Was die Frage des Römers – und die Tatsache, dass er sie überhaupt gestellt hatte – in ihr auslöste, beschäftigte Siv nach wie vor. Ihre Gedanken kreisten um ihre Gefühlswelt, um ihre Situation, genauso aber auch darum, was er wohl bezwecken mochte mit seiner Frage. Sie musterte ihn, konnte in seinem Gesicht aber nicht wirklich lesen. Sie meinte so etwas wie Zufriedenheit aufblitzen zu sehen, in jedem Fall aber wirkte Cotta entspannt. Aber das mochte auch daran liegen, dass er nun Zeit gehabt hatte, sich etwas auszuruhen. Er schien einen Moment zu überlegen, wirkte nachdenklich, als sie ihre Gegenfrage stellte, und aus irgendeinem Grund ließ die kurze Wartefrist, die er ihr damit auferlegte, Siv noch angespannter werden. Sie hasste es, nicht zu wissen woran sie war. Und bei diesem Römer konnte sie beim besten Willen nicht einschätzen, was er bezweckte oder worauf er hinaus wollte. Ein wenig fühlte sie sich an Corvinus erinnert, der es ebenso meisterhaft verstand, sie im Unklaren zu lassen über das, was er im Sinn hatte. Vor allem am Anfang, als sie neu hier gewesen war, hatte sie oft gerätselt, wie er was meinte – und es schien generell vielen Römern zueigen zu sein, ihr Gegenüber erst dann über ihre Absichten und Gefühle in Kenntnis zu setzen, wenn sie es tatsächlich wollten. Die Germanin ertappte sich in diesem Moment bei dem Wunsch, dazu ebenfalls in der Lage zu sein, ebenfalls verbergen zu können, wie es in ihr aussah, und sei es nur, um sich nicht gar so hilflos zu fühlen in Augenblicken wie diesen, oder wenigstens dieses Gefühl der Unsicherheit etwas zurückgeben zu können – auch wenn sie davon vermutlich nichts merken würde.
Sie sah Cotta an, und als er dann sprach, konnte sie abermals ihre Überraschung nicht verbergen. Er antwortete tatsächlich auf ihre Frage, und nicht nur das, er ging darüber hinaus – und gestand ein, dass sie, ihr Verhalten, ihm Angst machte. Ein bisschen. Aber das Wort war deutlich, und er verwendete es: Angst. Siv konnte nicht leugnen, dass dieses Eingeständnis ihr Genugtuung verschaffte. Sie konnte auch nicht verhindern, dass etwas davon in ihren Augen aufblitzte. Zwischenzeitlich war ihr Hass, ihre Verachtung für Römer abgeflaut – es blieb nicht ohne Folgen, dass sie nun schon so lange unter diesem Volk lebte, dass sie Menschen darunter kennen gelernt hatte, die sie mochte, die ihren Respekt errungen hatten. Aber die letzten Wochen, in denen sie beherrscht war von Verzweiflung und zunehmend dem Gefühl, kein Leben mehr haben zu können, mit dem sie zufrieden war, hatten wieder einiges dazu beigetragen, dass ihre Offenheit schwand. Und hatten diese Gefühle zumindest in den ersten Wochen, für sie atypisch, dafür gesorgt, dass sie sich wieder verschlossen hatte, nicht nur vor Römern, sondern auch vor den meisten ihrer Mitsklaven, so kam jetzt mehr und mehr ihr eigentliches Wesen wieder zum Vorschein: sie reagierte, wie sie immer schon auf Ablehnung, Zurück- oder Zurechtweisung von anderen reagiert hatte, um Schuldgefühle und den Schmerz in ihrem Inneren zu verdrängen – mit Empörung und Wut. Und für diesen Teil von ihr war es Balsam zu hören, dass der Römer Angst vor ihr hatte.
Allerdings war sie keine 15 mehr – wo sie es wochenlang fertig gebracht hatte, für jemanden, auf den sie gerade wütend war, nur bissige oder streitlustige Kommentare übrig zu haben –, und die Zeit ihres unbändigen Hasses auf Römer war auch vorbei. Inzwischen war sie weit genug, sowohl ihren Zorn, meistens jedenfalls, einzudämmen als auch nicht mehr zu urteilen über einen Menschen, bevor sie ihn kennen gelernt hatte, nur weil dieser einem bestimmten Volk angehörte. Sie würde wohl immer voreingenommen sein, was Römer betraf, aber inzwischen versuchte sie zumeist, ihnen wenigstens eine Chance zu geben. Dazu kam noch etwas: ihr imponierte seine Ehrlichkeit. Sie hätte sich lieber die Zunge abgebissen als zuzugeben, dass ihr etwas Angst machte. Sie sah Cotta an, sah ihm in die Augen, konnte immer noch nicht wirklich sagen, was in ihm vorgehen mochte, was ihn zu dieser Aussage getrieben hatte. Er schien gespannt zu sein auf ihre Reaktion, und sie meinte auch etwas anderes zu sehen, konnte es aber nicht so recht einordnen. Erinnerung? Oder war so etwas wie Verständnis? Siv wusste es nicht, und nach einer kleinen Weile brach sie schließlich das Schweigen, mit blitzenden Augen. "Warum du hast Angst? Ich bin Sklavin. Ich kann nichts tun. Du bist Herr." Da war es wieder, das Temperament, das so oft ungefragt die Kontrolle übernahm. Siv biss sich kurz auf die Lippen, wollte sie ihn jetzt doch eigentlich nicht vor den Kopf stoßen, und sie fuhr fort, bevor er antworten konnte. "Ich weiß nicht, dass ich will du hast Angst. Ich… es ist, es tut gut. Wenn Römer hat Angst, vor mir. Da sind Römer, die ich will Angst haben. Du… bist Römer, aber ich dich nicht kennen." Was ihr Dilemma auf den Punkt brachte. "Aber ich nicht bin Wut, weil damit andere haben Angst. Ist… das ist manchmal ein angenehmes Ergebnis, aber… … ist nur was ist dann, manchmal."