Siv blieb der Mund offen stehen, als sie sein simples ‚Ich weiß’ hörte. Was sie bis jetzt nicht hatte glauben wollen, hatte Corvinus nun unmissverständlich klar gemacht – er wusste, was es für Merit heißen musste zu warten, und genau deswegen handelte er so. Siv holte Luft, setzte dazu an, etwas zu sagen, ließ es dann doch, holte erneut Luft, um etwas loszuwerden, und brach wieder ab, und wiederholte das Ganze noch ein drittes Mal, bevor sie endgültig aufgab. Es gab nichts dazu zu sagen. Sie fand dieses Verhalten unmöglich, aber, und das war ihr auch klar, vor allem deshalb, weil es sie selbst viel mehr getroffen hätte als es bei Merit offenbar der Fall war. Die Situation war nicht gerade dazu angetan, dass die Ägypterin sich wohl fühlte, aber sie schien noch einigermaßen damit klarzukommen. Siv dagegen hätte sich tatsächlich wie ein Hund behandelt gefühlt, wie irgendeine minderwertige Kreatur, und allein der Gedanke daran ließ sie schon wieder beben vor Empörung. Mit jemandem nicht reden, weil man sauer war – das war eine Sache, und das hatte Siv schon oft genug fertig gebracht, obwohl sie in den meisten Fällen lieber mit den Leuten stritt. Aber aus kühler Berechnung heraus jemanden zu ignorieren, weil man wusste, dass man den anderen damit demütigte?
Sie starrte Corvinus an, diesen Mann, aus dem sie einfach nicht schlau wurde, der so viele verschiedene Seiten zu haben schien und der ihr gerade wieder eine neue an sich gezeigt hatte. Ein Teil von ihr fragte sie leise, wie sie wohl handeln würde an seiner Stelle, und auch wenn sie glaubte, so etwas nicht zu tun, musste sie doch zugeben, dass er auf eine gewisse Art recht hatte – und je nachdem wie Merit war, Erfolg haben würde, mehr als mit einer sofort ausgesprochenen Strafe. Jetzt tat sie einen kleinen Schritt zurück, während Corvinus weitersprach. Sie hat sich aufgeführt wie einer… dementsprechend behandeln… Diese Worte riefen eine unangenehme Erinnerung wach, an das einzige Mal, wo ihr Vater wirklich durchgegriffen hatte, an die Zeit, als ihr er endgültig beschlossen hatte, sie zu verheiraten, auch gegen ihren Willen – und sie sich im Grunde gegen alle gewendet hatte, alle, die sie zur Vernunft hatten bringen wollen, was so gut wie jeder gewesen war. Recht gegeben hatte ihr zumindest keiner. Und sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie mit dem drittjüngsten ihrer Brüder geredet hatte, mit dem sie sich von allen am besten verstand und der damals der einzige gewesen war, den sie an sich herangelassen hatte. Sie konnte heute noch hören, was er damals gesagt hatte, als sie sich über die anderen und allen voran ihren Vater beschwerte: Wenn du dich wie ein bockiges Kind benimmst, brauchst du dich nicht wundern, wenn du wie eins behandelt wirst. Das hatte Siv tatsächlich zu denken gegeben, auch wenn sie zuerst in die Luft gegangen war. Und am Ende hatte sie nachgegeben. Aber die Situation jetzt war doch eine andere, Merit war kein Kind von Corvinus und auch kein Hund, sie war… eine Sklavin. Sein Besitz. Letztlich kam es immer darauf zurück. Siv schloss für einen Moment die Augen, als ihr das klar wurde. "Ich auch weiß, dass Merit gebringt von wen. Trotzdem… Sie wollte nie Sklavin sein, kannst du’s ihr verdenken, dass sie die Chance genutzt hat wieder frei zu sein?"
Verkaufen wollte er Merit also, zumindest dachte er darüber nach. Und dann sprach er aus, was er vorher nur angedeutet hatte – er war fertig, mit dem Thema, mit ihr. Dass sie noch nicht fertig war, schien ihn dabei kaum zu interessieren, stattdessen informierte er sie nur noch beiläufig darüber, dass sie ihn am nächsten Tag wieder zu begleiten hatte. In jeder anderen Situation hätte Siv wenigstens mit den Augen gerollt, weil sie wieder mit musste, obwohl er ganz genau wusste, wie wenig sie das mochte. Aber jetzt sah sie ihn nur weiter an, wusste nicht, ob sie tatsächlich gehen sollte, oder ob es noch irgendeinen Sinn hatte zu bleiben und weiterzubohren. Sie wollte nicht eine zweite Abfuhr bekommen, eine noch kältere, oder wirklich hinausgeworfen werden. Aber gehen wollte sie auch noch nicht, dafür war sie zu aufgewühlt. "Warum?" fragte sie schließlich, und sie wusste selbst nicht so genau, was sie damit eigentlich meinte – oder eher, wie viel. "Sie nicht ein Kind ist, und nicht ein Hund. Sie Sklavin ist, aber auch Mensch. Sie… Du sie seht wie?" Vielleicht war es dumm von ihr, weiterzureden – sie wollte nicht hören, dass Merit – und damit auch sie – letztlich nur eine Sklavin war, aber sie vermutete, dass sie genau das zu hören bekommen würde. Trotzdem sprach sie weiter, und jetzt klang ihr Warum fast etwas gequält. "Sie Sklavin, ja? Besitz. Nicht mehr. Warum Leben so sein, so ungerecht? Warum… warum gebt so viel, so viel… Abhängig, und Erwartungen, und, und… Nicht schick mich weg. Bitte. Ich… es ist so schwer, und…" und mit den anderen kann ich nicht reden, sie kennen nur eine Seite, die Sklavenseite, natürlich – und außerdem will ich wissen, was du denkst.