Beiträge von Aureliana Siv

    Siv sah, wie seine Schläfe begann zu pulsieren – und ein großer Teil von ihr verstand es auch durchaus als den Warnhinweis, der es war. Doch der Rest von ihr interessierte sich herzlich wenig dafür, dass sie ihn nun zur Weißglut trieb so wie er es umgekehrt mit ihr gemacht hatte – und eben jener Teil, der die steigende Wut, die von ihm ausging, registrierte, brannte darauf, von Corvinus endlich, endlich eine Reaktion zu sehen, ihn endlich aus der Fassung zu bringen und letztlich dadurch zu sehen, zu spüren, dass sie ihm doch nicht egal war, dass sie ihm etwas bedeutete. Und so ignorierte sie die pochende Schläfe ebenso wie die knirschenden Zähne, oder besser: sie ignorierte, was über das Maß hinausging, in dem es ihr Genugtuung verschaffte zu sehen, dass er lange nicht so desinteressiert und kaltblütig ihr gegenüber war wie er die letzten Wochen vorgegeben hatte zu sein. Ja, es verschaffte ihr Genugtuung, während gleichzeitig Wut in ihr brannte und all die Demütigungen und Abweisungen aufloderten, die sie hatte erdulden müssen, von den meisten hier im Haus, aber am schmerzhaftesten von ihm. Sie wollte sehen, dass er nicht gleichgültig war. Als dann jedoch die Worte fielen, die bei ihr das Fass zum Überlaufen brachten, spielte auch das keine Rolle mehr. Sie dachte nicht mehr, sie agierte einfach, machte einen Satz nach vorne und verpasste ihm einen Schlag, und hätte auch nur ein Teil von ihr noch klar denken können, sie wäre überrascht gewesen von sich selbst. Ihr Verstand schien aber wie benebelt zu sein von Schleiern, die die Wut darüber zog, und so war ihr zwar bewusst, was sie gerade getan hatte, aber nicht, was das bedeutete oder welche Konsequenzen es nach sich ziehen konnte. Eine Konsequenz sollte sie jedoch schon bald zu spüren bekommen.


    Nachdem ihre Hand mit einem klatschenden Geräusch auf seiner Wange gelandet war, schien sich zunächst für einen Moment die Zeit zu verlangsamen. Sein Kopf wurde von der Wucht zur Seite gedreht, und so verharrte er kurz, bevor er ihn langsam, quälend langsam in ihren Augen, wieder nach vorne drehte. Sie meinte zu sehen, wie die Röte über sein Gesicht kroch, vom Schlag, aber auch von der Wut, und sie sah tatsächlich, wie sich der Abdruck ihrer Finger weiß auf seiner Wange abzuzeichnen begann. Und sie spürte, dass ihr das noch nicht reichte. In ihren Fingern juckte es, ihn zurückzustoßen, und sie wollte ihn anbrüllen, aber noch schien die Zeit nicht in geordneten Bahnen zu verlaufen, noch war alles so träge, so als tropften die Sekunden wie ein zäher Brei von einem gehobenen Löffel zurück in die Schüssel. Sie starrte Corvinus an, der wiederum sie ansah, registrierte aus den Augenwinkeln, wie sich seine Hände hoben, aber erst, als seine Finger ihre Handgelenke berührten und ergriffen, schnellte die Zeit plötzlich wieder zurück – und als ob sie meinte die Verlangsamung gutmachen zu müssen, schienen die nächsten Sekunden viel schneller zu sein als gewöhnlich. Siv hatte keine Gelegenheit zu reagieren, sie kam nicht einmal dazu Luft zu holen, da hatte Corvinus sie schon gepackt und mit einem Ruck sie beide gedreht. Im nächsten Augenblick wurde sie an die Tür geschleudert, so heftig, dass ihr der Atem wegblieb, und dagegen gedrückt. Sein Körper presste sich an ihren, seine Hände nagelten die ihren unsanft rechts und links neben ihrem Kopf an die Tür, und als sie jetzt endlich begann, sich dagegen zu wehren, war es zu spät. Corvinus war schlicht stärker als sie, sie hatte keine Chance, aus seinem Griff zu befreien. Was sie allerdings nicht daran hinderte, es zu versuchen. Sie drehte und wand ihren Körper, um sich Freiraum zu schaffen, erreichte dadurch aber höchstens, dass sie ihm noch näher kam, wenn das überhaupt möglich war. Wutentbrannt starrte sie ihn gleichzeitig an, ihre Augen lodernd und ihre Wangen zornrot, während irgendwo in ihr, noch unbemerkt, ein anderes Feuer zu lodern zu begann. "Was?" fauchte sie, ihre Stimme nicht mehr laut, dafür aber um nichts weniger scharf und mit einer deutlichen Portion an Rauheit, während sie sich immer noch bewegte – ob um frei oder um ihm noch näher zu kommen, war ihr selbst nicht mehr ganz klar. "Was? Was willst du? Verkauf? Garten?"

    Corvinus reagierte kaum auf ihre Tirade. Ungerührt schien er sie zu betrachten, während sie das Gefühl hatte, jeden Moment zu zerspringen vor Wut – Wut, die immer heftiger in ihr brodelte. Siv konnte nicht fassen, dass ihn die ganze Sache tatsächlich so wenig berührte, dass sie ihn so wenig berührte, dass er sich noch nicht einmal über ihr Benehmen aufregte. Schließlich verstummte sie für den Moment und starrte ihn sprachlos an, auf eine Antwort wartend, eine Reaktion, die zunächst nicht kam – und als er dann doch reagierte, tat er es völlig anders, als sie vermutet hatte. Oder gewollt. Sein Gesicht verzog sich zu einem missbilligenden Ausdruck, dann ging er zur Tür, schloss sie betont langsam und lehnte sich dagegen. Sein Blick, seine verschränkten Arme, seine ganze Haltung drückten eine Herablassung und kalte Arroganz aus, die Sivs Zorn zur Weißglut trieb. Sie hasste es, wenn jemand sich ihr gegenüber so verhielt. Sie hasste es. Und besonders hasste sie es jetzt, bei ihm, in diesem Moment, in dem sie so sehr auf eine Reaktion seinerseits wartete, ja, hoffte, darauf, dass er endlich zeigte, was er dachte, was er wollte, wirklich in ihm vorging…


    Als Corvinus dann wieder das Wort ergriff, glaubte Siv ihren Ohren nicht zu trauen. Vor ein paar Minuten noch, draußen auf der Terrasse, wäre sie zusammengezuckt, als er noch einmal betonte, dass sie ihn hintergangen hatte – jetzt war ihre Wut so groß, dass sie nur noch hörte, dass er immer noch Matho glaubte. Dass er ihr immer noch unterstellte, sie hätte ihn absichtlich und bewusst hintergangen. Dass er ihr immer noch keine Gelegenheit geben wollte sich zu erklären. "Hast du mir überhaupt ZUGEHÖRT? Ich hab doch gesagt ich wollte dir sagen was passiert ist! Alles! Die Wahrheit! Ich wollte-" Sie verstummte abrupt, als ihr klar wurde, dass kaum Sinn machte auf Germanisch zu wüten. Bevor sie aber Atem holen konnte, um weiter zu machen, sprach Corvinus schon wieder, und bei seinen nächsten Worten blieb ihr die Luft weg. Lügnerisch? Sie und lügnerisch?!? "Ich – LÜ – GE – NICHT! Ich lüge nicht! Du weißt!" Aber Corvinus ließ sie gar nicht wirklich zu Wort kommen – und was dann seinen Mund verließ, ließ Siv tatsächlich für einen Moment vor Wut erstarren. Dann sah sie rot. Kombiniert mit ihrem ohnehin schon flammendem Inneren und dem Vorwurf, sie würde lügen – was sie, abgesehen von kleinen Flunkereien, ihr Lebtag lang nicht getan hatte – war dieser letzte Satz, die Drohung sie zu verkaufen und der Hinweis auf den Garten, und die Abschätzigkeit, die darin mitschwang, schlicht zu viel. Irgendetwas in ihrem Gehirn schien auszusetzen – und irgendetwas, das wesentlich tiefer lag und nicht immer mit ihrem Verstand kooperierte, ihn nicht einmal immer in Kenntnis setzte, übernahm die Kontrolle. Und ohne dass sie sich, im Gegensatz zu ihm, auch nur darüber bewusst war, dass seine Worte eine Herausforderung gewesen waren, nahm sie sie unbewusst an. Ohne nachzudenken schnellte sie nach vorne und versetzte Corvinus eine Ohrfeige.

    Siv folgte den Männern, an dem Jungen vorbei zum Atrium und hindurch. Sie wusste, welche der Räume von Aurelius Cotta bewohnt worden waren, als er noch hier gewesen war, und da niemand so recht gewusst hatte, wann er von seiner Reise zurückkommen würde, waren diese nicht nur nicht anderweitig genutzt, sondern auch regelmäßig in bewohnbarem Zustand gehalten worden, was bedeutete, dass sie dort nicht sonderlich viel würde machen müssen. Über Gesicht flog ein sarkastisches Schmunzeln. Die Räumlichkeiten würden den Ansprüchen des Römers dennoch wohl kaum genügen im Moment, so wie sie ihn einschätzte. Sie hatte für sich bereits entschieden gehabt, wo sie ihn am besten hinbringen würde, aber Leone war ihr, ob beabsichtigt oder nicht, ins Wort gefallen und hatte die Entscheidung getroffen, und Siv musste sich erneut einen Kommentar verbeißen, diesmal einen mürrischen. Sollte sie sich nun um den Römer kümmern oder nicht? Sie hätte ihn zum Xystus gebracht. Die Terrasse eignete sich am besten, um seinen Forderungen gerecht zu werden – an der frischen Luft und schattig, im Gegensatz zum Garten standen dort bereits Klinen, auf die er sich sofort niederlassen konnte, und der Weg zur Küche war von dort auch nicht weit, was hieß, dass die gewünschte Erfrischung nicht lange auf sich warten lassen würde. Aber Leone hatte zwar nach jemandem rufen lassen, schien aber trotzdem selbst entscheiden zu wollen – womöglich traute er ihr inzwischen auch nicht mehr über den Weg. Sie blieb lange genug hinter ihnen, um zu sehen, wo Leone sie hinbrachte – ins Triclinium. Siv rebellierte innerlich dagegen, hätte sie doch selbst viel lieber die frische Luft und die Atmosphäre auf der Terrasse genossen, die zu jeder Tageszeit von einem Gemisch aus Sonnenlicht und Schatten in unregelmäßigem Wechsel überflutet war und wo ein steter, angenehmer Luftstrom die Hitze erträglich machte.


    Mit einem unterdrückten Seufzen löste sie sich von der Gruppe und brachte die Gepäckstücke zu den Räumen Cottas, dann schnappte sie sich den Bengel, der gerade davon flitzen wollte, um sich umzuziehen – oder etwas neues anzustellen. "Such Dina. Sag, sie herrichtet Zimmer von Cotta, soll herrichtet." Danach blieb sie für einen Moment stehen und überlegte. Leone war eigentlich deutlich gewesen, aber Leone war auch nur ein Sklave, ebenso wie sie – und sie wollte es vermeiden, Corvinus unter die Augen zu treten. So sehr sie sich wünschte, dass alles wie früher sein könnte, so wenig gefiel ihr, wie es jetzt war. Allein der Gedanke, zu ihm zu gehen, so wie er sich ihr gegenüber verhielt im Moment, löste fast körperliches Unwohlsein in ihr aus. Darüber hinaus hatte sie selbst in der kurzen Zeit an der Porta schon gemerkt, dass ihr die Gesellschaft des Römers und seines Sklaven gefiel – auch wenn sie das nicht zugeben wollte. Es lag schlicht daran, dass die beiden nicht wussten, was vorgefallen war, dass sie nichts ahnten von ihrem Fluchtversuch und dementsprechend auch nicht voreingenommen waren ihr gegenüber, sie für undankbar halten konnten, weil sie es versucht hatte, oder dämlich, weil sie sich hatte erwischen lassen – ohne dabei eine Ahnung zu haben, was wirklich in ihr vorgegangen war, oder sich auch nur dafür zu interessieren. Und so war die Entscheidung rasch getroffen, um was sie sich zuerst kümmern würde. Es dauerte nicht lange, bis sie Triclinium auftauchte, ein Tablett mit Wasser und Obst balancierend. "Was du möchtest noch? Auch Wein? Und Essen, nur leicht wie Obst, oder mehr?"

    Das allerliebste Kätzchen hätte dem Thraker gehörig die Krallen gezeigt, hätte es gewusst, was dieser über es dachte. So aber musterte Siv die Neuankömmlinge nur so unauffällig wie es ihr möglich war. Der eine, edler Gekleidete war schmaler, und er schien etwas erschöpft zu sein, der andere dagegen war groß und muskulös, und weder die Hitze noch die Reise, die sie augenscheinlich hinter sich hatten, hatten sichtbare Spuren bei ihm hinterlassen. Nur eines hatten sie gemeinsam – aus beiden Gesichtern strahlten ihr grüne Augen entgegen, so grün wie der Wald, oder die Weiher, die versteckt darin lagen, gespeist von unterirdischen quellen und so tief, dass man selbst an klarsten Tagen mit Blicken nicht tiefer vorzudringen vermochte als ein paar Armlängen. Cadhla hatte ebenfalls solche Augen gehabt, und Siv ertappte sich dabei, wie sie sich einmal mehr nach der Keltin sehnte, nach ihrer Gesellschaft, ihrem Verständnis und ihrer stillen Akzeptanz, ohne dabei selbst schwach zu wirken – oder Siv den Eindruck zu geben schwach zu sein.


    Stumm ließ die Germanin die Worte an sich vorbei rauschen, und erst als Leone sie kurz angebunden ansprach und auf das Zimmer hinwies, reagierte sie tatsächlich. Zum ersten Mal seit langem zeigte sich wieder etwas von ihrem alten Wesen – nicht die zurückgezogene Art, mit der sie stillschweigend und nur nach außen scheinbar ungerührt alles an sich hatte abprallen lassen. Mit einer etwas unwilligen Bewegung ruckte ihr Kopf zur Seite, zu dem Ianitor. "Ich mach ja schon", murmelte sie halblaut auf Germanisch, mit einem störrischen, fast schon unwirschen Unterton. Sie wollte sich gerade nach einem der Gepäckstücke bücken, die die Sänftenträger inzwischen zur Tür gebracht hatten, als der Römer erneut das Wort ergriff, und das in einem Tonfall, bei dem sich alles in ihr sträubte. Ihre Augen blitzten, als sie ihn kurz ansah, und sie presste die Zähne aufeinander, um den bissigen Kommentar hinunter zu schlucken, der ihr auf der Zunge lag. Als ob sie nicht schon längst wüsste, wie die Herrschaften gerne bedient zu werden wünschten. In diesem Moment stellte Siv fest, dass die letzten Wochen bei allen Schwierigkeiten, die es für sie gegeben hatte, bei aller Zurückweisung, die sie erfahren musste, und nicht zuletzt bei aller anstrengender Arbeit zumindest doch etwas Gutes gehabt hatten: sie hatte kaum jemals jemanden bedienen müssen – es gab immer irgendetwas Anstrengenderes und vor allem von den anderen weniger Bevorzugtes zu tun, was ihr aufgehalst wurde, und Corvinus hatte sie ohnehin nicht sehen wollen. Unter letzterem hatte sie gelitten und tat es noch, aber im Übrigen waren ihr die meisten Arbeiten lieber denn Römer zu bedienen – vor allem wenn es eines der Exemplare war, um den es sich bei diesem Aurelier offenbar handelte, wenn seine Worte irgendeinen Rückschluss zuließen. Und Siv gehörte nach wie vor nicht zu den Menschen, die einem ersten Eindruck leicht die Chance gaben, sich zu ändern. Vielleicht wäre das Impluvium zu reinigen doch die bessere Wahl gewesen.


    Sivs Blick flog kurz zu dem Sklaven, der so dicht bei dem Römer stand, als ob er bereit wäre ihn jeden Moment zu stützen. Hätte sie gewusst, dass der Aurelier krank war, hätte sie vielleicht mehr Verständnis aufgebracht, so aber kamen alte Vorurteile über Römer wieder in ihr hoch. Sie machte eine kleine Bewegung mit der linken Schulter, die ein simples Kreisen, aber auch ein leicht unwilliges Achselzucken hätte sein können, dann nickte sie. "Ja. Ich werde kümmern für dich." Diesmal war ihr Tonfall beherrscht und ließ im Gegensatz zu den winzigen Anzeichen ihrer Körpersprache so gut wie nichts von dem merken, was in ihr vorgehen mochte. Dann schnappte sie sich zwei der Gepäckstücke und setzte gerade dazu an, die Neuankömmlinge aufzufordern ihr zu folgen, als Leone ihr das Wort abschnitt. Ohne das Gesicht zu verziehen, trat die Germanin daraufhin einen Schritt zurück und ließ den Männern den Vortritt, bevor sie ebenfalls im Haus verschwand.

    Der Junge war losgefetzt, kaum dass Leone zu Ende gesprochen hatte – und im Atrium mit Siv zusammengeprallt, die gerade das Impluvium sauber machen wollte. Genau wie Leone stürzte Siv zu Boden und landete auf ihrem Hintern, diesmal musste allerdings auch der Junge dran glauben – und im Gegensatz zu der Germanin landete er im Wasserbecken. Trotzdem ließ Siv erst mal einen Schwall Flüche in ihrer Heimatsprache los. Sie war unruhig und gereizt in letzter Zeit. Mathos Tod hatte zwar doch etwas geändert, aber an ihrer momentan Position im Haushalt, oder an ihren Aufgaben, hatte sich nicht viel getan. Daran, dass Corvinus sie ignorierte, auch nicht. Und daran, dass viele der Sklaven sie ebenfalls schnitten und manche sie nach wie vor verhöhnten, wenn sich eine Gelegenheit bot, ebenfalls nicht. Und immer öfter ging Siv das auf die Nerven. Ihr Widerspruchsgeist begann sich zu regen, und langsam fand sie wenigstens etwas zu ihrer alten Form zurück. Den Jungen selbst störte das wenig. Breit grinsend saß er im Wasser, spritzte mit der Flüssigkeit und funkelte sie spitzbübisch an.


    "Was?" fauchte Siv schließlich, während sie sich aufrappelte, aber sie begann bereits ebenfalls zu grinsen. "Was rennst du wie ein wildgewordener Eber durch die Gegend? Was ist?" Das Grinsen des Jungen wurde noch etwas breiter. „Dominus Cotta ist da. Du sollst vorkommen und sein Gepäck tragen, und dann sein Zimmer herrichten. Und ihm bringen, was er noch so will.“ Verschmitzt beäugte er sie. Siv dagegen musste nicht lange überlegen – bei dem augenblicklichen Wetter wäre es zwar ganz angenehm gewesen, sich im Wasser etwas abzukühlen, aber das Impluvium zu säubern, dessen Fassung innerhalb kürzester Zeit unglaublich schmierig wurde, oder stattdessen etwas Gepäck zu tragen und ein Zimmer herzurichten, die Wahl fiel ihr nicht schwer. Andere bedienen tat sie nach wie vor nicht gern, aber daran hatte sie sich inzwischen – zwangsläufig – gewöhnt. Also strubbelte sie dem Jungen noch kurz durch das Haar und ging dann zur Porta, wo Leone bereits mit dem Neuankömmling wartete. Neugierig musterte Siv den Römer einen Augenblick lang. Sie kannte ihn bislang nur aus Erzählungen – sie wusste gar nicht mehr, ob er noch in der Villa gewesen war, als sie gekauft worden war oder nicht, aber wenn, dann hatte sie mit ihm nichts zu tun gehabt in dieser kurzen Zeit. Während der Junge, klatschnass, vorsichtig hinter ihr um die Ecke geschlichen kam und immer noch grinsend zu Leone lugte, verging der Moment des Betrachtens, und Siv verschloss sich, wie üblich in den letzten Wochen seit sie aus Germanien zurück war, sobald andere um sie herum waren – jedenfalls die meisten. Sie nickte. "Salve."

    Siv ging weiter, ließ sich vorwärts treiben im Trubel der Menge, Stimmengewirr umhüllte sie, Gesprächsfetzen rauschten an ihr vorbei. Es hatte gedauert, aber inzwischen konnte sie sich zwischen so vielen Menschen bewegen, ohne ständig angerempelt zu werden. Wohl fühlte sie sich normalerweise dennoch nicht, aber heute war etwas anders. Heute spürte sie keine beengenden Mauern um sich, heute musste sie nicht innerhalb kürzester Zeit wieder zurück – der Nachmittag erschien ihr wie eine Ewigkeit zu sein, eine Ewigkeit, die ihr gehörte. Ihre Nasenflügel blähten sich, als sie tief einatmete. Irgendjemand drückte ihr einen Becher in die Hand, bis zum Rand gefüllt mit Wein, wie sie feststellte, und sie nippte daran, genoss das Gefühl, wie die Flüssigkeit ihre Kehle hinabrann, wie sie fast sofort begann, ihren Körper zu wärmen und ihren Geist scheinbar zu beflügeln. Sie genoss das Gefühl der Leichtigkeit, dass sie so lange nicht mehr empfunden hatte, und ihr wurde klar, in diesem Moment, wie sehr sie sich danach gesehnt hatte – danach, alles hinter sich zu lassen, alles zu vergessen, was ihr im Kopf herumging. Die Fragen, die Zweifel, die Unsicherheit; nicht zu wissen, was sie tun sollte und ob sie die richtigen Entscheidungen getroffen, den richtigen Weg gewählt hatte; Corvinus aus dem Weg zu gehen, obwohl sie doch nichts mehr wünschte, als endlich mit ihm zu reden. All das, was sie so sehr bedrückte, was derart in emotionalem Stress ausartete, dass ihr Nervenkostüm immer dünner wurde und sie inzwischen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit getrieben worden war. Einfach vergessen, das wollte sie, wenigstens für die nächsten Stunden. Siv trank noch einen Schluck und dann noch einen.


    Die Menge bewegte sich unterdessen weiter, scheinbar ohne Plan, jedoch durchaus zielgerichtet, und Siv mitten darin. Auf den Fluss ging es zu, wo bereits Boote bereit lagen, die sich der Reihe nach füllten und dann ablegten, um den Tiber hinunter zu treiben. Siv schlenderte weiter, an den Anlegestellen vorbei und am Ufer entlang – nach einer Bootsfahrt stand ihr im Moment nicht der Sinn, sie beobachtete nur, wie die Wellen gegen den Bug des Bootes schwappten, das gerade an ihr vorbeifuhr, grinste die Menschen darin an und trank erneut einen Schluck, während sie sich auf eine der Brücken zu bewegte. Zurufe drangen an ihr Ohr, sowohl fröhlicher als auch anzüglicher Natur, aber sie ignorierte sie, jedenfalls bis sie angerempelt wurde von einem jungen Kerl, kaum älter als sie. „Na, Goldhaar?“ Grinsend schnappte er sich ihren fast schon leeren Becher und drückte ihr einen neuen, vollen in die Hand. „Hier, für dich.“ Siv war für einen Moment irritiert und wollte ihn schon auf die ihr übliche Art abfertigen, aber dann zuckte sie nur mit den Achseln und nippte an dem Becher. Noch war sie lange nicht betrunken, nicht einmal wirklich angetrunken, aber der Wein machte sich doch langsam bemerkbar, und sie spürte, wie er ihr zu Kopf stieg. Trotzdem genoss sie das augenblickliche Gefühl der Leichtigkeit viel zu sehr, als dass sie auf die leise Warnung in ihrem Inneren – nämlich aufzuhören zu trinken – gehört hätte.

    Die Finsternis war auf einmal nicht mehr nur in ihr – sie schien sich auszubreiten. Der Mond war untergegangen, und nur wenige Sterne waren noch am Himmel zu sehen – und deren Licht schien getrübt zu sein oder war verborgen hinter jagenden Wolken. Und Siv hatte das Gefühl, als lastete ein tonnenschwerer Druck auf ihr. Ihre Kehle wurde so eng, dass sie Mühe hatte zu atmen, und sie kniete auf dem Boden, nach vorne gebeugt, stützte den Oberkörper mit den Armen ab und rang nach Luft, während sie gleichzeitig von einem Schluchzer nach dem nächsten geschüttelt wurde. Die Finsternis wird dichter, immer dichter. Schließt sich wie ein Ring um sie, greift mit spinnenfädrigen Fingern nach ihr – zartstreichelnd sind die Berührungen, ein Hauch nur. Doch Eiseskälte breitet sich aus, wo immer sie ihr Inneres streifen. Ihre Seele selbst zieht sich zusammen, und doch bricht Stück um Stück unter dieser Kälte, diesem Druck.


    Langsam sank Siv auf die Seite, während die Tränen immer noch heiß und heftig, aber lautlos flossen. Einsamkeit und Sehnsucht schienen sie nicht mehr loslassen zu wollen, schienen ein Teil von ihr zu werden, genauso wie dieser Schmerz, der nicht weichen wollte. Immer tiefer fällt sie in die Finsternis, nichts mehr sieht sie, hört sie, spürt sie – außer Einsamkeit. Sehnsucht. Schmerz. Die Finsternis ist aus ihnen gemacht, und unendlich sind sie. Und sie fällt weiter. Sie konnte nicht dagegen ankämpfen. Mit der Faust schlug sie auf den Boden, einmal, zweimal, dreimal, würgte an den Tränen, an den Schluchzern, versuchte verzweifelt, einen Weg zu finden aus dem Strudel an Leid, der sie immer weiter dem Abgrund entgegen riss, aber sie konnte es nicht. Zu tief saßen die Gefühle, die sie an diesen Punkt geführt hatten. Dummes Mädchen. Eine Stimme höhnte. Ihren Körper schien es nach oben zu schleudern, als Siv heftig den Kopf hochriss und sich wild umsah in der Dunkelheit. So real war ihr die Stimme erschienen, die den bitteren Spott nur in ihr selbst verbreitete, dass sie meinte, es müsste tatsächlich ein Mensch da stehen. Dummes, törichtes Mädchen.


    Und die Stimme hatte Recht. Dumm war sie. Töricht. Erbärmlich. So erbärmlich. Die Stimme verhöhnte sie weiter, stichelte und schürte den Schmerz zu heißglühenden Funken, die in ihr wilde, zerstörerische Blüten trieben und sie nicht zur Ruhe kommen ließen. Ihre Brust verengte sich und ihr Magen revoltierte, während sie sich erneut zusammenkrümmte und heftige Schluchzer ein ums andere Mal Besitz ergriffen von ihr. Ein dumpfer, physischer Schmerz begann in ihrem Kopf zu pochen und breitete sich langsam aus, aber sie schien nicht in der Lage zu sein, aufzuhören. Dumm. Töricht. Erbärmlich. Bei jedem Wort, das ihr wie gesprochen erschien, zuckte sie zusammen wie unter einem Schlag. Hoffnung war etwas für Naive, für Träumer, für Unverbesserliche. Die Welt war anders, war nicht gemacht für Menschen dieser Art. Träumerin. Sie? Eine Träumerin? Träumerin. Hart war die Stimme, anklagend, fauchend. Scherbenvoll klingt sie, die Stimme, scharfkantig, reißzahnbewehrt und klauenversehen. Blinkende Klingen blitzen in ihr, blutrünstig, lüstern nach Schmerz. Und sie hört nicht auf, die Stimme, flüstert und wispert, hat es nicht nötig, sich mehr zu erheben, die Waffen, die sie trägt, sind am wirksamsten leise. Tönende Schlingen spinnen die Worte, ein Netz, in dem sie gefangen ist, wehrlos, hilfos, ausgeliefert. Klingende Klingen. Ihr Inneres blutig und zerfetzt. Erbärmlich fühlte sie sich. Erbärmlich war sie. Aber Erbarmen kam nicht.

    Siv starrte Corvinus an, als dieser sich umdrehte bei dem Geräusch, das der fallende Stuhl machte. Sein Gesichtsausdruck wechselte recht bald von erstaunt zu tadelnd, was Siv allerdings nur noch rasender machte – genauso wie die Tatsache, dass er sie unterbrach. Was war mit ihm los? Warum konnte er nicht endlich irgendetwas zeigen, irgendeine Form von Gefühl, irgendetwas anderes als beherrschte Missbilligung, wenn er sie denn überhaupt zur Kenntnis nahm? Wochen des unterdrückten, aufgestauten Schmerzes ob dieser Behandlung brachen sich Bahn und verwandelten sich langsam, aber sicher in Wut – die sie zu überrollen drohte wie eine Flutwelle. Sie hörte seine Worte, und als er Ursus’ Brief ansprach, schürte das ihren Zorn nur noch mehr. Sie hatte es ihm ja sagen wollen. Sie hatte ihm alles sagen wollen, jedes Detail dessen, was geschehen war! Aber er hatte sie nicht gelassen, und jetzt hielt er ihr vor, dass er es von Ursus erfahren hatte? "Nein, das, du-"


    Aber Corvinus hatte sich bereits abgewandt und verschwand im Haus, ohne sie weiter zu beachten. Siv stand für einen Moment da wie angegossen und starrte ihm hinterher. Sie konnte nicht mehr, sie hielt es nicht mehr aus – bewusst war ihr das nicht, aber in den letzten Wochen hatte sie zuviel gelitten unter Corvinus’ abweisender Haltung. Sie konnte nicht mehr zählen, wie oft sie – die in ihrem bisherigen Leben so selten Tränen vergossen hatte, und wenn, dann meistens Tränen der Wut – eben diese unterdrücken musste des Tags, bis sie abends, wenn sie alleine war, nicht mehr in der Lage dazu war und weinte, bis sie einschlief. Sie konnte nicht zählen, wie oft sie sehnsüchtig daran dachte, wie es vor ihrer Abreise gewesen war, wie oft sie wünschte, die Zeit zurückdrehen zu können, wie oft sie ihn vermisste. Sie konnte nicht mehr, nicht in diesem Moment. Wenn sie jetzt ging und einfach gehorchte, die Zähne zusammenbiss und sich fügte, würde der Schmerz in ihrer Brust nur größer werden, bis sie ihn irgendwann nicht mehr aushielt. Siv katapultierte sich regelrecht los von dem Platz, an dem sie stand, und rannte Corvinus hinterher, der bereits aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Aber sie wusste, wo er hinwollte, jedenfalls wenn er sich an das hielt, was er ihr gesagt hatte.


    Siv rannte, und sie holte ihn sogar fast ein – als sie um die Ecke bog, sah sie, wie er sein Cubiculum betrat, und nur einen Moment später war sie da, fetzte durch die Tür wie ein Wirbelwind und blieb abrupt stehen. "Ich wollte sagen! Ich wollte sagen, dir, was gesein, aber du nicht hast gehören! Ich haben Brief von Ursus gehabt, aber du, du, du du hast ihn einfach weggeschmissen! Und jetzt soll ich Schuld daran sein?" Aufgeregt und wütend wie sie war, wurde ihr Latein wieder schlechter – dennoch war deutlich, dass sie in den letzten Wochen einiges gelernt hatte, nicht nur im Unterricht bei den Flaviern mitbekommen, sondern tatsächlich aktiv gelernt. "Ich wollte sagen alles! Aber du gehört hast Matho, auf Matho, und Matho gehasst mich! Du, du nicht willst wissen Grund für was ich getan!"

    Corvinus musterte sie nach ihrem Ausruf, schwieg aber eine ganze Weile, und auch Siv sagte nichts. Was ihr zuvor mehr herausgerutscht war als alles andere, hing zwischen ihnen, während er sie ansah. Und als er dann schließlich antwortete, schnürte es Siv die Kehle zu bei der scheinbaren Gleichgültigkeit, die aus seinen Worten, seiner Stimme klang. Er hasste sie nicht, das war immerhin etwas, aber warum verhielt er sich dann so? Für Momente musste sie gegen die Tränen ankämpfen, die aufsteigen wollten, und sie sagte nichts, wusste sie doch, dass ihre Stimme gezittert hätte und um einige Tonlagen höher ausgefallen wäre als normal. Sie senkte den Kopf wieder und schluckte mühsam, um ihren Hals wieder zu öffnen, aber das Gefühl der Enge blieb. Und jedes weitere Wort, das an ihr Ohr drang, traf sie nur noch mehr. Spielt keine Rolle. Nicht wichtig. Bei der Kleiderwahl sollte sie helfen… Corvinus war inzwischen aufgestanden und machte Anstalten, loszugehen, und Siv sprang ebenfalls auf – sie aber mit einer Wucht, dass der Stuhl umkippte. Ihre Kehle war immer noch eng, aber ihre Augen blitzten jetzt. Hilf mir bei der Kleiderwahl, so beiläufig hatte er das gesagt, so hingeworfen, vor ihre Füße, als wäre nie etwas gewesen. Und irgendetwas in Siv zündete. Sie litt seit Wochen unter dieser Situation, und er? "Es spielt Rolle", entgegnete sie heftig. "Es spielt Rolle! Ich getan, ja, aber nicht gewollt, aber du, du nie zuhörst! Du nie gibst, gibst, du hast mir nie eine Gelegenheit gegeben mich zu rechtfertigen!"

    Siv saß da, den Blick unbestimmt auf den Boden irgendwo zwischen sich und Corvinus gerichtet, die Arme in ihrem Schoss, die Finger miteinander verschlungen. Sie bemühte sich um eine aufrechte, aber lockere Haltung, aber sie spürte selbst, wie die Spannung in ihrem Rücken zu schmerzen begann. Er schwieg genauso wie sie, und Siv war drauf und dran, doch etwas zu sagen, weil ihr das Schweigen zu sehr an den Nerven zerrte. Aber dann ergriff er doch das Wort. Siv sah kurz hoch, musterte sein Gesicht, das von ihr abgewandt war, und sah dann wieder zu Boden. Sie murmelte etwas, was man viel gutem Willen als Danke auslegen konnte, was aber eigentlich eher ein Mhm war. Dennoch bewirkte sein Eingangssatz, dass ein Funke Erleichterung sich in ihr entzündete. Er war zufrieden, wenigstens mit dem, was sie im Garten geleistet hatte. Er würde nicht so anfangen, wenn er ihr eröffnen wollte, dass er sie wegschicken würde. Oder doch? Wollte er andeuten, dass ihre Hilfe nun nicht mehr benötigt war und sich jemand anderes um den Garten kümmern konnte, jetzt, wo es den Pflanzen gut ging und sie kaum noch Schwierigkeiten machten?


    Corvinus’ nächste Worte dann überraschten sie – und trafen sie zugleich. Besuch kam, er wollte sie dabei haben, hielt es aber tatsächlich für nötig, sie auf ihr Benehmen hinzuweisen, und sagte noch dazu im gleichen Atemzug, dass er eigentlich lieber einen der anderen Sklaven dabei gehabt hätte. Siv, die verblüfft erneut hochgesehen hatte, bis sich auf die Unterlippe bei diesem Satz. Es war nicht nötig, ihr zu sagen sie solle sich benehmen – seit sie Corvinus hatte begleiten dürfen, hatte sie sich immer bemüht, ihn in keinem schlechten Licht dastehen zu lassen, auch wenn ihr das manchmal sehr schwer gefallen war bei ihrem Temperament. Und musste er ihr auf die Nase binden, dass er immer noch kein Bedürfnis hatte, sie in seiner Nähe zu wissen? "Ja", war schließlich alles, was sie antwortete. Was hätte sie denn sonst sagen sollen? So abweisend, wie er sich verhielt, so anders als früher, wünschte sie sich nur, dass sie schnell wieder gehen konnte. Aber Corvinus war noch nicht fertig, und diesmal fuhr ihr Kopf so schnell hoch, dass ihre Haare wippten. Verständnislos starrte sie ihn an. "Ich? Ich und dich hassen? Du bist doch derjenige, du hasst mich!"

    Siv war bereits seit langem wach – der Boden in der Küche hatte geschrubbt werden müssen, was mittlerweile schon gar nicht mehr aufgetragen wurde. Es war selbstverständlich, dass sie das tat und es nicht mehr im Wechsel stattfand, es musste nicht mehr erwähnt werden. Weil tagsüber aber Niki in der Küche rumorte und viele Sklaven ein und ausgingen, stand die Germanin lieber früher auf, als irgendjemandem im Weg zu sein – oder in der Küche manchen zu begegnen, denen sie lieber auswich, so gut es ging. Nach wie vor vermied sie, was sie früher so ausgiebig und gern getan hatte: auf Konfrontation gehen. Es hatte schon immer Sklaven gegeben, die mit ihrer Art nicht klar gekommen waren oder die anzügliche Kommentare fallen gelassen hatten über sie und ihre Stellung beim Herrn, aber Siv hatte nie etwas auf sich sitzen gelassen. Jetzt schwieg sie meistens, versuchte die Sprüche zu ignorieren und verzog sich schnellstmöglich. Nach wie vor war sie gerade bei diesem Thema viel zu empfindlich, als dass sie darüber hätte reden können oder wollen, geschweige denn andere zusammenzustauchen, wenn sie etwas sagten.


    Als sie fertig war mit dem Boden, hatte sie sich schnell gewaschen, um dann das aus dem Keller zu holen, was Niki für den Tag brauchen würde, als Dina kam und ihr sagte, dass Corvinus nach ihr verlangte. Siv erstarrte für einen Moment, als sie das hörte, aber sie riss sich zusammen, als sie Dinas neugierigen Blick sah. Ihr Gesicht blieb unbewegt, und sie nickte nur, murmelte ein Danke und verschwand dann aus der Küche. So ruhig sie vor der anderen Sklavin geblieben war, so aufgewühlt war sie innerlich – und kaum war sie aus Dinas Sicht, begann sie zu zittern. Was wollte er? Wochenlang ging er ihr aus dem Weg und ignorierte sie bewusst, wenn sie sich denn trafen, und jetzt schickte er nach ihr? Siv biss sich heftig auf die Unterlippe. Dass er zu dem Schluss gekommen sein könnte, es sei genug, der Gedanke kam ihr nicht. Zu abweisend war sein Verhalten gewesen, als dass sie wirklich glauben könnte, er würde das einfach so ändern. Aber was sonst? Wollte er ihr mitteilen, dass er entschieden hatte, was er mit ihr machen würde? Und wenn ja, was stand da schon zur Auswahl? Entweder er schickte sie auf eines seiner Güter und ließ sie dort schuften, oder er verkaufte sie. Beide Aussichten gefielen ihr nicht, aber vor allem bei letzterer schien sich ihr Magen umzudrehen. Auf einmal war sie froh, dass sie, wie so oft in letzter Zeit, nichts gefrühstückt hatte.


    Die Germanin ballte die Fäuste und presste die Knöchel auf die Augen. Es half nichts. Sie gehörte ihm. Was immer er mit ihr machen wollte, es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. Es lag allein bei ihm. Verzweifelt suchte sie nach dem alten Trotz in ihr, der ihr helfen würde sich wenigstens zur Wehr zu setzen, wenn es denn zu dem kam, was sie befürchtete, aber sie fand nichts. Da schien nur Schmerz zu sein. Siv biss sich auf die Zunge, bis sie ein scharfer, physischer Schmerz durchzuckte und sie den metallischen Geschmack von Blut spürte, dann setzte sie sich wieder in Bewegung, ging in die von Dina gewiesene Richtung und betrat schließlich leise die Terrasse, auf der Corvinus war. Er lag auf einer Cline und betrachtete den Garten, den er nach wie vor in ihrer Obhut gelassen hatte, die einzige Aufgabe, die ihr Leben derzeit wirklich erträglich machte und ihr Momente der Zufriedenheit gab. Sein Profil löste eine leise Sehnsucht in ihr aus, aber bevor sie etwas sagen konnte, drehte er sich schon zu ihr um, der Ausdruck auf seinem Gesicht undeutbar für sie, und Sehnsucht wurde wieder abgelöst von diesem Schmerz – und der Furcht. Sie erwiderte seinen Blick nur kurz, dann senkte sie den ihren und gehorchte, setzte sich auf einen der Stühle, die ebenfalls dort standen, und wartete. Für einen Moment flogen ihre Gedanken zurück zu dem Abend, an dem sie ihn das erste Mal getroffen hatte. Sie hatte genauso unter Anspannung gestanden wie jetzt, hatte ihn nicht einschätzen können, nicht gewusst, wie er reagieren würde – oder wie sie reagieren sollte. Und sie hatte nichts gesagt, hatte darauf gewartet, dass er zuerst sprach. Aber sie hatte ihn angesehen. Sie war ihm nicht ausgewichen. Sie war fest entschlossen gewesen, ihm Kontra zu bieten. Und jetzt? Nagte die Angst an ihr und schickte sie ein Stoßgebet zu Hel, Corvinus möge sie nicht fortschicken, wenn er ihr schon nicht die Gelegenheit gab, ihre Sicht zu erzählen.

    Es hatte eine Weile gedauert, bis Siv hatte glauben können, was Brix ihr gesagt hatte. Dass sie raus durfte. Sie hatte ihn ungläubig angestarrt und sich geweigert, ihn ernst zu nehmen, hatte ihm vorgeworfen, dass er seine neue Position nicht ausnutzen sollte, um sich über sie lustig zu machen, aber er hatte den Kopf geschüttelt, ihr die Hand auf die Schulter gelegt – und ihr versichert, dass er es ernst meinte. Dass sie sogar etwas Geld bekommen würde. Der Anlass, so erklärte er ihr, sei ein Fest, zu Ehren irgendeiner römischen Göttin, der Glücksgöttin, um genau zu sein, was ihr letztlich egal gewesen war, in diesem Moment, es hatte nur gezählt, was das für sie bedeutete: sie durfte raus. Noch besser war, dass das Fest offenbar entlang des Tibers stattfand, was bedeutete, dass es zumindest etwas frischer war als direkt in der Stadt, und sie nicht nur von Stein und einer Menschenmasse umgeben sein würde. Siv hatte es immer noch nicht wirklich glauben können, sie glaubte es ja noch nicht einmal jetzt wirklich, als sie, möglichst am Rand der Menge, sich treiben ließ, auf den Tiber zu, dass sie tatsächlich einen freien Nachmittag hatte und herumstreifen konnte. Mathos Tod hatte sich als Glücksfall erwiesen, nicht nur für sie, für alle Sklaven im Haus. Brix hatte so viel mehr Verständnis, Brix war einer von ihnen, ein Sklave wie sie alle, der eben genau das nicht vergessen hatte – und sie hoffte, dass er es auch nicht vergessen würde. Darüber hinaus vertraute er ihr, nach wie vor. Er war einer der wenigen gewesen, die, ohne sie auszufragen, ohne überhaupt große Worte zu machen, ihr zu verstehen gegeben hatte, dass er wenigstens ansatzweise nachvollziehen konnte, was sie getrieben haben musste. Einer der wenigen, die nicht empört oder verständnislos gewesen waren, wie sie nur hatte versuchen können zu fliehen, wo es ihr in Rom doch so gut ging, wo Corvinus sie doch sogar offensichtlich bevorzugte und sie sogar zu seiner Leibsklavin gemacht hatte. Einer der wenigen, die nicht schadenfroh gewesen waren, als sie, durch ihren eigenen Fehler, so plötzlich so tief in der Gunst ihres Herrn gefallen war. Brix verstand, und deswegen vertraute er ihr auch. Siv wusste nicht, ob es daran lag, dass sie aus dem gleichen Volk stammten, aber manchmal hatte sie das Gefühl, dass er am besten begriff, was in ihr vorging und warum sie manchmal auf die ihr eigene Art reagierte. In jedem Fall behandelte er sie besser als Matho es getan hatte – sicher waren die niedrigsten Arbeiten immer noch die ihren, daran konnte er wenig ändern, war Corvinus in dieser Hinsicht doch deutlich gewesen. Aber er hatte in anderer Hinsicht ihre Situation erleichtert, suchte nicht extra noch unangenehmen Arbeiten für sie, halste ihr weniger auf, lockerte die Aufsicht, wenn sie im Garten war, hatte sie sogar das ein oder andere Mal in den Stall gelassen, wo sie sich zu Idolum in die Box geschlichen hatte.


    Und jetzt war sie hier – allein. Sie hatte Brix gefragt, und er hatte nichts dagegen gehabt, dass sie ohne Aufsicht ging, ohne diese zwei Sklaven, die sie bisher jedes Mal begleitet hatten, wenn sie einen Fuß vor die Tür gesetzt hatte – und die Matho immer nach dem Gesichtspunkt ausgewählt hatte, wie wenig sie sie leiden konnten. So waren diese ohnehin sehr rar gesäten Ausflüge in die Stadt für sie so unangenehm geworden, dass sie es bald aufgegeben hatte, nach dieser Art von Abwechslung zu suchen, sondern lieber freiwillig im Haus geblieben war. Aber heute, jetzt, war sie allein unterwegs, ohne wachsame Augen, ohne Aufsicht, ohne strenge Zurechtweisung und ohne eingekeilt zu sein zwischen zwei anderen. Sie genoss es, sie genoss sogar so sehr, dass die vielen Menschen um sie herum ihr kaum etwas ausmachten, das Gedränge, der Lärm, die Gerüche, alles was auf sie einströmte und ihr sonst zu schaffen gemacht hätte. Langsam ging sie weiter, dem Fluss entgegen, beobachtete die Menschen um sie herum und atmete tief durch, zum ersten Mal seit langer Zeit die Fesseln, die ihr Inneres banden, nicht mehr so stark fühlend.

    Siv musterte den Parther – und war irritiert über seine Reaktionen. Für einen Moment schien er gedanklich so weit weg zu sein, dass sie nicht wusste, ob er sie überhaupt gehört hatte, und der verträumte Ton, mit dem er Parthien wiederholte, überzeugte sie nicht unbedingt vom Gegenteil. Allerdings konnte sie sich jetzt vorstellen, wohin seine Gedanken abgeschweift waren – in seine Heimat vermutlich, die er genauso vermissen musste wie die meisten von ihnen. Dass es an ihr liegen könnte, kam ihr dagegen nicht einmal im Entferntesten in den Sinn. Die Art, wie sie aufgewachsen war, die Art, die sie Jungen und Männern gegenüber immer an den Tag gelegt hatte, hatte verhindert, dass sie allzu oft derartige Komplimente bekommen hatte – oder diese Wirkung auf Männer hatte. Sie wusste, dass es Frauen gab, die das konnten, die es sogar bewusst einsetzen konnten, aber sie hatte das nie als etwas gesehen, was ihr zu eigen war. Die seltenen Komplimente hatte sie immer lachend abgewehrt, kamen sie doch von den Männern, mit denen sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, mit denen sie aufgewachsen und im Wald herumgestreift war. Sie glaubte es einfach nicht, und selbst Ragin hatte irgendwann aufgegeben. Cassim aber kannte sie nicht von klein auf, und seine Worte verwirrten sie zwar nicht ganz auf dieselbe Art wie die von Corvinus – aus einer Zeit, die vorbei war –, aber sie schmeichelten ihr trotzdem. Dennoch hätte sie gelacht, hätte ihr jemand gesagt, Cassim reagierte ihretwegen so.


    "Germanien ist im Norden. Weit im Norden." Siv legte den Kopf etwas schief. "Siv", antwortete sie dann. Und lauschte, diesmal fasziniert, seiner Erzählung von Parthien. Sie verstand nicht jedes seiner Worte, aber seine Formulierungen bereiteten ihr weniger Schwierigkeiten, hatte sie sich daran doch schon seit längerem gewöhnt, musste sich daran gewöhnen, da die Römer genauso sprachen. Sie verstand genug, und ein Lächeln flog über ihr Gesicht, als sie sich die Wüste vorstellte, die sie bisher nur aus Beschreibungen kannte, und die Stadt und den Fluss – Dura Europos und Euphrat, allein die Namen klangen, schwebten durch den Raum, ließen sich auf ihr nieder und wisperten, flüsterten Geschichten in ihr Ohr von fremdartigen Begebenheiten. "Germanien ist heiß, im Sommer. Aber nur kurz. Zeit, meiste Zeit ist kalt, im Winter so kalt, dass Menschen nicht kann leben, außen. Nicht ohne… ohne Schutz, nicht… ohne haben warme Kleidung. Aber schön zu sehen, wenn alles weiß." Jetzt war es an ihr, leicht verträumt zu lächeln. Den richtigen Winter hatte sie gar nicht miterlebt, als sie in Germanien gewesen war, stattdessen die Schlammzeit, wenn der Frühling schon begann Einzug zu halten und die Temperaturen wärmer wurden.

    Da Corvinus mit dem Rücken zu ihr stand, konnte sie seine Reaktion nicht sehen, konnte sie nicht sehen, wie er die Augen schloss, als sie ihn beim Namen nannte. Möglicherweise hätte sie sonst noch Hoffnung gesehen, wäre hartnäckig geblieben. So aber sah sie nur seinen Rücken, sah, wie er dastand, unbeweglich, versteinert, und hörte schließlich seine Worte, so ruhig, so kalt, so bar jeglicher Emotion. In diesem Augenblick glaubte Siv beinahe, dass es ihm nichts ausmachte, Fhionn dem Kreuz zu übergeben, auch wenn sie wusste, meinte zu wissen, dass es nicht so war. Sie kannte ihn anders. Er konnte nicht so kalt sein, auch wenn er so wirkte. Sie klammerte sich an diesen Gedanken, dass es so sein musste, aber gleichzeitig hörte sie seine Stimme. Raus jetzt. Es konnte nicht sein. Sie hob die Hand, um ihn zu berühren, um über seinen Rücken zu streichen, der so nah vor ihr war, so nah… und als hätte er es gespürt, geahnt, machte er in diesem Moment einen Schritt zur Seite und entzog sich ihr ein weiteres Mal. So nah, und doch so unerreichbar. Und Fhionn nutzte den Raum, den Corvinus ihr machte, und verließ das Zimmer, nachdem sie sie noch einmal angesehen hatte. Sivs Kehle schnürte sich zu, als sie diesen Blick sah.


    Für einen Moment blieb sie stehen, wie erstarrt. Die Stimme des neuen Aureliers drang an ihr Ohr, aber sie schüttelte nur den Kopf. Es spielte keine Rolle. Corvinus glaubte nicht, weder ihr noch Fhionn. Und seine Abweisung traf sie, so tief. Kombiniert mit dem Wissen, dass das Leben der Keltin nicht mehr zu retten war, wenn nicht noch irgendetwas passierte, verursachte diese Abweisung bei ihr körperliche Schmerzen. Sie hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Sie trat einen Schritt zurück, prallte beinahe gegen Orestes, der schräg hinter ihr stand, und wandte sich dann ebenfalls ab. Sie konnte nicht mehr. Tief in ihr begann sich bereits der Entschluss zu bilden, am nächsten Tag einen neuen Versuch zu starten, weiter zu machen, so lange bis Fhionn tatsächlich gestorben war – und selbst dann würde sie vermutlich noch weiter versuchen, Corvinus zu überzeugen. Aber in diesem Moment schien der Schmerz zu groß zu sein. Und davon abgesehen brauchte Fhionn sie. Siv würde sie die letzte Nacht nicht allein mit sich und ihren Gedanken lassen, es sei denn sie wollte es so. Und so eilte sie, ohne noch ein Wort zu sagen, der Keltin hinterher.

    Von nichts mehr wusste sie. Augenblicke waren es, in denen die Welt sich ihr öffnete, so sehr, dass sie zu vergehen meinte in der Tiefe, die sich ihr bot. Kostbare Augenblicke. Aber Augen-Blicke – nach einem Wimpernschlag vorbei. Lider heben und senken sich, und was sich den Augen zeigt, nachdem für einen winzigen Moment sich absolute Dunkelhaut gelegt hat über die Pupillen, ist eine erneut veränderte Welt. Wolken begannen, den Mond zu umhüllen, brachen seine Strahlen immer mehr, verbargen ihn zeitweise ganz, und tauchten alles in eine fast unheimliche Atmosphäre. Das Spiel ist vorbei. Die Worte schwebten durch ihr Bewusstsein und verhallten. Das Spiel, auf dass sie sich eingelassen hat. Mit dem Nebel. Mit den Wolken. Mit dem Mondlicht. Vorbei. Siv erhob sich wieder, langsam, unsicher, aufgewühlt und verstört. Sie begriff nicht, was gerade passiert war, wusste nur dass es sie mitgerissen hatte und leer und ausgelaugt zurückließ. Gegen Abend kam er auf die Höhe des Gebirgs, auf das Schneefeld, von wo man wieder hinabstieg in die Ebene nach Westen. Er setzte sich oben nieder. Es war gegen Abend ruhiger geworden; das Gewölk lag fest und unbeweglich am Himmel; soweit der Blick reichte, nichts als Gipfel, von denen sich breite Flächen hinabzogen, und alles so still, grau, dämmernd. Es wurde ihm entsetzlich einsam; er war allein, ganz allein. Er wollte mit sich sprechen, aber er konnte nicht, er wagte kaum zu atmen; das Biegen seines Fußes tönte wie Donner unter ihm, er mußte sich niedersetzen. Es faßte ihn eine namenlose Angst in diesem Nichts: er war im Leeren! Er riß sich auf und flog den Abhang hinunter.



    Allein war sie. Einsam. So einsam… Ein Atemzug hebt ihre Brust. Ein dumpfer Schlag lässt ihre Brust erbeben. Luft streicht durch hauchdünne Kanäle, weitet sie, sucht sich einen Weg, immer weiter, immer weiter, bis in feinste Verästelung. Blut rauscht durch ihre Adern, vorwärts getrieben von einer Macht, der es nichts entgegenzusetzen hat. Ein weiterer Schlag, fein und doch kraftvoll wie ein Glockenton klingt er in ihr, lässt ihre Nerven vibrieren. Siv ließ sich erneut zu Boden gleiten, am Ufer des Teichs. Schillernd jagten winzige Wellen über die Oberfläche, gehetzt vom erbarmungslosen Wind. Tropfen perlten in Miniaturschaumkronen und spritzten nach allen Seiten, wann immer die Wellen sich brachen. Siv saß regungslos da, blickte auf das Wasser und doch ging ihr Blick hindurch. Einsamkeit schwappte, den Wellen gleich, über sie hinweg. Und in dieser Einsamkeit dröhnte jeder ihrer Herzschläge, jeder ihrer Atemzüge in ihren Ohren. Namenlose Angst… Ein Schluchzen wollte sie schütteln, und sie sprang auf, breitete die Arme aus und öffnete den Mund um zu schreien, aber kein Laut kam über ihre Lippen. Sie suchte die Finsternis in sich zu vertreiben, suchte einen Weg zu finden, der sie herausführte, aber sie war blind, taub, gefangen in sich selbst, unfähig die Flucht zu ergreifen vor dem, was in ihr war. Unfähig zu fliehen vor sich selbst. Es war finster geworden, Himmel und Erde verschmolzen in eins. Es war, als ginge ihm was nach und als müsse ihn was Entsetzliches erreichen, etwas, das Menschen nicht ertragen können, als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm.

    -weißt nicht alles über Matho, hatte sie sagen wollen. Aber Corvinus ließ sie nicht weiter kommen, und auch als sie es – trotz seines Blicks, der ihr deutlich zu verstehen gab, dass es besser für sie wäre still zu sein – noch einmal versuchte, schnitt er das Wort ab. Und dieses Mal konnte sie sehen, dass er wegen ihr wütend wurde. Bevor sie noch etwas sagen oder sonst wie reagieren konnte, hatte er ihren Oberarm gepackt und brachte sie, halb schiebend, halb zerrend, zur Tür. Die Germanin versuchte nur anfangs einmal, rein aus Reflex, sich aus dem Griff zu befreien, dann hörte sie auf. Sie meinte die Anspannung zu spüren, unter der er stand, der Ärger, der in ihm brodelte, und wusste, dass es klüger war aufzugeben. Gleichzeitig wurde ihr fast schmerzlich bewusst, dass es das erste Mal seit ihrer Abreise nach Germanien war, dass er sie berührte – und wie sehr sie sich wünschte, dass seine Hand weiter wanderte, dass er sie an sich zog. Trotzdem, trotz des Risikos, seine Wut noch mehr anzustacheln, konnte sie nicht umhin, wenigstens zu versuchen sie beide zum Stehen zu bringen, auch wenn sie sich nicht mehr gegen seinen Griff wehrte.


    Corvinus allerdings hielt erst an der Tür an, durch die er sie hindurch schob, bevor er sie losließ und sich Fhionn zuwandte, ohne sich noch weiter um sie kümmern. Und Siv stand da, sah seinen Rücken an, hörte seine Worte und fühlte Verzweiflung in sich aufkeimen. Er würde nicht zuhören. Ihr nicht, und Fhionn auch nicht, die gerade, endlich, antwortete. Sie wusste nicht, ob es einen Unterschied gemacht hätte, hätte die Keltin gleich so geantwortet. Aber jetzt… Siv biss die Zähne zusammen und trat erneut einen Schritt vor, der sie zumindest auf die Schwelle der Tür brachte – hineingehen ins Zimmer konnte sie nicht, da Corvinus ihr im Weg war. Es ging um Fhionns Leben, was blieb ihr anderes übrig, als weiter zu versuchen, ihn zum Zuhören zu bewegen? „Corvinus.“ Ihre Stimme war leise. Ihn beim Namen zu nennen erschien ihr als letzte Möglichkeit, zu ihm durchzudringen – aber sie wusste auch, dass sie ihn damit möglicherweise nur noch wütender machte, wenn sie sich erdreistete, ihn in dieser Situation so vertraut anzureden. „Bitte, glaub.“ Aber welchen Grund sollte er haben, ausgerechnet ihnen zu glauben – sie, die versucht hatte zu fliehen, Fhionn, die noch vor einer knappen Stunde Matho getötet hatte, und das auf eine Art, die es jedem schwer machen würde zu glauben, dass es letztlich Notwehr gewesen war. Ein Ausweg, der einzige, den die Keltin offenbar gesehen hatte in einer Situation, die ihr ansonsten ausweglos erschienen sein mochte.

    Siv verstummte, als Corvinus sie unterbrach, und sie zuckte zusammen, als er erneut auf ihren Vertrauensbruch hinwies. Ja, sie hatte versucht zu fliehen, sie hatte ihn enttäuscht, aber was sollte sie tun? Sie konnte nicht mehr ändern, was passiert war, auch wenn kein Tag verging, an dem sie sich nicht mindestens einmal wünschte, es wäre anders gekommen. Und Corvinus ließ bis heute nicht zu, dass sie sich entschuldigte, wirklich entschuldigte – genauso wenig wie er Erklärungen zuließ. Und er hatte ihr bis heute nicht verziehen, was seine Worte deutlich machten. Siv spürte, wie ihre Kehle eng wurde, aber sie biss die Zähne zusammen und schob die Tränen und den Schmerz über Corvinus’ Verhalten weg. Es ging hier nicht um sie, ganz davon abgesehen wagte sie zu bezweifeln, dass sich an Corvinus’ Einstellung ihr gegenüber noch einmal etwas bessern würde – schon zu lange behandelte er sie so.


    Fhionn indessen verlor ihre stolze Haltung fast ebenso schnell wieder, wie sie gekommen war – sie schrumpfte regelrecht unter Corvinus’ harschen Worten, sie zitterte, und erst als die Germanin sie berührte, gewann sie etwas an Fassung zurück. Siv drückte mit der Hand kurz etwas fester zu, während sie Corvinus’ Blick standhielt, dann löste sie ihre Finger von Fhionns Schulter und trat einen Schritt auf ihn zu, so dass sie, Fhionn nun hinter ihr, direkt vor ihm stand. "Was ich getan, das, das… nicht wichtig. Nicht jetzt." Ihre Stimme klang immer noch ruhig, auch wenn sie nun wieder etwas schneller sprach und sich ein schwer zu definierender Unterton hineinschlich – eine Mischung aus Drängen und der Hauch von Flehen. Woran sie nicht dachte war, seinen Worten Folge zu leisten und Anstalten zu machen zu gehen. Allerdings ließ Corvinus sie auch diesmal nicht weit kommen. "Du müsst hören. Bitte. Du-"

    Siv stand zwar auf und trat einen Schritt zur Seite, aber sie blieb in unmittelbarer Nähe stehen. Zum einen strahlte Corvinus in diesem Moment eine solch düstere Autorität aus, dass sie im ersten Moment ohne zu überlegen gehorcht hatte, einfach weil die Art des Aureliers nichts anderes duldete. Zum anderen wusste sie instinktiv, dass Widerspruch jeglicher Art ihn in im Augenblick nur noch wütender gemacht hätte – sie musste nachdenken, musste überlegt widersprechen, wenn sie überhaupt etwas erreichen wollte, hatte sie selbst doch auch nicht den besten Stand bei ihm. Dennoch zuckte sie minimal zusammen, als sie ihren Namen aus Fhionns Mund hörte, so leise und flehend. Sie begegnete dem Blick der anderen Sklavin und versuchte ihr mit dem ihren Mut zu machen, zu signalisieren, dass sie sie nicht im Stich lassen würde, dass sie zu ihrem Wort stand. Sie wusste nur beim besten Willen nicht, was sie tun oder sagen sollte, um Corvinus zu besänftigen. Hatte sie vorher noch den Wunsch verspürt, dass er sie in den Arm nahm und tröstete, wollte sie jetzt am liebsten verschwinden, so wütend wirkte er. Wäre es heißlodernder Zorn gewesen, sie hätte ihm ohne zu zögern die Stirn geboten. Aber die Eiseskälte, von deren Art seine Wut war, erschreckte sie, tiefer als sie sich im Moment eingestand.


    Fhionn inzwischen fand nicht nur einigermaßen ihre Fassung wieder – ihre Haltung straffte sich, und sie wirkte fast schon stolz. Als sie zunächst etwas in ihrer Muttersprache sagte und dann, auf Latein, schlicht zugab, dass sie Matho getötet hatte, glaubte Siv, sich verhört zu haben. In Kombination mit ihrer fast schon stolzen Haltung wirkten diese Worte so, als ob sie Matho kaltblütig getötet hatte, ohne tieferen Grund. Nichts merkte man von der Verzweiflung, die hinter dieser Tat stecken musste, die Siv zumindest vermutete. Und Corvinus reagierte, wie sie es vermutet hätte, hätte sie Zeit gehabt sich darüber Gedanken zu machen. Seine Miene verfinsterte sich noch mehr, gleichzeitig wirkte er auf einmal gefährlich, so sehr, dass Siv sich zusammenreißen musste, um nicht noch einen Schritt zurück zu tun. Gleichzeitig begann ein Teil von ihr, sich auf seltsame Art von ihm, seiner dunklen Art, der Gefahr angezogen zu fühlen. Siv drängte beides, den Fluchtinstinkt genauso wie die Anziehung, zurück, und wartete, bis Corvinus fertig war. Als sein Blick sie streifte, hielt ihrer dem seinen stand, auch wenn sie nicht verhindern konnte, dass ihre Augen etwas von dem, was sie empfand, widerspiegelten, etwas von der Furcht, die wieder stärker geworden war bei seinen letzten Worten, mit denen er das Kreuz erwähnte – und schon für den nächsten Morgen damit drohte. Als er sich wieder von ihr abwandte, trat sie endlich wieder direkt neben Fhionn und legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie wusste nicht, ob sie diese Strafe für die Keltin verhindern konnte, aber sie würde es versuchen, bis zuletzt, wenn es sein musste. Fhionn mochte eine Strafe verdienen, aber nicht das Kreuz. Davon war Siv überzeugt. "Sie kann… recht… rechtfertigen." Siv sprach langsam, deutlich. Sie wollte, dass Corvinus sie verstand – und dazu trug nicht unbedingt bei, wenn er erst herumrätseln musste, was sie meinte. Sie hätte nicht gedacht, dass ihr der Unterricht bei dem flavischen Sklaven so schnell zugute kommen würde. Allerdings kam sie nicht sonderlich weit, bis Corvinus sie unterbrach. "Matho ist schlecht. Schlecht gewesen. Kein guter Mensch. In Germanien, er hat-"