Siv biss sich kurz auf die Lippe, als Corvinus Ragin ansprach. Für den Bruchteil eines Moments musste sie gegen das Gefühl ankämpfen, dass er – ein Römer – nicht das Recht hatte, von Ragin zu sprechen, und auch nicht ihre Situation beurteilen konnte. Aber sie gewann den Kampf, auch wenn sie Corvinus nicht ansah, als sie antwortete. "Ja. Menschen erwarten. Aber, was ich tun … das, das nicht immer dann, was Menschen erwarten. Ich nicht können tun, was Menschen erwarten, nicht von alle. Weil alle erwarten anders. Ich nicht, nicht… können sein, auf fünf Art verschieden." Sie spielte mit einer Strähne ihres Haars. "Anpassen… ja. Aber wie sehr ist gut. Wie sehr… anpassen. Und noch bleiben selbst." Nachdenklich hing sie für Augenblicke ihren eigenen Gedanken nach, während sie sich an ihn lehnte, und wurde daraus gerissen, als er sich kurze Zeit später bewegte und ein Stück von ihr fortrückte. Erst in diesem Moment wurde ihr klar, was sie gerade getan hatte, und ihr Gesicht überzog sich erneut mit einer leichten Röte. Gleichzeitig fragte sie sich, was sie dazu gebracht hatte, diese vertrauliche Haltung zu suchen. Er war und blieb ein Römer, und sie war seine Sklavin, wie sonst sollte er darauf reagieren? Wahrscheinlich fragte er sich gerade, was sie sich dabei gedacht hatte – das fragte sie sich ja selbst. Die simple Wahrheit war: nichts. Sie hatte einfach agiert, ohne nachzudenken.
Bevor ihr die Situation aber wirklich peinlich werden konnte, bevor sie anfangen konnte sich über sich selbst zu ärgern oder ähnliches, griff Corvinus – der sich inzwischen an den Baumstamm gesetzt und die Beine aufgestellt hatte – nach ihr und zog sie zu sich. Siv war im ersten Moment zu überrascht, um sich zu wehren oder überhaupt etwas zu tun, und so folgte sie einfach nur dem leichten Druck, den seine Hände auf sie ausübten. Erst als sie schon zwischen seinen Knien saß, fragte sie sich, was da gerade geschah. Sie hatte nicht mit dieser Reaktion gerechnet, und hätte sie vorher darüber nachgedacht, hätte sie sich gar nicht erst an ihn gelehnt. Aber er schien nichts dabei zu finden… Hätte Siv gewusst, was er gerade dachte, dass seine Überlegungen von Wörtern wie Illusion, Inszenierung und Spiel beherrscht wurden, wäre sie nun gegangen, wütend, aber vor allem verletzt und enttäuscht. Was auch immer zwischen ihnen sein mochte, für Siv war es authentisch. Sie hatte beileibe ihre Probleme damit, mit einem Römer, dem sie nach römischem Recht noch dazu gehörte, so vertraut umzugehen, ihn zu mögen. Aber sie fühlte sich einfach wohl in seiner Gegenwart, meistens jedenfalls, sie hatte das Gefühl, verstanden zu werden… und das war etwas, wogegen sie sich auf Dauer nicht wehren konnte. Sie konnte nicht künstlich eine Abneigung konstruieren, wo keine war, auch wenn sie es zumindest anfangs gerne getan hatte. Als sie nun also endgültig nachgab und sich an seine Brust lehnte, ihren Kopf unter seinem Kinn, fühlte sie sich tatsächlich geborgen, und ihre Hand tastete nach seiner, um etwas von diesem Gefühl zurückzugeben.
Ihr Blick glitt wie seiner über den Himmel, wo die Sterne ausgebreitet waren wie funkelnde Steine auf schwarzem Samt. Manche Konstellationen erkannte sie wieder, und das hatte etwas Tröstliches, während die Worte, die an ihr Ohr drangen, eher dazu führten, dass sie erschauerte. Sie verstand nicht alles, aber was sie verstand, genügte. Ihre Finger verschränkten sich mit seinen und drückten sie kurz in dem Versuch, ihm Trost zu spenden, aber sie sagte nichts. Was hätte sie auch sagen sollen? Sie kannte ihn oder seine Familie nicht gut genug, um beurteilen zu können, ob er die Wahrheit sagte. Und sie wollte auch nicht irgendetwas Heuchlerisches von sich geben, etwas wie, dass alles schon nicht so schlimm sein würde wie er sich das gerade einrede… Sie wusste nicht, ob es so war. Nur seinem letzten Satz konnte sie voll und ganz beipflichten. "Nein. Leben nicht gerecht. Aber auch nicht immer… schlecht. Leben ist, ist… ein ständiges Auf und Ab. Oben und unten." Ebenso versonnen wie er das Sternbild anstarrte, hörte sie ihm bei dessen Beschreibung zu. Ihr war neu, dass mit Sternen Geschichten verbunden waren, und sie war fasziniert von der Geschichte. "Ich nicht kennen die Geschichte. In Germanien, Sterne sein, sind… Funken. Kleiner Feuer, sehr sehr klein. Götter nehmen kleiner Feuer, und… tun an Himmel. Am Anfang." Einen Moment schwiegen beide und sahen einfach nur das Sternbild an, dann spürte die Germanin eine Bewegung hinter sich, und seine Frage machte sie wieder nachdenklich. "Was bewegen…" Sie drehte ihren Kopf zur Seite, so dass ihre Wange nun an seiner Brust lag, ihr Ohr knapp über seinem Herzen, so dass sie es schlagen hören konnte. Seltsamerweise beruhigte sie das. "Du reden von anpassen. Anpassen… wichtig, ja. Nötig. Aber was wenn, wenn nicht wollen? Aber… einfach tun? Du ge, ge… gewöhnen an viel, ich gewöhnt an viel. Ich… Mein Leben hier so, so anders sein. Ich, ich nicht wollen… sein zufrieden hier. Nicht in Rom, nicht sein Sklave. Nicht gewollt. Aber hier Menschen sein, die ich mag. Und sein viel, viel interessant." Siv seufzte leise. Das allein war schon ein Zwiespalt, der sie stark beschäftigte – wie sollte sie ihre ablehnende Haltung aufrecht erhalten, wenn sie doch inzwischen Menschen hier hatte, die sie mochte, mit denen sie Spaß hatte? Und das war noch lange nicht alles. Wieder fiel es ihr nicht leicht, das zu sagen, aber sie hatte nun mal angefangen. "Römer immer… sein schlecht, für mich. Aber ich weiß, dass nicht so sein. Ich nie wollen sein, dass wahr, aber… Ich immer noch hassen Soldaten, die fangen. Aber nicht Rest. Nur… sein einfach, mehr einfach, wenn können hassen alle. Ich hassen Römer, früher, alle. Denken Germanen sein besser. Weil ich gewollt, dass so sein. Ich sein so stolz. Aber…" Siv schwieg erneut einen Moment. Sie hatte keine Ahnung, ob er auch nur ansatzweise verstehen würde, wie sehr sie mit sich und ihrem Stolz zu kämpfen gehabt hatte, um überhaupt an diesen Punkt zu kommen, an dem sie nun war. Überhaupt darüber nachzudenken, dass Römer nicht alle gleich waren. Und das nicht nur vor sich selbst, sondern vor einem anderen, gar einem Römer, zuzugeben – was in der Konsequenz auch bedeutete zuzugeben, dass sie im Unrecht gewesen war. Und nicht zuletzt hatte sie Probleme auszudrücken, was sie empfand, was ihr im Kopf herum ging – es wäre ihr auch in ihrer Muttersprache nicht leicht gefallen, die richtigen Worte zu finden, weil sie ja selbst noch nicht mit sich im Reinen war. Auf Latein war es ungleich schwerer. Wie sollte er da verstehen können, was es für sie bedeutete, wie schwer ihr das alles fiel? Trotzdem versuchte sie es weiter. "Wenn, wenn, wenn wir… so stark wie Römer. Wir tun gleich. Nicht ich, oder von mir Familie, aber andere. Menschen so sein. Ich nicht will, dass so sein, nie wollen… zugeben, dass… Germanen tun gleich, was Römer tun. Wenn können. Ich nicht will denken das, aber ich weiß, dass so sein. Und jetzt…"