Beiträge von Aureliana Siv

    Betroffen musterte Siv Fhionn, als sie von ihren Kindern sprach. Sie hatte ja schon so viel verloren, liebe Menschen zurücklassen müssen, wie schlimm musste eine Versklavung erst sein, wenn man Kinder hatte? Und wenn sie Fhionns Worte richtig interpretierte, waren diese gestorben. Siv blickte kurz auf das Büschel Haare in den Händen der Keltin, dann schloss sie für einen Moment die Augen und verspürte leichte Verwunderung, weil der Keltin nie etwas von diesem Verlust anzumerken gewesen war. Andererseits mochte sie sie zwar, aber wirklich nahe gekommen waren sie sich bisher noch nicht. Und sie wusste, zumindest sie selbst hätte alles getan um ihren Kummer zu verbergen vor den anderen, den meisten zumindest. Jetzt aber spiegelte Fhionns Gesicht und ihre Augen den Schmerz wieder, den sie empfinden musste über das, was geschehen war. Gleichzeitig wirkte sie für Momente in sich gekehrt, so sehr, dass Siv es nicht wagte, sie anzusprechen – geschweige denn sie zu fragen, was geschehen war mit ihren Kindern.


    Sie musterte Fhionn nur mit Augen, in denen Trauer stand, verfolgte ihre Bewegungen und sah schweigend zu, wie die Keltin die Haare ihrer Kinder schließlich verbrannte in der Flamme einer kleinen Öllampe. Sie ahnte, warum Fhionn das tat. Sie selbst hätte dasselbe getan, hätte sie vor Augen gehabt, was der Keltin drohte. Sie hätte genommen, was repräsentierte, was ihr am meisten bedeutete, und hätte es Hel geopfert. Unwillkürlich glitt ihre Hand zu dem kleinen silbernen Anhänger in Form eines Pferdes, den sie nach wie vor trug, unter ihrer Tunika, unsichtbar für die anderen – jeden Tag. Ihre Finger glitten unter den Ansatz des Stoffs und schlossen sich um das Tier. Dann ließ sie es wieder los, als Fhionns Stimme erneut erklang. Ein trauriges Lächeln huschte über ihre Züge. Sie wollte der Keltin Mut zusprechen, wollte ihr versichern, dass sie noch nicht aufgeben sollte, dass es noch nicht an der Zeit war, gänzlich zu verzweifeln – aber sie wussten beide, dass sie nichts mehr würden ändern können. Sie strich Fhionn kurz über das Haar und schwieg zunächst, dann meinte sie doch: "Fhionn. Noch ist nicht Zeit, Hoffnung zu tun weg. Morgen ist Zeit. Jetzt du hast Nacht."

    Hätte Siv geahnt, was der Römer von ihr dachte, hätte sie geschwankt zwischen spöttischem Auflachen und wütendem Fauchen. In ihrer momentanen Stimmung hätte sie aber wohl schließlich letzterem den Vorzug gegeben. Sie definierte sich selbst mitnichten als Sklavin. Dass sie es so deutlich sagte, dass sie quasi darauf herumritt, sie sei Sklavin, hatte genau damit zu tun, dass sie sich selbst eben nicht so sah – dafür aber sehr genau wusste, dass es jeder andere hier tat, zumindest jeder Römer. Und dass es nichts gab, was sie dagegen tun konnte, nicht im Moment jedenfalls. Bei dem Satz Ich bin Sklavin schwang für sie immer, unausgesprochen, der Zusatz mit: für dich. Für die anderen. Gleichzeitig war es für sie die perfekte Antwort auf viele Fragen, wenn sie ihren Trotz verdeutlichen wollte. Genauso hatte sie früher reagiert. Nach einer der endlosen Diskussionen mit ihrem Vater, der ihr nicht erlauben wollte, sich in einer größeren Waffe als einem Dolch zu üben: Siv, holst du mal Albin?Was? Ich bin doch nur ein Mädchen! In den ersten Wochen, nachdem sie mit Ragin verheiratet worden war, in denen er eine bewundernswerte Geduld bewiesen hatte: Siv, du-Redest du mit mir? Ich bin doch nur deine Frau! Und jetzt hieß es: Du hast Angst? Ich bin nur eine Sklavin… Dass ihr dieser Trotz nicht im Mindesten weiterhalf, damals nicht und heute genauso wenig, hatte sie dabei bisher selten gestört. Was sie normalerweise störte war, wenn das Ziel ihres Trotzes oder Spotts nicht darauf reagierte, sich unbeeindruckt zeigte. Diesmal war sie allerdings froh darüber, dass ihr Gegenüber das Gespräch nicht einfach schlicht abbrach oder sonst wie signalisierte, dass er genug hatte von ihrem Benehmen. Sie wusste immer noch nicht, was sie von ihm, seiner Art oder seinen Fragen halten sollte, aber das Gespräch begann, interessant zu werden, und ihr auf eine gewisse Art und Weise wenn schon nicht zu gefallen, so doch zu reizen.


    Seine nächste Frage ließ sie wieder innehalten, für einige Momente. Sie hielt seinem Blick stand, und wieder flackerten Erinnerungen durch ihren Kopf. Wieder war da zunächst der Impuls, trotzig zu verneinen, abzustreiten, dass es etwas gäbe, was sie in irgendeiner Form belasten könnte. Aber diesmal zügelte sie ihre Zunge rechtzeitig, und nach kurzem Schweigen meinte sie: "Trauriges. Ungerechtiges. In Heimat, in Weg nach Rom, von römische Soldaten." Sivs Augen blitzten auf, in einer Mischung aus unterdrückter Wut und Angst, die sie jedes Mal ergriff, wenn sie an römische Soldaten dachte. An die Überfälle, die ihnen zu Hause das Leben schwer gemacht hatten, die so vielen, auch Ragin und einem ihrer Brüder, das Leben gekostet hatten, dann ihrem Vater – und ihr selbst die Freiheit. An die ersten Wochen in der Sklaverei. Was hatte Corvinus noch gesagt, irgendwann bei einem ihrer ersten Treffen? "Soldaten können sein wild." Ihr Mund verzog sich zu einem spöttischen Grinsen, mit dem sie die dunklen Erinnerungen verdrängen und vor allem nicht preisgeben wollte, aber Bitterkeit war fast zu einem noch größeren Teil da wie Spott, ohne dass es ihr bewusst wurde, und diese Mischung gab mehr preis über sie, als wenn sie einfach nur ernst geblieben wäre. "Hier… Römer sind anders. Nicht alle, aber hier, in Villa Aurelia, viele sind anders. Anders wie ich denke, davor. Warum du fragst?" Ob es ihr überhaupt zustand, diese Gegenfrage zu stellen, interessierte Siv herzlich wenig.

    Drinnen
    Siv hörte sich zweifelnd Brix’ Worte an. "Da ist keine Sklave-Herr-Geschichte! Da ist…" Dann verstummte sie wieder, als ihr klar wurde wie lächerlich es jetzt wirkte, wenn sie abstritt, dass zumindest sie Gefühle für Corvinus hatte. Und dass ihr Nervenkostüm deshalb so dünn und überspannt war, weil das Gefühl, sie könnte ihm egal sein, die Angst, es wäre nichts Besonderes zwischen ihnen, wie sie eine Zeitlang geglaubt hatte, an ihr zerrte wie der Herbststurm am letzten Blatt, das ein Baum noch besaß. Worüber sie nicht nachdenken musste, oder ihr zumindest in diesem Moment sonnenklar war, war die Antwort auf die Frage, die Brix ihr bewusst nicht stellte: sie könnte damit leben. In diesem Augenblick war sie fest davon überzeugt, dass sie damit leben konnte, nicht mehr zu sein als seine Sklavin, niemals mehr zu sein – wenn sie nur wusste, dass er für sie dasselbe empfand. Nur: im Moment deutete nichts darauf hin, dass es so war. Er ging ihr doch bewusst aus dem Weg. Er benahm sich, als ob sie ihm bestenfalls egal wäre, eine Sklavin eben, die sich mehr als einmal Patzer erlaubte und darüber hinaus auch noch versucht hatte zu fliehen. Eine Sklavin, die er nur um des Gartens willen behielt, das waren seine Worte gewesen… Und Siv wusste nicht, ob sie das aushalten würde. Dabei spielte es gar nicht einmal so sehr eine Rolle, ob es die Wahrheit war – es wirkte so auf sie, und je länger dieser Zustand andauerte, desto schwieriger wurde es für sie. Sie biss sich auf die Lippen und starrte einen Moment vor sich hin, und nicht einmal Brix’ Vergleich konnte ihr ein Lächeln entlocken. Erst als er sie anstupste, sah sie wieder hoch. Sie wollte nicht hinaus. Sie wollte sich nicht schon wieder dem aussetzen, was da auf sie wartete – noch dazu jetzt, wo sie wusste, warum dieser Besuch für Corvinus wichtig war. Sie meinte jetzt schon zu spüren, wie es wieder in ihr zu toben begann, wenn sie nur an die Blicke dachte, die die beiden für sie übrig hatten – die abfälligen der Römerin und die missbilligenden von Corvinus. Aber Brix sah nicht so aus, als würde er mit sich diskutieren lassen, was ihre Anwesenheit im Garten anging, also nickte sie schließlich. "In Ordnung. " Sie wandte sich ab und ging zur Tür, aber bevor sie endgültig die Küche verließ, drehte sie sich noch einmal um und sah den Germanen an. "Brix… danke."


    Draußen
    Siv ließ sich Zeit auf dem Weg in den Garten, wollte sie doch eigentlich nicht dorthin, aber auch sie konnte nicht verhindern, dass ihre Schritte sie schließlich durch die Flügeltüren auf die Terrasse hinaus lenkten, wo Corvinus und die Flavia nach wie vor saßen, allerdings offenbar gerade Anstalten machten, sich zu erheben. Einen Moment zögerte sie, unschlüssig, ob sie hinzutreten sollte, ob sie etwas sagen sollte, ob sie überhaupt auf sich aufmerksam machen sollte. Dann gab sie sich einen Ruck. Einen Moment streiften ihre Augen die von Corvinus, und ihr Blick war so überladen mit den unterschiedlichsten Empfindungen, dass er allein dadurch beinahe undeutbar wurde. Dann wich sie seinem Blick aus, ignorierte die Römerin und ließ ihren herumgleiten, von dem Busch hinter den beiden Römern zum Tisch, zum Boden, und zwischendurch kurz wieder zu Corvinus, bemüht, unbeteiligt zu wirken, aber unsicher, ob ihr das wirklich gelang. "Sofia kann nicht." Für einen Moment lag ihr auf der Zunge, sie könnte gern jemand anderen holen, wenn er das wollte, aber sie verkniff sich diesen Kommentar im letzten Moment.

    Was die Frage des Römers – und die Tatsache, dass er sie überhaupt gestellt hatte – in ihr auslöste, beschäftigte Siv nach wie vor. Ihre Gedanken kreisten um ihre Gefühlswelt, um ihre Situation, genauso aber auch darum, was er wohl bezwecken mochte mit seiner Frage. Sie musterte ihn, konnte in seinem Gesicht aber nicht wirklich lesen. Sie meinte so etwas wie Zufriedenheit aufblitzen zu sehen, in jedem Fall aber wirkte Cotta entspannt. Aber das mochte auch daran liegen, dass er nun Zeit gehabt hatte, sich etwas auszuruhen. Er schien einen Moment zu überlegen, wirkte nachdenklich, als sie ihre Gegenfrage stellte, und aus irgendeinem Grund ließ die kurze Wartefrist, die er ihr damit auferlegte, Siv noch angespannter werden. Sie hasste es, nicht zu wissen woran sie war. Und bei diesem Römer konnte sie beim besten Willen nicht einschätzen, was er bezweckte oder worauf er hinaus wollte. Ein wenig fühlte sie sich an Corvinus erinnert, der es ebenso meisterhaft verstand, sie im Unklaren zu lassen über das, was er im Sinn hatte. Vor allem am Anfang, als sie neu hier gewesen war, hatte sie oft gerätselt, wie er was meinte – und es schien generell vielen Römern zueigen zu sein, ihr Gegenüber erst dann über ihre Absichten und Gefühle in Kenntnis zu setzen, wenn sie es tatsächlich wollten. Die Germanin ertappte sich in diesem Moment bei dem Wunsch, dazu ebenfalls in der Lage zu sein, ebenfalls verbergen zu können, wie es in ihr aussah, und sei es nur, um sich nicht gar so hilflos zu fühlen in Augenblicken wie diesen, oder wenigstens dieses Gefühl der Unsicherheit etwas zurückgeben zu können – auch wenn sie davon vermutlich nichts merken würde.


    Sie sah Cotta an, und als er dann sprach, konnte sie abermals ihre Überraschung nicht verbergen. Er antwortete tatsächlich auf ihre Frage, und nicht nur das, er ging darüber hinaus – und gestand ein, dass sie, ihr Verhalten, ihm Angst machte. Ein bisschen. Aber das Wort war deutlich, und er verwendete es: Angst. Siv konnte nicht leugnen, dass dieses Eingeständnis ihr Genugtuung verschaffte. Sie konnte auch nicht verhindern, dass etwas davon in ihren Augen aufblitzte. Zwischenzeitlich war ihr Hass, ihre Verachtung für Römer abgeflaut – es blieb nicht ohne Folgen, dass sie nun schon so lange unter diesem Volk lebte, dass sie Menschen darunter kennen gelernt hatte, die sie mochte, die ihren Respekt errungen hatten. Aber die letzten Wochen, in denen sie beherrscht war von Verzweiflung und zunehmend dem Gefühl, kein Leben mehr haben zu können, mit dem sie zufrieden war, hatten wieder einiges dazu beigetragen, dass ihre Offenheit schwand. Und hatten diese Gefühle zumindest in den ersten Wochen, für sie atypisch, dafür gesorgt, dass sie sich wieder verschlossen hatte, nicht nur vor Römern, sondern auch vor den meisten ihrer Mitsklaven, so kam jetzt mehr und mehr ihr eigentliches Wesen wieder zum Vorschein: sie reagierte, wie sie immer schon auf Ablehnung, Zurück- oder Zurechtweisung von anderen reagiert hatte, um Schuldgefühle und den Schmerz in ihrem Inneren zu verdrängen – mit Empörung und Wut. Und für diesen Teil von ihr war es Balsam zu hören, dass der Römer Angst vor ihr hatte.


    Allerdings war sie keine 15 mehr – wo sie es wochenlang fertig gebracht hatte, für jemanden, auf den sie gerade wütend war, nur bissige oder streitlustige Kommentare übrig zu haben –, und die Zeit ihres unbändigen Hasses auf Römer war auch vorbei. Inzwischen war sie weit genug, sowohl ihren Zorn, meistens jedenfalls, einzudämmen als auch nicht mehr zu urteilen über einen Menschen, bevor sie ihn kennen gelernt hatte, nur weil dieser einem bestimmten Volk angehörte. Sie würde wohl immer voreingenommen sein, was Römer betraf, aber inzwischen versuchte sie zumeist, ihnen wenigstens eine Chance zu geben. Dazu kam noch etwas: ihr imponierte seine Ehrlichkeit. Sie hätte sich lieber die Zunge abgebissen als zuzugeben, dass ihr etwas Angst machte. Sie sah Cotta an, sah ihm in die Augen, konnte immer noch nicht wirklich sagen, was in ihm vorgehen mochte, was ihn zu dieser Aussage getrieben hatte. Er schien gespannt zu sein auf ihre Reaktion, und sie meinte auch etwas anderes zu sehen, konnte es aber nicht so recht einordnen. Erinnerung? Oder war so etwas wie Verständnis? Siv wusste es nicht, und nach einer kleinen Weile brach sie schließlich das Schweigen, mit blitzenden Augen. "Warum du hast Angst? Ich bin Sklavin. Ich kann nichts tun. Du bist Herr." Da war es wieder, das Temperament, das so oft ungefragt die Kontrolle übernahm. Siv biss sich kurz auf die Lippen, wollte sie ihn jetzt doch eigentlich nicht vor den Kopf stoßen, und sie fuhr fort, bevor er antworten konnte. "Ich weiß nicht, dass ich will du hast Angst. Ich… es ist, es tut gut. Wenn Römer hat Angst, vor mir. Da sind Römer, die ich will Angst haben. Du… bist Römer, aber ich dich nicht kennen." Was ihr Dilemma auf den Punkt brachte. "Aber ich nicht bin Wut, weil damit andere haben Angst. Ist… das ist manchmal ein angenehmes Ergebnis, aber… … ist nur was ist dann, manchmal."

    Das Verhalten des Römers brachte Siv nur noch mehr in Rage, aber sie riss sich zusammen. Dass er seinen eigenen Sklaven geschlagen hatte, war Zeichen genug dafür, wie er war, und sie bezweifelte, von ihm eine andere Reaktion zu bekommen als entweder dieses hochmütige Desinteresse oder einen Wutausbruch gegenüber seinem Sklaven. Darüber hinaus schaltete sich ihre Vernunft ein, weit genug, um ihr bewusst werden zu lassen, dass ihre Schwierigkeiten nur größer werden würden, wenn sie sich mit diesem Römer noch mehr anlegte, als sie es schon getan hatte. Trotzdem bebte sie zeitweilig vor Zorn, als sie seine Worte hörte und seine Verachtung spürte. Als er sich aber noch einmal kurz umdrehte und ihr, diesmal spöttisch, noch einen Kommentar vor die Füße warf, wäre es um ihre Beherrschung beinahe geschehen gewesen. Hätte sie in diesem Moment etwas in der Hand gehabt, sie hätte es benutzt – und diesmal nicht, um den Inhalt auf den Römer zu schütten, sondern als gezieltes Geschoss. Sie hatte aber nichts in der Hand, und so stand sie nur da, starrte ihm wütend hinterher und ballte ihre Hände zu Fäusten. Einen Moment verharrte sie so, dann sah sie zu dem Sklaven, dessen Namen sie mit Sicherheit nicht über die Lippen bringen würde, ohne sich die Zunge zu verknoten. Der erwiderte ihren Blick, ohne eine Regung zu zeigen.


    Siv starrte. Der Sklave starrte.


    Schließlich hielt es die Germanin nicht mehr aus. "Und jetzt?" Keine Antwort. "Hallo? Was jetzt?" Wieder nichts. Nicht einmal eine sichtbare Reaktion. Siv trat einen Schritt auf ihn zu und bewegte die Hand vor seinem Gesicht auf und ab, aber alles, was sie erntete, war ein leicht verächtlicher Blick. Sonst nichts. Einen Augenblick starrte sie ihn an, fassungslos, aber dann zuckte sie die Achseln. Wenn dieser Sklave also nicht mit ihr reden wollte, bitte. Sie hatte besseres zu tun. Sich abzureagieren, zum Beispiel. Wenn Corvinus auf diesem Fest war, wie der andere Sklave gesagt hatte, brachte es jetzt ohnehin nichts, nach Hause zu gehen. Trotzig trat sie geradewegs auf den nächsten Stand zu, an dem kostenloser Wein ausgeschenkt wurde, und schnappte sich den dritten Becher.

    Sivs linke Augenbraue wanderte leicht nach oben, als sie dem Schlagabtausch zwischen dem Nubier und dem Parther lauschte. Die beiden schienen innerhalb kürzester Zeit beschlossen zu haben, sich nicht leiden zu können, und Siv fühlte sich an ihre Brüder erinnert, wenn diese aus irgendeinem Grund Streit miteinander gesucht hatten – je nach Alter war es um Spielzeug, Waffen oder Mädchen gegangen. Manchmal hatte Siv sich über sie lustig gemacht, manchmal hatte sie einfach dabei zugesehen, wie das Kräftemessen ausgegangen war. In diesem Fall schien es sich recht schnell und simpel zu lösen – der Lehrer unterbrach sein kurzes griechisches Zwiegespräch mit Merit und griff ein. Siv lehnte sich wieder etwas zurück, stützte ihr Knie erneut am Tisch ab und wippte wieder mit dem Fuß. Den beiden Männern beim Streiten zuzusehen, wäre sicher interessant geworden, aber andererseits waren sie hier, um etwas zu lernen – egal was es wurde, Siv brauchte die Ablenkung. Sie grübelte zu viel in letzter Zeit, sie merkte es selbst, und das einzige, was sie dagegen tun konnte, war sich selbst mit Arbeit zuzuhäufen – was als Sklavin, vor allem in ihrer Position, nicht sonderlich schwer zu bewerkstelligen war. Ganz im Gegenteil, es war fast schon zu leicht, so viel zu schuften, dass sie abends ins Bett fiel und sich vor Müdigkeit kaum noch rühren konnte. Dennoch wollte sich der Schlaf selten sofort einstellen. Ihr Körper war müde, und auch ihr Geist war erschöpft von den ständigen Grübeleien, die sie auch tagsüber oft genug heimsuchten, aber es waren einfach zu viele Gedanken, zu viele Gefühle, zu viel von allem, was in ihr herumschwirrte. Zu viele Dinge, die ungeklärt waren. Zu oft: ich weiß nicht, was ich tun soll. Sie brauchte definitiv Ablenkung, und das hier war eine neue Form davon. Siv wusste selbst, dass es wie alles andere auch letztlich nur Verdrängung war und nicht auf Dauer funktionieren würde, dass sie spätestens abends vermutlich wieder sich in ihrem Bett hin und her werfen und grübeln würde, aber sie war dankbar um jede Stunde, in der sie sich nicht anstrengen musste, um ihre Gedanken auf etwas anderes zu konzentrieren.


    Als Bridhe plötzlich hochfuhr, sah Siv sie überrascht an, aber dann schrieb sie es ihrem Zustand zu. Sie war hochschwanger, und die Germanin wusste, dass schwangere Frauen empfindlich waren. An der Arbeit konnte es ihrer Meinung nach nicht liegen, immerhin waren sie ja alle von ihren Herren geschickt worden, und die Zeit für diesen Unterricht war begrenzt, jedenfalls was die aurelischen Sklaven betraf – und Matho hatte vor allem ihr eingeschärft, nur ja pünktlich wieder in der Villa Aurelia zu sein, sonst würde der Hades das reinste Elysium zu sein im Vergleich zu dem, was er sich dann für sie ausdenken würde. Und obwohl sie wusste, dass er es einfach genoss, ihr Angst zu machen und sein Vergleich nicht standhalten würde, wusste sie doch auch, dass ihre Einschlafprobleme ihr geringstes Problem sein würden, wenn sie tatsächlich zu spät heimkommen würde. Aber in einem Punkt musste sie Bridhe recht geben: anfangen war ein guter Vorschlag. Während Cassim dem Lehrer antwortete, erhob sie sich und winkte Fhionn und Merit, sich in eine andere Ecke zu setzen. Wenn sie getrennt Unterricht erhalten würden, dann war es wohl nicht sonderlich günstig, wenn sie alle zusammensaßen. Mit verkreuzten Armen und Beinen lehnte sie sich an einen Tisch und wartete darauf, dass die anderen sich ihr anschlossen und Cassim sich ebenfalls zu ihnen gesellte.

    Siv musterte Fhionn, die ebenso wie sie nicht zu wissen schien, was sie sagen wollte. Sie selbst versuchte einfach da zu sein, der Keltin durch ihre bloße Gegenwart so etwas wie Halt zu geben, aber sie schien nicht sonderlich erfolgreich zu sein damit, betrachtete sie die verkrampfte Haltung Fhionns. Und es war wohl auch kein Wunder, wenn man bedachte, wie sehr sie sich bemühen musste, ihre Gedanken von dem, was passiert war, wegzuhalten. Immer wieder tauchte Matho auf, und das Blut, und wie das Messer in ihm versunken war… Siv schloss die Augen und drängte mit aller Macht die Bilder zurück, die immer wieder hochkamen und sich nicht verdrängen lassen wollten. Als sie die Augen wieder öffnete, für Momente erneut die Bilder in ihrem Kopf beschwichtigt, saß Fhionn neben ihr. Mit Mühe unterdrückte sie ein Zusammenzucken, als erneut vor ihren Augen aufflammte, was passiert war – diesmal nicht der Maiordomus, das Blut oder das Messer im Zentrum, sondern Fhionn, die das Messer führte. Im nächsten Augenblick schimpfte Siv sich selbst einen Dummkopf. Sie wusste, was Fhionn zu dieser Tat getrieben hatte. Sie wusste, dass sie keine Mörderin war, dass sie selbst sicher war in ihrer Gegenwart. Sie bewegte sich etwas, verlagerte ihre Position so, dass sie der Keltin etwas mehr zugewandt war, musterte sie Augenblicke lang, bevor ihr Blick wieder abschweifte und durch das Atrium glitt.


    Schweigen umhüllte sie, ebenso wie das leise Flackern der Öllampen. Sivs Geist wankte, wankte hin und her zwischen der Realität, der jüngsten Vergangenheit und Phantasiebildern, tauchte ein und wieder hervor wie das Messer, das Matho getroffen hatte, so oft, flackerte arhythmisch zu den kleinen Flammen um sie herum. Als Fhionn plötzlich das Wort ergriff, sah Siv fast erschrocken hoch, war sie doch völlig in ihren Gedanken versunken gewesen. "Wie?" Einen Moment musterte sie die Keltin, als ob sie gerade nicht wusste, wo sie wer und wer ihr gegenüber saß, aber dann fand sie zurück in die Realität, rekapitulierte, was Fhionn gesagt hatte. Eine Weile schwieg sie noch, während ihre Gedanken erneut abglitten, in die länger zurückliegende Vergangenheit diesmal. Die Andeutung eines wehmütigen Lächelns flog über ihr Gesicht. "Familie… Ja. Ich gehabt Vater, und Brüder… Und Ragin, das ist Mann, gesein. Aber Ragin ist tot, schon mehr lange als wie ich bin Sklavin. Was ist mit du?"

    Siv starrte Momente lang vor sich auf den Boden. Ihr war nicht wirklich wohl dabei, diesem fremdem Römer so viel Einblick in sich selbst gewährt zu haben durch das simple Geständnis, dass Cadhla ihre Freundin gewesen war – aber etwas anderes zu behaupten wäre für sie nicht in Frage gekommen. Weil ihr Blick gesenkt blieb, entging der Germanin die Reaktion des Römers auf ihre Offenbarung, aber es war fraglich, ob sie sie bemerkt hätte, hätte sie hingesehen, versuchte er doch, zu überspielen was er empfand. Erst als Cotta den Becher wieder absetzte, sah Siv, bedingt durch das Geräusch, hoch, und weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, nicht einmal wusste, wohin mit ihren Händen, ergriff sie den Wasserkrug, um den leeren Becher aufzufüllen. Bevor sie aber dazu kam, sprach der Römer wieder – und Siv erstarrte mitten in der Bewegung. Ihr Kopf dagegen fuhr hoch und herum, und ihre Augen hefteten sich an seine. Eine Weile starrte sie ihn einfach an, bevor sie den Wasserkrug etwas tiefer sinken ließ. "Meine Wut?" Sie wusste, dass ihr ihre Gefühle leicht anzusehen waren, und in der Regel störte sie das nicht im Geringsten – aber es passierte ihr dann doch selten, dass fremde Menschen sie so einfach darauf ansprachen.


    Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Im ersten Moment wollte sie abstreiten, was er behauptet hatte. Wirklich wütend war sie ja auch nicht, nicht in diesem Augenblick, es war eher… eine Mischung aus verschiedenen Gefühlen, es war… Wut. Wut war auch da, das konnte sie nicht leugnen. Daran konnte sie sich festhalten, wenn es nichts mehr zu geben schien, was ihr sonst Halt gab. In der letzten Zeit hatte oft die Verzweiflung überhand genommen, zu oft für ihren Geschmack, aber sie hatte scheinbar auch nichts dagegen tun können. Erst jetzt begann sie sich langsam wieder an dem zu orientieren, was ihr ihr Leben lang geholfen hatte, wenn sie Schwierigkeiten gehabt hatte: Wut und Trotz und die ihr eigene Sturheit. Manches Mal hatten diese Gefühle ihr Leben noch viel schwieriger gestaltet, eigentlich fast jedes Mal, aber gleichzeitig hatten sie ihr auch geholfen, so dachte sie zumindest. "Es gibt… Freunde, hier. Gute Menschen." Sie antwortete bewusst ausweichend. Was sollte sie auch sagen auf seine Frage? "Merit-Amun. Brix. Fhionn." Sie zuckte die Achseln, während sie mit einer beherrschten Bewegung nun doch endlich Wasser nachgoss. Sie wusste einfach nicht, was sie davon halten sollte, und das machte sie nervös, was sich wieder darin zeigte, dass ihre Stimme einen leicht störrischen Ton annahm. "Wenn ich Wut habe… manchmal sie sehen. Manchmal nicht." Dann stellte sie den Krug ab und sah den Römer erneut an. "Wieso du denkst, ich habe Wut? Wieso du fragst?"

    Siv spürte schon wieder, wie sich eine Welle in ihr aufzutürmen begann, diesmal aus Verzweiflung. Sie lehnte an der Wand und wusste nicht mehr, was sie tun sollte, um aus dieser Situation irgendwie heraus zu kommen. Alles was sie tat, alles was geschah, schien sie nur immer tiefer hinein zu bringen, immer tiefer. Sie presste eine Hand auf die Stirn und bemühte sich angestrengt, die Tränen zurückzuhalten, blinzelte zu Brix hinüber, gerade als dieser den Arm ausstreckte. Sie rang nach Atem, sehnte sich danach, in den Arm genommen zu werden, und zögerte gleichzeitig doch, Brix’ Angebot anzunehmen. Kurz huschte ihr Blick zu Niki, als diese antwortete, immer noch grummelnd, aber wenigstens nicht mehr ganz so in Rage wie noch zuvor. Dann sah sie wieder zu Brix, und der Wunsch in ihr nach Trost nahm überhand. Mit wenigen, aber langsamen Schritten überbrückte sie die Distanz, und als sie endlich bei ihm war, lehnte sie sich zögernd an ihn. Mit einem Schluchzen schloss sie die Augen und presste ihr Gesicht an seine Brust, und jetzt konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Brix’ Arm um sie gab ihr die Geborgenheit, die die letzte Mauer ihrer Abwehr und damit auch ihrer Selbstbeherrschung einriss. Ihre Schultern bebten, während sie nahezu lautlos in die Tunika des neuen Maiordomus weinte.


    Erst nach einer Weile spürte sie, wie Brix sich regte, spürte seine Hand, die sacht ihren Rücken tätschelte. Mit immer noch nassen Augen, aus denen aber keine Tränen mehr rannen, sah sie zu ihm auf, während Brix zu sprechen anfing. Der Ausdruck in ihren Augen wurde zweifelnd. "Ich und liebenswert? Und das meinst du?" Sie starrte kurz auf den Boden. Corvinus wäre blind, wenn er das nicht sieht. Und dann die nächsten Worte. Siv sah wieder hoch und wiederholte, was sie schon gesagt hatte. "Ich will doch gar nicht so sein… Aber ich weiß einfach nicht… Es macht mich wahnsinnig, wenn er so abweisend ist. Da geh ich ihm lieber aus dem Weg und seh ihn gar nicht, weißt du? Ich meine…" Mutlos zuckte sie die Achseln. "Er mag mich doch sowieso nicht. Nicht mehr. Ich bin nur eine Sklavin." Dann war auf einmal der Hauch eines, wenn auch sehr schiefen, Lächelns zu sehen auf ihrem Gesicht, als Brix über ihren Wutanfall sprach, dann wurde sie wieder ernst – und dann sah sie überrascht drein. "Wie, was… Du meinst, ich kann ihr das Wasser reichen? Und… ach selbst wenn, es bleibt doch dabei, dass er mich nicht da haben will." Aber war das denn tatsächlich so? Hätte er sie dann heute überhaupt erst gerufen? Auf der anderen Seite hatte er aber betont, am liebsten jemand anderen da zu haben. Sie schniefte kurz, immer noch unschlüssig, ob sie tatsächlich gehen sollte. "Meinst du wirklich, es macht Sinn, wenn ich geh? Was soll ich denn sagen? Ich mein du weißt ja nicht, wie er mich angesehen hat, und was er gesagt hat…"

    Eine Mehlwolke erhob sich und breitete sich aus, noch während Siv lauthals fluchte – aber sie wurde abrupt unterbrochen von Niki, die einer Walküre gleich wutschnaubend auf sie zustürmte und ihr zum zweiten Mal an diesem Tag eine Ohrfeige verpasste, diesmal so heftig, dass Siv zwei Schritte zurücktaumelte. Die Worte prasselten auf sie ein, aber sie verstand sie nicht wirklich, da es in ihrem Kopf zu klingeln schien und die Welt sich kurzzeitig drehte wie das Mehlfässchen zuvor, nur wesentlich schneller, und darüber hinaus ihre Wange brannte wie Feuer. Wieder stand sie da wie erstarrt, regte sich nicht, und ein Teil von ihr sehnte sich nach einer weiteren Ohrfeige, hätte sie willkommen geheißen als Ablenkung von dem, was Sofia gerade verkündet hatte – was durch Schmerz und Schwindel kurzzeitig ausgeschaltet gewesen war und nun wieder vordrängte. Langsam, unendlich langsam, begann ihre Brust sich zu heben und zu senken. Mühsam sog sie Luft in die Lungen, tat jeden einzelnen Atemzug wie eine Erstickende, ebenso qualvoll und ebenso hörbar. Gleichzeitig hörte sie wieder Niki schimpfen, und diesmal verstand sie sie. Dann ruckte ihr Kopf herum, als Brix auf sie einredete. "Vorstellen?" echote sie, ungläubig und mit einem vagen Schmerz in der Stimme. "Du kannst es dir vorstellen? Ach wirklich? Du kannst dir vorstellen, wie es ist, einen Fehler zu machen der alles kaputt gemacht hat? Du kannst dir vorstellen, wie es ist, wenn ein Mensch, der dir so wichtig ist, dir keine Gelegenheit gibt dich zu rechtfertigen, nicht einmal zulässt zu sagen, dass es dir leid tut, im Gegenteil, wochenlang kein Wort für dich übrig hat, nicht einmal einen Blick! Und dann kommt so was wie heute!"


    Siv machte ein paar wankende Schritte rückwärts, bis sie an die Wand stieß, und schlug sich die Hände vors Gesicht, nur um sich gleich darauf durch die Haare zu fahren. "Oh ihr Götter, was soll ich denn bloß tun?" Sie wusste, dass sie keine Römerin war. Sie wusste, dass es keine Zukunft für sie gab mit Corvinus, keine andere als die, zumindest offiziell seine Sklavin zu sein, und sie hatte sich auch nie etwas vorgemacht, was das betraf. Aber sie hatte auch nie darüber nachgedacht, dass Corvinus eines Tages möglicherweise heiraten würde. Dass eine andere Frau an seiner Seite war. Sie wusste, dass er schon einmal verlobt gewesen war, aber irgendwie hatte die Möglichkeit einer weiteren Verlobung in ihren Gedanken keinen Bestand gehabt. Was, wenn sie, Siv, ihm tatsächlich nichts mehr bedeutete? Was, wenn er sie tatsächlich nicht mehr um sich haben wollte? Tränen traten in ihre Augen, während ihre Kehle eng wurde. "Ich will doch gar nicht, dass sich alles um mich dreht. Ich will nicht ständig so aufgewühlt sein, so verwirrt, so wütend, und alles zur gleichen Zeit, dass ich manchmal denk ich platz gleich!" Ihre Schultern bebten genau wie ihre Stimme, und das Schluchzen war deutlich zu sehen und zu hören, aber sie hielt die Tränen zurück, bis auf eine, die ihr die Wange hinunterrann und die sie beinahe trotzig fortwischte. "Hinausgehen? Was, zu ihnen? Er will mich doch gar nicht da haben, er hat doch nach Sofia gefragt, und die war ja offenbar schon da!" Dann sah sie auf, sah Brix mit dem Besen hantieren, sah Niki, immer noch zornrot, auf das Gemüse einhacken. "Mir tut leid, Niki. Wirklich."

    Dass andere an ihrem Verhalten schon längst gemerkt haben könnten, was Siv für Corvinus empfand, war ihr nicht im Mindesten klar. Sie hatte es ja selbst nicht geahnt, oder eher: sie hatte, zumeist erfolgreich, keinen Gedanken daran zugelassen. Er hatte sie zwar verwirrt, und darüber hatte sie durchaus gegrübelt, aber alles, was eine tiefere Erklärung hätte bieten können, hatte sie von vornherein so strikt abgelehnt, dass es ihr gar nicht bewusst wurde. Und in den übrigen Momenten hatte sie einfach genossen, was sich da, unbemerkt von ihr, zu entwickeln begann. Hätte Brix ihr nun gesagt, dass er schon längst wusste, was los war, noch bevor es ihr selbst klar geworden war, hätte sie ihn mit großen Augen angestarrt und wäre vermutlich im ersten Augenblick zumindest versucht gewesen ihn zu bezichtigen, sie aufziehen zu wollen. So aber starrte sie nur vor sich hin und bemerkte weder Brix’ wissenden Blick noch Nikis grimmigen. Ihr Kopf ruckte allerdings hoch, als der Germane neben ihr ihren Satz vervollständigte. Das war es nicht, woran sie gedacht hatte, aber es traf trotzdem ziemlich genau, was sie gerade empfand. Die Römerin war überhaupt erst der Anlass gewesen, dass Corvinus Siv gerufen hatte, aber nach dem, was passiert war, wusste sie nicht, ob sie dafür dankbar sein sollte. Sie wusste aber sehr genau, dass sie nicht ausstehen konnte, wie sich die Römerin verhielt – oder Corvinus in ihrer Gegenwart.


    Sie hatte sich gerade wieder abgestoßen vom Tisch, tigerte herum und setzte zu einer heftigen Antwort an, als die Tür erneut aufflog und Sofia hereinstürmte. Siv wirbelte herum und starrte die Griechin an, die sofort lossprudelte. Und starrte. Und starrte immer noch, als Sofia bereits wieder herumfuhr. Nur langsam sickerten die Worte ein, wurde ihr die Bedeutung klar, die sie hatten. In Wirklichkeit vergingen nur Bruchteile von Augenblicken, denn das Mehlfässchen war immer noch am Wanken, als Siv aus ihrer Starre auftauchte, aber für sie selbst schienen sich die Sekunden zu Ewigkeiten zu dehnen. "Was?" murmelte sie. Bei allem, was sie draußen gesehen hatte, hatte sie doch nicht gedacht, der Besuch könnte aus diesem Grund für Corvinus wichtig sein. Und was meinte Sofia überhaupt damit, wie er diese Flavia ansah? War sie draußen gewesen? Hatte Corvinus nach Sofia rufen lassen, hatte er also ernst gemeint, dass er lieber sie als Siv um sich haben wollte, selbst wenn es um den Garten ging? Sivs Magen zog sich schmerzhaft zusammen, und ein leiser, gequälter Laut drang über ihre Lippen, während sie immer noch auf die Stelle starrte, an der gerade eben noch Sofia gewesen war und gleichzeitig das Mehlfässchen einen grotesken, verzerrten Tanz aufzuführen schien, in einer verlangsamten Zeit unendlich langsam nach hinten sich beugte, auf dem äußersten Punkt seiner Bahn winzige Ewigkeiten verharrte, nur um dann ebenso langsam wieder zurück zu schwenken. Sivs Blick wurde wie von Götterhand gelenkt davon angezogen, wanderte Stück um Stück dem Mehlfässchen entgegen, während ihre Brust so eng wurde, dass sie nicht mehr atmen konnte. Neue Herrin. Ein Schluchzen sammelte sich in ihrer Kehle. Das Mehlfässchen wanderte weiter auf seiner elliptischen Bahn. Neue Herrin. Auf dem oberen Rand des Fässchens sah Siv plötzlich Corvinus, und mit ihm die Römerin, beide in einem innigen Kuss verbunden. Sie lösten sich, und Corvinus hob die Hand, legte sie ihr an die Wange und fuhr ihr über die Lippen, in der vertrauten Geste, die er bei Siv immer benutzt hatte. Das Mehlfässchen näherte sich dem gegenüberliegenden Scheitelpunkt der Bahn und überschritt ihn. Und irgendetwas in Siv schlug um. Es war wie eine Welle, die sich langsam im Meer aufgebaut hatte und nun auf Grund traf, sich tosend auftürmte und schließlich brach. Die Zeit schnellte zurück, und mit einem Aufschrei, der vielmehr Verzweiflung beinhaltete denn Wut, trat Siv gegen das Mehlfässchen und brachte es endgültig um seinen ohnehin schon wackeligen Stand. "Bei Hels finstersten Kreaturen! Er hat mit mir geschlafen, gerade eben noch, und jetzt bringt er es fertig und sitzt da draußen und macht IHR schöne Augen?"

    Drinnen
    Siv knirschte mit den Zähnen, als sie Nikis Reaktion sah, und ihre Hände ballten sich kurzfristig zu Fäusten, aber sie beherrschte sich. Mühsam. Ich muss raus hier. Der Gedanke war plötzlich in ihrem Kopf. Sie dachte nicht an eine Flucht, aber sie sehnte sich danach, auf dem Rücken eines Pferdes durch einen Wald zu rasen, am liebsten Idolum, der ihr seit der Reise nach Germanien das liebste von den Tieren im aurelischen Stall war. Oder… irgendetwas, wobei sie sich abreagieren, wo sie ihre aufgestaute Energie und Wut loswerden konnte. Der Zusammenstoss mit Corvinus hatte für sie definitiv nicht diesen Effekt gehabt, im Gegenteil. Mit gerunzelter Stirn sah sie Brix an, und sie für einen Moment war sie drauf und dran, dem Schemel einen Tritt mit dem Fuß zu verpassen und sich selbst auf die Suche nach Sofia zu machen, um dann endlich irgendwohin zu gehen, wo sie ihre Ruhe hatte – und sich in Ruhe austoben konnte. Drei Dinge allerdings hielten sie davon ab. Zum einen sprach Brix auf Germanisch, und Siv wusste durchaus zu schätzen, dass er dadurch verhinderte, sie vor Niki – und möglichen weiteren Sklaven, die zwischendurch in die Küche kommen konnten – bloßzustellen. Dann war da der Punkt, dass er überhaupt fragte, was los war. Im Grunde sehnte sie sich danach, dieses Interesse von Corvinus zu bekommen, gerade jetzt, aber Brix war ein Anfang, und im Gegensatz zu beispielsweise Merit oder Fhionn, mit denen sie sich auch verstand, standen bei ihm die Chancen gut, dass sie tatsächlich mit der Sprache herausrückte. Dass er Germanisch gewählt hatte zeugte zusätzlich davon, dass er wirklich wissen wollte, was los war. Und nicht zuletzt bemerkte sie, trotz ihrer momentanen Verfassung, das Schmunzeln, das an seinen Mundwinkeln zupfte.


    Einen Moment blieb Siv noch stehen, dann bewegte sie sich zögernd vorwärts, ging an Brix vorbei, der sich inzwischen locker an den Tisch gelehnt hatte, und setzte sich auf den Schemel, auf den er gedeutet hatte. "Du weißt von dem Krug?" Jetzt, wo sie langsam etwas ruhiger wurde, rührte sich schlechtes Gewissen in ihr. "Ich… Was soll ich sagen, ich…" Sie machte erneut eine unbestimmte Handbewegung, sprang dann auf, unfähig, ruhig sitzen zu bleiben, ging ein paar Schritte und lehnte sich schließlich neben Brix an den Tisch, beide Hände an der Kante aufgestützt, den Vorteil dieser Position nutzend, dass sie ihn so nicht ansehen musste. Was sollte sie ihm sagen? Obwohl Siv generell eher zu den Menschen gehörte, die ungern zugaben Hilfe zu benötigen, war sie doch niemand, der sie rundheraus ablehnte. Nur war ihr Problem in ihrer Situation, dass sie sich selbst nicht mal sicher war, warum sie manchmal so extrem reagierte auf Corvinus. Warum er und wie er sich ihr gegenüber verhielt sie so sehr beeinflusste. Sie hatte schlicht keine Erfahrung mit so etwas. Sie hatte nur das Gefühl, dass es persönlich war, sehr persönlich – und darüber hinaus wusste sie nicht, wie viel sie tatsächlich von dem erzählen konnte, was sie für den Mann empfand, der ihr Besitzer war. Sie seufzte und fühlte sich auf einmal ausgelaugt, als die starken Gefühle von zuvor für den Augenblick abflauten. "Corvinus… Er hat mit mir heut geredet. Zum ersten Mal wirklich, seit… du weißt schon. Seit ich aus Germanien wieder gekommen bin. Und…" Sie zuckte die Achseln, unsicher, was sie noch sagen sollte. Ob sie erzählen sollte, was passiert war. Der Streit. Ihre Ohrfeige. Das kurze Intermezzo an der Tür… Sie war Sklavin, dass sie ihrem Herrn auch körperlich zur Verfügung zu stehen hatte, war eigentlich nichts, was zur Diskussion stand – oder sie derart aufwühlen sollte. Auf der anderen Seite hätte sie nichts an Corvinus derart aufwühlen sollen. Wieder hob ein Seufzer ihre Brust.

    Corvinus zeigte doch Anzeichen, dass ihm nicht alles egal war, was sie tat; allerdings reagierte er nur auf ihre – für eine Sklavin mehr oder minder offene – Provokation, und sie hatte das Gefühl, dass ihn dies nicht verärgerte, weil es ihm um sie ging, sondern wegen der Römerin, die anwesend war. Am liebsten hätte sie das Tablett mit Schwung auf den Boden geworfen, oder noch besser, auf Corvinus, aber sie wusste, dass sie damit zu weit gehen würde, endgültig und unwiderruflich. Also beherrschte sie sich, auch wenn Corvinus’ Blick – ebenso wie der der Flavia, den Siv aus dem Augenwinkel bemerkte – ihr Inneres wieder zum Brodeln brachte, kaum dass es abgeflaut war aufgrund der Tatsache, dass sie tatsächlich gehen konnte. Corvinus’ Ärger war ihr allerdings egal, mehr noch, in ihrem eigenen Ärger und dem dahinter lauernden schmerzhaften Gefühl, ihm nichts mehr zu bedeuten, verschaffte es ihr Genugtuung zu sehen, dass sie ihn noch treffen konnte, wenn auch nur über Umwege. Sollte Sofia die beiden doch bedienen. Am besten sagte sie ihr, wie wichtig Corvinus dieser Besuch war – dann würde die schusselige Griechin aufgeregt werden, und wenn sie das war, erhöhte sich ihr Fehlerpotential noch einmal um wenigstens die Hälfte. Wenn Siv ihr einschärfte, nur ja keinen Fehler zu machen, weil sie für Corvinus dann etwas Wichtiges verdarb und er mit Sicherheit ausflippen würde… passierten ihr mindestens fünf, davon zwei oder drei gravierendere.


    Vertieft in die Vorstellung, was das Soffchen alles anstellen könnte, fiel Siv nicht auf, wie gehässig und rachsüchtig ihre Gedanken in diesem Moment waren – und dass sie mit diesem Vorhaben nicht nur Corvinus schadete, der es aus ihrer Sicht zu einem gewissen Teil verdient hatte, sondern auch Sofia, die völlig unschuldig war. Während die Germanin sich also vorstellte, wie Corvinus von Sofia bloßgestellt wurde, und gleichzeitig die Wut in ihr selbst wuchs und sichtbar in ihren Augen loderte, lenkten ihre Schritte sie in die Küche, um dort zu fragen, wo Sofia steckte. Beinahe ebenso schwungvoll wie zuvor öffnete sie die Tür und trat ein, in den Fingern schon wieder ein Jucken, den nächstbesten Gegenstand zu zertrümmern, als sie Brix bei Niki stehen sah. Sie blieb stehen und zögerte für einen Moment, war der hochgewachsene Germane doch einer der wenigen im Haus, denen sie wirklich Respekt zollte, weil er ihn schlicht verdiente. "Mit mir?" Sie machte eine vage Handbewegung, die viel zu heftig ausfiel, und war drauf und dran, nichts zu antworten, als sie Nikis Blick auffing und sich daran erinnerte, was sie zuvor hier drin angerichtet hatte. Wütend zuckte sie mit den Achseln. "Nichts besonderes", antwortete sie schließlich, wohlweislich auf Germanisch – ihr Tonfall jedoch das genaue Gegenteil aussagend. "Corvinus sein, ist außen in Garten. Wo ist Sofia? Er sie braucht, will für Besuch."

    Ob bewusst oder nicht, Cotta ließ ihr Zeit, ihn zu mustern, sagte nichts weiter zu seinem Gesundheitszustand oder dem, was sie dagegen zu tun gedachte. Siv hing ihren eigenen Gedanken nach, und erst als sie sich einen Ruck gab und nach Cadhla fragte, wandte er ihr erneut seine volle Aufmerksamkeit zu. Sivs Brauen zogen sich etwas zusammen, als sie die ersten Worte seiner Antwort hörte. Nicht mehr, als ein Römer eine Sklavin kennt… Natürlich nicht. Sklaven, mehr waren sie doch nicht für die Römer, für die meisten von ihnen. Was spielte es schon für eine Rolle, dass manche von ihnen es nicht immer gewesen waren? Dass sie ein anderes Leben geführt hatten, irgendwann mal? Dass sie keine Sklaven sein wollten, dass sie keine Sklavin sein wollte, und es im Herzen auch nicht sein würde? Siv fühlte sich hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, den Römer anzufauchen, und dem Wunsch, ihm weiter zuzuhören, zu hören, was er über Cadhla erzählen mochte. Sie konnte nicht genau sagen, ob sie schlicht zu lange wartete, oder ob sie sich bewusst dafür entschied, aber schlussendlich wurde Zuhören daraus, für den Moment zumindest. Ihre Augen sprühten, aber sie blieb still.


    Als der Römer mit einer Frage geendet hatte, blieb die Germanin immer noch still. Sie musterte ihn, versuchte aus ihm schlau zu werden – und schwieg. Sie war unschlüssig, was seine Worte wirklich bedeuteten – zum einen waren manche seiner Worte und sein Ton deutlich für sie, er sprach über eine Sklavin, nicht mehr. Auf der anderen Seite aber war da doch etwas, dass sie stutzen ließ. Klang Bewunderung in seinen Worten durch? Anerkennung? In jedem Fall beschrieb er Cadhla dann mit Worten, die auf eine Sklavin, so wie ein Römer eine Sklavin typischerweise sah, nicht so recht passen wollten. Und sie schwieg, weil sie sich unsicher war, was sie ihm tatsächlich erzählen sollte. Dass sie Cadhla besser gekannt hatte, weil sie beide Sklavinnen im selben Haus, desselben Mannes waren und daher zwangsläufig mehr miteinander zu tun gehabt hatten? Oder dass Cadhla die erste Freundin war, die sie in ihrem Leben gehabt hatte. Dass sie einer der wenigen Menschen in ihrem Leben war, die sie wirklich an sich herangelassen hatte? Siv sah schließlich zur Seite, wich dem Blick des Römers aus. Sie konnte nicht lügen, sie war noch nicht einmal wirklich gut darin, die Wahrheit auch nur zu schweigen, und so war, noch bevor sie auch nur ein Wort gesagt hatte, deutlich zu sehen, dass Cadhla ihr weit mehr bedeutet hatte als eine bloße Mitsklavin gewesen zu sein. "Wir gekannt, ja. Wir beide Sklavin, und wir… haben gearbeitet, zusammen." Sie zögerte kurz. Sie wusste nicht, ob sie davon, ehrlich zu sein, so viel hielt, weil sie eine schlechte Lügnerin war, oder ob es sich genau umgekehrt verhielt: dass sie miserabel log, weil ihr Ehrlichkeit so viel bedeutete. Sie wusste nur, dass sie, wann immer es ging, die Wahrheit sagte, selbst dann wenn sie ungebeten war – und unabhängig davon, wer ihr gegenüber stand. Bei all ihrer Abneigung gegen Römer, Siv machte da keinen Unterschied, hatte es selbst nicht zu jener Zeit, als in ihr noch heißer Hass und Verachtung für das römische Volk und vor allem dessen Soldaten gelodert hatten. Jetzt sah sie den Römer wieder an. "Cadhla ist Freundin, gesein… ge… geworden. Gute Freundin. Das, das ist wertig. Wert… Wertvoll, das ist es. Wenn man… Zu finden, so jemand. Auch wenn sie ist weg, jetzt."

    Überrascht von der Träne, die sie selbst erst registrierte, als Fhionn sie ihr sanft von der Wange wischte, sah Siv die Keltin an. Innerlich wurde ihr Zittern stärker, ebenso wie das Drängen nach Trost für sich selbst, aber nach außen hin wahrte sie die Fassung, versuchte so gut es ging für Fhionn den Halt zu bieten, den diese sicherlich so viel nötiger hatte als sie. Sie nickte nur zu den Worten der Keltin, sagte ihr nicht, welchen Ursprung die einzelne Träne tatsächlich gehabt hatte, denn es ging nicht um sie – das hielt sie sich immer wieder vor. So zerrissen, schockiert und aufgewühlt sie sich auch fühlen mochte, es ging nicht um sie. Sie würde noch Zeit haben zu verarbeiten, was sie gesehen, erlebt hatte. Ihr Entsetzen hinauszuschreien über die grausam-blutige Tat, ihr Entsetzen und ihre Angst, Gefühle, die momentan im Grunde keine anderen zuließen. Sie musste irgendwie, irgendwo in sich die Kraft finden, damit zu warten.


    Regungslos beobachtete sie Fhionn dabei, wie sie das Päckchen wieder zusammenschnürte und einsteckte, dann erhoben sie sich gemeinsam und verließen den Schlafraum, wandten sich zum Atrium, das sie kurz danach auch erreichten. Erhellt vom flackernden Schein der Öllampen, der Siv unangenehm an den flackernden Schein erinnerte, der noch vor gar nicht allzu langer Zeit den Rhythmus geboten zu haben schien für den absurden Reigen, den das Messer und Fhionns Bewegungen für Matho aufgeführt hatten. Flammen, die sich in einer immer größer werdenden, blutroten Lache am Boden spiegelten, tanzten, Reflexe darin hervorriefen wie in kostbarem Wein, während sich die Flüssigkeit ihren Weg suchte in den Ritzen zwischen den Steinen, immer weiter rann, bis sie schließlich ihre nackten Zehen erreichte, ihre Füße bald gänzlich umschloss und weiter anstieg…


    Siv presste sich eine Faust an den Mund und biss auf die Finger, um den Schrei zu unterdrücken, der auf einmal in ihrer Kehle schwebte. Das Bild war so real gewesen, sie hatte sogar für einen Moment das Gefühl gehabt, das noch warme Blut an ihren Zehen zu spüren. Aber es war nicht echt, was sie gesehen hatte, es war nur Erinnerung gewesen, vermischt Bildern ihrer lebhaften Phantasie. Nicht echt, wiederholte sie in Gedanken, immer wieder. Es fiel ihr schwer, die Vorstellung abzuschütteln, aber sie schaffte es, zumindest weit genug, um dem Schrei keinen Laut zu verleihen und ihn zu den anderen hinzuzufügen, die darauf warteten, von ihr irgendwann in die Luft entlassen zu werden. Sie deutete vage auf eine der Klinen und ging darauf zu, ließ sich langsam niedersinken, bis sie aufrecht saß. Schweigend musterte sie Fhionn. Sie hatte das Gefühl, sie müsste etwas sagen, irgendetwas, aber ihr fehlten die Worte, und sie sagte lieber nichts, als irgendeine hohlklingende Phrase von sich zu geben. Vermutlich gab es schlicht keine Worte für Momente wie diesen. Und so schwieg sie.

    Dass das leise Klirren der Gegenstände auf dem Tablett derartige Reaktionen hervorrufen würde in Form von irritierten Blicken, die sie trafen, und einer tiefen, unheilverkündenden Falte auf Corvinus’ Stirn, hätte Siv nicht erwartet. Aber letztlich war ihr das ziemlich egal in diesem Moment. Sie hatte genug mit sich und ihrer Fassung zu tun, und wenn Corvinus und die Römerin auch nur geahnt hätten, wie es in ihr gerade aussah, hätten sie sie bewundern müssen für das Maß an Selbstbeherrschung, die die Germanin tatsächlich vor ihnen aufbrachte. Zumindest von Corvinus erwartete Siv aber, dass er wusste, wie aufgewühlt sie gerade war – ihn schien es nicht weiter zu stören, er schien nicht einmal an das zu denken, was gerade passiert war, aber er wusste, was gewesen war, und es musste ihm doch einfach klar sein, dass sie das nicht unberührt ließ, dass sie es nicht verdrängen konnte, dass ihr Verhalten daher rührte… Aber was Corvinus erwartete, war deutlich – eine Sklavin, deren Benehmen vorbildlich war. Und damit konnte und wollte Siv im Moment nicht dienen. Wäre ihr Zusammentreffen zuvor anders ausgegangen, befriedigender für sie, oder zumindest nicht mit einem derart abrupten Ende, ohne auch nur ein weiteres Wort zu wechseln, wäre Sivs innere Gefühlswelt nun nicht ganz so stark in Aufruhr, trotz der vergangenen Wochen – und sie wäre in der Lage gewesen und vielleicht sogar gewillt, sowohl die Römerin als auch Corvinus, wie er sich gerade gab, zu ertragen und ein tadelloses Verhalten an den Tag zu legen, wozu sie im Allgemeinen durchaus fähig war. Aber so, wie dieser Tag bisher verlaufen war, balancierte sie stets am Abgrund entlang. Der Ausbruch in der Küche hatte etwas Erleichterung gebracht, aber mit Corvinus’ nächsten Taten und Worten war diese beinahe zur Gänze wieder dahin. Verblüfft und verärgert sah sie ihn an, während sich ihre Brauen zusammen und ihre Augen eine deutliche Sprache sprachen. Du weißt, warum das nicht mein Tag ist! So deutlich, als ob sie ihn laut gesagt hätte, stand dieser Satz auf einmal in ihrem Kopf und beherrschte für Momente alles andere. Immerhin ist das deine Schuld! Sofia wollte er haben. Ausgerechnet das Soffchen, der Tollpatsch, der selten eine Aufgabe hinbekam, ohne dass ihr dabei ein Malheur passierte. Der Hinweis war deutlich, und Siv war sich auch ziemlich sicher, dass Corvinus’ Aufforderung nicht wirklich ernst gemeint war – wenn ihm dieser Besuch so wichtig war, konnte er nicht wirklich Sofia um sich haben wollen, es sei denn, er wünschte musikalische Untermalung, und wenn er der Flavia den Garten zeigen wollte, brauchte er auch nicht irgendwen, sondern Siv. Aber sie war nicht gewillt, derart rhetorische Feinheiten im Moment zu beachten. Zu sehr hatte sie sich, seit sie Corvinus’ Cubiculum verlassen hatte, gewünscht, einfach ihre Ruhe zu haben. Sie musterte ihn noch einen Moment, wie er zunächst der Römerin und anschließend sich selbst eingoss, dann glitt ein süffisantes Lächeln über ihre Züge. Sie meinte zu wissen, dass er seine Worte nur als Warnung gemeint hatte und nicht als tatsächliche Aufforderung. Aber sie war eine Sklavin – wer war sie schon zu bleiben, wo ihr Herr ihr doch so deutlich zu verstehen gab zu gehen? Zumal sie ohnehin nicht bleiben wollte. "Ich sicher bin, Sofia weiß besser zu tun." Ihre Augenbrauen zuckten minimal in die Höhe, während sie leicht den Kopf neigte, sich zum ersten Mal tatsächlich leichter fühlend. Danach wandte sie sich um, um zu gehen.

    Siv musterte den Aurelier, durchaus interessiert, wie er wohl reagieren würde auf ihre in manchen Augen freche Antwort. Sie war Sklavin, gerade in letzter Zeit war so einiges passiert, was ihr das schmerzhaft in Erinnerung hielt. Und so, wie sie sich momentan manchmal aufführte, wäre sie selbst zu Hause nicht durchgekommen – dieses Verhalten hätte kaum jemand geduldet. Für einen Augenblick hatte sie auch bei diesem Römer das Gefühl, es zu weit getrieben zu haben und nun die Rechnung serviert zu bekommen, in Form irgendeiner Strafe. Aber nichts kam, und als sie, etwas zögernd, von Cadhla erzählte, entspannte sich die Situation etwas – und Siv sah Cotta anschließend überrascht an, als dieser antwortete. "Ich auch", murmelte sie leise. Und wie sie sie vermisste. Sie hatte so wenige Menschen ihr, die ihr wirklich gewogen waren – darüber hinaus hatte erst Cadhla ihr gezeigt, welchen Wert eine Freundin hatte. Zuhause hatte sie fast nur mit ihren Brüdern und deren Freunden zu tun gehabt, mit Mädchen, generell mit Frauen, war sie nur selten in wirklich engeren Kontakt gekommen. Sie hatte es auch nie vermisst. Erst als sie die Keltin kennen gelernt hatte, hatte sie begriffen, dass eine Freundin auf eine andere Art für sie da sein konnte als Männer, egal ob es Freunde waren, Brüder, ihr Vater oder Ragin.


    Siv verdrängte die Gedanken an Cadhla schließlich. Die Keltin war nicht mehr hier, und wenn sie sie denn überhaupt jemals wieder treffen würde, dann wohl erst in ferner Zukunft, das wusste sie. Es hatte so wenig Sinn, sich jetzt darüber Gedanken zu machen … Es belastete sie nur. Sie konnte es nicht immer verhindern, aber in diesem Moment wollte sie sich keine Schwäche geben, nicht vor dem Römer, von dem sie nicht so recht wusste, was sie von ihm halten sollte. Auf der einen Seite stand ihr noch zu deutlich vor Augen, wie er sich an der Porta benommen hatte, und auch der kurze Augenblick gerade eben, in dem er ungehalten gewesen war von ihrem Verhalten. Auf der anderen Seite sprach er mit ihr. Interessierte sich für sie. Und er redete nicht auf die Art mit ihr, die sie eigentlich von ihm erwartet hätte, nach seinem Benehmen vorhin. Erneut musterte sie ihn, diesmal etwas nachdenklich, während er seinerseits darüber zu grübeln schien, ob er ihr Angebot annehmen sollte. Aber dann, bevor sie ungeduldig werden konnte, lachte er plötzlich. Siv war nicht wirklich klar, was er nun so lustig fand, aber dass er einwilligte, hielt sie davon ab, einen entsprechenden Kommentar von sich zu geben – der ihrer Position als Sklavin definitiv unangenemessen gewesen wäre. Stattdessen nickte sie. "Gut. Ich werde vorbereiten, später, was brauchen für dir." Einen Moment zögerte sie. Dann noch einen. Aber dann hielt sie es nicht mehr aus. Cadhla wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf. "Du… du kennst Cadhla?"

    Der Spruch der Flavia hätte das Fass beinahe zum Überlaufen gebracht. Qualifiziertes Personal… Es brodelte in ihr, es brodelte gewaltig. Was dachte diese Römerin eigentlich? Dass Siv zum Spaß hier war, weil sie es genoss, zu bedienen, zu gehorchen, keine Wahl zu haben, Sklavin zu sein? Auf dem Weg zu den Flügeltüren krampften sich nun beide Hände um das kleine Tablett, und als sie erst im Haus war, beschleunigte sich ihr Schritt noch mehr, bis sie rannte. Sie dachte in diesem Moment nicht daran, dass sie nur umso schneller wieder zu den beiden hinaus musste, je mehr sie sich jetzt beeilte. Sie konnte einfach nicht ruhig gehen, sie hielt es nicht aus. Stürmisch flog die Tür zur Küche auf, als sie sie endlich erreichte – und mit einem Scheppern landete das Tablett auf einem der Tische. Erschrocken drehte Niki sich um, als sie den Lärm hörte. "Bist du von allen guten Geistern verlassen???" fuhr sie die Germanin an, aber die achtete kaum auf sie. Mit einem Wutschrei schlug Siv die Tür hinter sich zu, und mit einem weiteren sowie diversen, schillernden Flüchen griff sie blindlings um sich und schnappte sich das erste, was ihr zwischen die Finger kam – was einer der leeren Weinkrüge war, die neben der Tür abgestellt wurden, um in den Keller gebracht zu werden. Mit einem Klirren traf der Krug gleich darauf ebenfalls auf den Tisch und zerbarst. Scherben prasselten auf die Bank und auf den Boden, und während Siv zornbebend einen Schritt nach vorne machte, immer noch eine unbändige Zerstörungslust in ihren Adern, kam Niki ihr ebenso wutschnaubend entgegen – und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. "Was ist denn in dich gefahren?!"


    Der scharfe Schmerz, der sie durchzuckte, brachte Siv wieder zu Besinnung. Mit einer seltsamen Mischung aus Schockiertheit und Genugtuung betrachtete sie das Chaos, das sie angerichtet hatte, dann sah sie Niki an, während langsam das hochstieg, was der Zorn nur überdeckt hatte – Hilflosigkeit und maßlose Verwirrung. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Corvinus hatte kein Anzeichen gegeben, kein noch so kleines. Nichts. Wenn es nach seinem Verhalten ging, war nichts passiert. Nie. Sie biss sich auf die Unterlippe, um die plötzlich aufsteigenden Tränen zu unterdrücken, während der Rest in ihrem Inneren einen wilden Reigen zu tanzen schien, immer weiter, immer schneller, ohne aufhören zu können, ein wahnwitziger Tanz. Niki musste sie schließlich schütteln, um ihre Aufmerksamkeit zu erringen. "Hör mal, solltest du heute nicht mit dem Dominus den Garten vorzeigen?" Als immer noch keine Antwort kam, meinte sie: " Er hat mir gesagt, ich soll was vorbereiten. Sollst du das jetzt holen?" Endlich riss Siv ihren Blick von den Scherben los und nickte. "Ja." Schon drang der Zorn wieder durch, war dieses Gefühl derzeit doch das einzige, woran sie sich klammern konnte, was ihr Halt gab. Aber er war zumindest im Moment nicht mehr so heißlodernd wie noch Augenblicke zuvor. "Ja." Niki musterte sie einen Moment lang, schien zu überlegen, ob sie sie so tatsächlich wieder hinaus schicken konnte – dann drückte sie ihr ein großes Tablett in die Hand mit Häppchen verschiedenster Art, deren Duft Siv sofort in die Nase drang – aber anstatt ihr das Wasser im Mund zusammen laufen zu lassen, ihre Wut nur noch mehr anstachelte. Bedienen. Sie musste das hinaus bringen, zu Corvinus, und zu dieser Römerin. Starr stand sie da, während Niki ihr noch einen Krug mit Wasser, einen mit Saft sowie eine Amphore mit Wein darauf stellte – dem guten Wein, glücklicherweise dachte sie selbst daran, Siv hätte es bestimmt nicht getan –, drehte sie dann an den Schultern um und schob sie hinaus aus der Küche. "Dann geh jetzt wieder. Na los, sie warten sicher! Aber glaub ja nicht, dass deine Aktion hier ohne Folgen bleibt!" Siv murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, dann machte sie sich wieder auf den Rückweg. Sie wollte nicht hinaus. Sie wollte nicht… aber sie hatte keine Wahl. Es dauerte nicht lange, und die Terrasse lag vor ihr, und mit ihr der Mensch, der sie so unglaublich aufwühlte. Zusammen mit der Römerin, deren Verhalten Siv selbst in besten Zeiten zur Weißglut gebracht hätte. Wieder ohne ein Wort zu sagen, betrat sie die Terrasse, trat zu den beiden hin, die sich angeregt zu unterhalten schienen, und setzte das Tablett auf dem Tisch zwischen ihren Sesseln ab, ein wenig härter als nötig gewesen wäre, wovon das leise Klirren der Gegenstände darauf zeugte. "Das ist in Ordnung?" Nur leicht war der beißende Spott, geboren aus ohnmächtiger Wut und Hilflosigkeit ob der übrigen Gefühle in ihr, aus ihrer Stimme herauszuhören. Dafür war er umso deutlicher in ihrem Blick zu sehen, mit sie kurz Corvinus streifte, bevor sie sich aufrichtete. "Was ihr wollt? Wasser? Wein? Saft?"

    Während Siv noch mit sich kämpfte, nachdem sie Corvinus’ Kompliment für die Tunika der Flavierin gehört hatte, ließ diese ihre Sklaven vortreten, die abstellten und enthüllten, was sie die ganze Zeit getragen hatten. Die prachtvoll blühende Pflanze erhielt von ihr nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdient hätte, da Siv mit anderen Dingen beschäftigt war im Moment – zum Beispiel ihr aufgewühltes Inneres im Zaum zu halten –, aber dennoch streifte den Oleander ein bewundernder, wenn auch etwas abwesender Blick. Erst als sie sich gefangen hatte, konnte sie die Schönheit mehr in sich aufnehmen, aber nun fehlte ihr die Zeit, musste sie doch bedienen. Noch ein Blick auf die Pflanze, die sie wie so viele erst kennen gelernt hatte, als sie hierher gekommen war, dann reichte sie den beiden Römern die Becher – und erhielt prompt die Quittung dafür, dass sie nur Wasser mitgebracht hatte, weil sie irgendwie ihrem Trotz, ihrem Widerwillen gegen diese ganze Situation ein Ventil verschaffen musste, und sei es noch so klein. Die Römerin schien für einen Augenblick zu erstarren, blickte aber nur Corvinus an, der wiederum sie ansah – mit einem deutlich tadelnden Gesichtsausdruck. Und Siv suchte, suchte in seinem Gesicht, in seinen Augen nach etwas, irgendetwas, das ihr zeigte, dass er ebenfalls wenigstens ansatzweise verstört war über das, was vorhin passiert war, oder zumindest etwas das ihr zeigte, dass überhaupt etwas passiert war, nach all diesen Wochen der Ignoranz und Abweisung und Kälte, die von ihm ausgegangen war. Aber da schien nichts zu sein. Nur Missbilligung darüber, dass sich in seinem Becher kein Wein fand. Und Siv verzweifelte beinahe. An ihm, an ihr, an dieser Situation, aus der es für sie genauso wenig einen Ausweg zu geben schien wie aus ihren tobenden Emotionen. Für einen winzigen Moment hatte sie das Gefühl, zu zerbrechen an dem Druck, der sich in ihrem Inneren stetig aufbaute – aber dann fand sie doch in sich den Willen, nicht nachzugeben. Nicht zu zeigen, wie es in ihr aussah. Ihm nicht die Genugtuung zu verschaffen zu sehen, dass sie dieser Situation nicht gewachsen war.


    Trotz dieses Vorsatzes konnte die Germanin nicht verhindern, dass in ihren Augen, die auf ihn gerichtet waren, der Sturm zu sehen war, der in ihr wütete. Die Rechte, die das Tablett locker an ihrer Seite hielt, schloss sich fest um den Griff, als Corvinus sie weiterhin ansah, während er das Wort an die Flavia richtete – und von ihr, Siv, betont als Sklavin sprach. Ihr Kopf zuckte kurz zur Seite, als dieses Wort fiel, das sie umso mehr traf, da Corvinus sie so selten hatte spüren lassen bisher, was sie letztlich war. Unverwandt erwiderte sie seinen Blick, nun auch noch verletzten Stolz spürend – der Schmerz, der die ganze Zeit da war, schlicht erstickt unter der Fülle an anderen Emotionen. Aber sie stand einfach da, ohne etwas zu sagen, ohne sich zu rühren. Hätte sie den Mund aufgemacht, hätte sie ihn angebrüllt, und hätte sie sich bewegt, hätte sie ihm das Tablett um die Ohren geschlagen. Wie nahe sie in diesem Moment vor einem weiteren Ausbruch stand, musste für ihn, der sie inzwischen so gut kannte, deutlich zu sehen sein – an ihrer steifen Haltung, den verkrampften Händen, den schmalen Lippen, dem Lodern in ihren Augen und nicht zuletzt der Tatsache, dass sie kein einziges Wort für ihn übrig hatte, noch nicht einmal ein einfaches Ja, geschweige denn irgendwelche angedeuteten Widerworte. Als er fertig war mit seiner Anweisung, blieb sie nur noch einen Augenblick stehen, um sicher zu gehen, dass sie tatsächlich gehen würde und nicht etwa doch die Beherrschung verlor, dann verschwand sie ohne ein weiteres Wort.