Beiträge von Aureliana Siv

    Sivs Augen wurden noch trauriger, als Fhionn ihr versicherte, dass es ihr nicht leid tun müsse. Aber Siv wusste es besser. Sie hätte etwas sagen müssen, das war ihr nun klar – aber wer hätte schon ahnen können, dass Fhionn zu einer derartigen Bluttat getrieben werden könnte. Vielleicht war die Keltin einfach empfindsamer als sie selbst, sie wusste es nicht. Aber wo sie anfangs noch geglaubt hatte, dass Matho möglicherweise das Recht hatte, die ihm untergebenen Sklaven so zu behandeln, wusste sie inzwischen, dass dem nicht so war – aber es war einfach zu viel der Mühe gewesen, sich über ihn zu beschweren. Und mit ihm leben hätte sie dann trotzdem müssen. Es war einfacher, zu tun was er einem auftrug und ihm im Übrigen so gut es ging aus dem Weg zu gehen. Siv schwieg jedoch. Nichts davon hätte Fhionn im Moment helfen können, hätte dafür sorgen können, dass sie leichter verarbeiten konnte, was geschehen war, was sie getan hatte. Höchstens ihre Situation mochte es noch ändern, aber dann musste sie mit einem anderem reden, musste einen anderen endlich darüber aufklären, welche Saiten sein Maiordomus aufzog, wenn er nicht dabei war. Corvinus, wisperte eine leise Stimme tief in ihrem Inneren, und allein der gedankliche Klang des Namens weckte in Sehnsucht und Verwirrung zugleich. Sie würde mit Corvinus reden müssen, aber wie sollte sie das, wenn er ihr nicht einmal lange genug zuhörte, um ein Entschuldigung wahrzunehmen, das von ihren Lippen kam? Geschweige denn eine Erklärung, was sie getrieben hatte? Wieso sollte er ihr dann ausgerechnet jetzt zuhören?


    Mitten in diese Grübeleien hinein stellte Fhionn unvermittelt die nächste Frage, und Sivs Kopf ruckte hoch. Standen ihr ihre Gedanken schon so deutlich auf der Stirn geschrieben? Nein, das konnte es nicht sein, entschied sie – wohl eher, dass Fhionn sich davon etwas Milde versprach, wenn Corvinus wusste, wie Matho hatte sein können. Aber wieso fragte die Keltin das, sie wusste doch wie jeder andere auch, dass Siv seit ihrem Fluchtversuch eine der niedrigsten Sklavinnen im gesamten Haushalt war. Und dass Corvinus sie seit Wochen mied, kein Wort mit ihr wechselte, wenn sie sich zufällig begegneten… Gerade wollte sie etwas dazu sagen, als Fhionn etwas in ihrer Muttersprache murmelte und beinahe im selben Augenblick die Tür aufging. Siv wandte den Kopf und erblickte Corvinus, mit einem Gesichtsausdruck, der so finster war, wie Siv ihn bisher selten gesehen hatte. Sie schluckte trocken bei dem Gedanken daran, diesen Zorn möglicherweise auf sich zu lenken, wenn sie es wagte Fhionns Partei zu ergreifen. Die Keltin hätte einen anderen Weg wählen sollen, um den Maiordomus in seine Schranken zu weisen oder gar loszuwerden, aber nicht ihn ermorden. Dennoch war die Situation eine völlig andere, konnte die Tat anders gesehen werden, wenn man wusste, wie es dazu überhaupt erst kommen konnte. Dennoch konnte Siv nicht anders, als bei der winzigen, dafür aber umso herrischeren Kinnbewegung Corvinus’ zu gehorchen. Sie richtete sich auf und trat zur Seite, nur um dann mühsam ein Zusammenzucken zu unterdrücken, als Corvinus die Keltin anfuhr.

    Fhionn wurde etwas ruhiger, aber Siv meinte die Anspannung zu spüren, unter der sie nach wie vor stand, die Furcht, das Entsetzen. Die schützende Wirkung des Schocks hatte bei ihnen beiden nachgelassen, aber dass Fhionn sie brauchte, half Siv, nicht nur mehr und mehr ihre Fassung zurück zu gewinnen, sondern auch zu behalten. Sie rieb weiter mit dem Stück Stoff die Haut der Keltin, etwas fester inzwischen, ungeachtet dessen, dass sich ihre eigenen Hände rot färbten – allerdings war sie nicht überall erfolgreich. Sie spürte Fhionns Blick auf sich, aber sie fuhr ruhig fort mit dem, was sie tat. Erst als die Keltin sie ansprach, sah sie hoch. "Ja." Ihre Antwort war genauso einfach wie die zuvor. Was hätte sie auch sonst sagen sollen? Hätte sie Fhionn vormachen sollen, sie hätte nichts gesehen? Siv wusste nicht, wie viel Fhionn von ihrem Zustand zuvor mitbekommen hatte, der deutlich gezeigt hatte, dass sie den Mord gesehen hatte – aber so oder so wäre es ihr nicht richtig erschienen, die Keltin anzulügen. "Ja, Fhionn, ich habe gesehen." Einen Moment sah sie sie noch an, hielt ihrem Blick ruhig stand. Ihr Gesicht zeigte keine Regung, außer einem Schimmer von Mitgefühl in ihren Augen, und darunter, so tief wie es momentan in ihr verborgen war, ein Anflug von Entsetzen, als die schrecklichen Bilder vor ihrem inneren Auge wieder aufloderten.


    Es herrschte Schweigen, und schließlich wandte Siv sich wieder den Armen der Keltin zu, tunkte das Tuch erneut in den Wasserkrug, wrang es aus und fuhr fort, das Blut wegzuwischen, so gut es ging. Allerdings hatte sie bald wieder Anlass, den Kopf zu heben. Diesmal war nicht nur Mitgefühl, sondern ein guter Teil Schuldgefühl in ihrem Blick. "Ich weiß, Fhionn." Beim ersten Mal war Matho gekommen, als Fhionn und sie auf dem Karren beisammen saßen – und da er auf der Rückreise von Germanien Siv ohnehin tagtäglich deutlich spüren lassen konnte, dass sie im Vergleich zu ihm ein Nichts war, dass er volle Gewalt über sie hatte, war er offenbar froh gewesen, etwas Abwechslung zu bekommen. Noch eine Sklavin, bei der er einen Vorwand hatte sie mehr als üblich zu traktieren. Für Siv hatte festgestanden, dass sie am nächsten Tag den anderen Bescheid sagen würde – mehr als sowieso schon konnte Matho sie nicht mehr leiden lassen, genauso wenig konnte sie es sich noch mehr mit ihm verderben, also hätte es ihre Situation kaum verschlechtert. Und selbst wenn es nicht so gewesen wäre, hätte Siv etwas gesagt. Aber als die Germanin am nächsten Morgen etwas hatte sagen wollen, hatte Fhionn sie gebeten, still zu sein, hatte gemeint, es würde schon nicht so schlimm sein, es könnte nicht noch schlimmer werden. Und Siv war still geblieben. Danach hatten sowohl Fhionn als auch Matho offenbar darauf geachtet, dass keiner, einschließlich ihr, etwas davon mitbekam, dass der Maiordomus die Keltin mehr bedrängte als üblich. Wieder kam ihr der Gedanke, dass sie etwas hätte sagen sollen, dass sie es hätte wissen müssen, dass Matho Fhionn nicht in Ruhe lassen würde. Hatte sie nicht am eigenen Leib erfahren, wie er war? Dass er solche Gelegenheiten nicht einfach passieren ließ? Siv presste die Zähne so fest aufeinander, dass ihre Kieferknochen hervortraten, während sie Fhionns Blick erwiderte. "Es tut mir leid", flüsterte sie schließlich.

    Als sie sie erreichte, wirkte Fhionn noch für Momente so unberührt, distanziert, kühl. So als ob sie gar nicht wirklich wüsste, was passiert war – oder als ob es sie einfach nicht interessierte. Dann sah sie auf einmal an sich herab, und im nächsten Augenblick konnte Siv regelrecht sehen, wie sich Entsetzen wie ein Schatten über ihr Gesicht legte. Ohne sich zu wehren, fast schon willenlos, so schien es der Germanin, beugte sich Fhionn dem sanften Druck, den Siv auf sie ausübte, und kam mit zu Corvinus’ Officium. Je weiter sie kamen, desto mehr schien die Keltin zu begreifen, was passiert war, was sie getan hatte, und als sie schließlich vor der Tür ankamen, zitterte die Sklavin neben ihr wie Espenlaub. Siv hatte inzwischen einen Arm um sie gelegt, um sie zu stützen. Je mehr sie spürte, dass Fhionn ihre Beherrschung abhanden kam, desto mehr gewann sie die ihre zurück. Das war schon immer ihre Stärke gewesen – wenn andere die Fassung verloren, fiel es ihr leichter, die eigene zu wahren. Egal wie schlecht es ihr ging, wenn sie spürte – gerade dann, wenn es unbewusst war –, dass es anderen um sie herum ebenfalls schlecht ging, fand sie irgendwo in sich die Kraft, die eigene Schwäche zu bekämpfen, sich wieder aufzurichten, souverän zu handeln und zu sein.


    Ihre Frage beantwortete Fhionn, aber nur die ersten Worte verstand die Germanin, dann wechselte die andere in ihre Muttersprache. Aber die Worte zu verstehen war auch nicht nötig. Ihr Tonfall sagte Siv genug. Irgendwo in ihrem Hinterkopf begannen Selbstvorwürfe, Gestalt anzunehmen, machten auf sich aufmerksam und versuchten in den Vordergrund zu drängen, aber Siv hielt sie im Schach. Jetzt war keine Zeit dafür, jetzt musste sie für Fhionn da sein – sie hatte lange genug nichts gemerkt, weggesehen, sich mit sich selbst beschäftigt. "Ssschschsch…", murmelte sie und strich der Keltin über die Schultern. Mit der anderen Hand öffnete sie die Tür, und sachte geleitete sie Fhionn in das großzügig bemessene und eingerichtete Zimmer hinein. Sie führte sie bis zum Schreibtisch, wo ein paar Korbstühle standen, und hielt dort inne, aber bevor sie etwas sagen oder tun konnte, hatte Fhionn schon ihre Hand gepackt. Siv legte ihre Hand auf die der Keltin, und ein trauriger, aber bestätigender Ausdruck huschte über ihre Züge. "Ja, Fhionn. Ich bleibe." Mehr nicht. Aber wie zuvor bei Fhionn war mehr auch nicht nötig – ihr Tonfall sagte genug. Sanft löste sie Fhionns Finger und drückte die Keltin dann in einen der Stühle. Anschließend holte sie einen Wasserkrug, der auf einem kleinen Seitentisch stand, und ließ sich vor Fhionn in die Hocke sinken. In Ermangelung einer Alternative riss sie – wie könnte es anders sein – ein Stück aus dem Saum ihrer Tunika heraus, das sauber war und tunkte es in das Wasser, dann begann sie, wenigstens Fhionns Haut von Mathos Blut zu reinigen. Zuerst tupfte sie ihr Gesicht ab, das einige Blutspritzer abbekommen hatte, dann widmete sie sich den Armen, strich mit sanften, aber dennoch festen Bewegungen darüber und entfernte das Blut, so gut es ging. Es brauchte bewusste Anstrengung ihrerseits, nicht schon wieder an die Tat zu denken, an das Messer, dass sich in Mathos Brust gesenkt hatte, wieder und wieder… aber es gelang ihr. Ein bewusster Blick auf das Gesicht der Keltin, in ihre Augen, und jeder Gedanke, der das Entsetzen in Siv wieder hätte erstarken lassen, trat in den Hintergrund. Sie sagte nichts weiter. Wenn Fhionn reden wollte, würde sie zuhören, und sie würde antworten – aber aus ihrer Sicht gab es nichts, was sie von sich aus hätte sagen können. Sie konnte nur da sein.

    Siv lauschte fasziniert den Geschichten, die Corvinus erzählte. Seine Stimme hüllte sie ein wie in einen Kokon, die Worte feine Fäden, die sich um sie woben. Sie wusste, sie hätte sich für das Pferd entschieden – bedeutete ein Pferd doch nicht nur Krieg, sondern in ihren Augen vor allem Freiheit. "Ich entschieden für Pferd. Cel… Celärys? Pferd ist Zeichnen für sein frei… ich finde." Sie lächelte leicht. "Ja, Geschichten wir haben, in Germanien. Viele." Siv überlegte kurz, aber da sie gerade bei Geschichten über Pferde waren, fiel ihr die Entscheidung nicht schwer, was sie im Gegenzug erzählen könnte. "Sleipnir – ist Pferd von Odin. Odin ist Gott, viel hoch, viel… Ist Anführer. Wie Zeus, bei römisch Götter. Sleipnir nicht hat Fliege, aber hat… acht…" Hier musste Siv kurz überlegen, und mit gesenkter Stimme ging sie die Zahlen durch, bis sie die erreichte, die sie brauchte, bevor sie wieder normal weitersprach: "Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht… Acht Beine, Sleipnir hat acht Beine. Das weil er kann gehen zu alle Orte, kann tragen Odin, nicht nur Boden, auch in Luft, bei Wasser, sogar in Unterwelt. Sleipnir ist Sohn von Loki, das auch Gott sein – ein Hrimhurse, ein Frostriese, bauen Asgard, Zuhause von Götter, und dafür sein Preis Freya – sein auch Göttin – als Frau, und Sonne und Mond, wenn ist schnell. Aber Asen nicht wollen gebt Freya, das weil Loki sich… verwandeln… sich gebt Form von Pferd, von Stute. Der Hrimhurse nämlich hat gehelft von Svadilfari, sein Hengst. Und Svadilfari seht Loki, als Stute, und geht weg – und so der Hrimhurse nicht fertig gesein, schnell wie gesagt sein fertig." Siv grinste verschmitzt. "Nach Zeit, Loki hat Kind – Sleipnir."


    "Vorurteile…? Ich denke dass das das ist, ja. Und nein. Nicht ist leicht, manchmal, nicht schnell in Zeit zu sein – nicht machen Vorurteil." Siv sah nachdenklich vor sich hin. An ihren Vater zu denken schmerzte – umso mehr, da sie bisher weitestgehend und recht erfolgreich jeden Gedanken an ihn verdrängt hatte. Seltsamerweise tat es aber nicht so weh wie normalerweise – die Geborgenheit, die sie im Augenblick empfand, wirkte sich auch darauf aus. Dennoch begann ihre Stimme leicht zu zittern, als sie antwortete. "Ja. Ich vermisse ihn. So sehr…" Die Worte waren leise. "Er nicht mehr ist Leben. Er… er gesein da, als, als… Überfall, von Römer, bei dem ich sein gefangen… Er gesein dabei. Aber nicht gefangen ihn. Da sein Speer, und er tot. Muss sein tot. Der Speer ist ganz gegeht in ihn, in Körper. Ich gewollt zu ihm, gewollt zu sein bei ihm… Aber Römer nehmen mich mit. Und mein Vater, ist gesein alleine, wenn Hel gekommt…" Siv konnte nicht sagen, was sie mehr schmerzte – dass ihr Vater bei diesem Überfall gestorben war oder dass sie nicht bei ihm hatte sein können, als Hel ihn schließlich geholt hatte. Und es schmerzte, darüber zu reden – weil sie zum ersten Mal die Erinnerung und damit den Schmerz wirklich zuließ. Gleichzeitig tat es seltsamerweise gut, Corvinus davon zu erzählen.


    "Norden", wiederholte sie dann und hob die Mundwinkel zu einem Lächeln, das nicht minder melancholisch war wie das seine. "Ja, du Glück hast. Andere nicht magen Geschichten… Aber ich." Sie atmete tief die frische Nachtluft ein. Ein Moment verging in Schweigen, bevor der Römer hinter ihr wieder das Wort ergriff. Sie seufzte leise, genoss sie die Atmosphäre doch, aber auch ihr wurde kühl, und sie war müde. "Ja", antwortete sie daher leise. Flüchtig dachte sie daran, dass sie eigentlich draußen hatte schlafen wollen – aber nach diesem Abend, nach diesem Gespräch, wollte sie weiter bei ihm sein, wollte ihn neben sich spüren, wenn sie einschlief. Also sagte sie nichts weiter, sondern stand nur gemeinsam mit ihm auf, bückte sich noch einmal nach der Decke und sah ihn noch mal an. Ohne weiter nachzudenken, in einem puren Reflex handelnd, stellte sie sich dann auf die Zehenspitzen und küsste ihn, berührte sacht seine Lippen mit den ihren und kostete ihn. Für einen Moment verharrte sie noch so, ihr Gesicht vor seinem, bevor sie einen Schritt zurücktrat und ihn erneut ansah. "Danke."

    Siv befand sich in einer Spirale aus Verstörtheit und Entsetzen, die sie der Panik immer näher brachte, je mehr die schützende Wirkung des Schocks nachließ. Nach außen zeigte sich das nur durch ihr Zittern – und sie kämpfte darum, nicht stärker zu zeigen, was in ihr vorging, wie kurz sie inzwischen davor war, weinend zusammenzubrechen. Nicht, weil sie um den Maiordomus trauerte, das ganz gewiss nicht. Siv hasste ihn nicht. Sie konnte sich schnell über andere aufregen; es gab einige Menschen, die sie nicht leiden konnte; sie war, zumindest was Römer betraf, eine Zeitlang schnell dabei gewesen zu behaupten, sie würde sie hassen, und zumindest unter den Soldaten, die sie nach Rom gebracht hatten, hatte es ein paar gegeben, denen gegenüber sie tatsächlich so etwas wie Hass empfunden hatte – die Wahrheit war aber, dass Siv im Grunde kein Mensch war, der hasste. Es brauchte lange, bis sie dieses Gefühl auch nur ansatzweise entwickelte, wirklichen, reinen Hass, nicht nur tiefe Abneigung. Hätte sie bewusst darüber nachgedacht, sie wäre zu dem Schluss gekommen, dass Matho ein so tiefes Gefühl gar nicht verdient hatte. Und seit sie wieder in Rom war, hatte der Maiordomus nicht mehr völlig freie Hand ihr gegenüber, und darüber hinaus konnte sie ihm hier aus dem Weg gehen, waren ihre Aufgaben doch so niedrig, dass sich der Maiordomus darum in der Regel nicht persönlich kümmerte, weil er schlicht Wichtigeres zu tun hatte. Nein – Siv hasste ihn nicht, nicht wirklich. Sie konnte ihn nur von Grund auf nicht ausstehen. Aber Fhionns scheinbare Kaltblütigkeit, wie sie auf Matho eingestochen hatte, wie dieser zu Boden gesackt war, blutüberströmt, und die Keltin hatte immer noch weiter gemacht… Siv hatte kein Problem Blut zu sehen, aber in ihrer Vorstellung, die ihr die Bilder wieder und wieder zeigte, nahm es in Kombination mit der Tat an sich einfach überhand.


    Sie kämpfte dagegen an, rang um Selbstbeherrschung, aber erst Corvinus’ Worte, direkt an sie gerichtet, durchbrachen die Spirale und drangen zu ihr vor. Sie ballte die Hände zu Fäusten und grub ihre Fingernägel in die Handflächen, und der Schmerz half zusätzlich. Sie erwiderte seinen Blick und nickte nur. Sie sah den beiden Römern nach und wandte sich dann Fhionn zu, die gerade an ihr vorbei Richtung Haus ging und ihr zulächelte. Siv starrte sie für einen Moment fassungslos an, sah ihr zu, wie sie an ihr vorbeiging. Sie lächelte? Verstand Fhionn denn nicht, was sie getan hatte? Oder verstand sie es gerade und war tatsächlich so kaltblütig, wie sie gewirkt hatte? Es dauerte einen Moment, bis Siv begriff, dass Fhionn selbst unter Schock stehen musste. In der Zwischenzeit hatte Fhionn schon fast die Tür erreicht, und Siv war mit ein paar schnellen Schritten neben ihr. "Fhionn. Fhionn! Warte!" Sie erreichte die Keltin und legte ihr eine Hand auf den Arm. Sie hatte keine Befürchtung, Fhionn könnte ihr etwas antun – zwar war ihr nach wie vor unverständlich, wie die Keltin so weit hatte getrieben werden können, aber zumindest ihr war klar, dass es einen Grund geben musste. Dass Matho sie nicht in Ruhe gelassen hatte nach diesem einen Zusammenstoß, den Siv miterlebt hatte. Der wegen mir passiert ist. Unwillkürlich erstarrte sie, als ihr klar wurde, dass der Mord damit zum Teil ihre Schuld war. Fhionn hatte sich mit Matho wegen ihr angelegt. Und nicht nur das, sie hatte es mitbekommen – und hatte nichts gesagt. Spielte es eine Rolle, dass sowohl Matho als auch Fhionn danach dafür gesorgt hatten, dass keiner mehr etwas mitbekam? Sie hatte doch gewusst, aus eigener Erfahrung, wie der Maiordomus war. Aber sie war einfach davon ausgegangen, dass alles soweit in Ordnung war, nur weil die Keltin sich nichts hatte anmerken lassen. Und dabei hätte sie auch das wissen müssen, war sie selbst doch genauso.


    Mühsam schüttelte sie diese Gedanken ab. "Du in Ordnung bist? Komm mit." Der Griff um Fhionns Arm verstärkte sich etwas, als Siv die Keltin mit sich zog, war aber lange nicht so fest, dass er hätte schmerzen können. Im Gegenteil, Siv wollte mit dem Griff Fhionn Halt vermitteln. Hatte sie sich kurz zuvor noch entsetzt gefragt, wie die Keltin einen Mord hatte begehen können, fragte Siv sich jetzt, wie schlimm es gewesen sein musste, dass sie zu dieser Tat getrieben worden war. Und wie es ihr jetzt gehen musste. Mit sanftem Druck geleitete sie die Keltin ins Haus und in Richtung von Corvinus’ Officium. "Warum? Warum du getan, das? Matho ist so viel schlimm gesein?"

    Sehnsucht. Sie flüstert in ihr, wispert Worte wie Glas, fein, durchscheinend, schimmernd – und die Kanten geschliffen und scharf. Mit jedem Wort, dass die Sehnsucht spricht, jedem Atemzug, den sie tut, liebkost und verletzt sie zugleich. Siv ging weiter durch den Garten, schwebte in ihrer Vorstellung. Der Nebel hing dicht zwischen Sträuchern und Bäumen, waberte aber nur in Streifen am Boden entlang, da, wo die Flächen offen waren. Und ließ es dadurch tatsächlich so wirken, als ob Siv über den Boden glitt, so behutsam und verträumt, wie sie sich bewegte, ihr Oberkörper umspielt von blonden Haaren – hätte es denn einen Beobachter gegeben. Sie löste sich von den Bäumen und trat hinaus auf die Wiese, die den Teich umgab, ihre Füße mit traumwandlerischer Sicherheit sich bewegend, jede Unebenheit kennend.


    Plötzlich rissen die Wolken auf. Mondlicht tauchte den Garten in einen vagen Schimmer, Nebel leuchtete, unheimlich. Siv sog die feuchte Luft tief in ihre Lungen, spürte jede Faser ihres Körpers und fühlte sich dennoch so, als sei sie jemand anderes. Sie war sich selbst so fremd in diesem Augenblick, fühlte sich gefangen in sich, mit sich, konnte nicht sagen, wer sie wirklich war. Die Vergangenheit konnte sie nicht zurückholen, und was die Zukunft bringen würde, war ungewiss – aber die Gegenwart erschien ihr falsch, so falsch. Und die innere Zerrissenheit trieb sie in diese Welt, die sich ihr Unterbewusstsein selbst zurecht wob. Fluchtmöglichkeiten bot sie ihr, aber viel zu selten, und wirklich entrinnen konnte sie auch in ihr nicht – wie auch. Man konnte nicht fliehen vor dem, was man in sich trug. Und so ließ sie sich auf das Spiel ein, das Spiel mit dem Nebel, mit den Wolken, mit dem Mondlicht, zerfließt, lässt ihr Sein treiben und aufgehen in allem, was um sie ist. Zu funkelnden Tropfen gesellt sie sich, jeden einzelnen spürt sie, auf Strahlen silbrigmatt gleitet sie dahin, hinauf, weiter hinauf, tanzt mit den Sternen und sinkt wieder hinab, fällt durch Wolken, durch Nebel, wird empfangen von Armen, die sie zärtlich umschließen, versinkt in Gebilden, so fremd und zerbrechlich wie sie selbst. Aufgewühlt ist ihr Inneres, zerrissen, wund. Sie sehnt sich nach dem Himmel und zugleich nach dem Boden – Luft und Erde, Freiheit und Beständigkeit. Überwältigt von den Gefühlen, die auf sie einstürmten, blieb Siv stehen, drehte ihr Gesicht nach oben, sie trinkt das Mondlicht, ertrinkt darin, breitete die Arme aus und sank schließlich in die Knie. Aber es waren nur Augenblicke; und dann erhob er sich nüchtern, fest, ruhig, als wäre ein Schattenspiel vor ihm vorübergezogen - er wußte von nichts mehr.

    Sivs Mund öffnete sich vor Verblüffung etwas, als sie Cassims Antwort hörte. Nur Augenblicke später hatte sie ihn schon wieder geschlossen, aber die Verblüffung blieb. Sie konnte Latein inzwischen gut genug, um zu verstehen, was er sagte – und obwohl sie begriff, dass er maßlos übertrieb, konnte sie nicht anders, als sich von seinen Worten und seinem Lächeln geschmeichelt zu fühlen. Eine hauchzarte Röte überzog ihre Wangen, nur sichtbar ihrer blassen Haut wegen, und sie brauchte eine Winzigkeit, bis sie wieder Worte fand. "Parthien", wiederholte sie, während sie beschloss, auf die Schmeicheleien nicht weiter einzugehen. Sie ließ ihr Knie wieder auf den Boden sinken. Parthien kannte sie, sie hatte von dem Krieg gehört, hatte dann nachgefragt, sich von Corvinus erzählen lassen, was er über dieses Land wusste, während der Stunden, in denen sie ihm Germanisch beigebracht hatte… als noch alles in Ordnung gewesen war. Parthien, im Osten, wo die Sonne aufging. Sie stellte sich dieses Land noch fremdartiger vor, als Italia für sie gewesen war – ihre Fantasie hatte wilde Blüten getrieben, immerhin wusste Corvinus auch nur aus Erzählungen, wie es dort war. Jetzt jemanden kennen zu lernen, der von dort kam, der ihr aus erster Hand erzählen könnte, wie dieses Land war, faszinierte sie ungemein.


    Seine leiseren Worte hatte Siv auch gehört, und sie schnitt eine Grimasse. Sie wusste nicht mehr, was sie von Römern oder anderen Völkern halten sollte. Sie war lange genug in Rom, hatte genug gelernt, genug Menschen kennen gelernt, um nicht mehr zu pauschalisieren – es war manchmal schlicht leichter, einen Feind zu haben. Den man verantwortlich machen konnte, dem man die Schuld geben konnte. Und es gab sicher Römer, auf die das Bild, das sie noch vor gar nicht allzu langer Zeit von ihnen gehabt hatte, zutraf. Aber sie wusste inzwischen eben, dass es nicht für alle stimmte, vermutlich noch nicht einmal für die meisten. Sie gab es nur nach wie vor nicht gerne zu. "Kommt drauf an, was ein Barbar für einen ist", murmelte sie auf Germanisch. Dann sah sie wieder hoch. "Ich komme von Germanien", antwortete sie, während sie Cassim ansah, versuchte seine Reaktion einzuschätzen, und überlegte. Schließlich siegte ihre Neugier. "Parthien ist da, im Osten, da wo Sonne anfängt im Morgen, ja? Wie ist es?"

    Weil du dann mehr wert bist. Die Worte wollten Siv einfach nicht aus dem Kopf. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt, als sie daran dachte, was das bedeutete, wenn diese Vermutung denn tatsächlich stimmte. Neue Menschen. Neues Umfeld. Neuer Herr… Sie biss die Zähne zusammen. Wenn sie verkauft wurde, konnte alles passieren – sie wusste ja nicht, an wen sie geraten würde, und sie konnte es auch nicht beeinflussen. Der Schmerz, als sie sich stieß und gleichzeitig auf die Zunge biss, lenkte nicht ab, sondern brachte sie seltsamerweise nur noch mehr dazu anzunehmen, dass sie richtig lag. Was sollte Corvinus denn sonst wollen, was sollte er sonst damit bezwecken, sie zu diesem Unterricht zu schicken? Er selbst wollte sie nicht in seiner Umgebung haben, hatte also nichts davon, wenn ihr Latein besser wurde oder sie gar schreiben und lesen lernte – und dass er ihr einen Gefallen tun wollte, kam schon gleich gar nicht in Frage. Und sie bekam auch sonst keine Aufgaben, die sie zwar von ihm fernhielten, bei denen ihr aber dieser Unterricht nützlich sein könnte. Für das, was sie momentan zu tun hatte, reichte ihr augenblicklicher Wissensstand völlig. Wozu also sonst…


    Mit halbem Ohr lauschte sie der kurzen Unterhaltung von Bridhe und dem Sklaven neben ihr, der eines Lateins mächtig war, das sie sich fragen ließ, warum er hier war. Er drückte sich so gewählt aus wie die Römer, denen sie zu dienen hatten. Während Bridhe ihn abfertigte und sich dann wieder ihr zuwandte, musterte sie ihn kurz, ihre Neugier geweckt, dann streifte ihr Blick zu einem weiteren Neuankömmling, ein Mann, so dunkel wie Leone es war – bevor sie, nun wieder Bridhe zugewandt, leicht den Kopf schüttelte. "Nein. Nicht wirklich – nur, nur… Arm gestoßt. Gestoßen. Mehr nicht." Bridhe begann eine Unterhaltung mit Fhionn in einer Sprache, die Siv von der Sprachmelodie her inzwischen gut genug kannte um zu wissen, dass es das Keltisch der Inseln war, die es weit im Westen wohl gab – und sie spürte einen leisen Stich, als sie erneut an Cadhla denken musste, die dieselbe Sprache gesprochen hatte. Dann wandte sie sich an den Sklaven, der sich als Cassim vorgestellt hatte – zum einen wollte sie sich ablenken, von dem Gedanken an Cadhla, an einen möglichen Verkauf, an Corvinus. Zum anderen war sie neugierig geworden. "Cassim." Sie sprach den fremdartigen Namen langsam aus, mit dem ihr eigenen, nordischen Akzent, ließ ihn über die Zunge gleiten, fast so als ob sie ihn schmecken wollte. "Woher du bist? Und wieso du bist hier, für, bei Unterricht? Du, Latein, von dir, das ist gut." Zu gut, um hier zu sitzen, fügte sie lautlos hinzu, aber es hing in der Luft, als hätte sie es ausgesprochen, während sie ihn aufmerksam musterte.

    Corvinus machte so weitausgreifende Schritte, dass Siv beinahe zu laufen anfangen musste, um noch mit ihm mitzukommen. Er reagierte nicht weiter auf ihre Worte, nur das Gesicht verzog er, auf eine Weise, die Siv beinahe Angst machte, so grimmig wirkte er nun. Ihre Stimme erstarb, und den Rest des Wegs führte sie ihn schweigend durch die Gänge. Aus dem Augenwinkel warf sie ihm hin und wieder einen Blick zu, verstohlen, unauffällig. Sie sehnte sich danach, von ihm berührt, in den Arm genommen zu werden. Der Schock saß ihr tief in den Gliedern, zu tief, als dass sie ihn einfach hätte verdrängen können. Die Szene begann sich wieder abzuspielen, in ihrem Kopf, so lebhaft, dass sie sich mit der Hand über die Augen fuhr, als könnte sie die Bilder auf die Art wegwischen. Und neben sich fühlte sie Corvinus, seine Nähe, seine Bewegungen, seinen Geruch. Zum ersten Mal seit sie nach Germanien aufgebrochen war, war sie so lange in seiner Gegenwart – und es verstörte sie nur noch mehr, als sie ohnehin schon war. Sie war nervös, sie sehnte sich nach ihm, sie fühlte sich zurückgewiesen und unerwünscht, und das alles gleichzeitig.


    Sie brauchten nicht lange, um bis zu dem Ort zu kommen, an dem Matho lag – aber kurz bevor sie den Bereich betreten konnten, tauchte aus den Schatten jemand auf, und Siv unterdrückte einen Aufschrei, als sie ihm ersten Moment glaubte, Matho stünde vor ihnen. Das konnte doch nicht sein, sie hatte doch gesehen… Entsetzt blieb sie stehen, bis sie begriff, dass die Gestalt Matho nicht im Geringsten ähnelte. Aurelius Orestes – ein neuer Bewohner des Hauses, der angekommen war in der Zeit, als sie in Germanien gewesen war. Sie hatte noch nicht wirklich viel mit ihm zu tun gehabt, aber das hatte nicht viel zu sagen, hatte sie doch kaum mit den Aureliern Kontakt, seit sie wieder hier war und nur die niedrigsten Arbeiten verrichten durfte. Zufällig lief sie dem einen oder anderen über den Weg, wenn sie in der Villa herumlief, oder begegnete jemanden bei der Gartenarbeit. Ohne etwas zu sagen, lauschte die Germanin den beiden, hörte, wie Orestes von Mathos Tod berichtete, von dem Mord, von Fhionn… Sivs Augen suchten nach der Keltin, als Orestes auf sie wies, aber sie bewegte sich nicht, hätte sie sich dafür doch an den beiden Römern vorbei drängen müssen. Stattdessen wurde das Zittern wieder stärker, beinahe unkontrollierbar. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper, als es sie trotz der lauen Nachtluft zu frösteln begann, und versuchte angestrengt und fast schon verzweifelt, die Beherrschung zu behalten.

    Nebelschwaden hüllen sie ein. Umschmeicheln sie. Machen sie schließlich schwerelos. Sehnsucht tut das ihre dazu, eine Sehnsucht, so tief, dass sie nicht auszuloten ist. Törichtes Mädchen. Sehnsucht… Dummes, törichtes Mädchen. Sehnsucht füllt sie aus, ihr ganzes Sein. Ja. Dumm war sie, dumm und töricht. Wie hatte sie sich verlieben können, auf diese Art, in diesen Mann? Wie hatte sie es soweit kommen lassen können… weil sie dumm war. Töricht. Sehnsucht. Tief wie die dunklen Wälder ihrer Heimat. Gewaltig wie das geheimnisvolle Meer, das ihr hier so viel näher ist. Endlos wie der weite Himmel, der überall der gleiche ist und doch überall anders. Sie verliert sich in ihr, in dieser Sehnsucht. Nie hatte sie solche Gefühle gekannt, nie hatte sie dieses Sehnen empfunden, dieses Sehnen nach Nähe, nach der Nähe eines bestimmten Menschen. Seiner Nähe. Sehnsucht, gewoben aus silbrigweißer Unendlichkeit. Sie umgibt sie, weich, nachgiebig, und gleichzeitig unzerstörbarer als Stein. Zarte Finger fremdartiger Geschöpfe, nicht zu sehen in der Sehnsucht, die sie gefangen hält, berühren ihre Haut, hinterlassen feuchte Spuren darauf. Hinterließ der Nebel seine Spuren auf ihr, oder waren es doch Tränen, die ihr die Wange hinunter rannen, ohne dass sie es merkte? Ewigkeit kann auch Sekunden währen. Dieser Moment ist Ewigkeit. Sie schwebt. Gleitet durch Gebilde, zu zart, um sie berühren zu können, würden sie doch selbst beim geringsten Hauch in ihre Richtung zerspringen. Filigrane Wesen, und überall glitzernde Punkte, schimmernd, leuchtend, strahlen auf und verglühen dann wieder, getrennt voneinander und doch vereint in einem unbekannten Tanz. Ewigkeit. Sehnsucht ist Ewigkeit. Das Sehnen in ihr war so stark, dass es weh tat. Verstärkt noch durch das Wissen, dass es vergebens war. Unbeantwortet bleiben würde. Die Welt ist so faszinierend. So fremd, so anders, so… schön. Sehnsucht wirft ihren eigenen Schatten und verwandelt, was sie berührt, aber wenn er verschmilzt mit den Schatten der Nacht und der Träume, entsteht neues. Und neues zeigt sich ihren Augen, suchend nach nur Einem, aber offen für so vieles. Sehnsucht – treibende Kraft hinter allem Wandel. Hauchfeine Knospen treibt der süße Schmerz tief in der Brust, die bald schon erblühen, in zartesten Farben, wie nur sie sie hervorbringen kann – sie, die Sehnsucht. Schmerz ist fruchtbarer Nährboden für seltene Samen, und seltene Gewächse zeigen sich ihr, sichtbar für die Augen nur, weil offen das Herz. Offen war ihr Herz, so offen – und so verwundbar. Sie wollte nicht verwundbar sein, wollte nicht verletzt werden, aber verschließen konnte sie ihr Herz auch nicht, nicht mehr. Den Punkt, an dem sie es noch gekonnt hätte, hatte sie hinter sich gelassen, als sie sich eingestanden hatte, dass sie ihn liebte. Bittersüße Sehnsucht ließ nun nicht mehr zu, dass sie es schloss. Und wenn sie ehrlich war, wollte sie es auch gar nicht. Bittersüße Sehnsucht… Törichtes Mädchen. Dummes, törichtes Mädchen.

    Anfangs drängte es ihm in der Brust, wenn das Gestein so wegsprang, der graue Wald sich unter ihm schüttelte und der Nebel die Formen bald verschlang bald die gewaltigen Glieder halb enthüllte; die Welt scheint ihr nicht real zu sein. Taufunkelnde Perlen hängen an silbrigleuchtenden Gebilden, Blätter des Tags, fremdartig anmutende Gewächse des Nachts, deren Beschaffenheit es ihnen zu ermöglichen scheint, den Mondschein nicht nur zurückzuwerfen, sondern einen eigenen, eigentümlichen Glanz auszubreiten. Und überall die Tropfen, wie kleine blitzende Edelsteine verzieren sie, wo sie sich ihren Platz gesucht haben. Eine Hand hebt sich, zitternd; feingliedrige Finger bewegen sich so vorsichtig vorwärts, als ob die Luft ein spürbares Gewebe wäre, an dem man sich vorwärts tasten könnte; verharren schließlich regungslos. Siv musterte ihre Hand, als ob sie etwas Fremdes wäre, nicht zu ihr, ihrem Körper gehörig. Im schimmernden Mondlicht, das immer wieder gebrochen wurde von nach wie vor stumm dahinjagenden Wolken, wirkten auch ihre Finger so, als seien sie etwas anderes. Müde davon, ein Teil von ihr zu sein, hatten sie sich gelöst von ihr, um sich zu wandeln, Teil der Welt zu werden, die sie gerade umgab, so anders, dabei aber auf so fremdartige Weise schön, dass Siv sich schmerzlich danach sehnte, es den Blättern und ihren Fingern gleichtun zu können und ein Teil davon zu werden. Die Welt, aus der sie kam, die sie für wenige kostbare Stunden hinter sich gelassen hatte, hielt derzeit kaum etwas für sie bereit; es drängte in ihm, er suchte nach etwas, wie nach verlornen Träumen, aber er fand nichts. Es war ihm alles so klein, so nahe, so naß; er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen. Ihre Welt schien klein und grau und trist. So ganz anders als diese… Einem Windhauch gleich bewegen sich die Finger wieder, wie auf eigenen Wunsch. Gleiten sacht über Gebilde, seltsame Blüten, die diese Welt treibt, ohne sie zu berühren. Spiegelungen brechen sich tausendfach in Diademen, so winzig, dass sie mit bloßem Auge nicht als solche zu erkennen sind. Nur leichtes Prickeln auf der Oberfläche ist da, ein Beben, dass das Schimmern noch verstärkt.


    Sie Er begriff nicht, daß er so viel Zeit brauchte, um einen Abhang hinunterzuklimmen, einen fernen Punkt zu erreichen; er meinte, er müsse alles mit ein paar Schritten ausmessen können. begriff nicht, wie ihr Leben, ihre Welt, sie selbst sich so hatte verändern können. Wo war das Mädchen von früher? Sie wusste es nicht. Es war verschwunden, hatte sich aus dem Staub gemacht, klammheimlich, irgendwann in den letzten Monaten – oder waren es schon Jahre? Wann hatte sie begonnen, sich zu verändern? Auch das wusste sie nicht. Sie wusste nur, dass sie allein war, sogar von sich selbst verlassen, hängend im luftleeren Raum zwischen Vergangenheit und Zukunft, den Menschen verloren, der sie gewesen war, den Menschen noch nicht gefunden, der sie werden würde. Nur manchmal, wenn der Sturm das Gewölk in die Täler warf und es den Wald herauf dampfte, und die Stimmen an den Felsen wach wurden, bald wie fern verhallende Donner und dann gewaltig heranbrausten, in Tönen, als wollten sie in ihrem wilden Jubel die Erde besinnen, und die Wolken wie wilde, wiehernde Rosse heransprengten, und der Sonnenschein dazwischen durchging und kam und sein blitzendes Schwert an den Schneeflächen zog, so daß ein helles, blendendes Licht über die Gipfel in die Täler schnitt; oder wenn der Sturm das Gewölk abwärts trieb und einen lichtblauen See hineinriß und dann der Wind verhallte und tief unten aus den Schluchten, aus den Wipfeln der Tannen wie ein Wiegenlied und Glockengeläute heraufsummte, und am tiefen Blau ein leises Rot hinaufklomm und kleine Wölkchen auf silbernen Flügeln durchzogen, und alle Berggipfel, scharf und fest, weit über das Land hin glänzten und blitzten riß es ihm in der Brust, er stand, keuchend, den Leib vorwärts gebogen, Augen und Mund weit offen, er meinte, er müsse den Sturm in sich ziehen, alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag über der Erde, er wühlte sich in das All hinein, es war eine Lust, die ihm wehe tat; oder er stand still und legte das Haupt ins Moos und schloß die Augen halb, und dann zog es weit von ihm, die Erde wich unter ihm, sie wurde klein wie ein wandelnder Stern und tauchte sich in einen brausenden Strom, der seine klare Flut unter ihm zog.

    Noch bevor Fhionn antworten konnte auf ihre Frage, kam Merit-Amun ebenfalls in den Raum, und Siv nickte ihr zu. Die zierliche Ägypterin war eine der wenigen, mit denen sie wenigstens zeitweise gern zusammen war, auch wenn Siv sich als recht schweigsame Gesprächspartnerin erwies – was Merit allerdings ebenso stillschweigend akzeptierte. Vielleicht – nein, wahrscheinlich – lag es daran, dass sie Merits Gesellschaft ertrug. Weil die Ägypterin nichts erwartete, keine Erklärungen, keine Entschuldigungen, kein Jammern, noch nicht einmal ein einfaches Gespräch, wenn Siv nicht danach war. Und es gab nur wenige in der Villa Aurelia, die das einfach hinnahmen und trotzdem bei ihr blieben. Inzwischen ließen die meisten sie in Ruhe, wenn sie merkten, dass sie einfach nicht reden wollte – aber sie ließen sie dann auch allein.


    Siv nickte auch dem anderen Mann noch einmal zu, als dieser das Wort ergriff und ihnen einen Platz anbot. Während sie schon saß und Fhionn und Merit noch standen, beantwortete Bridhe derweil ihre Frage. Die Germanin zwang ein leichtes Lächeln auf ihr Gesicht. "Das bald. Du wirst Glück, das ich dich wünsche, jedenfalls." Danach wandte sich die Keltin neben ihr dem fremden Sklaven zu, und Siv verfiel wieder in Schweigen, während sie nachdenklich mit dem Fuß zu wippen begann. Die Schwingung übertrug sich über ihr Knie auf ihren Arm bis zu ihrem Kopf, so dass ihre Haare ebenfalls leicht zu tanzen begannen. Warum war sie hier? Warum hatte sie mitkommen dürfen? Sie hatte sich gefreut, das war überhaupt keine Frage, und sie hatte auch etwas Genugtuung verspürt, als Matho zähneknirschend ihren Namen ebenfalls bekannt gegeben hatte. Dennoch fragte sie sich, warum Corvinus sie mitgeschickt hatte. Er hatte offensichtlich nicht mehr das geringste Interesse an ihr, ihm lag nichts an ihrer Gesellschaft. Warum sollte er es einer einfachen Haussklavin ermöglichen, sich weiterzubilden?


    Weil du dann mehr wert bist. Siv wurde plötzlich blass. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, und sie hatte das Gefühl, als ob ihr jemand Eiswasser über den Rücken gekippt hätte. Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. War es das? Wollte er sie verkaufen? Hatte er das vor, und versuchte nun noch, ihren Wert zu steigern, damit sie einen höheren Preis erzielen würde und er wenigstens noch etwas herausschlagen konnte? Siv schluckte trocken. Ihr Fuß hatte inzwischen aufgehört zu wippen, und bevor sie es sich versah, rutschte ihr Arm ab und ihr Ellenbogen schlug auf der Tischkante auf, während sie sich gleichzeitig auf die Zunge biss. "Au!" entfuhr es ihr leise, als ein scharfer Schmerz sowohl ihren Arm hinauf- als auch ihre Zunge durchzuckte. Von dem Gedanken, der sich in ihrem Bewusstsein festgebissen hatte wie ein Wolf in seiner Beute, lenkte der Schmerz trotzdem nicht ab.

    Siv musterte den Mann, als er an ihr vorbei ging und neben Bridhe Platz nahm, dann wurde sie auch schon abgelenkt von der anderen Sklavin. Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht, das aber verschwand, als die andere von Cadhla sprach. Siv seufzte lautlos, als sie an die Keltin dachte. Die Momente, in denen sie sich wünschte, sie wäre noch in der Villa in Rom, überwogen diejenigen bei weitem, in welchen sie froh darum war, dass Cadhla nichts mitbekam von dem, was gerade vor sich ging. Was sie getan hatte. Einen kurzen Moment fragte sie sich, was die Keltin wohl von ihr denken würde. Könnte sie es verstehen? Oder würde sie sie verurteilen? Immerhin tat sie alles, um ihre Freiheit wieder zu erlangen, auf aufrichtige Weise. Sie kämpfte dafür… Siv presste die Zähne aufeinander und vertrieb die Gedanken, als der andere Sklave sie ebenfalls begrüßte. Sie nickte ihm noch einmal zu, ebenso wie Fhionn, die gerade den Raum betrat, der sie nach einer winzigen Pause einen zweiten, etwas verwirrten Blick zuwarf. "Wo ist Merit?"


    Anschließend wandte sie sich wieder an Bridhe. "Nein, Cadhla und Caelyin kommt nicht", erklärte sie, während sie sich auf der anderen Seite der Keltin niederließ. "Cadhla ist weg, bei Hispania – sie kämpft, in Arena, für sein frei. Oder lernt da, ich glaub. Und Caelyn ist in Germania." Ein Schatten huschte über Sivs Gesicht, als sie an ihre Heimat dachte – und daran, was passiert war. "Mit Ursus, sie da ist." Die Germanin lehnte sich zurück und zog ein Knie hoch, presste es gegen die Tischkante und stützte einen Ellenbogen darauf ab, um in die nach oben gewandten Handfläche ihr Kinn zu legen. Ihr Blick glitt über den sich rundenden Bauch der anderen Sklavin. Zu Hause hatte sie nicht nur Verletzte und Kranke zu versorgen gehabt, sondern auch Schwangeren geholfen. Zu Hause… Was war denn noch zu Hause für sie? Wäre ihr altes Dorf noch ihre Heimat, hätte sie dann nicht die Chance ergriffen, die sich ihr geboten hatte? Wieder musste sie sich zwingen, nicht in Grübeleien zu versinken, die doch zu nichts führten. "Du gehst gut? Alles in Orden, bei dir? Oder hast du irgendwelche Schwierigkeiten? Wann das Kind ist da, du weißt das, ungefähr?" Die Angewohnheit, germanische Wörter und Sätze einzuflechten, wenn sie auf Latein nicht ausdrücken konnte, was sie sagen wollte, hatte Siv nie ganz aufgegeben – was vielleicht daran liegen mochte, dass sie sich zwar inzwischen auf Latein einigermaßen gut verständigen konnte, weil sie einiges gelernt hatte in den letzten Monaten, ihr Können aber dennoch beschränkt war.

    Von den aurelischen Sklaven war Siv die erste, die zu dem Unterrichtsraum kam. Natürlich war es nicht so, dass sie alleine hätte gehen dürfen – aber im Haus der Flavier, das sie noch von den Saturnalien kannte, hatte sie sich abgesetzt und war zu dem Raum gegangen, den man ihnen gewiesen hatte. Sie legte immer noch nicht allzu viel Wert auf die Gesellschaft der anderen, ertrug sie schlicht und einfach immer noch nicht. Genauso wenig hatte sich sonst irgend etwas verändert. Sie erledigte ihre Arbeit, aber im Großen und Ganzen war sie in sich gekehrt. Nur selten blitzte etwas von ihrem Widerspruchsgeist auf, und auch die Lebensfreude, die sie oft versprüht hatte, schien ihr für den Moment verloren gegangen zu sein. Inzwischen war sie an dem Punkt angelangt, an dem sie sich fragte, warum sie die Gelegenheit nicht einfach genutzt hatte – sie hatte sie gehabt. Sie hatte es niemandem erzählt, aber Tatsache war: sie hätte entkommen können. Dieser eine Moment… Es war müßig, darüber zu grübeln, und das wusste Siv auch – und eigentlich war sie kein Mensch, der sich über ein Wenn viele Gedanken machte. Geschehen war geschehen, und sie konnte es nicht mehr ändern. Dennoch konnte sie nicht verhindern, dass sich Gedanken dieser Art einschlichen. Dass von Zeit zu Zeit die Frage auftauchte, was bei Hel sie getrieben hatte. Wenn ihr diese Fragen allerdings in den Sinn kamen, schob sie sie weg, so weit wie möglich. Sie kannte die Antwort. Sie wollte sie nur nicht wahr haben, nicht mehr, nicht so wie die Dinge standen. Sie wollte sich nicht eingestehen, dass sie die Chance, wieder frei zu sein, bewusst oder unbewusst aufgegeben hatte für etwas, was sich im Nachhinein als Wunschdenken herausgestellt hatte. Und so versuchte sie in solchen Momenten stets, sämtliche Gedanken daran zu vertreiben, und ging lieber dazu über, sich selbst harsch zu beurteilen. Sie beschimpfte sich selbst als Träumerin, die einem idiotischen Hirngespinst nachgehangen war.


    Still, ihr Gesicht und ihre Figur immer noch deutlich schmaler als sonst, da es ihr nach wie vor nicht nur an Gesellschaftsfähigkeit, sondern auch an Appetit mangelte, und mit einem neutralen Ausdruck auf den Zügen näherte Siv sich dem Raum. Lediglich ihre Augen hatten einen seltsam undeutbaren Glanz, der als einziger verraten könnte, dass ihr Inneres momentan bei weitem nicht so ruhig und gefestigt war, wie sie sich gerne den Anschein gab. Sie stockte kurz, als sie in der Tür einen Mann entdeckte, der abwartend dort stand und in den Raum sah, dann trat sie neben ihn. Im Zimmer konnte sie Bridhe entdecken und noch zwei Männer, Sklaven offenbar. "Hallo", grüßte sie, etwas unbestimmt, in die Runde. Sie freute sich eigentlich, hier zu sein – nicht nur, dass ihr tatsächlich erlaubt worden war, zu kommen, was schließlich bedeutete, dass sie zum ersten Mal seit Wochen wieder das Haus verlassen durfte. Ihre Neugier, ihr Wissenshunger waren immer noch da. Zusammen mit der Arbeit im Garten war Neues zu erfahren und zu lernen das einzige, woran sie sich zur Zeit wirklich erfreuen konnte, und sie war gespannt, was dieser Unterricht bringen würde. Allerdings war da gleichzeitig dieses Unwohlsein, wann immer sie mit anderen zusammen war, das Gefühl, die Gesellschaft auf Dauer nicht ertragen zu können, lieber allein zu sein – das, wie sie in diesem Moment feststellte, unabhängig war von der Tatsache, ob die Betreffenden Bescheid wussten oder nicht. Wobei sie gar nicht sagen konnte, ob das auf die hier Anwesenden zutraf. Die Gerüchteküche funktionierte hervorragend, auch unter der Sklavenschaft. Bei dem Gedanken, das Thema ihres Fluchtversuchs könnte sie auch hier verfolgen, ließ sie sich noch unwohler fühlen und führte dazu, dass sie die Arme – in einer mehr aus dem Bedürfnis nach Selbstschutz denn Abwehr entstandenen Geste – vor der Brust verschränkte.

    Siv sah Corvinus an, aber irgendwie sah sie ihn auch wieder nicht – sie konzentrierte sich auf seinen Blick, auf seine Augen, aber alles, was ihr in irgendeiner Form ihre Hoffnung nehmen könnte, dass er wüsste was zu tun war, schob ihr Unterbewusstsein weg und ignorierte es. Sie registrierte sein tiefes Stirnrunzeln genauso wie den auf einmal grimmigen Gesichtsausdruck, als sie zu reden begann – aber den Schock, der sich auf seinen Zügen abzeichnete, als er zu begreifen begann, nahm sie nicht wahr. Sie stand selbst noch viel zu sehr unter dem Bann dessen, was geschehen war, was sie gesehen hatte. Sie hatte ja selbst noch kaum realisiert, was sich ereignet hatte, wie hätte sie ihm da helfen können, es schneller zu begreifen? Plötzlich sehnte sie sich danach, dass er sie in den Arm nahm und einfach nur hielt, aber sie schüttelte den Gedanken ab, kam er ihr doch – nach dem, was die letzten Wochen gewesen war – utopisch vor.


    "Matho ist tot", bestätigte Siv auf seine Frage hin, nun immer stärker zitternd, als sie immer mehr zu realisieren begann, was passiert war. Sie begriff gar nicht, dass Corvinus zuerst dachte, sie hätte den Maiordomus getötet. Sie fuhr sich erneut über das Gesicht, diesmal mit beiden Händen, und hinterließ dabei blutige Spuren. Auf seine weiteren Worte nickte sie nur, und jetzt, wo die eigentliche Bedeutung des Mordes immer mehr auf sie eindrang, wo die Realität sie immer mehr einholte und die schützende Wirkung des Schocks nachzulassen begann, begann sie auch zu sehen, wie entgeistert Corvinus war. Und das brachte sie noch mehr aus der Fassung. Sich noch hilfloser fühlend als kurz zuvor beobachtete sie, wie Corvinus aufstand und um den Tisch herum kam. "Ich…" Siv holte tief Luft und bemühte sich, die Kontrolle über sich zu behalten. Und ein Teil von ihr gewann tatsächlich die Beherrschung zurück, genug, um sich innerlich selbst als schwach zu beschimpfen. Immerhin hatte sie nicht nur einen Überfall der Römer durchlebt, hatte schon mehr als einen Menschen sterben sehen – aber das war doch immer etwas anderes gewesen. Kämpfe, sogar Überfälle durch Römer hatten zu ihrem Leben irgendwie dazu gehört, und Krankheiten sowieso. Aber jemanden zu ermorden… Fhionn war nicht zufällig auf Matho getroffen, das war deutlich gewesen. Sie hatten keinen Streit gehabt, Matho hatte sie nicht bedroht, und Fhionn hatte sich nicht zur Wehr gesetzt, mit einem kleinen Messer, dass sie oft bei sich trug, so wie sie selbst auch. Der Maiordomus hatte nicht einmal Gelegenheit gehabt, etwas zu sagen. Nein, die Keltin hatte auf Matho gewartet – oder ihn gesucht. Und hatte das Ziel gehabt, seinem Leben ein Ende zu setzen. Und Siv wusste nicht, was sie davon halten sollte. Alle möglichen Empfindungen wühlten sie im Moment auf, aber es war keine Trauer, nicht einmal Bedauern für Matho dabei – im Gegenteil, tief unter der Schicht aus Entsetzen war so etwas wie Genugtuung da, und Erleichterung. Dennoch, trotz allem, was Matho getan hatte, trotz dem, wie sehr ausgerechnet sie während der Reise unter ihm hatte leiden müssen, weil ihr Fluchtversuch ihm den perfekten Grund geliefert hatte… wäre Mord für sie nie in Frage gekommen.


    Erst nach einem Moment realisierte sie, dass Corvinus inzwischen neben ihr stand und sie auffordernd ansah. "Matho. Wo. Richtig", murmelte sie, mehr zu sich selbst als zu ihm. Dass sie beide, zumindest für den Moment, sämtliche Distanz vergessen zu haben schienen, fiel ihr kaum auf. Stattdessen gestikulierte sie in die Richtung, aus der sie gekommen war, und setzte sich in Bewegung. "Matho nah ist bei Porta. Fhionn, sie wo ist, ich weiß nicht. Sie… sie ist gegeht, weg. Ich… da gebin, ich… gesehen habe, was… was ist. War. Aber…" Ihre Stimme stockte und klang für einen Augenblick fast gequält. "Es, es sein so schnell, und ich steh da und… und, da nichts denken, nur… nur Entsetzen, und gepassiert. Matho liegt da. Und Fhionn geht weg. Und ich…" Sie zuckte hilflos die Achseln, während sie ihm den Weg wies zu Mathos Leiche.

    Siv hastete durch die Gänge, ging den Weg zu Corvinus’ Gemach, den sie in letzter Zeit nur selten beschritten hatte. Ihr Kopf war wie leer gefegt, bis auf dieses Bild – Matho, der in einer immer größer werdenden Blutlache lag, die Augen weit aufgerissen, leblos und doch scheinbar erfüllt von unheimlichem Leben, hervorgerufen durch die schimmernden, tanzenden Reflexe, die die Flammen darin zeichneten. Siv riss die Tür auf, ohne zu klopfen, und blieb dann wie erstarrt im Rahmen stehen. Auf dem Weg hierher hatte sie nur das Bedürfnis gehabt, zu ihm zu gehen. Jetzt wo sie hier war, fragte sich ihr Unterbewusstsein für einen Moment, was sie hier überhaupt wollte, bei ihm, der ihr seit ihrer Rückkehr aus dem Weg ging und nichts mehr von ihr wissen wollte – dem sie offenbar so egal geworden war, dass er es noch nicht einmal für nötig hielt, sie in irgendeiner Form zu bestrafen für ihren Fluchtversuch, außer dass sie unter den Sklaven des Haushalts zu den geringsten gehörte und dementsprechende Arbeiten verrichten musste. Ebenso registrierte sie, unbewusst, wie furchtbar neutral sein Gesichtsausdruck war. Bewusst wurde ihr kaum etwas davon.


    Einen Moment stand sie nur da, dann hob sie hilflos blutbefleckte Finger. "Matho", murmelte sie. Dem leise ausgesprochenen Wort folgte ein tiefer, zitternder Atemzug, der deutlicher hörbar war als der Name. Immer noch zitternd stieß sie die Luft heftig wieder aus, während sich ihre rechte Hand hob und auf die Stirn legte, einen Augenblick verharrte, dann einige Strähnen zurückstrich, bevor sie wieder sank. Langsam fand Siv ihre Fassung wieder, und jetzt wurde ihr zum ersten Mal die Situation wirklich bewusst – nicht Mathos Tod oder wie er gestorben war, sondern diese. Wie oft hatte sie sich vorgestellt, zu Corvinus zu gehen – oder eher zu stürmen – und ihn zur Rede zu stellen? Ihn zu zwingen, ihr zuzuhören, ihm einfach zu sagen, was sie ihm sagen wollte, egal ob er es hören wollte? Dann konnte er ihr immer noch sagen, dass es ihm egal war… Aber immerhin konnte sie sich dann sagen, dass sie tatsächlich alles versucht, alles getan hatte. Immerhin würde er dann Bescheid wissen. Würde wissen, was wirklich gewesen war. Würde wissen, dass sie ihn nicht verletzen wollte, um nichts in der Welt. Auch wenn er nicht den Eindruck machte, verletzt zu sein – oder Wert auf diese Information zu legen. Aber ihr war es wichtig, dass er es wusste, das war ihr schon in Germanien klar gewesen – nur bisher hatte sie sich nicht getraut, zu ihm zu gehen. Hatte Angst vor der Reaktion. Fürchtete sich davor, dass er ihr tatsächlich sagte, dass es ihm egal war. Dass sie ihm egal war.


    Dieser Moment dauerte nur einen Bruchteil eines Augenblicks, die Gedanken rasten innerhalb kürzester Zeit durch ihren Kopf – dann drängte sich Matho wieder in den Vordergrund, und der Schrecken nahm erneut überhand. "Matho", wiederholte sie, ihre Stimme diesmal etwas lauter, aber um keinen Deut fester. Sie zitterte eher noch mehr als zuvor. "Matho ist tot. Er… Fhionn…" Hilflos gestikulierte sie zur Tür hinaus. "Ich… ich nicht gewisst was tun… Und ich, denke du… wisst…" Sie brach ab und sah ihn an, ihr Blick, ohne es zu merken, ausdrückend was sie empfand – Bitte und Vertrauen zugleich. Dass ihn der Schock nicht lähmen würde, so wie sie im Augenblick. Dass er die Nerven behalten würde. Dass er wissen würde, was zu tun war. "Sie, sie… hat Messer, und er…"

    Die letzten zwei Wochen waren Siv wie eine Ewigkeit erschienen. Für keinen war es eine Überraschung gewesen, als Matho, kaum dass sie Mogontiacum verlassen hatten, die kleine Gruppe anhalten ließ und Siv befahl, sich in den Karren zu setzen, eingequetscht zwischen der hölzernen Wand auf der einen und Kisten und Säcken auf der anderen Seite. Der Platz, der für sie bemessen war, war minimal, kaum groß genug für sie. Überraschend waren nur zwei Dinge: dass der Maiordomus sie wenigstens in der Stadt noch hatte reiten lassen – und die Fesseln, die er für sie vorbereitet hatte. Sivs Brauen hatten sich verständnislos gerunzelt, als sie den Ring gesehen hatte, der in der Karrenwand eingeschlagen war, und waren groß geworden in ungläubigem Erschrecken, als Matho aus einem Sack die Kette hervorgezogen hatte. Sie hatte sich zur Wehr gesetzt, hatte ihn angefaucht, aber letztlich hatte sie den Kürzeren gezogen, und so war sie angekettet worden, während Idolum dazu verdonnert wurde, angebunden hinter dem Wagen herzutrotten. Wann immer sie befreit wurde und aufstehen konnte, waren ihre Glieder und Muskeln so steif, dass ihr ganzer Körper schmerzte, kaum dass sie sich bewegte. Aber befreit wurde sie ohnehin nur, wenn es unangenehme Arbeiten zu verrichten gab – so war sie, seit Beginn der Reise, diejenige, die die Latrinengrube abends ausheben und morgens wieder verscharren musste, genauso wie sie diejenige war, die, oft in eiskaltem Flusswasser, waschen musste, oder dafür zuständig war, frisch erlegtes Wild auszunehmen – was für sie an sich nicht wirklich unangenehm war, hatte sie das doch früher auch immer selbst erledigt, was aber vor allem bei größeren Tieren eine schwierige und langwierige Aufgabe war und mit nicht wirklich angenehmen Gerüchen einherging.


    Wie jeden Abend wurden auch diesen ihre Fesseln gelöst, und Siv machte sich an die inzwischen gewohnte Arbeit – sie hatte schon längst aufgegeben, zu murren oder auch sich auch nur innerlich aufzuregen. Dass Matho sie nicht für fluchtgefährdet hielt, sondern sie lediglich schikanieren wollte, zeigte sich daran, dass er sie frei ließ, um eben jene Arbeiten zu verrichten. Aber sie sagte nichts. Sie hatte schon kurz nach Beginn der Reise beschlossen, dass sie einfach die Zähne zusammenbeißen. Sie hoffte auf eine baldige Ankunft in Rom, und zugleich bangte sie davor, wechselten sich doch in ihrer Vorstellung die verschiedensten Szenerien ihrer Ankunft ab. Manchmal hatte sie den Eindruck, dass Matho sie beobachtete, mit einem verschlagenen Grinsen auf dem Gesicht, fast so als wisse er von etwas, wovon sie keine Ahnung hatte – sie redete sich ein, dass es Unsinn war, aber wenn er auf diese Art zu ihr sah, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Während sie die Grube aushob, begann ihr Magen, der bereits seit einiger Zeit vor sich hin grummelte, so laut zu knurren, dass sie es hören könnte. Hunger war in den letzten Wochen zu einem ständigen Begleiter geworden. Matho achtete streng darauf, was und wie viel sie bekam, und im Gegensatz zu der Woche im Keller gab es auf der Reise nur wenig Möglichkeiten für die anderen, ihr gefahrlos Essen zu bringen. Die anderen schliefen alle gemeinsam in dem Zelt, während sie, selbstverständlich angekettet, in dem offenen Karren schlafen musste. Mit einem Seufzen beendete sie ihre Arbeit und verzog kurz das Gesicht, als sie an den nächsten Morgen denken musste, der immer den unangenehmeren Teil nach sich zog, dann ging sie das kurze Stück zurück zum Wagen, wo Matho gerade begann zu schimpfen. Sie rammte den Spaten dicht vor dem Maiordomus in den Boden und maß ihn mit einem verächtlichen Blick. Es hatte keinen Sinn, wenn sie aufbegehrte, was sie selbst betraf – aber in so einem Fall war sie ganz die Alte. Schlimmer konnte es für sie ohnehin nicht mehr werden. "Wie sein, wenn du machst eigen, das zeltbauen?" fauchte sie.

    Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg.
    Lenz - Georg Büchner



    Sie ging nach draußen, streifte umher. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Traumwandelte sie? Sie wusste es nicht, wusste nicht, ob sie wachte oder schlief. Sie fühlt sich wie in einem Traum, betroffen und seltsam distanziert zugleich. Wandelt auf vertrauten Pfaden und scheint sich selbst dabei zu beobachten, wie sie neue Wege betritt. Ferne Gefilde heißen sie willkommen – gefühlte Wirklichkeit, in ihrer Vorstellung. Geschlossenen Auges war sie weit von hier. Hatte die Fesseln abgestreift, die sie banden. Und war doch nicht frei. War gefangen, gebunden durch Fesseln, die sie sich selbst angelegt hatte. Ein weiterer Schritt. Lider flattern, öffnen sich. Silberglitzernde Sterne blühen auf, vor ihren Augen, verschwinden wieder und wachsen erneut, versetzt um ein paar Fingerbreit. Mondlicht bricht sich in Myriaden kleiner Tropfen. Noch nicht lange war es her, da schienen alle Schleusen des Himmels offen gestanden zu haben, eine wahre Sintflut, die sogar sie im Haus gehalten hätte, hätte sie nicht ohnehin drin bleiben müssen. Teilnahmslos hatte sie dem Rauschen gelauscht, teilnahmslos hatte sie ihre Arbeit verrichtet – ein Tag wie andere, Teil eines Konstrukts, einer endlos anmutenden Aneinanderreihung, seit sie wieder hier war.


    Sie hatte aufgehört zu zählen. Welche Rolle spielte Zeit, wenn sie immer gleich verging?


    Sie hatte aufgehört sich zu wehren. Welchen Sinn hatte Hoffnung, wenn sie verloren war?


    Etwas regt sich in ihr. Verschüttet, vergraben, verdrängt, aber noch da. Alter Widerspruchsgeist rührt sich, wie ein Bär, der beginnt aus seinem Winterschlaf zu erwachen, wirbelt Staub auf. Sie hatte ihre Arbeit verrichtet, an diesem Tag, wie an dem Tag davor und an dem vor jenem. Klagen, die man immer schon selten von ihr gehört hatte, gehörten jetzt ganz der Vergangenheit an – Widerspruch, der früher oft gekommen war, war zur Seltenheit geworden. Was ihr Freude machte, war ihr entweder verboten oder auf andere Art genommen worden – einzig der Garten war ihr geblieben, tagsüber nur begrenzt und unter strenger Aufsicht, nachts, wenn sie es schaffte sich hinauszuschleichen, gänzlich, für die Dauer der Dunkelheit. Und mit ihm die ganze Welt, so schien es ihr.


    In dieser Nacht waren Blätter und Zweige, Blüten und Grashalme noch schwer vom Regen. Es war naßkalt; das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber alles so dicht - und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump. Nebel schmiegt sich um ihre Gestalt, hüllt sie ein. So real. Nicht plump – einer Liebkosung gleich gleiten vereinzelte Schwaden über ihren Körper. Sie schwebt, atmet kühle Luft ein, streckt die Arme aus und meint den Nebel fast greifen zu können.
    Lider flattern erneut. Kein Nebel. Vages Licht ist es, das sie umschmeichelt, sich zurückzieht, wieder vorwagt. Schwache Strahlen, sichtbar gemacht durch Wolken, die in einer wilden Jagd, aber lautlos über den Himmel toben, getrieben vom Wind, auf einer ziellosen Reise, die ewig währen mag. Doch was ist schon Ewigkeit? Gemessen an der Zeitspanne, die einem zur Verfügung steht. Gemessen an Eintönigkeit, die einen vereinnahmt. Gemessen an der Lebensfreude, die einem vergönnt ist. Flocken, die im hohen Norden in dichtem Reigen durch die Luft tanzen und deren Schwestern’ Weiß alles bedeckt, in einem Land aus Schnee und Eis – Ewigkeit ist unendlich, hier. Fühlbar sogar für jene, deren Lebensdauer begrenzt ist. Ein vereinzelter Schneekristall jedoch, der vom Himmel schwebt, ein Nachzügler, einer der letzten seiner Art im Frühlingstaumel – federleicht lässt er sich nieder, auf einem Ast, übersät mit grünen Spitzen und fast nicht zu erkennen unter weißen Punkten, die bald schon zu prächtigen Blüten erblühen werden. Sonnenstrahlen, für die einen Leben, für die anderen Tod. Ewigkeit kann auch Sekunden währen. Und die Wolken ziehen über den Himmel, wankelmütig und beständig zugleich. Entziehen die Lichter des Himmels dem Blick derjenigen, die hinaufsehen, geben sie wieder frei, verdecken sie, in einem willkürlichen Spiel, ewig gleich und ewig neu.


    Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf-, bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte. Er geht. Sie geht. Wer? Wer ist sie? Sie zerfließt, fühlt sich losgelöst und verbunden zugleich, weiß nicht wer sie ist. Nichts liegt ihr am Weg. Irgendwann blieb sie stehen. Ein alter Baum erhob sich vor ihr, eine Eiche, und sie erkannte den Platz, an dem sie mit ihm gesessen hatte, in einer anderen Zeit, wie es ihr jetzt erschien. Bewegungslos verharrte sie, als ein vager Schmerz durch ihre Brust zuckte. Derselbe Ort, eine andere Zeit, nach der sie sich zurücksehnt. Sie musterte den Baum, und vor ihrem inneren Auge entstanden Bilder. Zwei Menschen, aneinander gelehnt. Ein Seufzen, das aus dem Urgrund ihrer Seele zu kommen schien, hob ihre Brust. Ein Zurück war nicht mehr möglich. Aber ein Vorwärts schien es für sie auch nicht mehr zu geben. Lediglich ein Wandeln im grauen Jetzt, unterbrochen nur von Momenten wie diesen, selten genug, in denen sie mehr träumte als wach war.


    Sim-Off:

    meins :]