Die Römerin schien fasziniert zu sein von dem Garten. Siv wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Auf der einen Seite war das durchaus ein Zug an ihr, der sie ihr etwas sympathischer werden ließ – auf der anderen Seite wusste sie, dass die meisten Römer, die Pflanzen etwas abgewinnen konnten, ein anders geartetes Interesse hatten als sie. Sie liebten nicht die Natur um ihrer Selbst willen, einfach weil sie war, oder waren schlicht begeistert von der Vielfalt und Schönheit und Wildheit, die sie bot, sondern… Siv konnte es nicht ausdrücken. Sie vermochte es nicht wirklich in Worte zu fassen, weil ihr diese Sichtweise so fremd war. Vielleicht liebten Römer, die meisten zumindest, auch nur andere Aspekte an der Natur als sie – die gezähmte Seite, so wie Straton es ausgedrückt hatte, das, was Nutzen brachte, oder wenigstens in eine Form gebracht worden war, die ihrem Schönheitssinn entsprach. Vielleicht spielte auch die Tatsache eine Rolle, dass ein Garten wie dieser vortäuschte, dass die Natur beherrschbar war, dass sie sie sich ebenso gefügig machen konnten wie so viele Teile der Welt. Die Germanin konnte es nicht sagen, genauso wenig wie sie sagen konnte, welcher Art das Interesse der Römerin war. Fest stand nur, dass der aurelische Garten inzwischen deutlich ihre Handschrift trug. Sie hatte nicht nur in mühevoller Kleinarbeit und mit viel Liebe Gewächse zum Gedeihen gebracht, die dem hiesigen Klima fremd und vorher verkümmert waren. Sie hatte auch Pflanzen so angeordnet, wie es ihrem subjektiven Schönheitsgefühl entsprach, jedoch nicht unbedingt striktem Ordnungsempfinden. Sie hatte Ecken des Garten dem vorbehalten, was andere als Unkraut sahen. Und wo immer es ging, hatte sie der Natur die Freiheit gelassen, sich so zu entfalten, wie es ihr entsprach, und nicht wie Menschen sie sehen wollten. Was Corvinus davon hielt, wusste sie nicht – ihre Arbeit im Garten hatte früh Früchte getragen, aber so deutlich war das Ergebnis erst zu sehen, seit es wirklich Frühling geworden war, und genau zu dieser Zeit war sie in Germanien gewesen.
Schweigend beobachtete Siv die Römerin und wartete einfach ab, was als nächstes kommen würde, und tatsächlich wandte sich diese bald um – sagte wieder etwas in einem Tonfall, der in Siv erneut Widerwillen aufkeimen ließ. Sie öffnete den Mund, um eine patzige Antwort zu geben, als in diesem Moment Corvinus heraustrat, und sein plötzliches Erscheinen führte zu zwei Dingen: zum einen fehlten ihr plötzlich die Worte. Zum anderen begann in ihr wieder ein Wirbelsturm an unterschiedlichsten Emotionen zu toben, der gerade erst angefangen hatte sich zu legen – von Leidenschaft über Verwirrung bis hin zu Zorn. Dass er sie keines Blickes würdigte, half ihrem Gemütszustand ebenso wenig wie die Tatsache, dass er völlig normal erschien, unbeteiligt was sie betraf, so als wäre nichts passiert, eben in seinem Cubiculum. Nun war er es, den sie anstarrte, fassungslos und ungläubig, dass er sich so unberührt geben konnte – oder es gar tatsächlich war. Letzter Gedanke versetzte ihr einen Stich, aber bevor sie ihm weiter nachgehen konnte, wandte Corvinus sich – nach der Begrüßung der Römerin, die offenbar eine Flavierin war – doch ihr zu, mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht, das eindeutig nicht ihr galt, da es erlosch, als sein Blick sie traf. Und er sagte auch nichts zu ihr, und sah sie nur auffordernd an. Sivs Lippen wurden schmaler, als sie sie aufeinander presste. Der Blick war, vor allem in Kombination mit der zuvor gestellten Frage, mehr als deutlich. Und Siv verstand die Aufforderung, die darin lag. Aber es wehrte sich alles in ihr dagegen, jetzt so zu tun, als sei nichts gewesen, Corvinus und seine Besucherin – deren Art sie nicht ausstehen konnte – nun zu bedienen, als sei sie eine willenlose Sklavin. Aber was für eine Wahl hatte sie schon? Wieder erinnerte sie sich der Worte, die Corvinus gesagt hatte, als sie vor noch gar nicht allzu langer Zeit mit ihm alleine hier gewesen war. Du solltest dich benehmen. In ohnmächtiger Wut schloss sie für einen Moment die Augen, dann wandte sie sich ruckartig ab, trat ins kühle Innere des Hauses und zu einem der Tische, auf denen in dieser Jahreszeit stets Wasserkrüge und Becher bereitstanden. Ihr war klar, dass sie Wein hätte holen müssen, zumindest um ihn anbieten zu können, aber das war zuviel des Guten für sie. Eine Erfrischung hatte die Römerin gewollt, also musste Wasser reichen. Mit fahrigen Bewegungen schenkte Siv zwei der Becher voll, während sie sich vorstellte, der Römerin das Wasser über den Kopf zu gießen – oder noch besser, Corvinus. Dann trat sie wieder auf den Xystus, gerade als Corvinus etwas faselte von einer Nymphe, einem See und Morgenröte. Siv sah die prachtvolle Tunika der Römerin und wusste auf Anhieb, was er gemeint hatte. Sie hatte sich noch nie gewünscht, etwas derartiges zu tragen, aber zu sehen, wie Corvinus die Römerin ansah, ließ in ihr zum ersten Mal den Wunsch danach aufkeimen. Nicht um so etwas zu haben, auch nicht um es wenigstens einmal zu tragen. Nein. Um wenigstens einmal auf diese Art von ihm angesehen zu werden. Sivs Hände krampften sich um das Tablett, und für einen winzigen Augenblick nahm das Gefühlswirrwarr in ihr überhand und übertrug sich auf ihren Körper, der erzitterte. Wasser schwappte über, nässte das Tablett und tropfte auf den Boden. Dann hatte sie sich wieder einigermaßen im Griff, und ohne ein Wort zu sagen, ohne einen der beiden anzusehen, trat sie vor und hielt ihnen die Becher hin.