Beiträge von Aureliana Siv

    Siv blieb der Mund offen stehen, als sie sein simples ‚Ich weiß’ hörte. Was sie bis jetzt nicht hatte glauben wollen, hatte Corvinus nun unmissverständlich klar gemacht – er wusste, was es für Merit heißen musste zu warten, und genau deswegen handelte er so. Siv holte Luft, setzte dazu an, etwas zu sagen, ließ es dann doch, holte erneut Luft, um etwas loszuwerden, und brach wieder ab, und wiederholte das Ganze noch ein drittes Mal, bevor sie endgültig aufgab. Es gab nichts dazu zu sagen. Sie fand dieses Verhalten unmöglich, aber, und das war ihr auch klar, vor allem deshalb, weil es sie selbst viel mehr getroffen hätte als es bei Merit offenbar der Fall war. Die Situation war nicht gerade dazu angetan, dass die Ägypterin sich wohl fühlte, aber sie schien noch einigermaßen damit klarzukommen. Siv dagegen hätte sich tatsächlich wie ein Hund behandelt gefühlt, wie irgendeine minderwertige Kreatur, und allein der Gedanke daran ließ sie schon wieder beben vor Empörung. Mit jemandem nicht reden, weil man sauer war – das war eine Sache, und das hatte Siv schon oft genug fertig gebracht, obwohl sie in den meisten Fällen lieber mit den Leuten stritt. Aber aus kühler Berechnung heraus jemanden zu ignorieren, weil man wusste, dass man den anderen damit demütigte?


    Sie starrte Corvinus an, diesen Mann, aus dem sie einfach nicht schlau wurde, der so viele verschiedene Seiten zu haben schien und der ihr gerade wieder eine neue an sich gezeigt hatte. Ein Teil von ihr fragte sie leise, wie sie wohl handeln würde an seiner Stelle, und auch wenn sie glaubte, so etwas nicht zu tun, musste sie doch zugeben, dass er auf eine gewisse Art recht hatte – und je nachdem wie Merit war, Erfolg haben würde, mehr als mit einer sofort ausgesprochenen Strafe. Jetzt tat sie einen kleinen Schritt zurück, während Corvinus weitersprach. Sie hat sich aufgeführt wie einer… dementsprechend behandeln… Diese Worte riefen eine unangenehme Erinnerung wach, an das einzige Mal, wo ihr Vater wirklich durchgegriffen hatte, an die Zeit, als ihr er endgültig beschlossen hatte, sie zu verheiraten, auch gegen ihren Willen – und sie sich im Grunde gegen alle gewendet hatte, alle, die sie zur Vernunft hatten bringen wollen, was so gut wie jeder gewesen war. Recht gegeben hatte ihr zumindest keiner. Und sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie mit dem drittjüngsten ihrer Brüder geredet hatte, mit dem sie sich von allen am besten verstand und der damals der einzige gewesen war, den sie an sich herangelassen hatte. Sie konnte heute noch hören, was er damals gesagt hatte, als sie sich über die anderen und allen voran ihren Vater beschwerte: Wenn du dich wie ein bockiges Kind benimmst, brauchst du dich nicht wundern, wenn du wie eins behandelt wirst. Das hatte Siv tatsächlich zu denken gegeben, auch wenn sie zuerst in die Luft gegangen war. Und am Ende hatte sie nachgegeben. Aber die Situation jetzt war doch eine andere, Merit war kein Kind von Corvinus und auch kein Hund, sie war… eine Sklavin. Sein Besitz. Letztlich kam es immer darauf zurück. Siv schloss für einen Moment die Augen, als ihr das klar wurde. "Ich auch weiß, dass Merit gebringt von wen. Trotzdem… Sie wollte nie Sklavin sein, kannst du’s ihr verdenken, dass sie die Chance genutzt hat wieder frei zu sein?"


    Verkaufen wollte er Merit also, zumindest dachte er darüber nach. Und dann sprach er aus, was er vorher nur angedeutet hatte – er war fertig, mit dem Thema, mit ihr. Dass sie noch nicht fertig war, schien ihn dabei kaum zu interessieren, stattdessen informierte er sie nur noch beiläufig darüber, dass sie ihn am nächsten Tag wieder zu begleiten hatte. In jeder anderen Situation hätte Siv wenigstens mit den Augen gerollt, weil sie wieder mit musste, obwohl er ganz genau wusste, wie wenig sie das mochte. Aber jetzt sah sie ihn nur weiter an, wusste nicht, ob sie tatsächlich gehen sollte, oder ob es noch irgendeinen Sinn hatte zu bleiben und weiterzubohren. Sie wollte nicht eine zweite Abfuhr bekommen, eine noch kältere, oder wirklich hinausgeworfen werden. Aber gehen wollte sie auch noch nicht, dafür war sie zu aufgewühlt. "Warum?" fragte sie schließlich, und sie wusste selbst nicht so genau, was sie damit eigentlich meinte – oder eher, wie viel. "Sie nicht ein Kind ist, und nicht ein Hund. Sie Sklavin ist, aber auch Mensch. Sie… Du sie seht wie?" Vielleicht war es dumm von ihr, weiterzureden – sie wollte nicht hören, dass Merit – und damit auch sie – letztlich nur eine Sklavin war, aber sie vermutete, dass sie genau das zu hören bekommen würde. Trotzdem sprach sie weiter, und jetzt klang ihr Warum fast etwas gequält. "Sie Sklavin, ja? Besitz. Nicht mehr. Warum Leben so sein, so ungerecht? Warum… warum gebt so viel, so viel… Abhängig, und Erwartungen, und, und… Nicht schick mich weg. Bitte. Ich… es ist so schwer, und…" und mit den anderen kann ich nicht reden, sie kennen nur eine Seite, die Sklavenseite, natürlich – und außerdem will ich wissen, was du denkst.

    Corvinus ging nicht weiter auf Merits Vergangenheit ein, aber das hatte Siv auch nicht erwartet, sonst hätte sie nicht von selbst aufgehört. Aber auch den Rest, den sie zu sagen hatte, schien ihn nicht sonderlich zu begeistern, und die Tunika ignorierte er komplett, nahm sie lediglich an, um sie gleich darauf fallen zu lassen. Gerade wollte sie sich darüber aufregen – immerhin hatte sie bitte gesagt, was wollte er denn noch? –, aber in genau dem Moment erhob er sich, und sie zuckte kurz zusammen wegen der unerwarteten Bewegung. Jetzt standen sich die beiden ohne allzu großen Abstand gegenüber, und Corvinus musterte sie mit einem fast schon finsteren Gesichtsausdruck – wovon Siv sich aber kaum beeindrucken ließ. Nach dem ersten Zusammenschrecken zuckte sie mit keiner Wimper mehr, sondern erwiderte seinen Blick geradeheraus – das einzige, was es bewirkte war, dass sie sein Körper vor ihr sie zumindest im Moment weniger ablenkte.


    Was er allerdings zu sagen hatte, machte es ihr schwer, wenigstens so lange ruhig zu bleiben, bis er fertig war. Tonfall und Worte unterstrichen seinen Gesichtausdruck noch – und vor allem seine letzte Frage wies eigentlich deutlich darauf hin, dass er das Thema für erledigt hielt und er mit ihr fertig war, seinem Blick nach zu schließen. Und vielleicht wäre es klüger gewesen jetzt zu schweigen, aber Siv war nicht in der Stimmung, auf so etwas zu achten, und wenn sie sich nun eine Strafe einhandelte, sollte ihr das recht sein. Irgendwie musste sie sich jedenfalls Luft machen. Einen Moment hielt sie noch irritiert inne wegen dem, was seine Frage implizierte, und wieder glitt ihr Blick kurz ab, während sie sich gleichzeitig darüber ärgerte. Dann konzentrierte sie sich wieder auf das, was er davor gesagt hatte. "Ich weiß das, ja! Aber da sein, sein gut abhängig sein und schlecht abhängig sein, und ist nicht immer leicht, abhängig sein, wenn mag sein unabhängig! Und nichtsnutzi, nutzige…" Was Nichtsnutz bedeutete, wusste Siv, hatte sie das Wort doch schon einige Male von Matho zu hören bekommen. Nur das Adjektiv bereitete ihr Schwierigkeiten, und so ließ es kurzerhand weg. "Und Nichtsnutz Hund, das sie nicht ist. Und nicht ist nett das sagen, oder denken." Siv bebte vor Empörung, dachte gar nicht darüber danach, dass sie mit ihren Vorurteilen gegenüber Römern bis zum heutigen Tag so etwas von sich gab. Aber indem er Merit warten ließ, ließ er sie spüren, welche Macht er über sie hatte, mehr als er es mit der Verhängung einer Strafe gekonnt hätte. Siv wusste nicht, wie sie das ausdrücken sollte, ihr fehlten die Worte dafür, aber sie war sich auch nicht mehr ganz so sicher, ob es nicht genau das war, was er wollte – Merit spüren zu lassen, wo ihr Platz war. Nur war es wirklich nötig, sie dafür derart zu missachten?


    Siv biss sich auf die Lippen. Die Ägypterin selbst hatte ziemlich deutlich gemacht, dass sie froh war, ihrem Besitzer erst mal nicht zu begegnen. Aber die Germanin konnte sich nicht helfen, sie würde anders reagieren in dieser Situation. Sie würde sich das nicht gefallen lassen, und sie würde nicht lernen, wie Corvinus sagte. "Und du denk, das sein gehen? Dass sie lernen, durch warten lasst? Ich nicht glaube. Ich nicht lerne würden. Ich nicht will ohne Konse… ohne Strafe, oder was. Ich weiß, da ist Regeln, und weiß, dass nötig sein Regel. Aber das Warten… Warten ist mehr schlimm als Strafe haben." Einen Moment lang standen sie sich gegenüber, und Siv funkelte ihn an, hin- und hergerissen zwischen Empörung und ihm, seinem Körper, so dicht vor ihr, dass sie ihn riechen konnte. Sie wusste nicht, was sie wollte, und weil sie selten ein Blatt vor den Mund nahm, sagte sie genau das. "Und ich nicht weiß, weswegen noch gekommen, was noch will."

    Corvinus schien reichlich überrascht zu sein über ihr plötzliches Auftauchen, aber sie fand ihre Fassung schneller wieder als er, und als sie mit ihrem Anliegen herausgeplatzt war, reagierte er zunächst gar nicht. Einen Moment blieb er noch wo er war, dann bewegte er sich mit aufreizender Langsamkeit zu seinem Bett und setzte sich, und Siv wünschte sich, er hätte diese blöde Tunika noch an, weil sie sich dann wesentlich besser auf das konzentrieren könnte, weswegen sie eigentlich hier war. Mit ihm vor Augen, so wie ihn die Götter geschaffen hatten, fiel ihr das wesentlich schwerer, und sie musste sich anstrengen, ihren Blick auf seinem Gesicht zu lassen. Kurz überlegte, so noch mehr zu sagen, als Corvinus doch etwas sagte. Und jetzt war es an Siv, die Stirn zu runzeln. "Ja, Merit. Sie… Frücht…chen? Frucht? Wieso-" Siv hielt inne, als ihr bewusst wurde, dass das im Moment eigentlich egal war, was er denn mit Früchtchen genau meinte. "Sie erzählt ja. Dass gefliehen, dass Jahre vor, vor jetzt. Und davor, sie nicht eine Sklavin sein." Sie presste kurz die Kiefer aufeinander, aber so gern sie getan hätte, sie fing nicht mit einer Diskussion darüber an, ob es überhaupt rechtens war, Sklaven zu halten, jedenfalls solche, die zuvor ein freies Leben gehabt hatten und einfach eingefangen worden waren. Er dachte anders darüber, das musste er, sonst würde er kaum Sklaven haben, und davon abgesehen gab es vieles, was nicht gerecht war.


    So blieb es bei diesem einen Kommentar – auch wenn Siv aus ihrer Sicht nicht viel falsches daran entdecken konnte, dass Merit geflohen war. "Sie jetzt hier ist, sie kommt, zu dich. Und du, du… lasst warten. Du, sie, das nicht ist schön, das… zu fühlen, so. Nicht wissen was sein, aber wissen das sein, sein abhängig, und sein mehr wenig Mensch, mehr wenig wert wie andere." Dass Siv im Moment nicht darüber redete, wie Merit sich fühlte, sondern wie sie selbst sich in so einer Situation fühlen würde, war ihr gar nicht klar. Aber das war ja auch der Grund gewesen, warum sie sich von Anfang an so sehr über Corvinus’ Verhalten aufgeregt hatte – weil sie von sich ausgegangen war. Während sie heftig gestikulierend gesprochen hatte, hatte sie die Tür hinter sich geschlossen und war in den Raum hinein gekommen. Jetzt glitt erneut ihr Blick über seinen Körper, und diesmal drehte sie sich entnervt um und griff nach seiner Tunika. Mit ein paar Schritten überwand sie die Distanz zum Bett und hielt sie ihm hin, während sie mit der anderen Hand schon wieder am Gestikulieren war. "Du das anziehst, bitte? Ich nicht kann so denken, oder, oder…" mich über dich aufregen – das sagte sie nicht laut, aber man musste sie nicht sonderlich gut kennen, um ihre Gedanken erraten zu können. "oder reden, oder so. Das ablenkt."

    Zunächst stand Siv einfach nur, an der Säule angelehnt, da, und versuchte sich so unauffällig zu verhalten wie möglich – nicht dass sie großartig Gelegenheit gehabt hätte etwas falsch zu machen, immerhin stand sie ja nur da. Und die beiden Römer beachteten sie auch nicht weiter, nur Corvinus warf ihr gelegentlich einen Blick zu, den Siv nicht ganz deuten konnte. Aber vermutlich wollte er nur sicher gehen, dass sie nicht im nächsten Moment wieder irgendetwas Dummes sagen oder tun würde, das ihn und noch viel mehr sie blamierte – vor allem, wenn er danach so über sie sprach. Die Kommentare von vorhin und vor allem die Beiläufigkeit, in der sie ausgesprochen worden waren, hatten Siv getroffen, und ob sie es zugeben wollte oder nicht, aber sie schmerzten. Eine Sklavin, mehr war sie nicht – wenn sie alles andere weg ließ, ihr Leben hier, das vergleichsweise gut war, das Verhalten der anderen, vor allem der Römer im aurelischen Haushalt, die Freiheiten, die sie im Gegensatz zu manchen anderen Sklaven genoss… wenn sie das alles weg ließ, blieb nur, dass sie eben doch eine Sklavin war, unfrei, an ihren Herrn gebunden und ihm ausgeliefert. Für einen Moment fragte sie sich, ob es nicht besser war, wenn sie so behandelt wurde, dass ihr das die ganze Zeit klar war – dann konnte sie jedenfalls von so einem Moment nicht so eiskalt erwischt werden.


    Allerdings achtete sie bald wieder mehr auf ihre Umgebung – auch wenn sie sich nicht rührte, begann sie nun zuzuhören, einfach um sich abzulenken. Zuerst ging es um Politik und den Kaiser, so viel begriff sie, aber viele der Worte waren ihr fremd, und sie hatte Mühe dem Gespräch zu folgen, zumal logischerweise keiner der beiden versuchte, sich für sie verständlich und langsam auszudrücken. Als der Römer, den sie besuchten, auf einmal von einem Tier sprach mit zwei Köpfen und fünf Füßen, rührte Siv sich zum ersten Mal und warf ihm einen erstaunten Blick zu. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte oder ob er tatsächlich von irgendwelchen Wesen aus der Unterwelt sprach, aber sowohl er als auch Corvinus wiederholten zumindest das mit den zwei Köpfen, wenn sie sich nicht täuschte. Wie ein Fluch hatte es aber auch nicht geklungen, und Siv fragte sich Momente lang, wieso die beiden über eine solche Kreatur sprachen, und noch dazu in Zusammenhang mit dem Kaiser. Hatte der die Unterstützung der Götter in Form eines solchen Wesens? Oder war es gerade ein Zeichen dafür, dass er sie nicht hatte? Aber bevor sie mehr herausfinden konnte, wechselten die beiden schon wieder das Thema, und die Stimmung entspannte sich etwas, was sowohl am Tonfall als auch an der Haltung zu erkennen war. Das Wort Tochter fiel, und anschließend das Wort verheiraten, was Corvinus – wenn Siv sich nicht täuschte – nicht sonderlich gefiel. Wenn sie daran zurückdachte, was er ihr erzählt hatte, über die gelöste Verlobung, konnte sie verstehen, dass ihm das Thema unangenehm war. Was zumindest einem Teil von ihr gefiel, immerhin fühlte sie sich selbst gerade auch nicht wohl, und das war sein Verschulden – er hätte sie ja in der Villa lassen können… Corvinus antwortete inzwischen, und Siv war sich nicht ganz sicher, ob er die Wahrheit sagte oder nicht einfach nur versuchte auszuweichen, und ein Teil von ihr – derselbe, der sich freute – hoffte, dass der andere Römer dieses Thema weiterverfolgen würde. Sie sah überhaupt nicht ein, warum sie die einzige sein sollte, die sich ein Loch zum Verkriechen wünschte.

    Merit-Amun glaubte ihr definitiv nicht, was Corvinus betraf. Und ihre heftigen Worte trafen Siv. Wo war ihr eigener Wille hin, der Wille sich nicht zu abzufinden, sich nicht zu fügen, sich nicht zu unterwerfen? War sie noch sie selbst, hatte sie es irgendwie geschafft, sich selbst zu bewahren, obwohl sie sich inzwischen doch, wenigstens einigermaßen, eingefügt hatte und das tat, was von ihr erwartet wurde? Oder bedeutete das schon, dass sie aufgegeben hatte? Siv wusste es nicht. Sie fühlte sich wohl, im Großen und Ganzen, sie hatte Freunde gefunden, und auch wenn ihr selbst es nicht so bewusst war, tat es ihr doch gut, ein festes Gefüge zu haben, ein paar Regeln, nach denen sie schlicht leben musste. Sie war ruhiger geworden in der letzten Zeit, nicht viel, aber in manchen Situationen machte es sich doch bemerkbar, positiv sowohl für sie als auch für andere. Siv selbst war das bisher nicht wirklich bewusst geworden, sie spürte nur, dass ein Leben als Sklavin nach wie vor nicht unbedingt das war, was sie wirklich wollte, aber dass sie gegenwärtig eigentlich ganz zufrieden war. Es gab immer noch Momente, in denen sie sich aufregte über Römer, Momente, in denen sie Heimweh hatte und Sehnsucht danach, einfach frei zu sein und tun zu können, was sie wollte – aber diese Momente waren weniger geworden. Und sogar ihr war klar, dass sie auch zu Hause nicht immer hatte tun können, was sie wollte, nicht mehr in den letzten Jahren – und das hätte sich fortgesetzt, spätestens wenn sie wieder geheiratet hätte. Sie hätte kaum darauf hoffen können, ein zweites Mal einen Mann wie Ragin zu bekommen.


    Jetzt aber, durch Merits Verhalten, durch ihre Worte, brachen alte Wunden wieder auf, kam alter Groll hoch, gemischt mit Unsicherheit und Zweifeln und Zerrissenheit über das eigene Verhalten, die Situation, die relative Zufriedenheit, die Siv empfand. So wie die Ägypterin sprach, hatte sie vor noch gar nicht allzu langer Zeit selbst geredet und gedacht. Der Kampf in ihr, den ihre wilde, trotzige Seite focht mit der, die durchaus anerkannte, dass ihr Leben in Rom nicht wirklich schlecht war, dass sie vieles hatte, womit sie zufrieden sein konnte, dass ihr mehr Möglichkeiten offen standen als bisher – dieser Kampf war noch lange nicht vorbei, war höchstens in eine Phase des Waffenstillstands getreten, der in diesem Augenblick aber beendet wurde. Die Germanin konnte auf Merits Worte kaum etwas erwidern, wusste nicht, was sie sagen sollte – die eine Seite in ihr gab ihr recht, die andere nicht, und Siv, mittendrin, konnte sich einfach nicht für eine entscheiden, wusste aber genauso wenig, wie sie diese beiden Seiten miteinander vereinen konnte – was sie irgendwann würde tun müssen, wollte sie diesen Kampf wirklich beenden, ohne entweder aufzugeben oder zu verbittern und in beiden Fällen unglücklich zu werden. Nur eines konnte sie mit Gewissheit sagen: "Corvinus nett. Er… manche mal, er… ist komisch. Manche mal, er ist Römer. Und nicht nett ist, dass lasst warten du. Aber andere mal, er einfach Mensch, ist normal, lacht und Spaß. Und redet." Siv zuckte hilflos die Achseln. Sie konnte so schlecht ausdrücken auf Latein, was sie wirklich meinte. Dass es einfach keine Rolle spielte, dass Corvinus Römer war, wenn sie zusammen waren, mal abgesehen von den Gelegenheiten, bei denen er sie wirklich wie eine Sklavin behandelte – was selten genug vorkam.


    Dann runzelte Siv kurz die Stirn, als es ein Missverständnis gab. "Wie, ich getan?" Sie schüttelte den Kopf. "Ich nichts getan. Ich, früher… vor, vor… wenn du kommen hier, ich geht zu Corvinus – da früher. Ich gesagt ihn du da – und er nicht Zorn." Sie zuckte erneut andeutungsweise die Achseln und lehnte sich etwas zurück. Ob Merit-Amun ihr glaubte oder nicht, konnte sie nicht beeinflussen, das hing von der anderen ab. Aber warum Corvinus die Ägypterin warten ließ, verstand Siv nicht – im Grunde war ihr klar, was er damit bezweckte, aber wirklich wahr haben wollte sie es nicht. Als Merit schließlich meinte, dass sie müde war, versuchte Siv sich wieder an einem Lächeln. "Ich dir zeige, wo können Schlaf du." Sie erhob sich und winkte der Ägypterin, ihr zu folgen, führte sie durch die Gänge zu den Unterkünften, wo die Sklavinnen schliefen, und deutete auf ein freies Bett. "Wenn du Wasch willst, du könnst da", Siv deutete auf die Tür, die zum Baderaum der Sklavinnen führte, und lächelte Merit noch einmal zu. "Ich auch schlafen hier, aber ich gehe, müss tun was."


    ~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Wenig später ~~~~~~~~~~~~~~~~~~


    Siv ging mit schnellen, leichten Schritten erneut durch die Gänge. Kurz musste sie schmunzeln, als sie daran dachte, wie sie anfangs hier herumgeirrt war, ähnlich wie Merit-Amun es wohl die nächsten Tage tun würde, aber der Gedanke verflog schnell wieder. Sie hatte der Ägypterin zwar gesagt, dass sie nicht zu Corvinus gehen würde, aber sie konnte nicht anders – sie war viel zu aufgewühlt, um jetzt zu schlafen, und sie störte sich noch immer zu sehr daran, dass er Merit warten ließ, um nicht zu ihm zu gehen. Und eigentlich hatte die kleine Ägypterin ja nur gewollt, dass sie Corvinus nicht holte, nicht dass sie nicht zu ihm ging. Und holen würde sie ihn ja nicht. Sie würde ihn nur fragen, was das sollte.


    Als sie vor Corvinus’ Cubiculum angekommen war, hielt Siv sich nicht lange mit Klopfen auf. Der Weg hierher mochte nicht lang gewesen sein, aber er hatte ausgereicht, dass Siv die Empörung in sich wieder angestachelt hatte. Ohne zu klopfen riss sie die Tür auf und wirbelte in das Gemach hinein – und blieb dann zunächst wie angewurzelt stehen, als sie Corvinus sah. Er war offenbar dabei ins Bett zu gehen, jedenfalls zog er sich gerade seine Tunika über den Kopf, und ihr Blick sog sich wie von selbst an seinem Körper fest. Unwillkürlich öffnete sich ihr Mund ganz leicht, und ihre Zungenspitze fuhr über die Oberlippe. Dann, sich darüber bewusst werdend warum sie eigentlich hier war, riss sie sich von dem Anblick los – allerdings einen Moment zu spät, als dass es nicht hätte auffallen können – und sah in Corvinus’ Gesicht. "Warum du sie lasst warten? Was soll das, warum machst du so was? Hast du eine Ahnung wie sie sich fühlen muss?"

    Die Überraschung war Merit deutlich anzusehen, kaum dass Siv ihre Frage gestellt hatte, aber es dauerte ein Weilchen, bis die Ägypterin antwortete, und Siv war sich gar nicht sicher, ob sie am Ende nicht doch darauf bestand, dass es ihr gut ging und sie weit davon entfernt war, Angst zu haben – oder ob sie überhaupt antworten würde. Sie selbst jedenfalls hätte so reagiert. Siv musterte die andere schweigend und wartete einfach erst mal ab, und schließlich kam ein Seufzen, und Merit-Amun erzählte, was sie bedrückte. Die Germanin zog die Beine an und setzte sich mit gekreuzten Beinen auf die Bank, während sie der anderen Sklavin zuhörte. Auch wenn es ihr nicht leicht fiel, den Worten in dem fremdartigen Akzent zu folgen, stellte sie doch fest, dass sie Merits Aussprache mochte. Aber das bemerkte sie nur nebensächlich. Viel zu sehr beschäftigte sie das, was sie hörte. Merit war also geflohen, vor Jahren? Geflohen… Möglich war es also, zu fliehen. Aber Merit war erwischt worden, und nun war sie wieder hier. Siv brannten weniger Fragen nach der Flucht auf der Zunge, als sie selbst geglaubt hätte, aber darüber dachte sie gerade nicht nach. Im Moment sah sie nur Merit vor sich, die in sich zusammengesunken zu sein schien, und Siv hatte das Bedürfnis, ihr zu helfen. Sie verstand, warum Merit so trotzig gewesen war, verstand, warum sie Angst hatte, auch wenn sie nicht glaubte, dass sie wirklich Grund dazu hätte. Wenn Corvinus wütend gewesen wäre, hätte er anders reagiert, als Siv ihm davon erzählt hatte, dass Merit da war – aber sie warten zu lassen, obwohl er doch genau wissen musste, wie sich die kleine Sklavin fühlen würde…


    Siv veränderte wieder die Position ihrer Beine und kniete jetzt auf der Bank, die Zehen aufgestellt, die Oberschenkel auf den Unterschenkeln, der Rücken durchgedrückt. Wieder sprühte Empörung aus ihren Augen. "Er sollte dich nicht warten lassen. Er nicht lasst warten, das sein, sein, das ist nicht Recht. Das ist, ist, gemein das ist!" Ihr war durchaus klar, dass das an sich schon eine Form von Strafe war, aber es war gemein, jedenfalls in ihren Augen – sollte er Merit doch alle möglichen unangenehmen Arbeiten geben, und das für die nächsten Wochen, aber sie so in der Unsicherheit hängen zu lassen… Siv war drauf und dran, nun doch zu Corvinus zu gehen und ihn herzuholen, in die Culina, wenn es sein musste, aber sie erinnerte sich noch rechtzeitig an Merits Bitte zuvor, und an ihren Gesichtsausdruck, und die anschließende Erleichterung. Offenbar dachte sie, dass die Strafe, die sie erwartete, schlimmer war als das Warten, und ihre nächsten Worte bestätigten das. Jetzt war es Siv, die seufzte. "Hör mal… Corvinus nett. Er nicht, nicht… er gibt Strafe, ich denke, aber… nicht schlimm Strafe. Und er… früher, als ich sein zu ihn, er nicht hat Zorn. Er nur… hat überrascht. Du nicht musst Angst hat."

    Siv tänzelte mit federnden Schritten durchs Atrium und um das Impluvium herum, bemerkte nicht, dass Merit bereits da war, ebenso wenig, wie Tilla ins Atrium kam, und die herumrollenden Walnüsse hätte sie vermutlich erst entdeckt, wenn sie darauf getreten wäre – wenn nicht gleich darauf Hektor das Atrium betreten und ziemlich grummelig, aber zumindest anfangs noch gut vernehmlich etwas von sich gab, was wohl seine augenblickliche Variante einer Begrüßung darstellte. Siv sah auf und grinste über das ganze Gesicht, während sie leichtfüßig auf den Griechen zuwirbelte, der sich inzwischen auf einer der Bänke niedergelassen hatte, und ihm einen kleinen Kuss auf die Wange hauchte. "Nicht, nicht so missmutig dreingucken, Hektor, nicht traurig sein oder schlecht", strahlte sie ihn an. Siv freute sich viel zu sehr, als dass sie sich ihre gute Laune hätte verderben lassen können. "Wir reisen. Und Germanien ist schööön."


    Sie grinste ihm noch einmal übermütig zu und drehte sich dann einmal um sich selbst, um bei dieser Drehung fiel ihr auf, dass noch jemand ihm Atrium war – Tilla und Merit waren da, bei ihrem Beutel, und hantierten mit Walnüssen. Siv zwinkerte Hektor zu und sprang hinüber zu den beiden, wo sie die beiden ebenfalls anlachte und sich dann zu Tilla kniete. Überrascht entdeckte sie, dass ihr Beutel offen war und eine Papyrus-Rolle halb daraus hervorschaute. "Was ist das?" Neugierig zog sie sie hervor, ein Grinsen breitete sich wieder auf ihrem Gesicht aus. "Oh, ein Eichhörnchen! Ach Moment… ist das das Tier, das du gemeint hast, Tilla? Das, das Tier ist, das du… hat gesucht?" Als sie sich das erste Mal in Tillas Kletterbaum getroffen hatten, hatte Siv nicht einmal mit Sicherheit gewusst, dass es um ein Tier ging, aber Tilla hatte des Öfteren nachgefragt, nicht nur bei ihr, sondern auch den anderen Sklaven, und offenbar hatte sie ihr Rätsel gelöst. Siv betrachtete das Bild einen Moment lang und wuschelte Tilla dann durch die Haare, während von ihr unbemerkt Ursus hereinkam. "Danke, Tilla." Dann lächelte sie Merit an. "Merit, du kennst Tilla? Sie Sklavin, hier, aber nicht kommt nach Reise. Tilla, das Merit."

    Siv regte sich innerlich immer noch darüber auf, aber nachdem die erste Empörung sich gelegt hatte, bemerkte sie, dass die Ägypterin eigentlich ganz froh war, dass Corvinus nicht aufgetaucht war. Was die Germanin wieder rätseln ließ, was wohl passiert war, dass sie zwar hier auftauchte, Corvinus aber offensichtlich nicht wirklich gegenüber treten wollte. Schweigend hörte sie, wie Merit mit Niki ein paar Worte wechselte in der Sprache, die sie inzwischen immerhin als Griechisch erkannte, und ebenso schweigend saß sie anschließend Merit gegenüber und ließ ihr Zeit, das Essen zu vertilgen, das erstaunlich schnell weg war – bis auf eben diese eine Frage. Siv konnte nicht einmal so genau sagen warum, aber es störte sie einfach, dass Corvinus die kleine Ägypterin offenbar so gering achtete. Dass er zu solchen Mitteln griff. Sie hätte sich das nicht gefallen lassen, von keinem, egal um welche Strafe es gegangen wäre. Aber Merit-Amun reagierte deutlich auf ihre Frage, und nachdem sie sie einen Moment lang aus großen Augen angesehen hatte, seufzte Siv schließlich und nickte. "In Ordnung. Also dann nicht… Ist gut. Ich nicht gehe zu, zu Römer."


    Sie lächelte Merit an und nickte dann. "Ja, natürlich." Sie nahm die Schale und füllte sie erneut mit Suppe. An Essen mangelte es ihnen in der Villa der Aurelier nicht, soviel musste man diesen Römern immerhin lassen – genauso wenig wie an irgendwelchen anderen Dingen, die für das tägliche Leben benötigt wurden, und sogar ein wenig darüber hinaus, was zum Beispiel Baden und dergleichen anging. Da gab es für die Sklaven fast schon wieder zu viel, Sivs Geschmack nach jedenfalls. Ihr hätte es gereicht, ab und zu draußen in den Teich zu springen, ohne Seife – obwohl man damit recht gut spielen konnte – und erst recht ohne irgendwelche Duftmischungen und Öle und ähnliches. Nur die Tinkturen für die Haare nutzte Siv gern und ausgiebig, aber das war auch das einzige, den Rest nutzte sie zwar, aber eher sparsam. Zusammen mit einem neuen Stück Brot stellte die Germanin die Schüssel erneut vor Merit auf den Tisch, bevor sie sich wieder setzte. Einen Moment musterte sie sie, dann nahm die Neugier schließlich überhand. "Warum du bist hier? Du sein lange… fort gewesen, warst fort… sein weg, für lange. Warum du hier, jetzt, bist, und Corvinus ohne wissen? Und warum du, du haben, hast Angst? Und du hast Angst, das klar", fügte Siv noch an, bevor Merit die Gelegenheit hatte zu widersprechen.

    Siv lächelte Cadhla an, als diese ihre Schulter drückte und den Dank erwiderte. "Für mich, sein… sein auch… so. Dass kann reden, mit dir." Mehr sagte sie nicht, aber sie hatte das Gefühl, dass das auch gar nicht nötig war. Sie fühlte eine Verbundenheit zu der rothaarigen Keltin in sich, die ihr so viel erfahrener und gefestigter zu sein schien als sie und der das Gespräch doch genauso gut getan hatte wie ihr selbst, eine Verbundenheit, die sie so noch nie gespürt hatte. Wo Cadhla an die letzten Jahre dachte, hätte Siv an ihr ganzes Leben zurückdenken können. Sie hatte nie eine Freundin gehabt. Mädchen, mit denen sie gespielt hatte, das ja – aber nie eine Freundin. Sie hatte viel zu gern mit ihren Brüdern und deren Freunden gespielt, war viel zu wild, viel zu sehr als Junge aufgewachsen. Wie sie ihre Kindheit verbracht hatte, hatte nicht genug Kontakt mit anderen Mädchen zugelassen, als dass eine wirkliche Freundschaft hätte entstehen können, zu unterschiedlich war die Erziehung, zu unterschiedlich dementsprechend auch die Interessen und der Charakter. Bis jetzt hatte Siv eine weibliche Bezugsperson nie vermisst, nie bewusst jedenfalls, auch wenn andere des Öfteren gemeint hatten, dass ihr eine Mutter fehle – aber jetzt, während sie mit Cadhla hier im Garten arbeitete, fragte sie sich, wie es wohl gewesen wäre, jemanden wie sie bereits von klein auf zu kennen und als Freundin zu haben. In jedem Fall war es etwas, das Siv jetzt, wo sie es hatte, nicht mehr hergeben wollte.


    Über die Abhängigkeit hatte Cadhla eine etwas andere Ansicht. Zwar schien sie zuzustimmen, dass Liebe abhängig machte, aber sie es in diesem Fall billigend in Kauf zu nehmen, dass es so war, und erklärte Siv auch warum. Die blickte etwas kritisch, während sich in ihr die Indifferenz mit Zweifeln zu durchweben begann. Einsames Leben… Einsam wollte Siv nicht sein, bei weitem nicht. Aber einsam war sie ja nie gewesen, oder doch? Aber sie hatte auch geliebt, nur nie auf diese Art, von der Cadhla sprach – sie hatte ihren Vater, ihre Brüder geliebt, und auch Ragin, als guten Freund, auf eine gewisse Art und Weise. Allerdings hatte sie dabei immer darauf geachtet, sich nicht zu sehr zu binden, um sich nicht zu abhängig zu machen, und irgendwie war ihr das immer gelungen – weil die Menschen um sie herum, allen voran ihr Vater und später dann Ragin, sie genug geliebt hatten, um ihr ihre Freiheit größtenteils zu lassen. Aber das war Siv nicht klar. Für sie hatte es nur einfach meistens funktioniert, wenn sie ihren Willen hatte durchsetzen wollen. Nur, und das war zumindest einem Teil von ihr klar, wenn sie erst einmal wirklich liebte, von ganzem Herzen – dann war ihr das nicht mehr möglich. Dann würde sie nachgeben müssen, würde sich fügen müssen, nicht immer, aber zu oft, jedenfalls kam es ihr so vor. Und sich nebenbei lächerlich machen. Das kam für sie nicht in Frage. Aber was Cadhla nun erzählte… davon, dass alles schöner und heller und freundlicher zu sein schien… "Ich… nicht weiß…" Siv zuckte etwas hilflos mit den Achseln. Sie wusste, wie es war, bei einem Mann zu liegen, sie kannte Lust, und sie kannte auch das Gegenteil – aber was Liebe betraf, konnte sie nicht mehr sagen als eben das: "Ich weiß es nicht."


    Als die Keltin dann noch anfügte, dass sie ihr wünschte, Liebe zu finden, glücklich zu werden, wurde Siv leicht rot. Sie wusste nicht, ob sie das wollte, aber was Cadhla eben erzählt hatte, klang gut… und gar nicht danach, als ob es so sehr abhängig machte. Oder besser, es klang so als ob es keine Rolle spielte. Aber trotzdem… Bevor Siv sich noch weiter Gedanken darüber machen oder etwas sagen konnte, erklang eine nur allzu bekannte Stimme und brüllte erst nach Cadhla, dann nach Siv. Als die Germanin sich umsah, erkannte sie, dass die meisten anderen der Pärchen in ihren jeweiligen Teilen des Gartens bereits fertig waren. Ihr Gesichtsausdruck spiegelte Cadhlas wider, als sie eine Grimasse schnitt, dann hievte sie die letzten, gerade zusammengerechten Blätter in ihren Korb und griff nach ihm, um ihn zu Matho zu schaffen. "Nicht dass er denkt, wir würden faulenzen… Wir gehen, mehr gut, zu Matho."

    Siv starrte die Ägypterin an und bemerkte kaum, dass diese ihre ablehnende Haltung inzwischen aufgegeben hatte. Corvinus war noch nicht aufgetaucht? Im ersten Moment war da einfach nur Verblüffung in ihr, aber allmählich machte sich Empörung breit. "Er war noch nicht hier? Bei jedem heruntergekommenen Boten tanzt er sofort hier an, und dich lässt er warten? Was fällt ihm eigentlich ein?" Dann wurde ihr bewusst, dass Merit sie nicht verstehen konnte, und sie wechselte die Sprache. "Er nicht hier sein, das, das… unmöglich sein! Er nicht haben sooo vieles arbeiten, dass nicht können kommt." Sie konnte sich nicht vorstellen, was Corvinus dazu gebracht hatte, diese Sklavin warten zu lassen, aber Tatsache war, dass er inzwischen mit Sicherheit Zeit gehabt hätte. Und selbst wenn er in Arbeit versunken wäre, irgendwann zwischendrin hätte er sicher einen Moment gefunden, um ins Atrium zu kommen. Nein, dass er nicht hier gewesen war, musste einen anderen Grund haben.


    Sie zog eine Grimasse und winkte Merit erst einmal, ihr zu folgen. Jetzt hatte sie Hunger, oder zumindest war sie soweit, es zuzugeben und etwas anzunehmen, und das hatte Vorrang, so sehr Siv sich auch über Corvinus ärgerte. Gemeinsam gingen sie zur Culina, und während sie Niki und Merit einander vorstellte, machte Siv der Ägypterin etwas zu essen, stellte ihr eine Schüssel mit Suppe hin, dazu Brot, etwas Käse und einen Becher voll Wasser. Dann, während sie sich ihr gegenüber setzte, fiel ihr wieder ein, was Merit noch gesagt hatte. Strafen. Strafen? Irgendetwas musste sie also angestellt haben, sonst würde sie keine Strafe erwarten. Einen Augenblick grübelte Siv darüber nach, was das sein mochte, aber es konnte alles mögliche sein. Und zumindest für Siv war das auch egal, jedenfalls soweit es Corvinus’ Verhalten betraf. Nichts rechtfertigte es, jemanden einfach so warten zu lassen. Siv konnte es nicht ausstehen, nicht beachtet zu werden. Sie bekam nicht mehr ihren Willen wie früher immer, da hatte sie sich sehr umstellen müssen, und sie war inzwischen auf dem Weg dahin, was sie letztlich zu einer angenehmeren Zeitgenossin machte – aber nicht beachtet, ignoriert, als zu gering erachtet zu werden, das war etwas, was sie nie würde leiden können. Und dementsprechend konnte sie mit Merit mitfühlen in diesem Moment, regte sich über ihren gemeinsamen Herrn auf, weit mehr wahrscheinlich als die Ägypterin selbst. Sie musterte Merit-Amun, während sie aß, und platzte dann heraus: "Das nicht Recht ist. Dass, dass, er warten dir lasst. Egal was du getan. Ich soll holen Römer?"

    Siv starrte die Ägypterin an und bemerkte kaum, dass diese ihre ablehnende Haltung inzwischen aufgegeben hatte. Corvinus war noch nicht aufgetaucht? Im ersten Moment war da einfach nur Verblüffung in ihr, aber allmählich machte sich Empörung breit. "Er war noch nicht hier? Bei jedem heruntergekommenen Boten tanzt er sofort hier an, und dich lässt er warten? Was fällt ihm eigentlich ein?" Dann wurde ihr bewusst, dass Merit sie nicht verstehen konnte, und sie wechselte die Sprache. "Er nicht hier sein, das, das… unmöglich sein! Er nicht haben sooo vieles arbeiten, dass nicht können kommt." Sie konnte sich nicht vorstellen, was Corvinus dazu gebracht hatte, diese Sklavin warten zu lassen, aber Tatsache war, dass er inzwischen mit Sicherheit Zeit gehabt hätte. Und selbst wenn er in Arbeit versunken wäre, irgendwann zwischendrin hätte er sicher einen Moment gefunden, um ins Atrium zu kommen. Nein, dass er nicht hier gewesen war, musste einen anderen Grund haben.


    Sie zog eine Grimasse und winkte Merit erst einmal, ihr zu folgen. Jetzt hatte sie Hunger, oder zumindest war sie soweit, es zuzugeben und etwas anzunehmen, und das hatte Vorrang, so sehr Siv sich auch über Corvinus ärgerte. Gemeinsam gingen sie zur Culina, und während sie Niki und Merit einander vorstellte, machte Siv der Ägypterin etwas zu essen, stellte ihr eine Schüssel mit Suppe hin, dazu Brot, etwas Käse und einen Becher voll Wasser. Dann, während sie sich ihr gegenüber setzte, fiel ihr wieder ein, was Merit noch gesagt hatte. Strafen. Strafen? Irgendetwas musste sie also angestellt haben, sonst würde sie keine Strafe erwarten. Einen Augenblick grübelte Siv darüber nach, was das sein mochte, aber es konnte alles mögliche sein. Und zumindest für Siv war das auch egal, jedenfalls soweit es Corvinus’ Verhalten betraf. Nichts rechtfertigte es, jemanden einfach so warten zu lassen. Siv konnte es nicht ausstehen, nicht beachtet zu werden. Sie bekam nicht mehr ihren Willen wie früher immer, da hatte sie sich sehr umstellen müssen, und sie war inzwischen auf dem Weg dahin, was sie letztlich zu einer angenehmeren Zeitgenossin machte – aber nicht beachtet, ignoriert, als zu gering erachtet zu werden, das war etwas, was sie nie würde leiden können. Und dementsprechend konnte sie mit Merit mitfühlen in diesem Moment, regte sich über ihren gemeinsamen Herrn auf, weit mehr wahrscheinlich als die Ägypterin selbst. Sie musterte Merit-Amun, während sie aß, und platzte dann heraus: "Das nicht Recht ist. Dass, dass, er warten dir lasst. Egal was du getan. Ich soll holen Römer?"

    Siv unterdrückte einen zweifelnden Blick, als Merit-Amun darauf bestand, weder Hunger noch Durst zu haben. Sie vermutete, dass die kleine Ägypterin beides hatte, aber auch da erkannte sie sich selbst wieder – sie hatte sich an ihrem ersten Tag hier ja noch nicht einmal waschen und umziehen wollen, obwohl sie es dringend nötig gehabt hatte. Merits Verhalten aber berührte eine Saite in ihr, ließ sie schwingen, erzeugte Resonanzen, und etwas in ihr antwortete darauf. Auch wenn sie immer noch, sowohl innerlich als auch äußerlich, von Zeit zu Zeit rebellierte und widerspenstig war, hatte sie sich doch im Vergleich zu Merit ihr Leben als Sklavin gewöhnt. Was das bedeutete, konnte sie im Moment nicht sagen, aber das Echo hallte noch länger in ihrem Körper nach.


    Für den Moment allerdings musterte sie nur die andere Sklavin und zuckte dann leicht die Achseln, als ob sie sagen wollte: Wie du willst. "Wenn du doch Hunger, mich sagen. Ich hole, für dich." Merits Überraschung über ihren Kommentar über die Römer entging der Germanin auch nicht, und wieder klang etwas in ihr, was das Echo noch verstärkte. Irgendwo in ihr begann etwas, sich unwohl zu fühlen. Welchen Eindruck machte sie auf andere, in diesem Fall Merit, wenn es so überraschend kam, dass sie ihre Meinung sagte – auch wenn das bedeutete, etwas Negatives über Römer zu sagen? Unwillkürlich fuhr ihre Hand zum Nacken, wo das Zeichen in ihre Haut gestochen war, das Zeichen, dass sie als Besitz eines anderen auswies, als Corvinus’ Besitz. Sie benahm sich inzwischen so, meistens jedenfalls, verhielt sich wie eine Sklavin, war immer noch aufsässiger als andere, gelegentlich, aber im Großen und Ganzen hatte sie sich… nun ja, immer noch nicht direkt abgefunden, aber doch arrangiert mit dem, was nun ihr Leben war. Wobei nicht zuletzt Cadhla eine große Hilfe gewesen war, dass Siv überhaupt so weit gekommen war zu akzeptieren, dass es auf Dauer kein Zustand war, immer Ablehnung und Hass zu versprühen – was sie ohnehin nicht ständig gekonnt, aber doch anfangs versucht hatte. Jetzt, Merits abweisende Haltung sehend und spürend, begann sich die Germanin wieder zu fragen, ob es richtig gewesen war, ihre eigene Ablehnung aufzugeben, zweifelte an ihrem Verhalten, ihrer Einstellung, ihrem Leben.


    Merit riss sie aus den Gedanken, als sie auf die Sitzgruppe wies, danach fragte und sich im selben Atemzug darauf zu bewegte, und Siv folgte ihr. "Klar kannst du dich setzen." Im nächsten Augenblick wiederholte sie, nur auf Latein. "Du sitzen kannst. Nur, wenn Römer kommen, du aufstehen. Mehr gut, weil, weil… Wir dürfen eigentlich nicht… Nicht darf, Sklave da sitzen. Aber wenn nicht einer sieht…" Siv zuckte mit den Achseln. "Du nur schnell sein musst, wenn kommen. Oh, und ich nicht weiß, was macht. Er nur sagt er nicht, nicht… haben Zeit. Nicht jetzt." Siv legte den Kopf schief und war drauf und dran, zu schmunzeln, aber auch das unterdrückte sie rechtzeitig – nur das Funkeln in ihren Augen konnte sie nicht verbergen. Merit sprach so, als ob sie Corvinus einen Gefallen damit tat, dass sie ihn besuchte, und er besser zu kommen hatte – nicht als ob sie seine Sklavin war. Aber Siv sparte es sich, sie darauf hinzuweisen. "Ich gehe muss, noch tun. Wenn du brauchen, dann ruf." Irgendetwas sagte Siv, dass die kleine Ägypterin kaum nach ihr rufen würde, selbst wenn sie etwas brauchte, aber wenn sie wirklich so stolz war wie Siv vermutete, dann musste sie da durch. Die Germanin nickte ihr noch einmal zu und verschwand dann, um sich dem Garten zu widmen.


    ~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Am Abend ~~~~~~~~~~~~~~~~~~


    Siv werkelte den ganzen Nachmittag im Garten herum. Matho war nirgendwo zu sehen, vermutlich gerade in der Stadt unterwegs, und Corvinus wollte auch nichts von ihr, also stand es ihr frei, sich den Aufgaben zu widmen, die sie am liebsten mochte – und das war nun mal eindeutig der Garten. Inzwischen hatte sie sich auch reichlich Wissen darüber angeeignet, wie die südlichen Pflanzen zu versorgen waren, die sie bisher nicht gekannt hatte, und sie war nach wie vor fasziniert von der Vielfalt, die es im Pflanzenreich gab – und dabei waren in dem Garten nur ein Bruchteil der Pflanzen, die es bei ihr zu Hause gab, und sie ging davon aus, dass es sich mit den Gewächsen aus anderen Gegenden genauso verhielt.


    Erst als es dunkel wurde, ging sie ins Haus, und auf dem Weg zu den Schlafunterkünften kam sie am Atrium vorbei – wo sie eine kleine, bekannte Gestalt sah. "Merit?" Siv runzelte die Stirn und trat verwundert näher. Es war tatsächlich die Ägypterin, die nach wie vor hier war. "Wieso du hier bist? Corvinus nicht gekommen?"

    Siv musterte das Blatt in Cadhlas Hand und hörte ihr schweigend zu. Ihr gefiel der Vergleich, den die Keltin zog – Blätterformen und Lebenswege, beides war unterschiedlich, nicht nur von Baum zu Baum und Volk zu Volk, sondern von Blatt zu Blatt und Mensch zu Mensch. Sie wurde etwas rot, als Cadhla ihr schließlich das Blatt in die Hand drückte und sie mit dem Baum verglich, an dem es wuchs. Versonnen betrachtete die Germanin das Ahornblatt einen Moment lang an, während sie über das nachgrübelte, was sie gehört hatte. Sie lernte viel, viel mehr, als sie es zu Hause getan hätte, so viel war sicher. Gleichzeitig könnte ihr Leben wesentlich schlechter sein, sowohl als Sklavin als auch als Freie, auch wenn sie noch nicht so weit war, das auch zuzugeben. "Weg ist… ist… verschlungen? Verschlungen, ja. Und schwierig… Aber wenn sein wie, wie… wie Blatt", sie hob es kurz hoch, "dann gut." Siv lächelte und schob das Ahornblatt vorsichtig unter ihre Tunika. "Danke, Cadhla."


    Bei Siv dauerte es zunächst noch einen Moment, bis sie nachdenklicher wurde. Sie schmunzelte leicht und nickte. "Oh, machen verrückt, ja. Aber ist schön, du können glaubt." Erst als Cadhla ihr die Frage stellte, die Frage nach Liebe, ob sie sich für sich selbst jemanden wünschte… und weiter erzählte, ohne eine Antwort abzuwarten, davon was der Römer ihr von der Liebe gesagt hatte, dass es dann noch schöner, noch erfüllender sei, beieinander zu liegen… Erst da wurde Siv nachdenklich. Im ersten Moment wollte sie reagieren, wie sie immer reagierte, wenn die Sprache auf Liebe kam – abwinken. Sie konnte damit nichts anfangen, und sie konnte sich auch nicht vorstellen, was daran so Besonderes sein sollte. Ihre Brüder hatten sich zu Idioten gemacht, jedes Mal wenn sie verliebt gewesen waren. Sie hatten das Objekt ihrer Begierde angehimmelt und die in Sivs Augen dümmsten Sachen angestellt, nur um das betreffende Mädchen zu beeindrucken, und sie hatten sich abhängig gemacht von ihr, von ihren Launen, ihren Wünschen, selbst ihren nur nebenbei hingeworfenen Bemerkungen. Und ihr Vater hatte ihr genauso wenig vorgelebt, wie Liebe sein konnte – er Frauen gegenüber immer distanziert gewesen und hatte auch nie den Eindruck gemacht, als ob er eine wollte. Nur manchmal, abends, wenn er dachte sie und ihre Brüder schliefen, sie aber noch wach lag, hörte sie ihn leise weinen, und wenn die Sprache auf ihre Mutter kam, dann reagierte er immer kurz angebunden, hatte aber manches Mal einen seltsamen Schimmer in den Augen. Siv hatte diese Zeichen nie verbunden, ihr war nie klar geworden, wie sehr er ihre Mutter vermisste, selbst nach Jahren noch – aber wenn sie es realisiert hätte, wäre ihre Einstellung der Liebe gegenüber vermutlich nicht nur indifferent, sondern geradewegs negativ gewesen. In ihrer pragmatischen Sichtweise hätte sie sich gefragt, wie etwas gut sein konnte, das einen so großen Schmerz verursachte, dass man selbst nach Jahren noch darunter litt? Aber Siv hatte diese Verbindung nie gezogen, und so stufte sie Liebe als etwas ein, was den Leuten etwas von ihrem klaren Denken nahm, was offensichtlich schön sein konnte, manchmal etwas weh tat, aber im Großen und Ganzen nichts Besonderes war – jedenfalls nicht dass sie es erkennen könnte. Ihr Vater hatte sie mit traurigen Augen angesehen, wenn sie zu Hause so argumentiert hatte, aber das war untergegangen in dem Gelächter ihrer Brüder, die sie aufgezogen und ihr empfohlen hatten zu warten, bis sie sich auch einmal verliebt hätte, dann würden sie schon weiter sehen. Woraufhin Siv immer entsprechend konterte – und sich im Anschluss daran meistens eine mehr oder minder heftige Diskussion entbrannte, die für gewöhnlich in einer kleinen Rauferei unter Geschwistern endete.


    In diesem Moment war Siv – obwohl ihre Heimat und ihre Geschwister so unendlich fern waren – drauf und dran, zu reagieren wie immer. Liebe ist nichts, was es schöner macht, ist nichts Besonderes, es mag ganz nett sein, aber du solltest nicht darauf bauen… Aber die gewohnten Worte, die ihr bereits – sogar auf Latein – auf der Zunge lagen, wollten ihren Mund nicht verlassen, und das aus verschiedenen Gründen. Zum einen war da Cadhla, die ihr gerade erst erzählt hatte, dass sie sich, im Grunde gegen ihren Willen, in einen Römer verliebt hatte – und absolut nichts gegen dieses Gefühl tun konnte. Und wo ihre Brüder teilweise lächerlich gewirkt hatten in ihrer Vernarrtheit, war Cadhlas Wesen von Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit durchzogen, ebenso wie von der Sorge, das Richtige zu tun. Sie wollte und sollte nicht verliebt sein, nicht als Schildmaid, nicht als Sklavin, und erst recht nicht in einen Römer, und doch war sie es. Siv spürte, dass sie nicht das Recht hatte, sich darüber lustig zu machen – und auch wenn sie tatsächlich so über Liebe dachte, hätte sie sich lustig gemacht über Cadhla und das, was diese empfand, wenn sie ihre Meinung nun laut sagte. Dann war da eben Cadhlas Art, wie sie sich verhielt, wie sie wirkte – Siv war beeindruckt davon, und ohne es zu merken, kamen ihr zum ersten Mal Zweifel, ob Liebe nicht vielleicht doch mehr sein könnte als sie bisher geglaubt hatte. Und zum Schluss musste sie sich eingestehen, dass sie – trotz aller Besserwisserei und Altklugheit, die sie ihren Brüdern gegenüber an den Tag gelegt hatte, trotz aller Vermutungen und Überzeugungen und vermeintlichem Wissen – keine Ahnung hatte. Sie wusste es nicht. Sie kannte diese Art von Gefühlen nicht, konnte höchstens vermuten, was es bewirken oder auslösen konnte. Sie wusste es einfach nicht. Nach einem weiteren Moment des Zögerns war es schließlich das, was Siv eingestand. "Ich nicht weiß. Ich… nie wollen Mann, zu lieben. Nie wollen sein, sein… abhängig, und ich… ich denk einfach, dass Liebe abhängig macht. Aber ich will frei sein, ich will nicht… Ich will sein frei, nicht abhängig. Aber ich… ich nicht weiß. Nicht weiß wie, wie… Liebe sein. Nicht weiß, wie ist sein bei Mann, wenn… wenn du lieben Mann und er liebet du. Ich, bis, bis jetzt… nur haben liegen bei Mann. Manche Mal Spaß, manche Mal nein, aber nie… das was du sagen, dabei." Ein Schatten flog über ihr Gesicht, als sie an die Reise nach Rom dachte und die Soldaten, aber das war eine völlig andere Situation gewesen, anders als mit Ragin oder Vilmar, und auch anders als mit Corvinus, der immerhin ihr Herr war und ihr eigentlich befehlen könnte, ihm zu Willen zu sein, und es gab nichts was sie dagegen hätte tun können – aber er tat es nicht. Siv schüttelte die Gedanken ab und musterte Cadhla. "Ich nicht weiß", wiederholte sie noch einmal, und diesmal – wieder ohne es zu merken – schwang fast so etwas wie Bedauern in ihrem Ton mit. "Nicht weiß."

    Siv war aufgeregt. Nein, aufgeregt war noch untertrieben. Sie war… es gab keine Worte, das zu beschreiben. Ihr Herz schien zu flattern wie ein kleiner Vogel, in ihrem Magen machte sich allerlei Getier breit, und beides sandte ein Kribbeln aus in ihren ganzen Körper, bis in Arme und Beine. Germanien. Zuerst hatte sie nicht glauben können, was Corvinus ihr gesagt hatte. Germanien. Der andere Aurelier, Ursus – seinen Namen hatte sie sich endlich merken können – ging aus irgendwelchen Gründen nach Germanien, für länger, und außerdem wollte er – also Corvinus, nicht Ursus – irgendwelche Sachen aus seiner Villa dort haben, und außerdem sollten sie – das hieß Matho – dort nach dem Rechten sehen, und eigentlich war ihr das alles völlig egal, nur das eine nicht: sie sollte mit. Germanien. Sie würde ihre Heimat wiedersehen. Sie würde wieder nach Hause kommen. Dass das so nicht ganz stimmte – weder von dem, was ihr Zuhause gewesen war in Germanien, noch von dem, was sie im Moment als Zuhause bezeichnen würde –, daran verschwendete sie keinen Gedanken. Was jetzt, im Augenblick, ihr Zuhause war, darüber dachte sie ohnehin lieber nicht nach. Sie hätte sich eingestehen müssen, dass die Villa Aurelia in den letzten Wochen zu dem geworden war, was man so nennen konnte, und das war etwas, womit sie Schwierigkeiten hatte. Es fiel ihr so schon nicht leicht, sich nach und nach an den Gedanken zu gewöhnen, dass nicht alle Römer gleich waren, dass es falsch war, das Volk als Ganzes abzulehnen, es fiel ihr nicht leicht, sich einzugestehen, dass sie zu manchen der Römer durchaus so etwas wie freundschaftliche Bande geknüpft hatte, immerhin waren auch unter den Sklaven einige Römer, was Siv sehr erstaunt hatte, als sie das das erste Mal erfahren hatte. Fakt war, dass es inzwischen Römer gab, die sie mochte, woran sie nach wie vor zu knabbern hatte, wenn sie sich bewusst machte, dass diese Menschen eben Römer waren – allen voran Corvinus, der noch dazu ihr Besitzer war. Und wo sie schon mal beim Thema Corvinus war, er verwirrte sie ohnehin nach wie vor. Mal mehr, mal weniger, aber eine leichte Unsicherheit, wie er dies oder das meinte, war bei ihr eigentlich fast immer vorhanden, und das war sie auch nicht gewohnt – nicht dass sie nicht immer wusste, was ihr Gegenüber meinte, aber dass sie das verunsicherte. Aber für den Moment war ihr auch das egal. Alles war egal, bis auf das eine: sie konnte heim.


    Sie wie ein Wirbelwind durch das Haus gefegt, als ihr klar geworden war, was Corvinus’ Worte wirklich bedeuteten, nachdem sie ihm um den Hals gefallen war und ihn geküsst hatte, hieß das – was ihr im Nachhinein, sehr viel später, peinlich gewesen war, und außerdem dazu geführt hatte, dass sie knallrot geworden war, als er ihr das nächste Mal über den Weg gelaufen war. Jetzt kam sie ins Atrium, und sie hatte das Gefühl sie war viel zu hibbelig, um noch länger auf die Abreise zu warten. Heute sollte es endlich losgehen… Siv hoffte, dass noch Schnee liegen würde, wenn sie kam, dass es noch kalt war, so kalt, dass das Wasser draußen gefror, auch wenn sie wusste, dass das kaum der Fall sein würde. Aber vielleicht in den Bergen… Ihre alten Sachen aus Leder hatte sie, entgegen Brix’ Anweisungen, nicht weggeschmissen, sondern sie in einem unbeobachteten Moment gewaschen und geflickt, und diese Sachen trug sie jetzt in einem Beutel mit sich, in dem sonst recht wenig zu finden war – noch eine Tunika – obwohl sie nicht vorhatte, in ihrer Heimat etwas Römisches zu tragen –, ein grobgezinkter Kamm, ein Tuch, ein Band für die Haare. Siv brauchte nicht viel, und sie legte auch nicht viel Wert auf irgendwelchen Schnickschnack, im Gegensatz zu vielen anderen Frauen, und dementsprechend klein war ihr Gepäck. Was in ihrem Beutel allerdings zu finden war, war ein kleines Messer, ein Seil, eine Schleuder sowie ein kleines Netz – die Schleuder hatte sie schon vor einiger Zeit angefertigt, nicht weil sie glaubte, sie je gebrauchen zu können, sondern aus purem Heimweh, das Netz hatte sie erst in den letzten Tagen geknüpft. Es war zwar kaum zu erwarten, dass sie für ihr Essen selbst sorgen mussten, aber man konnte ja nie wissen, und wenn Siv ehrlich war, dann sehnte sie sich danach, endlich mal wieder jagen oder fischen zu können. Draußen zu sein und sich selbst zu versorgen, so wie sie es früher immer mit ihren Brüdern gemacht hatte, vor allem im Sommer, wenn sie oft tagelang im Wald herumgestreift waren… Mit dem, was sie dabei hatte, würde sie problemlos überleben können, vorausgesetzt sie war in einem Wald, in dem es genug Wild gab. Aber jetzt, wo bald Frühling wurde, kamen auch die Tiere wieder hervor. Siv tastete kurz nach ihren Habseligkeiten und grinste kurz, während sie darauf wartete, das die anderen endlich auftauchten, die ebenfalls mitkamen, aber noch war niemand zu sehen. War sie tatsächlich so früh dran? Einen Moment stand sie noch da und zappelte vor sich hin, während sie versuchte sich zu beruhigen, aber bald sah sie ein, dass das ohnehin keinen Erfolg haben würde. Irgendwie musste sie sich die Zeit vertreiben, und so legte sie kurzerhand das Bündel auf den Boden und begann, leichtfüßig durch das Atrium zu tanzen, auf den Lippen die Melodie eines Frühlingsliedes, das sie schon als Kind gekannt hatte.

    Siv grinste erleichtert, als Merit bewies, dass sie mit der Aussprache ihres Namens ebenso Probleme hatte wie die Germanin umgekehrt. Gespannt wie jedes Mal, wenn sie von fremden Ländern hörte, lauschte sie der anderen. Ein Land, im Süden, heißer als hier… Siv zog leicht die Nase kraus und lachte leise. "Du denkst hier kalt? Für mir, hier, hier… hier warm. In Germanien, da sein kalt, Winter. Viel kalt, mit Schnee, und, und Eis." Im Sommer konnte es in Germanien auch sehr warm werden, und Siv war gespannt darauf, wie heiß es wirklich hier werden würde, wenn erst die Sonne an Stärke gewann – und vor allem, wie lange die Hitze anhalten würde. Darüber, wie gut sie sie würde aushalten können, machte sie sich im Moment weniger Gedanken. Merit inzwischen wirkte eher widerspenstig und schließlich sogar abweisend, was den Eindruck, den die beiden Frauen auf einen Beobachter, wenn denn einer da gewesen wäre, gemacht hätten, noch unterschiedlicher werden ließ – da Sivs Gesicht und Haltung nur die Offenheit und Neugier widerspiegelte, die sie empfand. Aber sie sah Merits Gesichtsausdruck, hörte den Trotz in ihrer Stimme, und sie fühlte sich nur zu sehr an ihre ersten Tage hier zurückerinnert. Wenn Merit ihr auch nur ansatzweise ähnlich war und ähnlich empfand, dann würde es nichts helfen, wenn sie auf sie einredete – oder sich beeindruckt zeigte von der Schroffheit. So zuckte die Germanin nur mit den Achseln. "Wunderbar, wenn gut geht dir. Du wollen trinken was, oder haben hungrig?" Als die Ägypterin auf das Loch im Dach deutete, musste Siv schon wieder grinsen. Das war auch so eine Sache, die sie bis heute nicht begriffen hatte. In jedem Haus, das sie bisher von innen gesehen hatte, war so ein Loch in der Decke im Atrium. Warum, wusste sie nicht, und es hatte ihr auch noch keiner so erklären können, dass sie es wirklich verstanden hätte. Regenwasser auffangen, schön und gut – aber wenn das Dach zu war, dann musste Regenwasser gar nicht aufgefangen werden. "Keine Ahnung, das ist mir ein Rätsel. Ich nicht weiß. Römer… spinnen eben. Römer sein, sein…" Sie vollführte mit ihrer rechten Hand eine drehende Geste in der Nähe ihrer Schläfe. "…sein… wirr… in Kopf. Manchmal."

    Die kleine Frau starrte sie an, als ob sie ein Geschöpf aus Hels Reich wäre und kein Mensch, aber daran hatte Siv sich gewöhnt – wieder, musste man fast schon sagen, denn nachdem sie in die Villa Aurelia gekommen war, hatte sie in ihren ersten Wochen nicht verlassen, und die Menschen hier hatten sich schnell an ihr Aussehen gewöhnt. Irgendwann aber hatte sie sich nicht mehr davor drücken können, in die Stadt zu gehen – angefangen mit ihrem ersten Marktbesuch, zu dem Brix und Dina sie mehr oder weniger gezwungen hatten –, und dort geschah es öfter, dass Menschen sie anstarrten, so wie Melletammu es gerade tat. Immer noch versuchte die Germanin, um Stadtausflüge herumzukommen wo es ging, aber in letzter Zeit wurde das immer schwieriger. Nach ihrem ersten Besuch bei diesem Senator hatte Corvinus es sich scheinbar in den Kopf gesetzt, sie ein für alle mal an solche Dinge zu gewöhnen, und er nahm sie immer häufiger mit, wenn er irgendwohin ging. Und er war erbarmungslos – es spielte keine Rolle, wie sie sich aufführte, ob sie bettelte, meckerte oder versuchte sich schlicht zu weigern. Sie konnte tun, was sie wollte, sie hätte schon krank sein müssen, damit er sie zu Hause ließ. Zu Hause… Einen Moment flog ein Schatten über ihr Gesicht, als ihr klar wurde, wie sie die Villa – wenn auch nur lautlos – soeben bezeichnet hatte. War es das? War es wirklich zu ihrem Zuhause geworden? Der Gedanke löste eine seltsame Mischung an Gefühlen in ihr aus, und ihre Kehle wurde auf einmal eng, und sie beeilte sich – wie jedes Mal, wenn ihre Gedanken auf dieses Thema oder ein ähnliches kamen – die Grübeleien zu verdrängen. Sie wollte nicht darüber nachdenken, sie weigerte sich schlicht, und meistens gelang ihr das ganz gut, schon allein weil sie genug zu tun hatte, um sich abzulenken. Kritisch wurde es nur abends, aber selbst dann fand sie immer noch etwas zu tun.


    Corvinus jedenfalls wollte sie dabei haben, wenn er unterwegs war, was, soweit Siv es verstanden hatte, damit zu hatte, dass sie Cadhlas Platz als seine Leibsklavin einnehmen würde, wenn diese erst fort war. Der Gedanke an den Abschied von der Keltin tat immer noch weh, und was diese Leibsklavinnensache anging: So ganz wusste Siv noch nichts damit anzufangen, außer dass die – in ihren Augen – unangenehmeren Pflichten zunahmen. Sie mochte die Stadt einfach nicht, sie hievte lieber schwere Sachen durch die Villa oder putzte oder wusch, als durch Straßen zu laufen, mit hohen Häusern auf beiden Seiten, und dann irgendwann in einem dieser Häuser zu sein und in der Regel nichts zu tun zu haben außer dazustehen und zu warten. Sie fühlte sich wohler, wenn sie in einer abgerissenen Tunika arbeitete, die Haare unordentlich auf dem Rücken zusammengedreht, als so herausgeputzt herumzulaufen, wie Corvinus es von ihr erwartete, wenn er sie mitnahm. Und sie mochte es nicht, wenn zu viele Menschen sich um sie drängten, sie hatte nach wie vor Mühe, sich in diesem Steinlabyrinth zurecht zu finden, und sie begriff einfach nicht, warum bei Thors Hammer sie an diversen Türen ihren Herrn ankündigen musste, wenn er das doch genauso gut selbst machen konnte.


    Aber während ihre Gedanken abschweiften, stand immer noch die kleine Sklavin vor ihr und versuchte, sich mit ihr zu verständigen. Siv lächelte entschuldigend und konzentrierte sich auf das, was sie sagte. "Me… Merrret. Merrrit. Merrrit-Ammuun. Ich kann sagen Merrrit?" Dann sprach Merit in einer anderen Sprache, ihre Heimatsprache, vermutete Siv, und gleich darauf wieder in einer anderen. Diese erkannte die Germanin – sie konnte zwar kein Griechisch, aber sie hatte es inzwischen oft genug gehört, um es an der Sprachmelodie identifizieren zu können. Allerdings konnte sie nur etwas hilflos mit den Achseln zucken, und während Merit wieder zu Latein überging, festigte sich die Idee, die sie seit ihrem ersten Treffen mit Straton gehabt hatte, zu einem Entschluss – sie würde Griechisch lernen. Allerdings hatte sie vor, das für sich zu behalten, jedenfalls bis sie einigermaßen verständliche Sätze hervorbringen konnte – was es schwieriger machen würde, einen passenden Lehrer zu finden… Auch diese Gedanken verdrängte Siv, verschob sie auf später, als die Frau weitersprach. "Mein Name ist Siv. Ich bin von Germanien. Im Norden. Du woher kommt?" Sie musterte Merit, die auf einmal den Kopf hängen ließ. Siv runzelte leicht die Stirn. Sie wusste nicht, was los war, aber irgendetwas schien die Sklavin zu bedrücken. "Du, du… traurig sein. Bist. Warum? Was los?"

    Siv war es gewesen, die Leone kurz vor dem Atrium erwischt hatte, und die Germanin hatte sich sofort auf den Weg gemacht. Corvinus holen, weil… eine Sklavin angekommen war, begleitet von einem Menas. Ganz verstanden hatte Siv nicht, was es mit dieser Sklavin auf sich hatte – neu war sie offenbar nicht, aber Leone hatte auch nicht wirklich eine Ahnung, wer sie war. Mit einem Achselzucken wandte sie sich um und ging zu Corvinus’ Officium, wo er um diese Tageszeit meistens anzutreffen war – und wo sie ihn auch heute fand. Sie überbrachte ihm Leones Botschaft, so wie sie sie verstanden hatte zumindest. Ein Menas habe eine Sklavin hierher begleitet, die Corvinus gehöre, mehr wisse weder sie noch Leone. Den Namen der Sklavin verhunzte sie ziemlich – sie hatte ihn nicht richtig verstanden, und kombiniert mit ihrem germanischen Akzent, der es ihr schwer machte, die fremdartigen Laute getreu zu auszusprechen. Aus Merit-Amun wurde so jedenfalls Melletammu. Sie war sich nicht sicher, ob Corvinus überhaupt etwas damit anfangen konnte, weil er zuerst ziemlich überrascht wirkte. Eine Weile sah er sie nur nachdenklich an und sagte gar nichts, danach meinte er nur, dass die Sklavin warten sollte, bis er Zeit hätte. Wann das genau war, sagte er nicht, und auf eine entsprechende Nachfrage hin schüttelte er nur den Kopf. Siv war drauf und dran, nachzubohren, aber sie wusste inzwischen, dass er sich in so einem Fall selten dazu bringen ließ, doch noch etwas zu sagen. Hätte es sie betroffen, hätte sie das nicht davon abgehalten, dennoch zu fragen – bis entweder eine Antwort kam oder er sie hinausschmiss –, aber da es sie eigentlich nichts anging, zuckte sie schließlich mit den Achseln und verließ den Raum wieder.


    Als sie ins Atrium kam, war auf den ersten Blick niemand zu sehen. Siv runzelte leicht die Stirn und begann, herumzugehen, während sie sich fragte, was es mit dieser Sklavin auf sich hatte. Leone kannte sie nicht, aber Corvinus scheinbar schon – aber die Germanin war sich sicher, dass er nicht erwartet hatte, sie hier zu sehen. In Gedanken versunken schaute sie um eine Säule herum – und erschrak, als sie plötzlich dicht vor sich ein Gesicht sah, nicht so dunkel wie Leones, aber doch dunkler als das der meisten hier, mit schwarzen Haaren und ebenso schwarzen Augen. Während Siv sich von ihrem Schreck bereits nach dem Bruchteil eines Augenblicks wieder erholt hatte, wich die Frau vor ihr zurück und sah sie mit angstgeweiteten Augen an. Siv trat ebenfalls einen Schritt zurück und hob beruhigend die Hände, während sie die Sklavin musterte, die ihr gerade mal bis zur Schulter zu reichen schien. "Ehm. Du bist… Melletammu? Du, du, nicht Angst haben." Sie lächelte freundlich. "Corvinus nicht hat eine Zeit. Nicht jetzt. Er kommt später, hat aber leider nicht gesagt wann. Er nicht, nicht… Ich nicht weiß wann."

    Diesmal war Sivs Gesichtsausdruck regelrecht entgeistert. Noch jemand stürmte herein, Alexandros diesmal, mit dem die Germanin ohnehin nicht viel anfangen konnte. An sich war er ja ganz sympathisch, aber seine weibischen Ader nervte sie – nicht so sehr, weil er ein Mann war, auch wenn sie sich fragte, ob das wirklich natürlich war oder er nicht irgendwann als Kind auf den Kopf gefallen war oder so. Dieses Herumgetue der meisten weiblichen Mitglieder der Sklavenschaft nervte sie genauso. Oh, guck mal, ich hab eine neue Tunika… Was hältst du von diesen Sandalen… Saba, kannst du mir bitte diese eine Frisur machen, die du Prisca neulich… Oh Alexandros, dieser neue Duft ist einfach… Siv verzog sich meistens schleunigst, wenn es so los ging. Irgendwo gab es immer irgendetwas zu tun, was ihr Glück war in solchen Fällen.


    Alexandros war ihr also, wie erwähnt, nicht unsympathisch – wenn er nicht gerade einen seiner Versuche startete, sie in ein Gespräch über Mode, Frisuren oder ähnliches zu verwickeln, die er aber – nach einigen strahlenden Bemerkungen über ihre Haare, die Siv etwas schroff gekontert hatte – deutlich eingeschränkt hatte. Nur, was hatte er hier zu suchen? "Sagt mal – es ist nicht so als ob wir hier ein Fest feiern würden! Hier liegt eine Kranke, und die braucht Ruhe!" Ziemlich zeitgleich mit ihr fing Caelyn an zu schimpfen, und Siv warf ihr einen dankbaren Blick zu, bevor sie sich wieder Tilla zuwandte. Das Mädchen hatte offenbar tatsächlich Hunger, jedenfalls wehrte sie sich nicht, als Siv ihr die Suppe einflösste. Sie lächelte, als Tilla ihr die letzten Dinger in der Suppe anbot, die ihr allerdings unbekannt waren. Irgendein Wassertier, so wie die Suppe roch. Das allein machte Siv schon etwas misstrauisch – sie aß Fisch zwar, weil man es sich zumindest in Germanien im Winter nicht leisten konnte, zimperlich zu sein, aber sie mochte ihn nicht sonderlich. Trotzdem probierte sie, Tilla zuliebe, eines davon – und verzog das Gesicht. Nein, das war definitiv nichts für sie. Fisch, das ging noch. Aber das hier? Was auch immer es war, Sivs Geschmack traf es definitiv nicht. Sie konnte sich gerade noch dazu bringen, es runterzuschlucken, aber die zwei restlichen, die in der Suppe schwammen, bekam dann doch Tilla. Mit einem leichten Lächeln auf den Zügen strich Siv ihr das Haar aus der Stirn, als diese innerhalb weniger Augenblicke müde wurde und einschlief.


    Dann seufzte sie und streckte sich. Matho war deutlich gewesen… die Arbeit wartete nicht. Kurz schweiften ihre Gedanken wieder zu Alexandros, als ihr plötzlich eine Idee kam. Sie wandte sich an Caelyn. "Du meinen, dass Alexandros… er machen so, so… Salben. Sache, für auf Haut tun." Siv ahmte eine einreibende Handbewegung nach. Zwar hatten sie eine Paste aus Kräutern da, die sie regelmäßig auf Tillas Haut auftrug und die dabei half, dass die Blasen schneller heilten, aber das half nicht sonderlich viel gegen den Juckreiz, und kühle Tücher aufzulegen war auch nicht unbedingt das Beste, solange Tilla noch krank war. Alexandros’ Salben hatten zwar keinerlei medizinischen Zweck, aber wenn er irgendwo eine hatte oder herstellen konnte, die nicht dermaßen penetrant roch… "Du meinen, er… diese Sachen helfen, gegen Jucken, bei Tilla? Vielleicht er haben was, was… nicht riechen, nicht stark."

    Siv zog die Brauen zusammen, so angestrengt hörte sie inzwischen zu und dachte nach. Bisher hatte sie von Rom herzlich wenig gesehen, und außer den römischen Soldaten, die sie gefangen hatten, den Aureliern und deren Besuch hatte sie im Grunde niemanden kennen gelernt. Dass sie im Grunde besser lebte, als manche der Römer, überraschte sie nicht wirklich, aber dass es so viele waren, die offenbar wesentlich schlechter lebten, das hätte sie nicht gedacht. "Die Römer? Die… die all, alles, alle nehmen? In Germanien, und, und… Gallien, und… Achaia und anderes Land?" Ihre Stimme drückte das Unglauben aus, das sie empfand. Die Römer hatten so viel erobert, waren überall, unterwarfen fremde Völker, versklavten sie und nahmen sich, was sie brauchten – wo ging das alles hin? "Wie… So… Aurelier zahlt. Für, für, arme Römer. Für essen. Er schenkt?" Das Wort spenden sagte ihr nichts, aber wenn die Menschen, wie Straton gesagt hatte, keine Arbeit hatten, dann musste es wohl so sein, dass das Geld, das Essen, geschenkt war. Siv schnaubte, leicht verächtlich. Geschenke dieser Art waren Almosen, und sie wäre lieber verhungert, als so etwas anzunehmen. "Sie nehmen schenken? Sie, sie… sehen… Spiele? Und das… das ist gut? Das… damit sind dann alle zufrieden? Das ist gut, zufrieden für Leute? Das ich nicht verstehe. Ich lieber arbeite. Zuhause, alle arbeiten, alle muss arbeiten, für Leben. Muss, muss… Teil tun." Die Germanin schüttelte leicht den Kopf, während sie den Markt verließen, und sah Straton an. "Und das klappt wirklich? Dass die Menschen damit zufrieden sind? Das geht?" Sie begriff es immer noch nicht ganz, und sie wusste nicht, ob es daran lag, dass sie nach wie vor nicht alles von dem verstanden hatte, was der Grieche ihr erzählt hatte, oder ob sie das System, das zugrunde lag, einfach nicht nachvollziehen konnte. Sie vermutete beides. Vielleicht war das Leben in Germanien einfach zu hart, als dass es funktionieren könnte, wovon Straton gesprochen hatte. Natürlich gab es auch bei ihnen die, die mehr hatten, aber der Unterschied war lange nicht so groß, dass diese die Ärmeren so sehr unterstützen konnten wie es hier in Rom offenbar der Fall war. Und ihnen dann auch noch Spiele zu bieten, damit sie sich nicht langweilten… Spätestens wenn der Winter kam, wäre der Gedanke an derartige Ablenkungen schnell verschwunden. Da mussten alle mithelfen, damit der Winter ohne allzu viele Verluste überstanden werden konnte. "Vielleicht… viel, zu viel Menschen hier. Zu viel Menschen für leben wo jeder können arbeiten. Oder…" Stratons letzter Satz gab ihr zu denken. "Leben zu leicht, hier, du meinst?"


    Als er schließlich den Hinweis gab, dass sie nun gehen könnten, war Siv im ersten Moment überrascht. Sich mit Straton zu unterhalten war so interessant gewesen, dass sie ganz vergessen hatte, wie sie überhaupt dazu gekommen war, mit ihm über den Markt zu ziehen. Sie nickte nur und folgte ihm erneut durch die Menge, diesmal eine der Straßen ansteuernd, die sie vom Markt weg und in das Villenviertel führen würde. Seine Ansicht über die Natur amüsierten sie nach wie vor, und daran änderte auch seine Erklärung nichts, die er noch anfügte. "Natur ist… gar nicht organisiert. Will nicht, muss nicht. Ist gefährlich, ja. Und… einfach da." Bei dem Gedanken, dass Bäume so wachsen müssten wie Schiffe, hätte sie auch gelacht, hätte sie auch laut gelacht, aber sie verstand nicht, was Straton meinte, also reagierte sie darauf nicht. Dafür grinste sie, als er übers Waschen sprach. Aber sie begriff, dass sie und Straton offenbar grundlegend verschiedene Ansichten über die Natur hatten. Für sie war die Natur nicht da, um für den Menschen möglichst nützlich zu sein – wer stark und geschickt war, bekam meistens das, was er zum Leben brauchte, aber er musste dafür etwas tun, musste sich unterordnen, weil er Teil des Gefüges war und nicht etwa darüber stand. Straton schien in diesem Fall wie die Römer zu denken. "Muss Natur Nutzen haben? Für Mensch ich meine? Mensch ist Teil. Mensch muss anpassen. Nicht anders."

    Schon als Siv den überraschten Gesichtsausdruck des Römers vor sich sah, ahnte sie, dass sie wieder einen Fehler gemacht hatte. Als sie dann aus dem Augenwinkel Corvinus’ Blick bemerkte, wusste sie es. Von einem Moment auf den anderen begannen ihre Wangen zu brennen, und sie musste sich nicht in einem Spiegel sehen um zu wissen, wie rot sie soeben wurde. Als Corvinus dann das Wort ergriff und sich für sie entschuldigte, wurde sie nur noch röter, und am liebsten hätte sie sich auf der Stelle umgedreht und wäre verschwunden. Nur leider ging das nicht, nicht weil sie als Sklavin dazubleiben hatte, sondern weil sie kein Mensch war, der aus solchen Situationen flüchtete. Sie hatte sich in diese peinliche Lage gebracht, sie würde es aushalten, bis es vorbei war – etwas anderes kam für sie gar nicht in Frage. Trotzdem trugen die nächsten Worte, die fielen, nicht gerade dazu bei, dass sie sich besser fühlte. Die Erziehung dauert zu lange… Im ersten Moment begriff Siv gar nicht, was der Römer meinte, bis es ihr klar wurde, und als Corvinus auch noch darauf einging, presste sie die Lippen zusammen und ballten sich ihre Hände zu Fäusten. Hatte sie etwa Sklavin werden wollen? Nein, hatte sie nicht. Ganz im Gegenteil. Trotzdem war sie inzwischen so weit, dass sie sich Mühe gab, dass sie es richtig machen wollte – wenigstens heute. Und was war das Ergebnis? Sie redeten über sie wie… wie… wie über eine Sklavin. Siv schloss für einen Moment die Augen, während die beiden Römer sich etwas entfernten und hinsetzten. Das weitere Gespräch interessierte sie für den Moment kaum. Wie eine Sklavin… Ein Besitz, sein Besitz, so wie die anderen Sklaven, und die Pferde, und die Gegenstände in seinem Haus. Nur weil sie selten wirklich so behandelt wurde, änderte das noch lange nichts an den Tatsachen – und dass sie in letzter Zeit dazu neigte, das zu vergessen, änderte ebenfalls nichts daran. Unsicher, was sie jetzt tun sollte, und innerlich gleichzeitig wütend wie hilflos über ihre Situation, folgte sie den beiden schließlich und lehnte sich in der Nähe an eine Säule, wo sie einfach nur wartete und darauf hoffte, für den Rest des Besuchs übersehen zu werden.