Beiträge von Aureliana Siv

    Die Römerin schien fasziniert zu sein von dem Garten. Siv wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Auf der einen Seite war das durchaus ein Zug an ihr, der sie ihr etwas sympathischer werden ließ – auf der anderen Seite wusste sie, dass die meisten Römer, die Pflanzen etwas abgewinnen konnten, ein anders geartetes Interesse hatten als sie. Sie liebten nicht die Natur um ihrer Selbst willen, einfach weil sie war, oder waren schlicht begeistert von der Vielfalt und Schönheit und Wildheit, die sie bot, sondern… Siv konnte es nicht ausdrücken. Sie vermochte es nicht wirklich in Worte zu fassen, weil ihr diese Sichtweise so fremd war. Vielleicht liebten Römer, die meisten zumindest, auch nur andere Aspekte an der Natur als sie – die gezähmte Seite, so wie Straton es ausgedrückt hatte, das, was Nutzen brachte, oder wenigstens in eine Form gebracht worden war, die ihrem Schönheitssinn entsprach. Vielleicht spielte auch die Tatsache eine Rolle, dass ein Garten wie dieser vortäuschte, dass die Natur beherrschbar war, dass sie sie sich ebenso gefügig machen konnten wie so viele Teile der Welt. Die Germanin konnte es nicht sagen, genauso wenig wie sie sagen konnte, welcher Art das Interesse der Römerin war. Fest stand nur, dass der aurelische Garten inzwischen deutlich ihre Handschrift trug. Sie hatte nicht nur in mühevoller Kleinarbeit und mit viel Liebe Gewächse zum Gedeihen gebracht, die dem hiesigen Klima fremd und vorher verkümmert waren. Sie hatte auch Pflanzen so angeordnet, wie es ihrem subjektiven Schönheitsgefühl entsprach, jedoch nicht unbedingt striktem Ordnungsempfinden. Sie hatte Ecken des Garten dem vorbehalten, was andere als Unkraut sahen. Und wo immer es ging, hatte sie der Natur die Freiheit gelassen, sich so zu entfalten, wie es ihr entsprach, und nicht wie Menschen sie sehen wollten. Was Corvinus davon hielt, wusste sie nicht – ihre Arbeit im Garten hatte früh Früchte getragen, aber so deutlich war das Ergebnis erst zu sehen, seit es wirklich Frühling geworden war, und genau zu dieser Zeit war sie in Germanien gewesen.


    Schweigend beobachtete Siv die Römerin und wartete einfach ab, was als nächstes kommen würde, und tatsächlich wandte sich diese bald um – sagte wieder etwas in einem Tonfall, der in Siv erneut Widerwillen aufkeimen ließ. Sie öffnete den Mund, um eine patzige Antwort zu geben, als in diesem Moment Corvinus heraustrat, und sein plötzliches Erscheinen führte zu zwei Dingen: zum einen fehlten ihr plötzlich die Worte. Zum anderen begann in ihr wieder ein Wirbelsturm an unterschiedlichsten Emotionen zu toben, der gerade erst angefangen hatte sich zu legen – von Leidenschaft über Verwirrung bis hin zu Zorn. Dass er sie keines Blickes würdigte, half ihrem Gemütszustand ebenso wenig wie die Tatsache, dass er völlig normal erschien, unbeteiligt was sie betraf, so als wäre nichts passiert, eben in seinem Cubiculum. Nun war er es, den sie anstarrte, fassungslos und ungläubig, dass er sich so unberührt geben konnte – oder es gar tatsächlich war. Letzter Gedanke versetzte ihr einen Stich, aber bevor sie ihm weiter nachgehen konnte, wandte Corvinus sich – nach der Begrüßung der Römerin, die offenbar eine Flavierin war – doch ihr zu, mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht, das eindeutig nicht ihr galt, da es erlosch, als sein Blick sie traf. Und er sagte auch nichts zu ihr, und sah sie nur auffordernd an. Sivs Lippen wurden schmaler, als sie sie aufeinander presste. Der Blick war, vor allem in Kombination mit der zuvor gestellten Frage, mehr als deutlich. Und Siv verstand die Aufforderung, die darin lag. Aber es wehrte sich alles in ihr dagegen, jetzt so zu tun, als sei nichts gewesen, Corvinus und seine Besucherin – deren Art sie nicht ausstehen konnte – nun zu bedienen, als sei sie eine willenlose Sklavin. Aber was für eine Wahl hatte sie schon? Wieder erinnerte sie sich der Worte, die Corvinus gesagt hatte, als sie vor noch gar nicht allzu langer Zeit mit ihm alleine hier gewesen war. Du solltest dich benehmen. In ohnmächtiger Wut schloss sie für einen Moment die Augen, dann wandte sie sich ruckartig ab, trat ins kühle Innere des Hauses und zu einem der Tische, auf denen in dieser Jahreszeit stets Wasserkrüge und Becher bereitstanden. Ihr war klar, dass sie Wein hätte holen müssen, zumindest um ihn anbieten zu können, aber das war zuviel des Guten für sie. Eine Erfrischung hatte die Römerin gewollt, also musste Wasser reichen. Mit fahrigen Bewegungen schenkte Siv zwei der Becher voll, während sie sich vorstellte, der Römerin das Wasser über den Kopf zu gießen – oder noch besser, Corvinus. Dann trat sie wieder auf den Xystus, gerade als Corvinus etwas faselte von einer Nymphe, einem See und Morgenröte. Siv sah die prachtvolle Tunika der Römerin und wusste auf Anhieb, was er gemeint hatte. Sie hatte sich noch nie gewünscht, etwas derartiges zu tragen, aber zu sehen, wie Corvinus die Römerin ansah, ließ in ihr zum ersten Mal den Wunsch danach aufkeimen. Nicht um so etwas zu haben, auch nicht um es wenigstens einmal zu tragen. Nein. Um wenigstens einmal auf diese Art von ihm angesehen zu werden. Sivs Hände krampften sich um das Tablett, und für einen winzigen Augenblick nahm das Gefühlswirrwarr in ihr überhand und übertrug sich auf ihren Körper, der erzitterte. Wasser schwappte über, nässte das Tablett und tropfte auf den Boden. Dann hatte sie sich wieder einigermaßen im Griff, und ohne ein Wort zu sagen, ohne einen der beiden anzusehen, trat sie vor und hielt ihnen die Becher hin.

    Der Römer zeigte sich wenig beeindruckt von ihrem Vorschlag, was Siv fast schon erwartet hatte, und sei es nur aus Prinzip – aber sein Vorschlag traf ganz und gar nicht auf Gegenliebe bei ihr. Sivs Stirnrunzeln kehrte zurück. Es fing schon damit an, dass er sie falsch verstanden hatte, ob absichtlich oder nicht, konnte sie nicht sagen, aber das interessierte sie im Moment auch nicht weiter. Und von einem Aufpasser begleitet zu werden, darauf konnte sie erst recht verzichten – die Erfahrung hatte sie in den letzten Wochen zur Genüge gemacht. Und auch wenn dieser Tag wohl zumindest teilweise verdorben war, würde sie sich nicht freiwillig den Rest auch nicht vermiesen lassen, indem sie zuließ, dass irgendein wildfremder Mann sie in der Villa ablieferte wie ein ungezogenes Kind, das davon gelaufen war. Dazu kam der nach wie vor abfällige Tonfall des Römers, wie er sie behandelte, seine Haltung, seine ganze Art… Siv grollte innerlich, und es fiel ihr immer schwerer, sich zurückzuhalten, aber obwohl Temperament und Alkohol eine ungute Mischung ergaben und inzwischen einen erbitterten Kampf mit ihrer Vernunft fochten, wusste sie auch, dass ihre Schwierigkeiten nur noch größer werden würden, wenn sie jetzt erneut die Fassung verlor. Und dass es in diesem Augenblick wohl wieder nicht sie sein würde, die den Preis dafür würde zahlen müssen. Als er aber sagte, er könne ihr nicht trauen, war ihre erzwungene Zurückhaltung vergessen.


    "Nicht trauen?" Ungläubiger Zorn stand in ihren Augen, ungläubiger Zorn echote in ihrer Stimme. "Ich halte Wort, immer! Ich niemand brauche, der aufpasst!" Sie trat ein paar Schritte vor und zur Seite, dem Römer in den Weg, der sich gerade zum Gehen wandte. "Außerdem hast du mich eh falsch verstanden", giftete sie weiter. "Für. Du verstehst? Er schickt FÜR dich, nicht nach. Er schickt-" Sie gestikulierte ungeduldig, während sie nach Worten suchte. "-schickt…" Die Worte, die sie wusste, wollten ihr nicht so recht über die Lippen kommen, also versuchte sie Umschreibungen zu finden, die ihren Fehler nicht gar so deutlich machten – aber dafür war ihr Latein bei weitem zu schlecht. "… Entschuldigung. Und Geld. Für dich", endete sie schließlich zähneknirschend und in einem Tonfall, der den Satz eindeutig nicht wie ein Schuldeingeständnis ihrerseits wirken ließ. Letztlich würde es darauf hinauslaufen, dass Corvinus sich für sie entschuldigen und die Tunika ersetzen musste, das wusste sie. Selbst wenn die Situation so gewesen wäre, dass ihre Handlung wenigstens in ihren Augen gerechtfertigt gewesen wäre, im Moment würde er ihr kaum glauben, und selbst wenn, würde er es nach außen nicht zeigen. Nein, sie wusste, worauf das hinauslaufen würde, sie lebte inzwischen lange genug als Sklavin unter den Römern. Und es war ja ihre Schuld gewesen – nur würde sie sich dafür bei dem Römer nicht entschuldigen, nicht wenn es nicht sein musste, und vor allem nicht jetzt, wo er so offen ihre Vertrauenswürdigkeit angezweifelt hatte. Sie warf dem Sklaven, der sie begleiten sollte, einen funkelnden Blick zu, bevor die Blitze wieder den Römer vor ihr trafen. "Du braucht nicht schicken, dass er geht mit mir."

    Sivs Brauen zogen sich zusammen, als der Römer einfach weiter ignorierte. Und nicht nur er, auch die Sklaven, die er bei sich hatte. Der Wunsch, irgendetwas kaputt zu machen oder zu werfen, wurde stärker in ihr, und es war ein Glück, dass sie ihren Becher vorhin hatte fallen lassen, sonst hätte sie ihn dem Römer nun vermutlich an den Kopf geworfen. So ballten sich nur ihre Hände zu Fäusten, und sie grub die Fingernägel in die Handflächen, um sich zu beherrschen. Hatte sie zuvor noch Mitleid gehabt mit dem Sklaven, der an ihrer Statt geschlagen worden war, begann sich nun so etwas wie Verachtung in ihr zu regen – nicht so sehr für diesen einen, bei dem sie sich immer noch entschuldigen wollte, als vielmehr für die anderen, die herum standen und nur darauf zu warten schienen, dem Römer jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Ein Wink von ihm, und einer der Männer verschwand und kehrte kurz darauf mit einem Becher Wein für ihn zurück, was Siv mit einem noch tieferen Stirnrunzeln quittierte.


    Und dann standen sie alle herum. Und rührten sich nicht. Der Römer betrachtete die Menschen um sich herum, fragte einen seiner Begleiter zwischendurch etwas, aber beachtete sie im Großen und Ganzen nicht weiter. Siv biss sich auf die Lippen. Er hatte sie nicht entlassen, und sie wusste, dass sie nicht einfach gehen konnte – zumal einer der Sklaven ja noch unterwegs war, um Corvinus zu holen. Ihr Magen schien zu revoltieren bei dem Gedanken. Corvinus würde nicht begeistert sein, wenn er von wo auch immer geholt und hierher geschleppt wurde, schon gar nicht, wenn er den Grund erfuhr. Und sie wusste nicht einmal, ob er zu Hause war, oder irgendwo in der Stadt unterwegs… Hatte Brix nicht erwähnt, dass er ebenfalls zu dem Fest hier gehen würde? Unruhig ließ sie den Blick kurz über die Menge schweifen, konnte aber niemanden erkennen. Hatte sie sich zuvor noch gefreut über den freien Nachmittag und die Möglichkeit, auf dieses Fest zu gehen, aus der Villa heraus zu kommen, wollte sie nun nur noch nach Hause. Aber sie würde sich eher die Zunge abbeißen, als den Römer darum zu bitten sie gehen zu lassen – ganz davon abgesehen, dass sie sich sicher war, dass dieser Mann ihrer Bitte kaum entsprechen würde, obwohl er nun wusste, wem sie gehörte.


    Gerade, als Siv tatsächlich begann zu überlegen, doch einfach in der Menge zu verschwinden, tauchte der Mann auf, der zuvor losgerannt war – ohne Corvinus, dafür völlig außer Atem, aber auf einen Wink seines Besitzers hin begann er trotzdem sofort zu sprechen. Er hatte Corvinus also nicht gefunden, und für einen Moment begann sich so etwas wie Erleichterung in Siv auszubreiten, aber dann wandte sich der Römer an sie. Verständnislos und etwas misstrauisch sah sie ihn. Was er mit ihr tun sollte? Er konnte gar nichts mit ihr tun, sie war nicht seine Sklavin. Was bezweckte er also mit dieser Frage? Sie musterte ihn einen Moment lang, dann zuckte sie andeutungsweise die Achseln. "Nichts", antwortete sie. "Ich gehe Hause. Ich sage Aurelius Corvinus, was passiert." Es würde ihr nicht leicht fallen, ausgerechnet ihm unter die Augen zu treten und einen weiteren Ausrutscher zu gestehen, aber sie würde es tun, so schwer es ihr auch fallen würde. "Er werden schicken, für dich." Je nachdem, wie übel Corvinus ihr diesen Fehler nahm, würde er sie schicken.

    Sie ahnte es nicht. Sie hätte vermutlich gelacht, hätte ihr jemand gesagt, was wirklich in Cassim vorging, als er so verträumt vor sich hin sah. Aber niemand sagte es ihr, und so ging sie weiter davon aus, dass er an seine Heimat dachte. Hätte Siv aufgepasst, wäre sie sich ganz und gar nicht sicher gewesen, dass der Parther alles mitbekam, was sie erzählte, aber sie war selbst zu verstrickt in die Gedanken an ihre Heimat, als dass sie auf allzu sehr auf ihn geachtet hätte. Erst als er nachhakte, wandte sie ihm wieder ihre volle Aufmerksamkeit zu. "Ja, weiß. Wenn Schnee fällt, alles wird weiß, und-" In diesem Moment ergriff der Sklave das Wort, der sie offensichtlich unterrichten sollte, und Siv verstummte, während sie lauschte, wie er der Reihe nach die Anwesenden nach ihrem Kenntnisstand befragte. Wieder entging ihr der verträumte Ausdruck auf Cassims Gesicht nicht, aber wieder interpretierte sie ihn grundlegend falsch. Sie begann, Mitleid mit ihm zu haben – wenn er auf diesem Feldzug gefangen worden war, dann konnte er noch nicht lange Sklave sein, und sie konnte sich noch zu gut daran erinnern, wie sie sich in den ersten Wochen ihrer Gefangenschaft und dann in der Sklaverei hier in Rom gefühlt hatte.


    Als der Lehrer sich dann an Cassim wandte, musste auch dem Letzten im Raum klar werden, dass der Parther mit den Gedanken nicht bei der Sache gewesen war – und seine Antwort bestätigte, was Siv ohnehin schon aufgefallen war: er gehörte eigentlich nicht hierher. Aber vielleicht war er genau aus dem Grund geschickt worden, den der Lehrer nun aussprach: dass er mithelfen sollte. Immerhin waren die Unterschiede, vor allem in den Kenntnissen der lateinischen Sprache, doch einigermaßen groß. Siv wusste auch, dass sie zu den schlechteren gehörte, dennoch verzog sie kurz das Gesicht, als gesagt wurde, dass sie Latein noch lernen musste. Sie konnte Latein. Sie mochte es nicht perfekt sprechen können, aber sie hatte inzwischen nur noch selten Verständnisschwierigkeiten. Aber es war nur Trotz, der kurz aufflammte, und sie unterdrückte ihn. Während Merit die nächste war, die angesprochen wurde – zuerst auf Latein, dann auf Griechisch, wenn Siv sich nicht irrte –, fing sie den Blick und das Lächeln des Parthers auf, und ohne nachzudenken erwiderte sie das Lächeln, froh darüber, sich ablenken zu können von den Gedanken, die immer noch irgendwo in ihr herumschwirrten – den Gedanken von ihrer Heimat, vor allem aber den Gedanken von einem möglichen Verkauf.

    Der Weg zum Garten dauerte nicht wirklich lange, und Siv öffnete die Flügeltüren, die auf den lichtüberfluteten Xystus führten, auf dem sie noch vor kurzem mit Corvinus gesprochen hatte. Der war noch nicht da, und kurz überlegte Siv, ob sie der Römerin etwas anbieten sollte – sie wusste, dass sie das eigentlich musste, dass es ihre Aufgabe war, wie bei jedem Besuch, den sie in Empfang nahm. Sie hätte eigentlich schon im Atrium nach ihren Wünschen fragen müssen. Aber sie stand nur da und sah die Römerin schweigend an.

    Kurzzeitig ballten sich Sivs Hände so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Sie war ohnehin nicht in bester Stimmung, nach dem was gerade passiert war. Ein Wirbelsturm an unterschiedlichsten Gefühlen schien durch ihr Inneres zu toben, und jetzt entpuppte sich der Besuch, den sie herumführen sollte, als arrogante Römerin. Noch dazu würde Corvinus dabei sein, dessen Gegenwart mit Sicherheit nicht dazu beitragen würde, dass sie wenigstens halbwegs zur Ruhe kommen konnte – schon gar nicht, wenn sie keine Gelegenheit hatte ihn zur Rede stellen. Und dann dieser Blick, den Siv als pure Provokation verstand. Das Brodeln in ihrem Inneren nahm wieder zu, aber sie beherrschte sich. Sie wusste, dass sie sich nicht erlauben konnte, der Römerin so zu begegnen wie sie es gern getan hätte. Aber es fiel ihr immer schwerer, sich tatsächlich zusammenzureißen. So konnte sie sich auch eine entsprechende Antwort auf die Frage der Römerin – die schon wieder eine Provokation enthielt – nicht verkneifen. "Auf dich." Ohne auf eine Reaktion zu warten, wandte sie sich ruckartig um und ging voraus in den Garten.

    Siv biss die Zähne aufeinander, als sie sah, wie die Römerin sie betrachtete, aber im Übrigen versuchte sie, sich unbeeindruckt zu geben. Im Grunde war ihr selbst klar, dass es ein wenig dreist gewesen war, die Römerin derart anzusprechen, aber sie zu sehen, wie perfekt sie zu sein schien, und auf diese Weise von ihr gemustert wurde, so als sei sie minderwertig, Ungeziefer, höchstens vielleicht noch ein Insekt, dass möglicherweise interessant sein könnte, aber wohl doch eher zertreten werden sollte… Dass sie durch ihren Zusammenstoß mit Corvinus keine Gelegenheit mehr gehabt hatte, sich eine andere, bessere Tunika anzuziehen als die Arbeitstunika, die sie derzeit trug, oder sich sonst wie hatte herrichten können, dass sie darüber hinaus nach wie vor aufgewühlt war von dem, was eben passiert war, von dem, was sie nicht bekommen hatte, und dass ihr Rücken langsam anfing zu schmerzen von der Begegnung an und in ihrem Fall mit der Tür, trug nicht gerade dazu bei, dass sie sich unter dem Blick der bis in kleinste Detail hergerichteten Römerin wohler fühlte. Auch deren Sklaven, die um sie herum standen, sahen gut aus – bei weitem nicht so prachtvoll wie ihre Herrin, aber doch tadellos. Siv musste wieder an Corvinus denken und das, was er gesagt hatte – dass der Besuch wichtig für ihn war, dass sie sich benehmen sollte, dass sie sich umziehen sollte… Und sie musste daran denken, dass sie nach wie vor eigentlich nur wollte, dass sie sich wieder verstanden – und dass er zufrieden war, dass es ihm gut ging. Aber dann schürzte sie kurz, aber trotzig die Lippen. Dass sie sich nicht mehr hatte umziehen können, war nicht ihre Schuld. Gut, sie hatte ihn provoziert, hatte ihn zur Rede gestellt, war zuerst wütend geworden und hatte ihn schließlich sogar geohrfeigt, aber er hatte sich ja provozieren lassen von ihr, obwohl er gewusst hatte, dass er Besuch bekam, er hatte sie gegen die Tür geschleudert und sich an sie gepresst…


    In ihren Augen spiegelten sich widersprüchliche Gefühle wider, als sie sich der Sklavin zuwandte, die auf ihre Frage schließlich etwas sagte, auch wenn sie ihr keine Antwort gab. Und wie könnte es anders sein, natürlich war ihr Latein, zumindest für Sivs Ohren, perfekt. Sie hatte in den letzten Wochen ohnehin ihre Bemühungen intensiviert, die römische Sprache zu lernen, nicht so sehr für sich selbst als vielmehr, unbewusst jedenfalls, für Corvinus – weil es eine weitere Möglichkeit war ihm zu zeigen, was er ihr bedeutete. Unbewusst beschloss sie, noch mehr zu lernen als sie es ohnehin schon getan hatte. Der Trotz in ihr flackerte allerdings wieder auf, als sie hörte, was die Sklavin ihr sagte. Nicht relevant. Der Name war für sie nicht relevant. Eine Erwiderung lag Siv auf der Zunge, die sie sich gerade noch verbeißen konnte. Sie wollte wissen, wer die Frau war, der Corvinus seinen Garten zeigen wollte, der sie den Garten zeigen musste. Ihr Kopf ruckte wieder zurück zu der Römerin, die sie einen Augenblick lang von oben herab musterte – Ungeziefer – und sie dann doch ansprach. Ihre Hände ballten sich unwillkürlich zu Fäusten, und ihr Kopf hob sich etwas. Die Römerin mochte sich für etwas besseres halten, aber Siv hatte immer noch ihren Stolz. "Sklavin", antwortete sie, leicht fauchend, aber hauptsächlich in einem Tonfall, als würde sie die Römerin tatsächlich für so dumm halten nicht zu wissen, was sie war. Ihre Mundwinkel zuckten, aber die Römerin tatsächlich anzulächeln – selbst wenn es nur verächtlich war – brachte sie dann doch nicht fertig. "Ich bin Sklavin. Ich zeige den Garten." Ihre Sätze hielt sie bewusst kurz und einfach, wusste sie doch, dass sie dann die wenigsten Fehler machte.

    Siv bemerkte das geöffnete Päckchen, das vor der Keltin am Boden lag, und im Licht des Mondes konnte sie erkennen, dass ein Büschel von Fäden oder Haaren darin lag, aber sie ignorierte es. Stattdessen strich sie noch einmal über die Haare der Sklavin neben ihr. Fhionn schien zu zittern, aber bei dem, was geschehen war und noch geschehen würde, war das kein Wunder – Siv hatte selbst Mühe, das Zittern zu unterdrücken, genauso wie sie Mühe hatte, einen Zusammenbruch zu unterdrücken. Sie wollte nichts lieber, als sich irgendwohin zu flüchten, irgendwohin, wo jemand war, der sie in den Arm nehmen und einfach halten würde. Corvinus kam ihr wieder in den Sinn. Obwohl er so abweisend gewesen war, wieder, so kalt und unnahbar, war doch er es, der Siv wie von selbst in den Sinn kam. Er kam ihr immer in den Sinn, er war in ihrem Sinn, sie konnte nichts dagegen tun. Sie hatte versucht daran etwas zu ändern, ihn zu vertreiben, aber sie schaffte es nicht. Er war einfach da, bei allem was sie tat. Selbst wenn sie nicht bewusst an ihn dachte, war er doch da. Es war so seltsam – an ihn zu denken tat ihr so weh. Und gleichzeitig half es. Es half ihr, wenn sie so einsam war, dass es schmerzte, wenn sich ihr Inneres zu krümmen schien vor Sehnsucht. Sie wünschte sich nichts mehr, als einfach in seinen Armen zu liegen, von ihm gehalten zu werden – so sehr, dass allein die Vorstellung dessen ihr etwas Ruhe gab, auch wenn das Wissen, dass es nicht passieren würde, ihr Herz zu gleicher Zeit qualvoll zusammenzupressen schien. Aber sie konnte nicht aufhören, an ihn zu denken. Weil dieser Schmerz immer noch besser war als der, der auf sie wartete, wenn sie damit aufhörte. Weil der Schmerz immer noch besser war als die Leere, die hinter allem lauerte. Weil er da war, in ihrem Kopf und in ihrem Herzen.


    Leise, unbemerkt von ihr selbst, rann ihr eine Träne über die Wange. Sie vermisste ihn so sehr, und gerade jetzt, in dieser Situation, schien die Sehnsucht nur noch stärker zu werden. Sie brauchte ihn – aber Fhionn brauchte sie noch mehr als sie selbst Unterstützung benötigte. "Gehen wir raus? In Küche, oder Atrium…" Siv wusste nicht, ob sie in den Garten konnten – sie hatte Corvinus’ Worte nicht vergessen, nach denen Fhionn nicht unbeobachtet bleiben würde für den Fall, dass sie versuchte zu fliehen. Aber es war besser, irgendwo anders hinzugehen, wo sie wenigstens nicht Gefahr liefen, die anderen Sklavinnen aufzuwecken – von denen sicher einige Fhionn keine Ruhe mehr lassen würden, hatten sie erst einmal erfahren, was passiert war.

    Siv hatte das Gefühl, dass der Römer sie betrachtete, intensiver als normal war, und sie begann sich etwas unwohl zu fühlen unter seinen Blicken – dass sie das Gefühl hatte, der Sklave beobachtete sie ebenfalls, machte es nicht gerade besser. Trotz erwachte in ihr, und Trotz spiegelte sich in ihren Augen wider, während sie den Blick des Aureliers erwiderte. Sie weigerte sich schlicht, zu der Liste der Menschen, in deren Gegenwart sie zuließ, dass ihr Unwohlsein überhand nahm, noch einen hinzuzufügen. Es brauchte seine Zeit, aber Siv begann, sich gegen den Schmerz in ihr zu wehren, gegen die Enttäuschung, gegen die Zurückweisung – sie begann, langsam wieder sich selbst zu entdecken, was vor allem über die Wut führte, die so schon oft ein Teil von ihr gewesen war. Und wie so oft zeigten sich ihre Emotionen in ihren Augen – sie hatte nie gelernt, zu verschleiern was sie empfand, und obwohl es ihr als Sklavin eigentlich Vorteile verschafft hätte und ihr Leben in Rom sie viel gelehrt hatte, war sie immer noch nicht fähig, ihre Gefühle zu verbergen. So zeigte sich auch ihre Überraschung, als er weiter fragte und wissen wollte, was sie war – bevor ein Anflug von Bitterkeit sich in ihre Augen und ihre Stimme schlich. "Sklavin", antwortete sie nur. "Ich bin Sklavin." Siv wusste durchaus, was Cotta gemeint hatte, aber er hatte gefragt, was sie war, nicht was sie früher gewesen war oder gerne sein wollte. Abgesehen davon hätte sie nicht wirklich sagen können, was sie gewesen war – sie hatte ihr Leben gelebt, sie hatte ihren Teil zum Leben und Überleben des Stammes beigetragen, hatte, wie viele Frauen, geholfen die Kranken und Verletzten zu versorgen, hatte sich um die Tiere gekümmert und vor allem versucht, um die Aufgaben herumzukommen, die sie nicht mochte – in der Hütte zu arbeiten, beispielsweise. Und sie hatte, wann immer sie konnte, versucht Zeit für sich herauszuschinden, die sie im Wald verbringen konnte, am besten auf einem Pferderücken. Um sich selbst von diesen Gedanken abzulenken, griff sie nach einem Kissen und schüttelte es auf, um es dem Römer anschließend zu reichen. "Cadhla nicht mehr ist hier. Sie ist in Hispania. In… Tarra… Tarro? Tarrak? Sie ist da für sein, werden Kämpferin. Gladiatorin. Sie will kämpfen für werden frei, irgendwann."


    Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich bei seiner Antwort. Sicher mochte die Reise anstrengend gewesen sein, aber fiebrig wurde man nicht davon. Das Klima mochte ebenfalls belastend wirken – sie wusste nur aus Erzählungen, dass es in anderen Ländern viel heißer und trockener war als hier, aber sie kannte immerhin den Unterschied zwischen dem Wetter in ihrer Heimat und dem hier in Rom, und die für sie ungewohnt langanhaltende Hitze schlug ihr ebenfalls gelegentlich auf den Kreislauf. Auf der anderen Seite dauerten Reisen immer länger, so dass eigentlich die Gelegenheit gegeben war, sich wenigstens etwas zu akklimatisieren. Siv vermutete, dass der Römer sich auf der Reise irgendetwas eingefangen haben musste, irgendein Fieber vielleicht, so wie es auch im Winter häufiger vorkam. Die Zweifel an seinen Worten flackerten ebenfalls sichtbar über ihr Gesicht. "Ich kann helfen. Weiß, was hilft bei…" Sie machte eine vage Handbewegung. Sie wusste, was Fieber hieß, und die Wärme, die seine Stirn ausgestrahlt hatte, deutete auf Fieber hin, aber der Römer wollte davon offenbar nichts wissen. "… bei Erschöpfung. Wenn sein müde, von Hitze und Reise." Einen Aufguss aus Kräutern, die gegen Fieber halfen, konnte sie ihm auch machen, dafür musste sie nicht mit ihm darüber reden. Siv war in solchen Dingen ziemlich pragmatisch. Wenn jemand krank war oder verletzt, half sie – und so lange der Betreffende tat, was sie sagte, in diesem Fall also Cotta das Zeug trank und es ihm danach besser ging, konnte es ihr egal sein, ob er seine Erschöpfung auf die Reise schob.

    Der Sklave sah sie weiterhin nicht an, und obwohl das Sivs schlechtes Gewissen nur noch mehr verstärkte, gab sie es schließlich auf zu versuchen, seinen Blick einzufangen, um sich auf diese Art bei ihm zu entschuldigen. Stattdessen wandte sie sich endgültig wieder dem Römer zu, der nun wieder hochmütig wirkte und eine Arroganz ausstrahlte, die die Germanin ihm am liebsten aus dem Gesicht geschlagen hätte. Siv ertappte sich dabei, sich zu wünschen, er hätte eine weiße Tunika getragen, oder eine beigefarbene – irgendeine, auf der der Wein besser zu sehen gewesen wäre. Auf dem dunkelroten Stoff konnte man nur die Flecken erkennen, und wenn sie erst einmal getrocknet waren, würden sie wahrscheinlich bei flüchtigem Hinsehen kaum auffallen.


    Seine Antwort ließ ihren Zorn wieder aufflammen, obwohl das, was gerade passiert war, sie nachhaltig ernüchtert hatte und der Alkohol an Einfluss verlor. Aber seine Stimme, und das, was sie sagte… Mir war danach. Ihm war danach?!? Siv konnte ein leises Knurren nicht unterdrücken, und ihre Augen begannen schon wieder, gefährlich zu lodern. Sie hasste Ungerechtigkeit. Selbst wenn der Sklave etwas hätte tun können, um das zu verhindern, wäre es nicht fair gewesen, ihn zu schlagen, wo doch letztlich sie diejenige gewesen war, die den Wein geschleudert hatte. Aber der Punkt war doch: der Sklave hatte nichts tun können – Siv hatte nicht wirklich Anzeichen für das gegeben, was sie vorgehabt hatte, sie hatte ja selbst nicht gewusst, was sie tun würde, bis es soweit gewesen war. Davon abgesehen wäre er noch zu weit gewesen, um ihr in den Arm zu fallen. Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte. Sie wusste, dass der Römer niemals ihre Sichtweise verstehen würde. Sie wusste, dass es besser wäre den Mund zu halten – und das einzig Richtige. Aber Siv konnte nicht aus ihrer Haut, erst recht nicht, wenn sie etwas getrunken hatte. Wider besseren Wissens nahm sie die Antwort des Römers zum Anlass, weiter mit ihm zu diskutieren. "Er nicht konnte tun was. Er, er… er wäre doch so oder so zu spät gekommen, um mich aufzuhalten!" Warum er sich zusammengerissen und sie nicht geschlagen hatte, obwohl sie vermutete, dass er das am liebsten getan hätte, war ihr klar. Die Germanin wusste, dass dann Corvinus eine Entschädigung von dem Römer verlangen könnte, immerhin war sie ja in den Augen der Römer sein Besitz – ein recht wertvoller noch dazu. Sie würde sich am liebsten übergeben, wenn sie in dieser Eindeutigkeit über das nachdachte, was Tatsache war, aber sie konnte auch nicht die Augen vor der Realität verschließen. Wurde sie verletzt, stand Corvinus Schadenersatz zu. Siv biss sich auf die Unterlippe, verschränkte die Arme in einer gleichermaßen abwehrenden wie schützenden Geste vor der Brust und starrte den Römer an. Verschiedene abfällige Kommentare lagen ihr auf der Zunge, ebenso wie es in ihren Fingern juckte nach irgendetwas, was sie werfen konnte, aber sie hielt sich zurück. Noch stand vor ihren Augen zu lebhaft das Bild, wie der Römer seinen Sklaven geschlagen hatte, wegen ihr.

    Nachdem Siv das Cubiculum verlassen hatte, ging sie weit genug, dass Corvinus sie nicht mehr sehen oder hören konnte – dann blieb sie wieder stehen und lehnte sich gegen die Wand, während sie sich mit beiden Händen erst über das Gesicht und dann über die Haare fuhr. Was bei allen Thursen, Schwarzalfen und Riesen war da passiert? Ihre Brust hob und senkte sich in rascher Folge, während immer noch das Feuer der Leidenschaft durch sie tobte, vermischt mit dem der Wut – sowie einer ganzen Reihe anderer Gefühle, von denen Irritation und Verwirrung nur die stärksten waren. Plötzlich ließ sie ihre Hände wieder fallen, ballte sie zu Fäusten und schlug sie gegen den Stein in ihrem Rücken. Kaum waren ihre Hände aufgekommen, stieß sie sich auch schon von der Wand ab, überbrückte die Distanz zur gegenüberliegenden und trommelte auf diese mit ihren Fäusten ein, während ein frustrierter Schrei über ihre Lippen kam, den sie nur halb unterdrücken konnte. Die inzwischen flachen Hände auf die Wand gelegt, presste sie ihre Stirn nun ebenfalls gegen den kühlen Stein und stemmte ihre Füße in den Boden. Die Zähne zusammengebissen, die Lider so fest zusammengepresst, dass sie begann kleine, tanzende Sterne zu sehen, versuchte Siv, wenigstens halbwegs ihre Fassung, und damit die Kontrolle über sich, wieder zu gewinnen. Sie streckte die Arme durch und atmete heftig aus und ein, starrte auf den Boden, die Gedanken rasend, vergeblich darauf hoffend, dass sie zur Ruhe kommen würden. "Was war das? Was bei Garm war das?!?" Schließlich – sie konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, aber es waren kaum mehr als ein paar Momente vergangen – richtete sie sich wieder auf und holte mit geschlossenen Augen tief Luft. "Egal. Spielt keine Rolle." Einen Moment schwieg sie, dann drehte sie den Kopf und sah zurück zu Corvinus’ Cubiculum. "Tut es doch", murmelte sie und presste die Handballen auf ihre Schläfen. "Oooh verdammt, was soll ich bloß tun…"


    Noch ein Moment verging, in dem sie dastand und zurückstarrte, dann setzte sich die Germanin ruckartig in Bewegung. Die vielen unterschiedlichen Gefühle in ihr nahmen nicht ab, sondern an Intensität nur noch zu, so sehr, dass ihr Kopf sich auszuschalten drohte. Unbewusst strich sie sich die Tunika glatt, während sie zum Atrium eilte, wo der Besuch wartete – sie. Sivs Kiefermuskeln spannten sich an. Sei nett zu ihr. Schon vorhin im Garten hatte Corvinus den Eindruck gemacht, als ob dieser Besuch wichtig für ihn wäre, und jetzt dieser Kommentar… Ihr Inneres begann zu rebellieren, während sie sich unaufhaltsam dem Atrium näherte. Was für eine Frau kam Corvinus da besuchen? Und was hatte er sich dabei gedacht, sie gerade eben so hängen zu lassen? Unwillkürlich ballten sich ihre Hände wieder zu Fäusten, während sich ihr Unterleib erneut zusammenzog vor Verlangen. Sie knirschte mit den Zähnen und versuchte, sich Corvinus’ Bild aus dem Kopf zu schlagen und stattdessen daran zu denken, wie er sich verhalten hatte, vor wenigen Augenblicken in seinem Cubiculum, vorhin im Garten, die letzten Wochen. Aber das tat ihr nur wieder weh und weckte Verwirrung neben dem Ärger, den sie damit provozieren wollte, um sich abzulenken. Und es rief in ihr wieder die Frage wach, was um alles in der Welt ihn – sie beide – gerade eben getrieben hatte. Und was es bedeutete. Oder ob es überhaupt etwas bedeutete. Für ihn, für sie, für sie beide. Wie würde er sich jetzt ihr gegenüber verhalten? Würde sich daran etwas ändern? Und was dachte er darüber, und, noch wichtiger: was dachte er von ihr? Sie wusste nur eines, wenn er ihr nur nicht so viel bedeuten würde, wäre es wesentlich einfacher.


    Am liebsten wäre Siv verschwunden, irgendwohin, wo sie ihre Ruhe hatte – wo sie sich in aller Ruhe mit ihren Gedanken beschäftigen und ihre Gefühle auseinander sortieren konnte, um wenigstens etwas besser damit klar zu kommen, oder noch besser: irgendwohin, wo sie das Feuer in sich löschen konnte – dann hätte sie vermutlich von selbst Ruhe vor tobenden Gedanken und Gefühlen, wenigstens für einige Zeit. Aber zwei Dinge hielten sie davon ab. Zum einen war Corvinus deutlich gewesen, und irgendetwas in ihr wollte ihm nach wie vor zeigen, dass ihr leid tat, was passiert war, wollte ihm zeigen, dass er ihr vertrauen konnte, wollte, dass er sie wieder so ansah wie früher. Zum anderen wusste sie, was ihr blühen konnte, wenn sie jetzt einfach verschwand. Sie war Sklavin, sie konnte sich nicht einfach weigern, seinen Anweisungen zu gehorchen – selbst wenn sie nicht die gewesen wäre, die den Garten am besten vorzeigen konnte. Und dann war da noch der Besuch selbst – sie wollte wissen, wer sie war. Als sie dann das Atrium betrat, erstarrte sie für einen Augenblick. Eine Frau, vielleicht ein paar Jahre älter als sie, mit einem liebreizenden Gesicht und gehüllt in ein Gewand, das sogar Siv beeindruckte. Lagen um Lagen aus zartem, blauem Stoff hüllten die Frau ein, so raffiniert um sie geschlungen, dass sie ihren Körper perfekt betonten. Nur die Goldverzierungen und der Schmuck wirkten für Sivs Geschmack übertrieben. Der Moment des Innehaltens dauerte aber nicht lange, dann trat Siv näher an die Römerin heran. "Salve." Höflich oder gar freundlich war ihr Tonfall nicht wirklich zu nennen. "Du bist…?"

    Siv stellte das Tablett auf einem Tisch neben der Kline ab, auf der der Römer lag, und schenkte etwas von dem Wasser in den Becher ein, den sie mitgebracht hatte. Sie sagte nichts auf das, was der Römer noch verlangte, konnte sich aber nicht verkneifen, diesem Maron einen Blick zuzuwerfen, der jedoch nur schwer deutbar war. Wenn er auch ein Sklave war, noch dazu ein aurelischer, dann konnte er sich in ihren Augen genauso gut selbst etwas holen. Aber sie hütete sich, zu widersprechen. Zum einen war es schlicht die Anweisung des Römers gewesen – was allein sie normalerweise selten davon abhielt, wenigstens ihren Unmut zu äußern –, aber zum anderen war sie momentan einfach in einer so niedrigen Position im Haushalt, dass sie sogar von den meisten der anderen Sklaven Anweisungen befolgen musste, was ein paar auch auszunutzen wussten. Maron schien der Leibsklave des Römers zu sein, und damit gehörte er ohne Zweifel zu den Sklaven, die sie derzeit herumschicken konnten. Siv unterdrückte ein Seufzen, als sie daran dachte, dass sie vor der Germanienreise ebenfalls Leibsklavin gewesen war, oder hatte werden sollen. Sie war nicht unbedingt scharf auf die Aufgaben, die die Stellung mit sich brachte – sich dementsprechend zu verhalten, ihren Herrn zu präsentieren, bei Besuchen mitzukommen und schweigend zu warten, bei wichtigen Anlässen zu bedienen, ohne sich einen Fehler erlauben zu dürfen… sie arbeitete lieber, im Garten, im Stall, sogar im Haus. Aber im Vergleich zu jetzt hatte sie da wenigstens weitestgehend ihre Ruhe vor den anderen gehabt, denen, die missgünstig waren. Ganz abgesehen davon, dass zu dieser Zeit zwischen ihr und Corvinus noch alles in Ordnung gewesen war.


    Siv nickte also letztlich nur, als sie die Anweisung hörte, für Maron noch etwas zu holen – bevor sie aber tatsächlich wieder gehen konnte, ergriff Cotta abermals das Wort. Was er sagte, ließ sie innehalten – nicht nur, weil die Frage an sie gerichtet gewesen war, sondern wegen des Inhalts. Schildmaid… Diesen Ausdruck kannte sie nur in Verbindung mit Cadhla. Der Römer musste sie ja gekannt haben, immerhin war er kurz vor oder kurz nach Sivs Ankunft in der Villa Aurelia verschwunden. Cadhla… Erneut spürte sie, dass sie die Keltin vermisste. Egal, was sie von ihrer Aktion gehalten hätte, Siv war sich sicher, dass sie zu wenigen gehört hätte, die wirklich zu ihr hielten, so wie Merit. Langsam drehte sie sich um und musterte den Römer zum ersten Mal wirklich aufmerksam – und bei dieser ausgiebigeren Betrachtung fiel ihr auf, was sie, die sich mit Kranken und Verletzten auskannte, eigentlich schon auf den ersten Blick gemerkt hätte, hätte sie denn richtig hingesehen: dass der Aurelier nicht sonderlich gut aussah – tatsächlich wirkte er mitgenommener, als er es von einer Reise, auf der er sicherlich von Sklaven umsorgt worden war wie jeder Römer, hätte sein dürfen. Die Andeutung eines Runzelns huschte über Sivs Stirn, während sie den Kopf schüttelte. "Nein. Ich bin nicht eine Schildmaid." Das Wort kein kannte sie zwar, aber das war eine dieser kleinen Eigenheiten, die, einmal im Kopf festgesetzt, sich nur schwer wieder vertreiben ließen, und jedes Mal wenn Siv nicht bewusst darüber nachdachte, was sie sagen wollte, tauchte dies auf. "Nicht wie Cadhla", fügte sie noch hinzu, als sie daran denken musste, was die Keltin ihr einmal gesagt hatte – dass sie zwar keine Schildmaid sein mochte, was die Ausbildung, das Können an der Waffe betraf, aber dass sie das Herz einer Kriegerin hatte. So lang schien ihr dieser Tag schon her zu sein… Die Germanin biss sich kurz auf die Lippe und vertrieb die Gedanken, indem sie einen Schritt vortrat und dem Römer eine Hand auf die Stirn legte. Der Haaransatz war schweißfeucht, obwohl die Temperaturen im Haus angenehm waren, und erneut zogen sich ihre Brauen zusammen. "Du bist in Ordnung?"

    Der Sklave beachtete sie weiterhin nicht, reagierte auch nicht auf ihre Entschuldigung, die für ihn gemeint gewesen war und nicht etwa für den Römer. Der wiederum schien doch etwas überrascht zu sein von dem Namen, den sie nannte, und durch seine Reaktion wurde ihr bewusst, welche Folgen ihr Verhalten noch haben konnte. Erst jetzt begriff sie, dass Corvinus davon erfahren würde. Siv schloss für einen Moment die Augen und atmete tief ein. Corvinus würde nicht begeistert sein, definitiv nicht. Die Strafe war ihr egal, aber sie wusste nicht, ob sie diesen enttäuschten Gesichtsausdruck schon wieder ertragen konnte. Lautlos verfluchte sie sich. Sie hätte sich doch denken können, dass es nicht hier, zwischen ihnen bleiben würde, sondern dass Corvinus als ihr Herr davon erfahren würde. Wieder suchte ihr Blick den des Sklaven, bevor sie wieder den Römer ansah, gerade als dieser davon sprach, Corvinus sprechen zu wollen. Sie biss sich auf die Lippen, um die Bitte zu unterdrücken ihn nicht zu holen. Diese Blöße wollte sie sich nicht geben, dass sie jetzt rumjammerte. Stattdessen streifte ihr Blick erneut den Sklaven, der mit einer Handbewegung einen der übrigen Männer fortschickte. Mit der anderen Hand hielt er sich die Wange, so weh tat sie ihm offenbar, und als Siv das sah, durchzuckte sie abermals das schlechte Gewissen, was sich in zusammengepressten Lippen und besorgt gewölbten Augenbrauen äußerte. Fast wünschte sie sich, Corvinus würde sie bestrafen, hatte sie doch dann etwas, woran sie sich klammern, womit sie die Schuldgefühle ausblenden konnte. Wieder wanderte ihr Blick zu dem Römer. "Warum?" wiederholte sie, und ihre Stimme schwankte, ein wenig nur, aber doch hörbar, weil sie immer noch nicht ganz fassen konnte, was er getan hatte. "Warum er? Warum du hast ihn geschlagt?"

    Schlagartig ernüchtert, trat Siv noch einen Schritt zurück, als die harte Stimme des Römer abermals erklang. Sie hatte nicht wirklich eine Antwort auf ihre Fragen erwartet, aber sie hatte ihre Fassungslosigkeit irgendwie äußern müssen. Inzwischen wieder sprachlos flog ihr Blick zwischen dem Römer und dessen Sklaven hin und her, und sie wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte. Sie hörte die Frage, zum dritten Mal, und ihr Mund öffnete sich auch etwas, aber kein Ton kam hervor. Sie war immer noch halb geschockt von dem, was gerade passiert war, was sie ausgelöst hatte. Ihr Blick blieb schließlich an dem Sklaven hängen, der sie allerdings nicht ansah, sondern irgendetwas hinter ihr anzustarren schien, das Gesicht regungslos. Erst sein Nun riss sie aus der Starre, in der sie sich befand, und sie wandte dem Römer wieder den Blick zu. Sie spürte selbst, dass sie wieder Wut empfand, ohnmächtige Wut darüber, dass ein Kerl wie er so mit ihr und dem anderen Mann umspringen konnte, dass er damit durchkam, dass sie sich nicht wehren konnte – aber diesen Teil betrachtete sie wie aus weiter Ferne. Auf eine gewisse Art schien sie seltsam losgelöst zu sein von sich selbst, und zum ersten Mal, seit der Römer gegen sie gestoßen war, wich sie seinem Blick aus und senkte den ihren. "Corvinus", murmelte sie schließlich. "Aurelius Corvinus." Dann hob sie den Kopf wieder und sah erneut zu dem Sklaven, versuchte seinen Blick einzufangen. "Mich tut leid."

    Sprachlos beobachtete Siv die Szenerie, die vor ihren Augen ablief. Wie immer in Situationen, in denen ihr Temperament die Oberhand gewann und sie einfach handelte, hatte sie auch diesmal nicht darüber nachgedacht, welche Folgen ihr Tun haben könnten, und sie hatte sich auch nicht sonderlich dafür interessiert. Als der Römer sich wieder ihr zuwandte, mit einem überraschten Ausdruck, der ihm in Sivs Augen so viel besser zu Gesicht stand als der hochnäsige und herablassende zuvor, sah er kurz zu dem Becher, der auf dem Boden landete, und dann zu ihr. Auch in diesem Moment war ihr völlig egal, wie er reagieren mochte und welche Konsequenzen sich für sie ergeben würden. Aber genau das war der Punkt: womit sie durchaus rechnete war, dass sie die Folgen zu spüren bekommen würde. Und es war ihr egal, oder besser: die Genugtuung, die ihr der Gesichtsausdruck des Römers und seine befleckte Tunika boten, wogen einen Schlag auf. Aber sie hatte nicht gedacht, dass sie nicht sie es sein würde, die die Strafe abbekam.


    Ihr Mund öffnete sich um eine Winzigkeit, während sie, nun zu einem weit größeren Teil Fassungslosigkeit denn Wut im Blick, zusammenzuckte, als der Schlag den anderen Sklaven traf – den Sklave musste er sein, sonst hätte der Römer ihn kaum geschlagen für etwas, das sie getan hatte. "Was… warum… warum hast du getan?" Siv schwankte zwischen neuerlicher Wut auf den Römer, Fassungslosigkeit über dessen Ungerechtigkeit sowie Betroffenheit und beginnende Schuldgefühle wegen des Sklaven. "Das… er nichts getan!" Siv wusste, dass bei weitem nicht alle Römer so waren wie Corvinus und die meisten der Aurelier. Aber ein derartiges Verhalten hatte sie direkt noch nicht mitbekommen – und nun war sie gar die Verursacherin. Sie, die trotz oder gerade wegen ihrer Art immer ehrlich war, immer für das einstand, was sie getan hatte, und dafür auch die Konsequenzen akzeptierte, traf die Situation jetzt daher umso schlimmer. Ein anderer hatte für etwas einstecken müssen, was sie getan hatte, und das war für Siv eine schlimmere Strafe als jede Ohrfeige, jeder Schlag es hätte sein können. "Das ist nicht gerecht!"

    Dass der Römer sie dann anfing zu ignorieren, trug nicht gerade dazu bei, dass Sivs Ärger verging – genauso wenig wie der Alkohol in ihrem Blut dazu beitrug. Es waren nicht einmal zwei Becher gewesen, die sie getrunken hatte, aber wirklich viel getrunken hatte sie nie, und seit sie Sklavin geworden war im Grunde gar nicht mehr. Dementsprechend vertrug sie wenig. Mit zusammengezogenen Brauen beobachtete sie den Römer und seinen Begleiter, die kurz – und abfällig – über sie sprachen. Die Entschuldigung im Blick des anderen registrierte sie nicht, nur was er sagte, über sie, über ihr Volk. Siv dachte nicht mehr daran, was sie war. Dass sie Sklavin war und letztlich nichts zu sagen hatte, dass es keine Rolle spielte, wer wie über sie sprach, so lange es ihren Herrn nicht störte, dass sie sich selbst mehr schadete als nützte, wenn sie es nicht einfach gefallen ließ – und dass einfach still sein sie aus der momentanen Situation wohl nicht mehr heil herausbringen würde, sondern nur noch eine Entschuldigung. Hätte sie daran gedacht, wäre zumindest letzteres für sie kaum in Frage gekommen, aber das kam ihr gar nicht in den Sinn. Die fast schon depressive Stimmung, die sie in den letzten Wochen im Griff gehabt hatte und die sich jetzt, endlich, wenigstens für diesen einen Nachmittag zu verflüchtigen schien, die ersten freien Stunden seit ihrer Ankunft aus Germanien, dazu der Alkohol, das alles brachte sie nicht gerade dazu, dass sie geneigter war, auf ihre Vernunft zu hören.


    Mit funkelnden Augen musterte sie die beiden, und als sie den letzten Satz des Römers hörte – wessen Eigentum es ist –, schienen sie blaue Blitze zu schleudern. Mit einem abwehrenden Kopfschütteln trat sie einen Schritt zurück, als der zweite Mann auf sie zukam. Sie konnte sich denken, was er wollte, hatte sie doch das Gleiche bereits in Germanien erlebt. Sie konnte sich noch zu gut daran erinnern, wie die Soldaten sie festgehalten und ihren Kopf nach unten gezwungen hatten, um das Zeichen in ihrem Nacken sehen zu können. "Oh nein", zischte sie. "Nicht schon wieder. Nicht mit mir." Aus dem Handgelenk heraus vollführte sie eine schnelle Bewegung – und der restliche Inhalt des Bechers flog in die Luft. Ein paar Spritzer trafen den Mann, der sich ihr näherte, der weitaus größere Teil jedoch ergoss sich zielsicher auf der hochwertigen Tunika des Römers. "Du nicht hast Recht, so zu sein mit mir!"

    Siv spürte durchaus, was ihr Winden bei ihm auslöste, aber sie ignorierte es, noch, ebenso wie sie ignorierte, welches in ihr erwachte. Als Corvinus sie aber noch mehr gegen das Holz presste, sich selbst noch mehr an sie drängte, konnte sie nicht mehr länger ignorieren, was sie spürte – sowohl bei ihm als auch sich selbst. Für einen Moment hielt sie inne und starrte ihn einfach nur schwer atmend an, spürte seinen festen, warmen Körper an ihrem, spürte das Verlangen, dass sie urplötzlich und mit einer nie geahnten Heftigkeit durchzuckte, nicht das Verlangen nach einem Mann, irgendeinem, sondern nach ihm, jetzt, hier. Sie wollte ihn. Es wurde ihr in diesem Moment gar nicht bewusst, aber es war so. Das Verlangen nach ihm arbeitete nicht gegen ihre Wut, sondern vermischte sich mit ihr und gewann so nur allzu schnell die Oberhand über sie, und als Corvinus’s Rechte sie losließ und sich daran zu schaffen machte, den Weg frei zu machen, tat sie nicht das Geringste, um ihn daran zu hindern, im Gegenteil. Einen Moment hielt sie noch still, dann, als seine Hand nach ihrem Oberschenkel griff und ihn grob anhob, bäumte sie sich auf, soweit es sein Griff und der Druck seines Körpers überhaupt zuließ, nicht um sich zu befreien, sondern um ihm entgegenzukommen. Ihre linke Hand, die, welche er losgelassen hatte, krallte sich in seine Haare, während ihr Rücken in schnellem Rhythmus an der Tür entlangschrammte und sie mit geschlossenen Augen ihr Gesicht halb nach oben wandte. Der herbe Geruch von ihm, von Schweiß und Leidenschaft hüllte sie ein, benebelte ihre Sinne, wie die Wut sie zuvor benebelt hatte, und sie keuchte, während die Bewegungen sich beschleunigten. Schnell war es vorbei, viel zu schnell – vor allem für sie. Während ihr Inneres noch hellauf in Flammen zu stehen schien, zog er sich bereits zurück. Heftig atmend lehnte sie ihren Kopf gegen die Tür, die Augen wieder geöffnet, starrte ihn an und wartete darauf, dass er etwas sagte, etwas tat, dass er weitermachte – aber Corvinus stand nur da, hatte sie inzwischen gänzlich losgelassen und stützte sich nur noch am Holz ab, nicht mehr an ihr. Während ihre Nerven nach wie vor kribbelten und ihr Schoss ungeduldig pochte, starrte sie ihn weiter an, unfähig, seinen Gesichtsausdruck zu deuten, und unfähig, zu äußern, was sie von ihm wollte.


    Noch bevor Siv einen klaren Gedanken fassen konnte, klopfte es auf einmal an der Tür. Corvinus wirkte… fast erleichtert, als Sofias Stimme durch die Tür drang und etwas von jemandem murmelte, der eingetroffen war und im Garten wartete. In ihrem augenblicklichen Zustand dachte Siv nicht an das, weswegen Corvinus sie noch vor kurzem überhaupt erst hatte rufen lassen. Ebenso irritiert wie inzwischen verwirrt beobachtete sie, wie er sich ganz von der Tür abstieß und begann, sich umzuziehen. Leidenschaft, Wut, Empörung und Verwirrung begann in ihr zu brodeln, und die Mischung war keine gute. Sie begriff einfach nicht, was gerade geschehen war, und sie begriff noch viel weniger, warum er sich jetzt so verhielt. Geh. Das Wort hallte in ihren Ohren. Sei nett zu ihr. Nur langsam sickerte diese Anweisung zu ihr durch. Ihr? Noch langsamer wurde ihr die eigentliche Bedeutung klar, während Stück für Stück die Erinnerung an die kurze Unterhaltung im Garten, oder eher: seine kurzen Anweisungen für sie, wieder zurück kamen. Zu ihr? Der Besuch, von der er gesprochen hatte, der ihm so wichtig war, war eine sie? Jetzt war es Sivs Stirn, die sich runzelte, und ihre Brauen zogen sich unheilverkündend zusammen. Wer sie kannte und hinsah, konnte in ihren klaren blauen Augen erkennen, dass sich ein Gewitter zusammenbraute. Aber noch war sie nicht in der Lage, irgendetwas von dem in Worte zu fassen, was in ihr vorging. Sie begriff es ja selbst noch nicht ganz, sie spürte nur, wie die unheilvolle Mischung verschiedenster Gefühle zunahm und weiter vor sich hin brodelte, wie Lava in einem geschlossenen Vulkan, die immer weiter anstieg, den Druck erhöhte und irgendwann zwangsläufig einen Ausbruch verursachen würde, wenn nicht ein anderer Ausgang gefunden wurde. Einen Moment lang stand Siv noch sprachlos da und starrte ihn an, während sich ihr verräterischer Körper leidenschaftlich zusammenzog bei dem Anblick des seinen, der sich ihr kurzzeitig völlig nackt präsentierte. Kurz war sie versucht, einfach zu ihm zu gehen, ihm die Tunika aus der Hand zu reißen und sich ebenso zu nehmen, was sie wollte, wie er es kurz zuvor getan hatte, oder es wenigstens zu versuchen – und sei es nur um ihm zu zeigen, dass sie so nicht mit sich umspringen ließ, dass er nicht seine Lust befriedigen und sie leer ausgehen lassen konnte. Aber Wut, Empörung und Verwirrung hatten in ihr inzwischen einen beinahe ebenso großen Anteil erobert wie die Leidenschaft, und so grub sie nur heftig die Fingernägel in die Handflächen und drehte sich dann um, um ohne ein weiteres Wort zu verschwinden. Als Corvinus die Tunika über den Kopf gezogen hatte und wieder sehen konnte, stand die Tür offen, und der durch den Rahmen sichtbare Teil des Ganges war leer.

    Erschüttert war das richtige Wort, um zu beschreiben, was Siv empfand. Sie war zutiefst erschüttert über die Geschehnisse in dieser Nacht und die Folgen, die sie nach sich zu ziehen drohten. Matho tot, ermordet von Fhionn. Die Bilder tanzten immer noch vor ihrem inneren Auge herum und begannen inzwischen, sich mit anderen zu vermischen, mit Bildern aus einer weiter zurückliegenden Vergangenheit, Bildern von Überfällen, bei denen sie Bekannte hatte sterben sehen, durch Zähne und Klauen von wilden Tieren oder Speere und Schwerter von Römern. Vor allem aber ein Überfall mischte sich in den blutigen Tanz der Klinge, die Mathos Tod verursacht hatte: der letzte, den sie erlebt hatte, der, bei dem ihr Vater umgekommen war. Seltsamerweise war es er, der mit Matho zu verschwimmen schien. Vielleicht, weil dieser Tod Ähnlichkeit hatte mit dem Mathos – wie der Speer in ihren Vater eintauchte und in von den Füßen riss, wie das Messer in Matho sank und Blut spritzte… Vielleicht auch, weil der Tod ihres Vaters der letzte war, den Siv gesehen hatte, und der einzige, den sie nie wirklich verarbeitet hatte. Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass die Bilder sie verfolgten wie die Odins Jagdmeute, die zum Julfest die jenseitige Welt verließen und die diesseitige unsicher machten.


    Dennoch war es für die Germanin keine Frage, wo sie hingehen würde, nachdem sie Corvinus’ Officium verlassen hatte. Sie hatte versprochen, Fhionn nicht allein zu lassen. Und das würde sie auch nicht. Während sie der Keltin hinterher hastete, versuchte Siv die Bilder zu verdrängen, die in ihrem Kopf kreisten, und als sie schließlich die Unterkünfte der Sklavinnen erreichte, hatte sie sich wieder halbwegs unter Kontrolle, hatte sowohl Corvinus’ erneute Ablehnung beiseite geschoben als auch beide blutige Szenarien. Es gelang ihr nur oberflächlich, und das war ihr auch klar, aber es reichte für den Moment. Leise betrat sie das Servitriciuum und sah dort die Keltin im Mondschein auf dem Boden knien. Ohne einen unnötigen Laut zu verursachen, ging sie zu ihr hinüber und ließ sich neben ihr auf die Knie sinken. Dann hob sie zögernd die Hand und strich ihr sacht über das Haar.

    Siv wusste nicht genau, was sie erwartet hätte – sicherlich nicht, dass er nachgab und sich entschuldigte. Trotzdem hatte sie irgendwie auch nicht damit gerechnet, wie er letztlich reagierte. Einen Moment musterte der Römer sie nur, mit einem angewiderten und verächtlichen Gesichtsausdruck, der Siv fast noch mehr störte als seine Hochnäsigkeit, dann griff er nach ihrem Handgelenk und drückte zu, so fest, dass ein kurzer, aber scharfer Schmerz ihren Arm entlang schoss. Ihre Empörung wuchs noch, als sie seine Erwiderung zu hören bekam, und als er noch einmal zudrückte, riss sie ihr Handgelenk zurück. Ob sie es aufgrund ihres Versuchs freibekam oder weil er sie ohnehin in dem Moment losließ, war ihr nicht ganz klar, aber das war auch egal.


    Dass er sich die Hand abwischte, mit der er sie gerade noch gehalten hatte, war ein weiteres Detail, war sie aufregte – das Detail, dass inzwischen ein paar Menschen um sie herum standen, die relativ eindeutig zu dem Römer vor ihr zu gehören schienen, entging ihr dagegen. Sicher registrierte Siv, dass da ein paar Männer standen, und sie hätte sie auch als dem Römer zugehörig eingeordnet, hätte sie sie beachtet – aber sie beachtete sie eben nicht weiter. Lediglich einer der Männer, der dichter bei dem Römer stand als die anderen, fiel ihr wirklich auf, aber auch ihn ignorierte sie. "Miststück? Das bist du! Wird ja immer besser", fauchte sie, seine zweite Frage bewusst ignorierend.

    Zitat

    Original von Marcus Artorius Menas


    Der junge Kerl blieb nicht lange bei Siv stehen, als er merkte, dass sie nur Interesse an dem Wein zeigte, nicht an ihm. Und so war sie schon bald wieder allein inmitten der Menschen, schlenderte hierhin, ließ sich dorthin treiben, trank zwischendurch immer wieder von dem Wein und genoss die zunehmende Leichtigkeit, die sich in ihrem Kopf breitmachte. Vergessen waren die letzten Wochen, vergessen sämtliche Unannehmlichkeiten – vergessen. Begleitet vom Geschrei eines Römers, der etwas von einem Glücksrad und Fortuna erzählte – Siv hatte keine Ahnung, was die Kombination der Worte Glück und Rad bedeuten mochte – lachte sie leise, als von einem der Boote, das den Fluss hinunter trieb, mehrere Tauben aufstiegen, freigelassen von einem bunt gekleideten Mann. Vergnügt trat sie etwas näher an die Brücke heran, ohne darauf zu achten, wem sie möglicherweise im Weg war. Ihr Blick folgte den Vögeln, deren weißes Gefieder im Sonnenlicht strahlte, beobachtete, wie sie sich in die Lüfte schwangen, dem Licht und der Freiheit entgegen.


    Die Germanin stand einfach nur da und sah den Tauben hinterher. Allerdings nicht lange. Gerade wollte sie erneut einen Schluck Wein trinken, während sie weiter dem Flug der Vögel aus den Augenwinkeln folgte, als sie plötzlich einen Stoß in den Rücken erhielt. Sie stolperte einen Schritt nach vorne und verschluckte sich an dem Wein, hielt den Becher etwas weg und hustete kurz. Dann drehte sie sich um, während es in ihrer Kehle immer noch kribbelte. Die Erscheinung ihres Gegenüber nahm sie dennoch, trotz Alkohol im Blut und Juckreiz im Hals, mit einem Blick wahr. Ein Mann, Römer, höher gestellt, der Kleidung nach zu schließen, mit einem hochmütigen Gesichtsausdruck. Einer von der Sorte Römer, die Menschen wie sie besaßen. Siv hatte recht schnell gelernt, dass es Römer gab und Römer – und wie sie mit wem umgehen konnte. Die, die sich selbst keine Sklaven leisten konnten, ließen oft anders mit sich reden. Die aus den oberen Schichten dagegen verlangten von Sklaven ein entsprechend unterwürfiges Verhalten, selbst wenn es nicht die eigenen waren. Und vielleicht hätte Siv dieses Verhalten auch an den Tag gelegt, trotz ihres natürlichen Widerspruchgeistes und ihres inzwischen nicht unerheblichen Alkoholeinflusses, wollte sie sich doch die ersten wirklich freien Stunden, die sie seit Wochen genießen konnte, nicht verderben. Dann allerdings motzte der Römer sie herrisch an. Ganz so, als hätte sie ihn angerempelt und nicht umgekehrt. Und es kam gar nicht in Frage, dass sie sich so etwas gefallen ließ. Noch machte der Alkohol weder ihre Schritte noch ihre Zunge unsicher, aber er fütterte bereits ihr Temperament. Aufgebracht, aber noch nicht wirklich zornig, funkelte sie ihn an. "Ich, aufpassen? Du hast gestoßt!"