Ohne auf Maron zu achten, ließ Siv den Oberkörper des Römers behutsam auf die Kline zurücksinken, allerdings mit dem Kopf zum Fußende, so dass seine Beine hochgelegt werden konnten. Nachdem das erledigt war, fuhr sie ihm sacht über die Stirn, strich die Haare fort, fühlte die Haut. "Er ist müde von Reise, ja?" Sie sah kurz Maron, und ihrer Stimme war diesmal deutlich der zweifelnde Ton anzuhören. Der Mann war krank, das stand für sie nun fest, er gehörte in ein Bett. Sie vermutete, dass er sich auf der Reise wohl überanstrengt und dadurch Fieber bekommen hatte, aber das konnte er hier ja nun auskurieren. Sie griff nach dem Krug und dem Tuch, das auf dem Tablett lag, zog es unter der Obstschale hervor und befeuchtete es mit kühlen Wasser, dann tupfte sie damit die Stirn des Römers ab.

    Fhionn schien zu verstehen, was Siv sagen wollte – auch wenn sie beide wussten, dass die Nacht nur einen Zeitaufschub bedeutete. Wieder verging eine Weile Schweigen. Einige der Lampen flackerten und erloschen im Lauf der Zeit, als das Öl darin zur Neige ging, andere, die tags zuvor erst aufgefüllt worden waren, brannten ruhig und stetig vor sich hin und spendeten weiterhin, wenn auch spärlicher werdendes, Licht. Die Germanin setzte sich auf der Kline etwas zurück, zog die Beine hoch und an ihren Körper, und schlang ihre Arme um die Knie. Wieder drohten Bilder von dem, was passiert war, sich ihres Geistes zu bemächtigen, wieder wurde ihr bewusst, dass Fhionn getötet hatte, aber sie wusste auch, dass es letztlich Notwehr gewesen war, gewesen sein musste, und sie wehrte sich, gegen die Bilder und gegen den Impuls, Fhionn als Mörderin zu sehen und sie meiden zu wollen.


    Als Fhionn wieder das Wort ergriff und erzählte, von sich, von ihren Kindern, wusste Siv nicht, was sie davon halten sollte. Sie wusste nicht, ob sie in dieser Situation von sich etwas preisgegeben hätte, ob sie auch versucht hätte, sich auf diese Art abzulenken. Sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Sie hatten alle ähnliche Geschichten, alle, die zuvor frei gewesen waren und aus den freien Teilen der Welt stammten, zumindest. Es gab die, die darüber sprachen, und die, die es nicht taten – Siv gehörte zu letzteren, Fhionn ebenfalls, aber Siv war sich recht sicher, dass sie in dieser Situation nicht daran hätte denken wollen, wie sie gefangen genommen worden war. Sie hätte versucht, sich an die schönen Zeiten zu erinnern… Sie zog die Beine noch enger an ihren Körper und legte ihr Kinn auf den Knien ab, während sie in eine Flamme starrte. "Ragin… er ist gesterbt in Kampf. Ich nicht bin dabei gesein, ich weiß nicht, wie Kampf war… Ich hoff er hatte einen guten Kampf. Gute Gegner. Er hat es verdient…"

    Sivs Blick schien in die Ferne zu gehen, verloren in Erinnerungen. Um ihren Mund bildete sich schmerzhafter Zug. Sie dachte nicht oft an ihren Vater. Noch seltener dachte sie an das, was passiert war an dem Tag, als sie in die Hände der Römer gefallen war. Aber der Römer vor ihr hatte an den Bildern gerührt, die sie tief in sich vergrub, und so leicht ließen sie sich nicht unterdrücken, wenn sie einmal vor ihren Augen standen. Sie sah, wie die Speere durch die Luft glitten, beinahe lautlos. Sie sah, wie einer davon ihren Vater traf. In ihrer Erinnerung war sie nicht das Mädchen, das, von zwei Soldaten gepackt, sich nach Leibeskräften gewehrt hatte, so sehr, dass ein dritter zu Hilfe hatte kommen müssen. Sie sah es nicht einmal. Sie sah nur, was ihrem Vater geschah, und war in diesem Tagtraum so erstarrt, so unfähig sich zu rühren, wie sie es damals erst gewesen war, als sie gesehen hatte, wie das Licht in seinen Augen erlosch.


    Die Germanin wurde aus ihren Erinnerungen gerissen, als der Aurelier wieder anfing zu sprechen. Zuerst starrte sie noch vor sich hin, während seine Worte bereits in ihr Bewusstsein rieselten wie kleine Kieselsteine, die, in Bewegung gesetzt durch leise Pfoten, einen kleinen Abhang hinunter kullerten. Dann wandte sie abrupt den Kopf und sah Cotta wieder an, und nun sah dieser weg, begegnete ihrem Blick erst wieder, als er still war. In ihren Augen brannte Feuer. "Ja." In ihrer Stimme mischten sich Schmerz und ein herausfordernder Ton. "Familie in Germanien, oder tot. Und ich bin hier." Im Gegensatz zu dem, was er wohl denken mochte, seinem Tonfall nach zu schließen, löste diese Tatsache nicht – nicht mehr – die Reaktionen aus, die sie zu Anfang bei Siv ausgelöst hatte. Auch hier galt: sie lebte inzwischen zu lange hier, sie kannte die Menschen zu gut. Sie war ein fröhlicher, lebenslustiger Mensch, und so hatte sie auch hier, im Haus eines Römers, nach Wegen gesucht, wie sie zufrieden sein konnte, zumeist jedenfalls. Das aber vertrug sich nicht wirklich mit Wut und Hass. Und weil es sie verwirrte, nach wie vor, dass sie zufrieden sein konnte unter Umständen, unter denen sie es, stur wie sie war, eigentlich nicht sein wollte, wenn sie darüber nachdachte, verdrängte sie auch das. Die Worte des Aureliers führten ihr das zum ersten Mal seit längerem wieder vor Augen, schürten zum ersten Mal seit längerem wieder den Widerwillen, unter Römern zu leben, nach allem, was dieses Volk dem ihren angetan hatte. Und gleichzeitig weckte es erneut Verwirrung.


    Sie war fast dankbar für den Themenwechsel, den Cotta nun anschlug. Sie wusste nicht, was sie denken sollte, was sie von sich selbst halten sollte. Sie war zutiefst verwirrt über sich selbst, weil ihre Gefühle sie in verschiedene Richtungen zerren wollten und ihr Verstand ebenfalls keine große Hilfe war. Sie konzentrierte sich auf den Aurelier, versuchte wegzuschieben, wofür sie so lange schon keine Lösung fand und auch jetzt keine finden würde. "Ja, ich hab… hatte Mann. Ich bin nicht jung, in Germanien, nicht für haben Mann. Ich bin gesein mehr alt als wie, wie viele, … Ich war älter als die meisten anderen Mädchen, als sie geheiratet haben. Oder verheiratet wurden", beendete Siv ihren Satz schließlich auf Germanisch. Sie zuckte leicht mit den Achseln. Sie war fünfzehn gewesen, als sie mit Ragin verheiratet worden war, ein Alter, in dem viele ihrer Altersgenossinnen bereits das erste Kind hatten oder doch schwanger waren. Deswegen hatte ihr Vater ja schließlich einfach eine Entscheidung getroffen, weil sie sich immer standhaft geweigert hatte, so lange er auf ihre Einwilligung gewartet hatte – und sie irgendwann zu den letzten ihres Alters gehört hatte, die noch zu Hause gewohnt hatte. Und jetzt war sie neunzehn. Dass Römer, zumindest die, die den höheren Schichten angehörten, später heirateten, war ihr aufgefallen, aber großartig darüber nachgedacht hatte sie bisher nicht. Wieder zuckte sie leicht mit den Achseln. "Männer in Germanien auch sind mehr alt. Mein Mann auch gesein, mehr alt, mehr… alter? als ich. Und… Römer sind anders. Machen Dinge anders, wie Germanen. Das ist auch so was, ich denke." Im nächsten Moment fragte sie sich, ob sie das gesagt hatte, weil sie den Römer etwa beruhigen wollte, weil er noch keine Frau hatte.

    Siv bemühte sich, die Römerin so gut es ging zu ignorieren. Aus den Augenwinkeln meinte sie wahrzunehmen, wie die Flavierin sie hochnäsig überging, sie nicht einmal für wert hielt, sie anzusehen. Siv biss die Zähne aufeinander und zwang sich, die Römerin auszublenden. Sie wusste nicht, ob Brix Recht hatte – im Grunde glaubte sie nicht so recht daran. Aber nun war sie hier, und sie war – noch – etwas ruhiger als zuvor, und das bedeutete, dass Überlegungen über mögliche Konsequenzen ihres Verhaltens auch eine Rolle spielten. Und sie wusste, wenn sie es wieder auf die Spitze trieb, wenn sie wieder fortgeschickt wurde, würde sie wirklich Ärger bekommen. Selbst jetzt konnte sie nicht mit Sicherheit sagen, ob sie es nicht schon zu weit getrieben hatte, um um eine Strafe noch herum zu kommen, vor allem wenn Corvinus erfuhr, was in der Küche vorgefallen war. Bei Brix standen die Chancen gut, dass er nichts sagte, immerhin hatte sich ja alles gelöst – und er kannte sie, er wusste, dass so etwas die Ausnahme war. Aber bei Niki war sie sich nicht so sicher.


    Die Germanin schaffte es, die Flavierin weit genug zu ignorieren, dass sie sich nicht über sie aufregte, aber bei Corvinus wollte ihr das einfach nicht gelingen. Sein Stirnrunzeln versetzte ihr Inneres erneut in Aufruhr, zeigte es doch in ihren Augen nur zu deutlich, was er von ihrer abermaligen Anwesenheit hielt. Diesmal traten ihre Wangenknochen hervor, und ihre Kiefer begannen zu schmerzen, so fest presste sie die Zähne aufeinander. Du kannst uns begleiten. Als ob sie das wollte, als ob sie sich darum riss, mitzukommen! Sie verstand ihn nicht, verstand nicht, wie er sich ihr gegenüber verhielt und warum. In diesem Moment hätte sie einiges gegeben, um zu wissen, was er dachte, und für einen Augenblick sah sie ihn forschend an, suchte in seinem Blick, in seinem Gesicht nach etwas, irgendetwas. Aber alles, was sie sah, schien eine Mauer zu sein, ohne Tür, ohne Fenster, und ohne eine Möglichkeit, hinüber zu gelang. Sie atmete hörbar ein, schnappte fast nach Luft, sah kurz zur Seite, als sie spürte, dass erneut Tränen aufsteigen wollten. Sie biss sich auf die Zunge, um sie zu unterdrücken, schalt sich selbst in Gedanken einen Narren und dass sie in der Küche wahrlich genug geweint hatte, genug für Wochen, Monate, wenn sie daran dachte, wie selten sie bisher Tränen vergossen hatte. Ruckartig wandte sie den Kopf wieder zurück, aber diesmal wich sie seinem Blick aus und starrte an ihm vorbei in den Garten, ohne jedoch das Grün wirklich zu sehen. "Ja", antwortete sie, darauf hoffend, dass ihre Stimme nicht zu sehr zitterte, sondern einigermaßen sicher klang. Eine ihrer Hände schloss sich, ballte sich unwillkürlich zur Faust, und ihre Fingernägel gruben sich in die Handflächen, ohne dass sie es bewusst merkte. Sie wusste nicht, wie lange sie es in seiner Gegenwart aushalten würde, bevor der Druck, den der Wirbelsturm an verschiedenen Gefühlen in ihr auslöste, erneut zu viel wurde. Starr sah sie auf den Garten hinaus, dann, als die beiden sich – Arm in Arm, was ihr einen tiefen Stich versetzte – in Bewegung setzten, folgte sie ihnen, ohne ein Wort zu sagen.

    Wieder konnte Siv nicht sagen, was der Römer dachte in dem Moment, in dem sie von den Soldaten sprach. Er nahm seinen Blick nicht von ihr, ebenso wenig wie sie dem seinen auswich, aber entweder war er tatsächlich so gut darin, seine Gedanken zu verschleiern, oder aber sie war in diesem Moment schlicht zu beschäftigt mit den Erinnerungen, die ihr durch den Kopf gingen. Sie ließ selten zu, dass sie hochkamen, aber andererseits sprach sie auch selten über das, was ihr widerfahren war. Sie verdrängte es lieber, so gut es ging. Die Menschen abzuzählen, denen gegenüber sie auch nur andeutungsweise mehr geäußert hatte als ihre tiefe Abneigung gegen römische Soldaten zum Ausdruck zu bringen, dafür brauchte sie noch nicht einmal die Finger einer Hand. Sie biss ihre Zähne für Augenblicke aufeinander, während sie mit sich kämpfte, um die Erinnerungen unter Verschluss zu halten und damit auch die unterschiedlichen Gefühle, die sich durch dieses eine, durch die Wut, nicht lange bändigen ließen, wenn sie sie nicht wieder zurückdrängte, und aber es gelang ihr nur zum Teil.


    Auf ihre Frage hin erwiderte der Römer erneut, dass er sich fürchte, vor ihr. Aber dieses Mal verschaffte ihr das keine Genugtuung. Im Gegenteil, irgendwo in sich schien sie fast so etwas wie Trauer zu verspüren. Der brodelnde Zorn und der Trotz, die sie vorher empfunden hatte, waren größtenteils verraucht, als die Erinnerungen hochgekommen waren, und irgendwo darunter steckte ihr wahrer Kern. Und Siv war im Grunde kein Mensch, der wollte, dass andere Angst vor ihr hatten – oder sich daran freuen konnte. Sie wusste nichts zu erwidern auf seine Worte, suchte in sich wieder nach der Wut, die ihr vertraute Sicherheit geben würde, fand sie sich aber von ihr im Stich gelassen, wie so oft in den letzten Wochen. Stattdessen war da nur wieder dieses seltsame Stechen, das sie überallhin zu begleiten schien und nie ganz verschwand, und eine tiefe Verwirrung darüber, was aus ihr und ihrem Leben geworden war, das ihr jetzt, im Nachhinein, so einfach und überschaubar vorkam, bis sie Corvinus getroffen hatte. Seine nächste Frage traf mitten hinein in dieses Wirrwarr, das momentan ihr Inneres zu sein schien.


    "Meine Familie?" Ihre Brauen zuckten kurz zusammen, verzogen sich in einer schmerzhaften Linie, und sie presste die Lippen aufeinander. Dann zuckte sie in einer gezwungen wirkenden Bewegung die Achseln. "Ich weiß nicht. Brüder von mir leben, in Heimat. Oder vielleicht auch sind tot. Winter ist hart, in Germanien." Und sie wusste nicht, was der letzte den Menschen, die sie kannte von früher, gebracht hatte. "Mutter ist tot. Mann auch." Der Teil bereitete ihr am wenigsten Schwierigkeiten. Sie hatte ihre Mutter nie kennen gelernt, und erst hier in Rom, erst die Gespräche mit Cadhla hatten dazu geführt, dass sie so etwas wie Sehnsucht nach dieser Frau zu spüren begann. Und was Ragin betraf – er hatte ihr die Zeit gelassen, die sie brauchte sich daran zu gewöhnen, tatsächlich eine Ehefrau zu sein. Und er hatte ihr Freiheiten gelassen, mehr als üblich war. Sie hatte ihn schon früher als Kamerad zu schätzen gewusst, auch wenn er da mehr mit ihren älteren Brüder zu tun gehabt hatte, und mit ihm verheiratet, lernte sie ihn bald noch mehr zu schätzen, als guten Freund und als Mann. Aber geliebt hatte sie ihn nie. Daher hatte sie sein Tod zwar getroffen, und ein Teil von ihr vermisste ihn immer noch, aber eben wie einen Freund. Warum sie dann aber trotzdem weitersprach, war ihr selbst nicht so ganz bewusst. War es immer noch sein Geständnis, Angst zu haben, das etwas in ihr bewegte? War es die Tatsache, wie sanft sein Tonfall gewesen war? Was auch immer es war, sie ahnte es selbst nicht. Ihre Gedanken waren abgeschweift, und ihr Blick, der nun leicht an an seinem Gesicht vorbeiging, schien in weite Ferne zu schweifen. "Ein Bruder. Und mein Vater. Sind gegangen tot bei Überfall. Vater ist gegangen tot, bei ich bin gefangen von Römer."

    Siv warf Fhionn einen überraschten Blick zu. Wie kam die Keltin auf die Idee, sie könnte lesen? Sie war Germanin und Sklavin, woher sollte sie die lateinische Schrift beherrschen? "Nein?" antwortete sie mit hochgezogenen Augenbrauen, auf ihrem Gesicht ein Ausdruck, als wollte sie eigentlich sagen: Äh. Wie kommst du darauf? Stattdessen fing sie an: "Nein, ich-" In diesem Moment kam der Parther zu ihnen herüber, und Siv brach ab, um sich anzuhören, was er zu sagen hatte. Wieder zeigte ihr Gesicht den gleichen, teils ungläubigen, teils überraschten Ausdruck, als zweifle sie gerade am Verstand ihres Gegenübers. Wie kam überhaupt irgendjemand in diesem Raum auf die Idee, sie könnte die Sprache der Römer lesen? Bisher hatte für sie keine Notwendigkeit bestanden, es zu lernen, und so wissbegierig sie auch war, sich selbst lesen und schreiben beizubringen, erforderte zum einen jemanden, der ihr half, zum anderen Zeit – die sie als Sklavin nicht hatte.


    "Runen", antwortete sie, mit einem leicht spöttischen Unterton. "Wie du kriegst die Idee, ich kann Latein lesen? Das hier ist erste Unterricht, für mich, für sie auch." Sie wies auf Fhionn – Merit sparte sie aus, wusste sie doch nicht mit Gewissheit, ob die zierliche Ägypterin vor ihrer Flucht Unterricht erhalten hatte, und wenn ja, was sie gelernt hatte. Möglicherweise konnte sie ja auch die griechische oder ägyptische Schrift, und Siv wusste nicht, inwiefern diese der lateinischen ähnelten. "Und da wo ist meine Heimat, niemand ist interessiert für Latein. Nicht sprechen, nicht lesen. Wozu auch?"