Beiträge von Aureliana Siv

    Gut ge…schlafen? Schlafen. Schlaf. Siv nickte nur verwirrt und einen Moment zu spät, als sie die Bedeutung seiner Frage begriff, sagte aber nichts und reagierte auch sonst nicht weiter darauf. Was war hier eben passiert? Warum war sie so aufgewacht, warum hatte sie nicht sofort gewusst, dass sie neben einem Römer lag, wie es eigentlich hätte sein müssen, wie sie es von sich selbst erwartete? Warum hatte sie stattdessen das Gefühl gehabt, sich einfach nur wohl und entspannt zu fühlen? Sie wollte sich zurückziehen, auf die Seite legen – bei allen Göttern, sie lag immer noch halb auf ihm! –, aber sie regte sich nicht, auch dann noch nicht, als er ihre Haare zurückstrich. Sie war… sie wusste einfach nicht, was sie tun sollte. Und wie er sie ansah, machte es auch nicht gerade besser.


    Sie zuckte erst zusammen und wich seinem Blick kurz aus, als der Römer seinen Oberkörper drehte und er sie mit dieser Bewegung, unterstützt von seinen Händen, neben sich zum Liegen brachte. Ihre Augen saugten sich kurz an seiner Brust fest, während sie Luft holte, aber als sie seine Hand an ihrer Wange spürte, sah sie wieder hoch und begegnete seinem Blick. Sein Gesicht näherte sich dem ihren, und sie ahnte, wusste, was jetzt kommen würde. Römer, schoss es ihr durch den Kopf, aber irgendwie hatte es nicht denselben Effekt wie normalerweise. Er war anders als die Römer, denen sie bisher begegnet war, war anders als die Soldaten. Im Gegensatz zu ihnen nahm er sich nicht einfach, was er wollte, hatte es zumindest bisher noch nicht getan, und sie hatte kaum Zweifel daran, dass es so bleiben würde. Aber schlimmer war, dass sie das Gefühl hatte, dass er auch geben konnte. Wie lange war es her, dass sie bei einem Mann gelegen und es genossen hatte? Sie müsste lügen, wollte sie behaupten, dass sich ein Teil von ihr nicht danach sehnte.


    Sie hielt es nicht mehr aus, ihn anzusehen, aber gleichzeitig brachte sie es nicht fertig, den Kopf wegzudrehen – sie weigerte sich, sich den wahren Grund dafür einzugestehen: dass er das als Ablehnung auffassen und sich zurückziehen könnte. Stattdessen redete sie sich ein, dass sie gar nicht in der Lage war sich zu rühren, und überhaupt, sie war Sklavin… Siv schloss die Augen und hielt ohne es zu merken den Atem an, wusste immer noch nicht, was sie tun sollte, wusste nur, dass ihr Verstand gerade gegen irgendetwas anderes in ihr zu streiten – und zu verlieren schien. Sie meinte, sie bildete sich fest ein, sich nicht zu rühren, aber in Wirklichkeit hob sie ihren Kopf an und kam seinem entgegen. Als ihre Lippen schließlich aufeinander trafen, hätte sie am liebsten die Augen aufgerissen, aber irgendetwas in ihr verhinderte auch das. Stattdessen atmete sie zitternd aus, bevor ihre Lippen sacht über seinen Mund fuhren und sich dann öffneten, ihn schmeckten, vorsichtig zuerst, dann nach und nach fordernder, als in ihr die Lust nach mehr erwachte.

    Ruhig strich Sivs Atem über die Brust des Mannes, während ihre Finger ebenso sachte darüber fuhren. Irgendwo, am Rand ihres Bewusstseins, zupfte ein Gedanke an ihr, aber noch war er zu weit weg und sie nicht wach genug, um ihn wirklich greifen zu können. Sie versuchte es dennoch, für einen Augenblick, aber schon begann er ihr wieder zu entgleiten, und da die Hand auf ihrem Rücken in diesem Moment weiter nach oben fuhr und nun ihren Nacken zu kraulen begann, ließ sie den Gedanken davon treiben. Stattdessen bewegte sie wieder ihren Kopf, einer Katze gleich, als wollte sie es den Fingern in ihren Haaren leichter machen, sie zu liebkosen, und in ihrer Kehle entstand ein leises Geräusch, das einem Schnurren nicht unähnlich war. Ohne nachzudenken drehte sie ihren Kopf etwas nach unten, brachte ihr Gesicht näher an seine Brust, und drückte kurz ihre leicht geöffneten Lippen auf seine Haut, einmal, zweimal, ein drittes Mal.


    Wieder zupfte etwas, hartnäckiger diesmal, brachte einen leisen Missklang in die friedliche Stimmung, aber immer noch war es leicht, das zu ignorieren. Sie bewegte ihren Kopf erneut, glitt ein Stück von ihm herunter und öffnete dann, mit einem leisen Seufzen und immer noch mit einem Lächeln, endlich die Augen. Was sie sah, verwirrte sie allerdings. Der Raum war ihr unbekannt. Irritiert hob sie leicht den Kopf an und musterte ihre Umgebung, sah die römische Einrichtung, die Fenster, die beiden Sessel, über einem von ihnen ihre Tunika, den noch zur Hälfte gefüllten Weinpokal, aus dem sie gestern Abend noch getrunken hatte… Was!? Das Zupfen wurde schlagartig zu einem Zerren, das ihren ganzen Kopf auszufüllen schien, als ihr Gehirn die unterschlagenen Monate endlich wieder freiließ und die Brücke schlug zwischen Traum und Wachsein. Aber wer… Siv schloss für einen Moment die Augen, als ihr klar wurde, wer halb neben, halb unter ihr lag, dann drehte sie den Kopf und sah ihn endlich an. In ihren Augen spiegelte sich etwas von dem, was gerade in ihrem Inneren vorging: Erschrecken über die plötzliche Erkenntnis, Unsicherheit über die Situation, aber auch nach wie vor die Entspanntheit des langsamen Aufwachens und der Genuss über die Berührungen – aber vor allem Verwirrung. Siv bekam den Eindruck, dass sie dieses Gefühl nicht mehr loswerden würde.

    Die Ruhe breitete sich in ihrem ganzen Körper aus. Es dauerte zwar noch etwas, bis die Anspannung so sehr von Siv abgefallen war, dass sie einschlafen konnte, aber mit der Zeit wurde ihr Atem ruhiger, so wie der des Römers, in dessen Arm sie lag. Ihr Schlaf war nicht traumlos – wieder einen Menschen neben sich zu spüren, beschäftigte noch ihr Unterbewusstsein, und im Traum war sie zurückversetzt in die Zeit, als Ragin noch lebte. Aber, nicht zuletzt wegen ihres Traums, war ihr Schlaf so tief und ruhig wie sie es in letzter Zeit selten erlebt hatte, und sie bewegte sich im Lauf der Nacht kaum – nur gelegentlich, um ihren Kopf in eine bequemere Position zu bringen. So kam es, dass sie schließlich, als es Morgen wurde, den Oberkörper des Römers zur Hälfte als Liegefläche missbrauchte. Ihr Atem ging nach wie vor ruhig, und sie schlief, ohne zu merken, dass der Mann unter ihr langsam aufwachte.


    Erst als er sich bewegte, begann ihr Geist, sich langsam aus den Tiefen des Schlafs zu lösen und empor zu tauchen. Da ihre 'Unterlage' allerdings aufhörte, sich zu bewegen, überquerte Siv nur langsam die Grenze zwischen Schlafen und Wachen, und selbst als sie sie hinter sich gelassen hatte, blieb ihr Bewusstsein noch eine ganze Weile in dieser grauen Zwischenwelt hängen. Ihr Traum schien sie zu verfolgen, denn sie spürte tatsächlich einen Mann neben – oder eher halb neben, halb unter – sich, der ihr über den Rücken strich. Die Berührung entlockte Siv ein leichtes Lächeln, und sie seufzte tief, während sie ihren Kopf, immer noch in halbwachem Zustand, etwas zur Seite bewegte. Noch im Traum gefangen, dachte sie in diesem Moment überhaupt nicht nach, wusste nicht, wo sie war oder wer neben ihr lag, wusste nicht einmal mehr, dass sie schon lange nicht mehr in Germanien war. Es war nicht so, dass sie bewusst dachte, Ragin wäre bei ihr. Aber unbewusst ging sie einfach davon aus, denn er war der einzige Mann gewesen, mit dem sie solche Momente geteilt hatte. Wieder kam ein wohliger Seufzer über ihre Lippen, und ihre Hand begann, sacht über seine Brust zu streicheln.

    Wieder ein überraschter Blick, als er ihr Germanen zuraunte und damit offensichtlich antwortete. Wie viel von dem, was sie sagte, verstand er tatsächlich? Vielleicht war sein Satz zuvor nur gedacht gewesen, um sie in Sicherheit zu wiegen, und in Wirklichkeit konnte er verstehen, was sie sagte… Für einen Moment runzelte Siv die Stirn, aber dann tat sie den Gedanken ab. Sie glaubte nicht, dass Corvinus sie wirklich verstand – dafür hatte er dann doch eindeutig zu wenig reagiert auf das, was sie ihm an Kopf geworfen hatte. Und selbst wenn, Siv war kein Mensch, der ein Blatt vor den Mund nahm. Wenn sie genug Latein gekonnt hätte, hätte sie es ihm in seiner Sprache gesagt, damit er sie verstand. Also war es auch egal. Als er dann Cadhla erwähnte, nickte sie nur – sie war sich nicht ganz sicher, was er gesagt hatte, aber vermutlich hatte es irgendetwas mit ihren Lateinkenntnissen zu tun, zumindest verstand sie die Wörter lernen und helfen. Danach schwieg auch er, und wieder breitete sich eine Stimmung aus, die dafür sorgte, dass die Verwirrung die anderen Gefühle verdrängten, die sich nach wie vor in ihr breit machten. Eine Zeitlang musterten sie sich einfach nur gegenseitig – der Römer scheinbar völlig entspannt und gelassen, die Germanin irgendwo zwischen Unruhe, Verwirrung und Entspannung.


    Das Licht fiel auf sein Gesicht und betonte die markanten Züge, und aus einem Reflex heraus hob Siv ihre Hand, um es zu berühren, ließ sie aber sofort wieder sinken, als er seine hob und über das ihre strich. Sie schloss kurz die Augen bei der sachten Berührung, öffnete sie aber sofort wieder, als sie spürte wie er seinen Arm um sie legte und sie zu sich zog. Sie folgte dem leichten Druck zögernd, wieder angespannt, rückte notgedrungen etwas näher an ihn heran und ließ sich schließlich ebenfalls ganz auf das Bett sinken, immer noch auf der Seite liegend, ihr Körper ihm zugewandt, ihr Kopf an seiner Schulter. Sie wusste nicht so recht wohin mit ihren Händen, weil sie in ihrer momentanen Position gar nicht anders konnte als ihn damit zu berühren, es sei denn sie legte sie hinter ihrem Rücken ab, was reichlich unbequem geworden wäre. Schließlich schob sie eine Hand halb unter ihren Kopf, während sich die andere federleicht in der Nähe ihres Kinns auf seine Brust legte. Wie lange war es her, seit sie das letzte Mal in dieser Art bei einem Mann gelegen hatte? Seit sie das letzte Mal einfach umarmt worden war und Nähe gespürt hatte, einfach so? Sie wusste es nicht. Sie wusste auch nicht, was er damit bezweckte, oder ob er vielleicht tatsächlich einfach nur das wollte: jemanden neben sich spüren. Aber das war ihr im Moment auch egal. Mit einem leisen Seufzen spürte Siv, wie die Anspannung langsam von ihr abfiel, als der Moment gegen ihren Willen zu wirken begann. Sie wollte seine Nähe eigentlich nicht genießen. Aber es war spät, sie war müde, und vor allem: sie hatte eine harte Zeit hinter sich. Es war leicht, in dieser Atmosphäre, kreiert durch den ruhigen Schein der Öllampe, den sachten Berührungen und das Schweigen, zu vergessen, wer oder was er war; so leicht, sich vorzustellen, er wäre jemand anders, wäre kein Römer; fast schon zu leicht…

    Siv lächelte, mit einer Mischung aus Wehmut und Freude. Sie deutete in die Ecke, in der Tillas Kletterbaum stand. "Dort wie Zuhause, mein Zuhause." Sie liebte den ganzen Garten, schien nicht genug bekommen zu können von all den fremdartigen Pflanzen hier, aber die Ecke, in der die Nordgewächse waren, mochte sie immer noch am liebsten, boten sie ihr doch noch am ehesten so etwas wie Zuflucht, wenn ihr alles zuviel wurde. Es war nichts im Vergleich zu den Wäldern ihrer Heimat, aber es war immerhin etwas – und es war mehr, als sie die letzten Wochen gehabt hatte. "Gemütlich", wiederholte Siv etwas nachdenklich und versuchte eine passende Entsprechung in ihrer Sprache für Cadhlas Beschreibung zu finden. Dann zuckte sie die Achseln und grinste leicht. "Matho sein… nicht sein mich. Er mag mich nicht, glaub ich, seit dem in der Küche." Siv grübelte kurz, ob sich ihr Zorn auf Matho selbst entladen hatte, aber soweit sie wusste, hatte er es nur mitbekommen. Sie zuckte leicht mit den Achseln. "Dabei hat er gar keinen Grund dafür… Egal."


    Während Cadhla sich streckte, schob Siv ein paar Blätter beiseite, um dann die beiden Körbe auf den freigewordenen Platz zu stellen. Danach richtete sie sich wieder auf und sah die Keltin für einen Moment an, bevor sie anfing, mit einem mitgebrachten Rechen die Blätter zusammen zu harken. Ging es ihr besser? Sie wusste es nicht. Es ging ihr besser, insofern zumindest, dass sie gute Kleidung hatte, regelmäßig essen konnte, ein vernünftiges Bett hatte – und vieles war sogar besser als das, was sie von Zuhause kannte. Aber ihr Inneres wollte sich nicht beruhigen. Sie sehnte sich nach ihrer Heimat, ihrer Familie und ihren Freunden. Gerade hier, wo es ihr gut ging, wo sie nicht mehr die Soldaten hatte, die ihren Zorn ständig von neuem entflammten und ihm ein Ziel gaben, etwas, worauf sie ihn fokussieren konnte, spürte sie die Sehnsucht stärker als je zuvor. Erst jetzt realisierte sie, wie sehr ihr diese unbändige Wut geholfen hatte, alle anderen Empfindungen, Gefühle die sie schwach sein ließen, zu unterdrücken. Gleichzeitig nahm immer noch häufig genug ihr Zorn überhand, aber sie hatte hier nicht oft jemanden wie die Soldaten, denen sie konkret für etwas die Schuld zuschieben konnte, und in diesen Momenten mischte sich ihre Wut mit ihrer Sehnsucht zu etwas, was Siv innerlich zu zerreißen drohte. Ohne zu Cadhla zu sehen, zuckte sie mit den Achseln. "Ich nicht weiß. Ich… Leben besser hier, besser wie bei Zuhause. Aber…" Siv sah auf, und ihre Augen loderten in einem unruhigen Feuer. "Hier falsch. Hier nicht Zuhause, aber Römer hier, und, und… Ich nicht ruhig. Ich, ich viel Zorn, und, ich, ich war nie ruhig, oder beherrscht. Ich hab nie…" Siv verstummte, denn diesmal wusste sie noch nicht einmal auf Germanisch, wie sie ausdrücken sollte was sie empfand. Sie hatte nie wirklich gelernt, auch mal nachzugeben. Sie hatte nie ihren Stolz aufgeben, ja, noch nicht einmal wirklich zurückstecken müssen. Hier musste sie es, und Siv war ein sehr stolzer Mensch – möglicherweise zu sehr. Und dazu kam die Wut und die Sehnsucht… Sie presste die Lippen zusammen und begann mit heftigen Bewegungen, die Blätter weiterzuharken. "Viel Zorn. Und Zorn helfen. Helfen leben. Nicht zu verzweifeln."

    Die Germanin war nicht einmal so sehr wütend, nicht nur, hieß das. Sie war wütend, verwirrt, misstrauisch, erheitert und noch mehr, so schien es ihr. Die verschiedensten Gefühle tobten in ihr, als ob sie an Odins jährlicher Jagd teilnehmen wollten, wechselten sich munter ab und mischten sich bunt durcheinander. Siv wusste nicht mehr, was sie tun oder wie sie sich verhalten sollte. Im Moment hatte sie noch nicht einmal mehr ihren Zorn, an den sie sich sonst festklammerte, in den sie sich verbiss, so sehr, dass sie alles andere ausblenden konnte. Der Römer mit seiner seltsamen Art nahm ihr so total den Wind aus den Segeln, dass er inzwischen schon mehr als einmal dafür gesorgt hatte, dass sie sprachlos war – was eher selten vorkam. Wenn sie nichts sagte, dann weil sie nichts sagen wollte, nicht weil ihr nichts einfiel.


    Wieder ein Blick, diesmal etwas zweifelnd. Wenn sie nicht gerade so durcheinander gewesen wäre, wäre sie beleidigt gewesen, weil er seinen Spaß an dieser Situation hatte, die sie so… nun ja, fast hilflos sein ließ. Zumindest fühlte sie sich inzwischen so. Sie war erleichtert, als er sie endlich losließ und sich auf das Kissen sinken ließ. Die spinnen, die Römer. (:D) Seit die Römer so sehr in ihr Leben getreten waren, dass sie zu einer mehr oder weniger konstanten Bedrohung geworden waren, hatte sie gedacht, dass Römer im Wesentlichen recht einfach gefertigt waren. Und in jedem Fall sich alle recht ähnlich. Und die Soldaten hatten ihr keinen Grund gegeben, diese Meinung zu ändern. Aber jetzt… Unsinn, fauchte sie sich selbst an Gedanken, aber auch das nur halbherzig. Sie selbst stützte sich nach wie vor auf einem Arm ab, und sie musterte den Römer, dessen Gesicht vom Licht beschienen wurde und der seine Finger offenbar einfach nicht von ihren Haaren lassen konnte. " Römer…" Der Tonfall hatte etwas Abfälliges, aber weit mehr etwas Grübelndes.


    In jedem anderen Gespräch hätte sie, laut oder in Gedanken, gefragt, warum um alles in der Welt sie Latein lernen sollte – aber jetzt war sie froh über die Ablenkung. "Ich weiß, Latein schlecht ist. Soldaten nicht machen lernen." Denen war es egal gewesen, ob und wie viel ihre Gefangenen lernten. Sie waren nicht diejenigen, die sie verkaufen würden und denen dementsprechend daran gelegen sein musste, ihren Wert zu steigern. Siv fiel plötzlich auf, dass sich die Art änderte, wie er sie nun betrachtete, und sie bewegte sich kurz unruhig. Sie versuchte, seinen Blick zu ignorieren, aber sie wollte auch nicht wegsehen, wollte nicht nachgeben, wollte sich nichts vergeben, und das hätte sie, ihrer Meinung nach, wenn sie wegsah. Am liebsten hätte sie gefragt, was er nun schon wieder hatte, aber das brachte sie dann doch nicht fertig – sie gestand sich nicht ein, dass sie befürchtete, die Antwort würde wieder ein Teil dieses Spiels sein, mit dem sie nichts anfangen konnte, sondern sagte sich einfach, sie wollte nicht mehr mit dem Römer reden. Also tat sie nichts, außer seinen Blick zu erwidern und ihn ebenso zu mustern.

    Sie sollte sich eigentlich langsam daran gewöhnen, dass er nicht so reagierte wie sie erwartete, aber sie tat es nicht. Als Siv ihn anfauchte, tat er gar nichts, antwortete noch nicht einmal, sondern spielte nur weiter mit ihren Haaren, und sie starrte ihn an – verwirrt, misstrauisch, und diesmal auch ziemlich verärgert. Sie war es nicht gewöhnt, dass jemand so gar nicht auf ihre Ausbrüche reagierte, egal ob der Betreffende nun versuchte zu beschwichtigen oder selbst wütend wurde. Vielleicht hätte ihr Vater diese Methode öfter anwenden sollen, aber sie war die Jüngste gewesen, das einzige Mädchen, und sie sah ihrer Mutter, die noch dazu in der Nacht ihrer Geburt gestorben war, so ähnlich… Er hatte sie verwöhnt, hatte ihren Launen meistens nachgegeben, und die meisten anderen in Sivs Umgebung ebenso – und dem Rest war sie einfach aus dem Weg getan, weil sie genau das nicht mochte. Und die Römer? Hatten, jedenfalls bisher, auch immer reagiert. Einzig das harte Leben in Germanien und ihre Brüder, die zwar ebenfalls vernarrt gewesen waren in ihre kleine Schwester, sie aber trotzdem nur zu oft geärgert hatten, hatten dafür gesorgt, dass Siv lernte, ihr Temperament, ihre Sturheit und ihre Launen wenigstens gelegentlich zu kontrollieren.

    Corvinus konnte sie aber nicht aus dem Weg gehen. Abgesehen davon, dass sie Sklavin war, lag sie im Moment in seinem Bett. Aber nichts in der Welt konnte sie daran hindern, eingeschnappt zu sein, und der Blick, mit dem sie ihn jetzt musterte, war finster. Der Römer ließ sich davon augenscheinlich wenig beeindrucken. Er spielte weiter mit ihren Strähnen und musterte sie, und als er dann wieder das Wort griff, war Siv gegen ihren Willen interessiert. Hatte sie das richtig verstanden, er war in Germanien gewesen? In ihrer Heimat? In der… Legion?!? Das Interesse blieb, änderte sich aber. Wieder schienen Gewitterwolken über ihr Gesicht zu ziehen und ihre Augen zu verdunkeln, während sie abfällig die Lippen kräuselte. "Legion? Du kämpfen? Wie viele Germanen hast du auf dem Gewissen, wie viele hast du in die Sklaverei gebracht?" Dann kam er wieder auf den Schnee zu sprechen, für den sich Siv jetzt am allerwenigsten interessierte, und sie verengte die Augen. "Ja, Schnee. Winter kalt. Leider nicht kalt genug, sonst wärt ihr Römer schon alle erfroren!" Aber wieder schien er ihren feindseligen Ton entweder nicht zu hören, oder er ignorierte ihn. Siv begann zu verzweifeln. Inzwischen war sie soweit, dass sie sogar eine Strafe in Kauf genommen hätte, um ihn aus der Reserve zu locken. Aber statt etwas zu tun, was sie erwartete, was sie kannte und womit sie hätte umgehen können, redete er nur weiter – auf Germanisch.


    Siv starrte Corvinus für einen Moment nur völlig verblüfft an, dann fing es an um ihre Mundwinkel zu zucken. "Man trinkt rundes Haus auf mir? Wer hat dir denn den Schwachsinn beigebracht?" Sie musste lachen, sowohl über das was er sagte, als auch über seine gruselige Aussprache, und genauso wenig wie sie ihren Zorn wirklich gut kontrollieren konnte, konnte sie ihre Heiterkeit verbergen. Sie musste sich zwingen daran zu denken, mit wem sie gerade im Bett lag, um wenigstens ihr Lachen zurückzuhalten. Sie duckte sich, als er begann, mit ihren Haaren ihren Hals zu kitzeln, und schob seine Hand weg, aber er schien schon wieder etwas anderes im Sinn zu haben. Er griff nach ihrem Arm und sagte etwas von Angst haben, und… was… fressen Germaninnen? Bevor Siv einen Sinn darin entdecken konnte, beugte er sich über ihren Arm und tat so, als ob er sie beißen wollte, aber letztlich wurde ein flüchtiger Kuss daraus, der eine Gänsehaut auslöste und ihr einen kurzen Schauer über den Rücken jagte. Als er sie danach grinsend ansah, starrte sie nur entgeistert zurück. Was wollte er? Was sollte das? Er benahm sich, als ob sie schon seit langem miteinander vertraut wären, als ob… Siv weigerte sich, diesen Gedanken zu Ende zu denken. "Was du willst, Römer? Was, was das…" Sie hätte gestikuliert, aber auf den einen Arm stützte sie sich, den anderen war nach wie vor in seinem Griff. "Was soll das? Du kannst nicht einfach die Spielregeln ändern! Du, du… was…"

    Siv starrte Cadhla ein paar Momente einfach nur an. Was sie tat, was sie tun wollte? Das war eine gute Frage. Sie verstand nicht alles, nicht einmal wirklich viel von dem, was die Keltin sagte, aber sie verstand genug. Es gab nichts, was sie tun konnte, das wusste sie selbst nur zu gut, hatte sie doch so viel versucht, in den ersten Wochen ihrer Gefangenschaft. Sie hatte sich gewehrt, hatte versucht zu fliehen, hatte Ausflucht gesucht in Überheblichkeit, und immer, immer waren es letztlich die Römer gewesen, die am längeren Hebel gesessen hatten. Und das war es, was sie so rasend vor Wut machte. "Ich weiß. Ich… Nichts da, was tun, was tun kann. Nichts." Ihre Stimme war immer noch ruhig, bebte aber vor unterdrücktem Zorn und Hilflosigkeit. "Aber ich nicht, nicht ruhig sein. Nicht lächeln. Ich nicht will, und nicht kann. Nichts tun kann, das, das ist… das… ich hassen das, ich… Es macht mich einfach wahnsinnig, genau dieses nichts-tun-können, ich-" Siv verstummte abrupt. Was brachte es schon, weiter zu reden? Auf Latein konnte sie nicht ausdrücken, wie sie sich fühlte, und auf Germanisch verstand sie keiner. Davon abgesehen bekam sie zumindest bei Cadhla inzwischen das Gefühl, dass sie nachvollziehen konnte, wie es ihr ging.


    Wieder ließ sich die Germanin mit gekreuzten Beinen auf den Boden sinken. Sie presste die Lippen aufeinander und versuchte, dem Tumult in ihrem Inneren wenigstens etwas Herr zu werden. Ganz egal was ihr passiert war, sie ließ es gerade an den Falschen aus. Die beiden Frauen, die ihr gegenüber saßen, konnten am wenigsten etwas dafür, und darüber hinaus trugen sie auch noch das gleiche Schicksal. Für einen winzigen Moment überlegte Siv, wie viel es Cadhla wohl kosten mochte, so beherrscht zu bleiben, wo eine wildgewordene Germanin vor ihr herumsprang und ihr im Grunde vorgeworfen hatte, keine Kriegerin zu sein, nur weil sie so ruhig war. Nun, das hatte Siv nicht getan, aber sie hätte es, jedenfalls noch vor ein paar Minuten, wenn sie Latein gekonnt hätte. Aber auch so glaubte sie, dass genug von dem angekommen war, was sie gemeint hatte. Die Germanin war dankbar, als Caelyn, die sich weitestgehend aus der Diskussion herausgehalten hatte, wieder das Wort ergriff. Bei ihr verstand Siv zwar noch weniger als bei Cadhla, weil sie schneller sprach und eine etwas andere Form von Latein als die Römer, denen sie bisher begegnet war, aber sie verstand zumindest ein Wort: fliehen. Siv seufzte. "Ich fliehen will. Ich fliehen bei Soldaten, bei Weg hier, zwei Mal. Aber Römer viel, und schnell. Sie haben mich wieder eingefangen. Du kannst nichts tun, wenn sie dich haben…" Sie war immer noch aufgebracht, aber jetzt klang ihre Stimme hauptsächlich bitter.

    Noch jemand kam, eine junge Römerin diesmal, und obwohl Siv gewusst hatte, dass das früher oder später passieren würde – immerhin war sie dafür anwesend –, verstärkte sich der Druck auf ihre Kiefer, als die Aurelierin sie zu sich winkte. Die Germanin schwankte, für einen Moment unschlüssig, was sie tun sollte. Am liebsten wäre sie verschwunden, aber sie wusste was das nach sich ziehen würde. Als dann auch einer der beiden anderen Römer, ohne sich umzudrehen, zu winken begann, und einer der anderen Sklaven ihr einen auffordernden und schon nicht mehr allzu freundlichen Blick zuwarf, gab Siv sich einen Ruck und bewegte sich, etwas steif, zu den dreien hinüber. Während sie auf sie zuging, musterte sie, und ihr gefiel nicht wirklich, was sie sah. Der eine machte eine finstere Miene, der zweite lag immer noch auf eine Art und Weise da, für die ihn ihr Vater bestenfalls hinausgeschmissen hätte, und die dritte… wirkte eigentlich recht gut gelaunt. Aber sie hatte dasselbe arrogante Gehabe wie alle Römer. Kein Wunder, sie war Römerin. Das waren alle drei.


    Siv spürte, wie der Zorn wieder in ihr aufstieg, und sie schob die Gedanken schnell weg, das hieß, zumindest bemühte sie sich. Beherrschung. Gelassenheit. Das brauchte sie hier. Denk an Cadhla, sagte sie sich. Es kann doch nicht so schwer sein zu lächeln. Es sind nur Römer. Sie brachte vielleicht kein Lächeln zustande, aber eines musste man Siv zugute halten – sie blieb ruhig. Allerdings hatte diese Ruhe einen Preis, über den sie sich selbst noch nicht einmal bewusst war: ihre Haltung, die ohnehin schon aufrecht gewesen war, hatte nun etwas Arrogantes angenommen. Sie trat zu den Römern und passte eine kurze Pause in dem Gespräch ab – es war eine Wohltat, dass sie sich zur Abwechslung mal nicht darauf konzentrieren musste zu verstehen, was sie da sagten –, und wandte sich dann an die beiden, die noch kein Getränk hatten. "Was ihr wollen?" Sogar sie, mit ihren geringen Lateinkenntnissen, hätte höflichere Formulierungen gewusst – ganz davon abgesehen, dass Niki und Brix ihr inzwischen ein paar beigebracht und mit ihr eingeübt hatten, vor dem Essen. Aber schon da hatte sie nicht ganz eingesehen, warum sie sich das merken sollte.

    Siv hatte gerade Niki in der Küche geholfen, als Dina hereinkam und ihr sagte, dass Matho sie im Garten brauchte. Die Germanin wischte sich die Hände ab und ging nach draußen – egal was für eine Arbeit der Maiordomus für sie haben mochte, solange es draußen war, konnte es ihr nur recht sein. Im Garten angekommen stellte sie sich zu den anderen Sklaven, die schon da waren, und sah dem Mann, der sie auf dem Sklavenmarkt gekauft hatte, zu, wie er sie in Paare einteilte und ihnen sagte, was sie tun sollten. Dass Siv alleine übrig blieb, fiel ihm erst auf als er im Grunde schon alles fertig hatte, und irgendwie schien ihm das gar nicht zu gefallen. Die Germanin runzelte leicht die Stirn. Sie mochte neu sein, aber soweit sie begriffen hatte ging es nur darum, Blätter einzusammeln. So schwer oder kompliziert, dass sie das nicht auch alleine hätte machen können, war das nun auch wieder nicht. Aber Matho hatte einen ihrer Temperamentsausbrüche in der Küche mitbekommen und schien ihr seitdem zu misstrauen, und Siv zuckte nur die Achseln und wartete gespannt, was für eine Lösung er sich einfallen lassen würde.


    Das musste er allerdings gar nicht, denn in diesem Augenblick erschien Cadhla im Garten. Inzwischen wusste Siv, dass die Keltin die Leibsklavin ihres Herrn war – ihres gemeinsamen Herrn, denn dass sie in Corvinus’ Auftrag gekauft worden war, hatte sie inzwischen auch begriffen. Ihr war nicht ganz klar, was eine Leibsklavin war, aber es schien einige Vorteile mit sich zu bringen. Dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, beneidete Siv die Rothaarige nicht. Nicht im Geringsten. Nicht alle in der Sklavenschaft waren davon begeistert, zumal Cadhla ebenfalls noch nicht lange hier war. Mathos Kommentar zeigte das sehr deutlich – Siv verstand zwar nicht wirklich, was er sagte, aber das musste sie auch nicht, war der Ton doch deutlich genug. Davon abgesehen musste Cadhla mehr Zeit mit Römern verbringen. Siv erwiderte das kurze Lächeln, dass sie ihr zuwarf, und sie freute sich, als die Keltin sich zu ihr stellte – auch wenn sie gerne erlebt hätte, wie Matho sein Dilemma mit ihr gelöst hätte, wäre Cadhla nicht gekommen.


    Siv nahm sich ebenfalls einen Korb und folgte Cadhla in den hinteren Teil des Gartens. Seit ihrem ersten Abend hier hatte sich in ihr ein Gefühl gebildet, dass sich langsam, aber sicher als Bewunderung für die Keltin herausstellte. Cadhla war, zumindest meinte Siv das in diesem ersten Gespräch erkannt zu haben, mindestens genauso aufgewühlt über ihr Dasein als Sklavin wie sie selbst. Die Gelassenheit, mit der sie ihr Schicksal aber für den Moment annahm, hatte nichts mit Apathie oder Ergebenheit zu tun, sondern war die Gelassenheit einer Kriegerin, die auf den richtigen Moment wartete, warten musste – angeeignet im Training und durch Erfahrung, und Cadhla bewahrte sie, auch wenn es ihr schwer fiel. Hätten ihr Vater oder ihre Brüder von ihren Gedanken gerade gewusst, hätten sie sie vermutlich nur sprachlos angestarrt, denn ihnen hatte Siv nicht einmal die Gunst des Zweifels zugestanden, wenn es um so etwas wie Geduld oder Gelassenheit gegenüber Feinden ging. Aber Siv fiel es nicht wirklich auf. Sie schloss mit ein paar schnellen Schritten zu Cadhla auf und sah sie von der Seite an. "Arbeit was? Ich nicht, nicht wissen Worte." Sie lächelte kurz und zuckte dann die Achseln. "Für ich, … egal… Es ist mir egal, ob die Arbeit… Für ich, … Arbeit schwer, Arbeit leicht, ich nicht brauchen." Ihr fiel nicht auf, dass brauchen das falsche Wort war. "Wichtig ist, Arbeit in Garten."

    Siv musste sich anstrengen, um Cadhlas Worten zu folgen, und das führte dazu, dass sie sich wenigstens etwas beruhigte. Ihr Zorn wurde nicht geringer, aber sie bemühte sich ihn zu greifen und zu formen, damit er sie nicht komplett ausfüllte und sie sich nicht genug konzentrieren konnte, um zu verstehen, was gesagt wurde. Unter der Oberfläche brodelte er dennoch weiter, und was sie hörte – was sie begriff von dem, was Cadhla sagte – führte dem Feuer, das in ihr loderte, nur neue Nahrung zu. "Römer schlecht! Und ob die Römer schlecht sind!" explodierte sie dann doch. "Sie sind feige, sie sind arrogant, und sie halten ihr Volk für allen anderen überlegen!" Ihre blauen Augen flammten, und sie dachte nicht im Geringsten daran, dass manche zumindest die letzten beiden Dinge auch über sie sagen würden. Genauso wenig wie sie daran dachte, dass sie schon wieder Germanisch sprach. "Das sind sie aber nicht, und nur weil sie nur dann angreifen, wenn sie mehr sind, und feige Hinterhalte legen, sind sie in der Lage zu siegen! Aber das macht sie nicht besser, und meine Heimat haben sie bis heute noch nicht erobern können! Du, du wie Ragin reden!" Das war einer der wenigen Punkte gewesen, die sie an ihm immer gestört hatten, selbst dann, als sich ihr Trotz endlich gelegt hatte. Wieder lief sie aufgeregt hin und her, blieb aber erneut stehen, als die Rothaarige weitersprach, und diesmal drangen ihre Worte mehr zu Siv durch – weit genug, dass wenigstens ein Teil von ihr anfing, sich ernsthaft darüber Gedanken zu machen. Für einen Moment war sie hin- und hergerissen. Auf der einen Seite verstand sie, was Cadhla sagte, dass sie wartete, bis ihre Zeit gekommen war – und sie wusste, dass das die Art war, wie Krieger dachten, die meisten zumindest. Cadhla klang wie ihr Vater, wie ein paar ihrer Brüder, wie Ragin, wenn sie über die Römer gesprochen hatten. Auf der anderen Seite konnte Siv aber nicht begreifen, wie sie, wie irgendjemand so ruhig und besonnen bleiben konnte, wenn es um einen Feind wie die Römer ging, und noch dazu um eine Niederlage gegen sie. Sie verstand nicht, wie Cadhla so kühl, ja, berechnend ihre Lage analysieren konnte. Sie selbst hatte in den letzten Monaten oft genug das Gefühl gehabt, innerlich zu zerreißen vor Wut, und sie hatte weit mehr als nur einmal ihre Gefühle nach außen getragen und sich gegen die Römer zur Wehr gesetzt, obwohl sie genau gewusst hatte, wie wenig Sinn es hatte.


    Diesen Kampf in ihrem Inneren hätte vor noch gar nicht allzu langer Zeit innerhalb eines Lidschlags ihre temperamentvolle Seite gewonnen. Aber sie war nicht mehr die, die sie zu Hause gewesen war. Die Gefangenschaft hatte ihre Spuren hinterlassen, nicht nur auf ihrem Körper, und sie hatte dazu gelernt – sich zu beherrschen, wenigstens ab und zu, zum Beispiel. Vor allem aber eines: dass die, die besonnen vorgingen, möglicherweise nicht Unrecht hatten. Früher hatte sie sich nur aufgeregt, wenn andere so über die Römer sprachen wie Cadhla es nun tat, und sie verachtet. Jetzt ließ sie immerhin den Gedanken zu, dass das möglicherweise die objektivere Sichtweise war – in jedem Fall aber die bessere, wenn man erfolgreich sein wollte. Trotzdem konnte sie sich selten weit genug beherrschen, um dafür genügend Abstand zu haben, und so tobte der Kampf in ihr ungehindert weiter. Ihre Emotionen mussten auf ihrem Gesicht deutlich zu lesen sein, als Siv sich schließlich mit gekreuzten Beinen auf dem Boden niederließ und die beiden musterte. Sie war wütend, und gleichzeitig fühlte sie sich hilfloser als je zuvor. Sie sollte die Römer anlächeln? Ihre Kiefermuskeln spannten sich deutlich sichtbar an, als sie den Kopf schüttelte, aber ihre Stimme klang wieder ruhiger. "Ich auch haben Ketten. Gehen lange Weg. Ich… Vielleicht hast du Recht. Aber… Ich, ich nicht kann so, so ruhig sein! Römer sein, Römer sind Feind, sind schlecht!" Erneut sprang die Germanin auf, weil sie schon wieder begann sich aufzuregen. Sie wandte sich an Caelyn. "Deine Heimat hat Römer? Viel Zeit? Germanien frei, Teil bei Germanien, der ist meine Heimat, und ich froh. Wir kämpfen. Ich traurig, leiden, bei deine Land, bei dir. Das sein Zeichen, für wie Römer sein." Sie schüttelte aufgebracht den Kopf. "Ich nicht kann lächeln. Nicht bei Römer."

    Siv verstand immer noch nicht, was für ein Tier Tilla genau meinte. Irgendein Tier mit Hörnern, offenbar. Ein Stier? Oder meinte sie etwa ein Geweih, also einen Rehbock? Aber was hatte ein Stier oder ein Rehbock mit einer Nuss zu tun? Siv schüttelte verständnislos den Kopf und nahm sich vor, Tilla später noch mal zu fragen, wenn jemand dabei war der das Mädchen verstand – oder lesen. In Ordnung. Wieder die Geste, dazu ein Lachen. "Ich denke wir sollten das Thema lassen, ich komm eh nicht drauf. Wir… halt. Halten, bei Tier. Ich, ich nicht weiß, was du sagen wollen." Sie sah hoch zu dem Nest, wandte ihren Blick aber wieder Tilla zu und beobachtete interessiert, welche Gesten sie nun machte. Vogel war, wie in Ordnung, leicht zu verstehen, im Gegensatz zu diesem anderen Tier, und Siv grinste erfreut. Danach musste sie sich aber wieder konzentrieren, als von Tilla ein neuer Schwall Gesten kam. Die Germanin zog die Unterlippe zwischen die Zähne, und zwischen ihren Brauen bildete sich eine leichte Falte, als sie konzentriert zusah. "Sie… Warum die Vögel kein Nest… was, haben? Bauen?" Nachdem was sie selbst davor erzählt hatte, konnte das eigentlich nur eins bedeuten.


    In diesem Moment allerdings knackte sie gerade die Nuss, und Tillas erschrockene Reaktion hielt sie erst mal davon ab, auf die Sache mit dem Nestbau zu antworten. "Keine Sorge, Tilla. Die kann man essen." Sie steckte ein Stück der Nuss in den Mund und hielt dann dem Mädchen ihre offene Handfläche hin, auf der die beiden Hälften inzwischen nebeneinander lagen, krümelte ein weiteres Stück heraus und bot es ihr an. Danach wandte sie sich wieder den Vögeln zu. Die Vögel, auch hier verwendete Siv nur die Geste und deutete dann wieder nach oben, zum Nest, wobei sie die hoffentlich passende Geste wiederholte, "nicht das tun, in Germanien, weil… weil… da ist zu kalt." Siv deutete wieder ein Frieren an. Ihr war gar nicht bewusst, dass sie sich mit Tilla gerade in drei 'Sprachen' verständigte. Stattdessen fiel ihr das Wort für Schnee wieder ein, dass sie erst vor kurzem gelernt hatte – sie weigerte sich daran zu denken, von wem und unter welchen Umständen – und beschloss es zu verwenden, auch wenn sie sich nicht ganz sicher war, ob Tilla es kannte. Immerhin schneite es hier ja angeblich nicht, wie ihr jemand gesagt hatte. "Viel Schnee. Und" Vögel "nicht da, manche jedenfalls. Sie gehen, gehen zu warme Land, und sind da, wenn in Germanien warm." Siv hatte sich schon oft gefragt, wo die Vögel hinzogen im Herbst – sie wusste nur, dass sie nach Süden flogen, dorthin wo es immer wärmer wurde, aber was genau ihr Ziel war, wusste sie nicht. Dann setzte sie sich mit einem Ruck auf, als ihr ein Gedanke kam. Vielleicht kamen sie ja hierher? Oder wenigstens ein paar von ihnen? Siv sah in den Himmel, als ob sie gleich ein paar sehen müsste. Sie wusste, dass es nur Vögel wären, aber es wären Vögel die sie von zu Hause kannte, und wären damit ein Stück Heimat…

    Siv war hibbelig. Es gab kein anderes Wort dafür. Mit einiger Anstrengung schaffte sie es, sich nichts anmerken zu lassen, aber sie war es. Die ersten Tage hatte sie noch nicht beim Servieren helfen müssen, sondern erst so alles kennen lernen können, aber heute hatte sie nicht nur bei den Vorbereitungen geholfen, heute sollte sie, zum ersten Mal, dabei sein. Und das bedeutete letztlich auch, dass sie heute zum ersten Mal, seit Brix sie vom Sklavenmarkt geholt hatte, wieder Römer begegnen würde, mehr als einem, hieß das. Römer, die möglicherweise alle so seltsam wie Corvinus waren. Kaum einen Moment später ärgerte sich Siv, dass sie das gedacht hatte. Es war völlig egal, wie seltsam sie waren. Sie waren Römer, das allein zählte. Und bisher hatte sie es geschafft, den allermeisten aus dem Weg zu gehen. Jetzt aber standen die Chancen gut, dass sie in der nächsten Zeit so gut wie jeden Römer kennen lernen würde, der hier im Haus war. Sofern die Mahlzeiten hier wie bei ihnen zu Hause waren, also im Grunde jedes Familienmitglied daran teilnahm. Ihre Miene verdüsterte sich etwas, als der erste hereinspaziert kam und sich in ihrer Nähe niederließ, aber einer der anderen kümmerte sich schon darum, dass er bekam was er wollte. Und nicht lange danach kam der nächste Römer und setzte sich, oder besser: fläzte sich auf eines dieser Bettgestelle. Wenn einer ihrer Brüder sich so aufgeführt hätte beim Essen, hätte ihr Vater ihm vermutlich die Ohren langgezogen. Aber Siv begriff ohnehin nicht, wie man halb im Liegen essen konnte, da machte es wohl auch nicht mehr so einen großen Unterschied, wie man dalag. Für einen Moment befürchtete sie fast, der Römer würde sich umsehen und einen Sklaven – möglicherweise sie – zu sich winken, weil er irgendetwas wollte. Dafür war sie hier, und dass wusste sie auch, aber sie hatte es bisher geschickt verstanden, sich eben nicht mit dem Gedanken vertraut zu machen, jemanden bedienen zu müssen. Das war für jemanden wie sie schon schwer genug zu schlucken, und dass dieser jemand ein Römer sein würde, machte es nur schlimmer. Aber der junge Mann schien zumindest im Moment kein Interesse an irgendeinem Getränk zu haben, sondern grüßte den anderen, und Siv nutzte die Gelegenheit und blieb wo sie war.

    Siv war angespannt, auch wenn sie sich bemühte sich nichts anmerken zu lassen, und die Anspannung wuchs mit jedem Moment, indem der Römer einfach nur dalag und nichts tat. Sie musterte ihn sowohl verwirrt als auch misstrauisch, und ihre Brauen zogen sich wieder zusammen. Was für ein Spiel spielte er? Er suchte zwar Körperkontakt, aber ansonsten tat er nichts, nichts von dem was sie erwartet hätte. Sie hätte nicht erwartet, dass er nach ihren Haaren griff und damit spielte, wie es Ragin immer getan hatte. Und sie hätte mit Sicherheit nicht erwartet, dass er sie weiter mit Fragen überhäufte. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, bevor sie sie kurz zusammen presste. Abwarten. Einfach abwarten, sagte sie sich. Sie würde schon merken, was er wollte. Sie wollte jedenfalls nicht zeigen, dass sie nach wie vor keine Ahnung hatte, was sie von ihm oder von der Situation halten sollte. Also wich sie seinen Berührungen nicht aus, und weil er zumindest im Moment keine Anstalten machte, ihr noch näher zu kommen, entspannte sie sich etwas und rutschte ein bisschen hin und her, um sich bequemer hinzulegen.


    "Thor sein, ist, Gott. Donnergott", wiederholte sie, und jetzt glomm Spott in ihren Augen und ihrer Stimme auf. Sie die Frau eines Gottes? Dann wäre sie jetzt nicht hier, oder wenn doch, dann um über die Römer zu richten, und nicht als ihre Sklavin. "Ich nicht hier bin, wenn Thor, wenn Gott mein Mann. Thor nicht, nicht sein Name. Jedenfalls nicht allein." Es gab durchaus Kombinationen mit Thor, aber zumindest Siv war noch niemandem begegnet, dessen Eltern ihm den Namen des Donnergotts gegeben hätten. Dass Corvinus sie aber nach ihrem Mann fragte, störte sie nicht weiter. Ragin war tot, und auch wenn es noch nicht allzu lange her war – sie hatte ihn nicht geliebt. Es gab Momente, da dachte sie mit Wehmut an ihn, weil er ein guter Mann gewesen war, der es einem leicht gemacht hatte, ihn zu mögen – oder, in Sivs Fall eher: der es ihr verdammt schwer gemacht hatte, ihn nicht zu mögen. Tatsache war aber gewesen, dass sie ihn einfach nicht hatte mögen wollen. Sie war zu aufgebracht gewesen über die Tatsache, heiraten zu müssen. Nicht etwa wegen etwas so Unsinnigem wie Liebe, denn das war nichts, was in Sivs Leben bis zu diesem Zeitpunkt eine Rolle gespielt hätte, und das tat es bis heute noch nicht. Es ging um ihre Freiheit, die sie aufgeben musste. Und sie war empört gewesen, dass ihr Vater, ihr Vater!, sie tatsächlich verheiraten wollte, und das sogar gegen ihren Willen. Dass sie schon länger im heiratsfähigen Alter gewesen war, dass sie nicht ewig zu Hause leben konnte, dass ihr Vater zuvor schon einige Male versucht hatte, sie im Guten zu überzeugen, hatte sie dabei gekonnt ausgeblendet. Nein, sie hatte ihre Freiheit behalten wollen. Freiheit… Sie verzog spöttisch die Lippen, um das nagende Gefühl der Sehnsucht zu überspielen. Freiheit war jetzt nur noch ein Wort für sie. Freiheit war das, was ihr Herr ihr zugestand, und das würde wohl kaum den Namen Freiheit verdienen.


    "Ragin. Ragin hieß mein Mann, ist Name bei Mann, mein Mann. Er sein Krieger, viel Römer tot von ihm." Wieder blitzten ihre Augen auf. Sollte der Römer neben ihr ruhig wissen, wer ihr Mann gewesen war und was er getan hatte. Corvinus konnte noch von Glück reden, dass sie es ihm nicht wie Gift und Galle entgegen spuckte, so wie den Soldaten – aber das lag an seiner Art, wie er sich benahm, wie er mit ihr redete. Siv war davon verwirrter, als sie sich selbst eingestehen wollte. Und jetzt begann er tatsächlich noch, ihr zu erklären, was das Wort Schnee bedeutete – sie hatte ihre Frage eher aus einem Reflex heraus gestellt gehabt, nicht weil sie wirklich eine Antwort erwartet hätte. Diesmal war ihre Verwirrung sogar größer als ihr Misstrauen, als sie vergeblich versuchte, aus ihm schlau zu werden. Ein Teil von ihr begann sich zu wünschen, sie hätte einen der Soldaten vor sich, dann wüsste sie wenigstens, woran sie war. Aber sie wusste es eben nicht, und um ihre Unsicherheit zu überspielen, ging sie auf das ein was er sagte – und redete mehr mit ihm, als sie eigentlich wollte. Sie bewegte sich wieder etwas und konnte dabei nicht vermeiden, dass ihr Bein dabei an seinem entlang strich. "Schnee", sagte sie, und wiederholte mit einem Nicken auf Latein: "Schnee. Viel Schnee, in Germanien. Hier… reg… reget? Regent? Oh, was heißt das schon wieder…", murmelte sie. Dann fiel ihr etwas ein. "Regen? Wasser, bei Himmel? Sommer in Germanien warm, aber kurz. Sommer klein." Siv hatte es mit dem Wort 'bei'. Wenn sie nicht wusste, welche Präposition sie verwenden sollte, nahm sie einfach 'bei'. Sie wusste nicht warum, aber es gefiel ihr.


    Die Behauptung sie würde den Sommer hier mögen verstand sie zwar, aber darauf ging Siv nicht ein. Sie mochte Wärme, aber sie wollte den Sommer hier nicht mögen. Es war ein römischer Sommer, so einfach war das. Im nächsten Moment stützte sie sich genau wie er auf einem Ellenbogen ab und funkelte ihn an. Angst? Sie? Sie war Germanin, bei allen Göttern! Selbst wenn sie Angst hatte, würde sie es keinem Römer zeigen. Dementsprechend heftig war jetzt ihr Tonfall. "Angst? Bei Hel und ihrem dunklen Reich, ich keine Angst. Nicht vor Römer, oder durch, oder bei!"

    Siv lächelte, als Tilla ihr bedeutete, dass sie bleiben konnte. In Ordnung, wiederholte sie die Geste mit ihren Händen. In Ordnung war noch ziemlich leicht zu verstehen. Sie kletterte auf einen anderen Ast, der näher bei Tilla war und ihr zusätzlich die Möglichkeit bot, sich an den Stamm anzulehnen, und bemühte sich Tillas Gesten zu folgen. Sie hatte immer noch Schwierigkeiten damit und verstand das Mädchen oft noch weniger als die anderen Sklaven. Aber sie lernte die Gesten schnell, schneller jedenfalls als Latein, und sie fand es lustig, sich ohne Worte zu unterhalten. Sie wiederholte Gesten, die sie begriffen hatte, und wann immer sie es konnte, benutzte sie sie, um sich mit Tilla zu verständigen.


    Sie inspizierte das Loch, aus dem die verräterische Nuss herausgefallen war, und grinste leicht, als Tilla noch eine Nuss hervorholte und diese ausgiebig musterte. Bei dem was sie deutete musste Siv diesmal allerdings passen. "Was?" Zusammen mit der Geste. "Tier? Was Tier? Und was du sagst von, von… über die Nuss?" Siv hielt die Walnuss hoch, die sie getroffen hatte und die sie immer noch in der Hand hielt. Dann sah sie ebenfalls nach oben, als Tilla dorthin deutete, und sah das Nest. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.


    "Sie fangen schon mit dem Nestbau an? Bei uns machen die Vögel das erst im Frühling… Viel später. Aber der Winter ist hier auch nicht so kalt. Die Vögel", sie deutete auch auf das Nest, während sie versuchte halbwegs zu übersetzen, "die Vögel… sie in Germania nicht, nicht… das tun. Nicht wenn Winter, wenn kalt." Sie schlang kurz die Arme um sich und tat so als ob sie fror, bevor sie ihren Blick wieder zum Nest wandte, in der Hoffnung, das Bussardweibchen zu Gesicht zu bekommen. Ohne nachzudenken steckte sie dabei die Walnuss in den Mund und biss mit ihren Backenzähnen einmal kräftig zu, so dass die beiden Hälften sich voneinander lösten, und ließ sie dann wieder in ihre offene Hand fallen, wo sie sie auseinander nahm und den Kern herauskrümelte.

    Interessiert verfolgte Siv die Erzählungen der Rothaarigen, auch wenn sie nicht alles von dem verstand, was sie sagte. Aber dass sie gekämpft hatte, gegen Römer, so viel begriff sie, und dass sie am Schluss doch unterlegen war – offensichtlich, sonst wäre sie nun nicht hier. Die Germanin grübelte kurz darüber nach, ob es anders gelaufen wäre, wenn sie hätte kämpfen können. Vermutlich nicht, immerhin waren auch Krieger bei der Gruppe gewesen, mit der sie unterwegs gewesen war. Und auch bei ihnen waren die Römer in der Überzahl gewesen. Sie verzog das Gesicht. "Römer sein feige." Sie machte eine verächtliche Handbewegung. "Mit Angst sie sein. Sie immer machen Kampf, wenn, wenn mehr sind." Siv musste an Ragin denken, daran wie die wenigen Überlebenden zurückgekommen waren und erzählt hatten von dem Überfall, dem Kampf, davon dass sie kaum eine Chance gehabt hatten… Und sie dachte an den Überfall, bei dem sie in Gefangenschaft geraten war. Ihre Augen glitzerten zornig. "Viel gute Mann sind gestorben, haben tot, wenn Römer- weil die Römer so feige sind!"


    Danach stellten sich die beiden anderen vor – Caelyn und Cadhla. Sie nickte beiden noch einmal zu und bemühte sich, die Gedanken an die Römer zu vertreiben, weil das ihren Zorn nur anfachte. Allerdings machte zumindest Cadhla ihr das nicht unbedingt leicht. Siv runzelte leicht die Stirn, als sie anfing über ihre Haare zu reden, weil sie nicht verstand, was genau sie meinte, aber sie hörte wieder das Wort Römer. Tilla 'sprach' wieder mit ihnen und verließ kurz darauf den Raum, und Cadhla fuhr fort, und was sie jetzt sagte verstand Siv schon eher – schwer, schlagen, falsch, das waren Worte, die sie mit am schnellsten gelernt hatte, zwangsläufig. Sie begriff auch, dass die andere Sklavin versuchte, freundlich zu sein und ihr zu helfen, aber was sie vor allem heraushörte war, dass sie im Grunde genauso argumentierte wie Brix zuvor. Ungläubig sah sie die Rothaarige an, die zuvor noch behauptet hatte, Kriegerin zu sein. Unter Kriegerin stellte Siv sich etwas anderes vor. "Nicht schlagen, wenn nicht machen falsch? Alles falsch, alles… Mit welchem Recht bestimmen sie, was falsch ist und was nicht! Ich will überhaupt nicht hier sein, ich…" Sie hätte noch viel mehr sagen können, aber sie brach ab, weil die anderen sie ohnehin nicht verstehen würden. Frustriert darüber, dass sie nicht in der Lage war auf Latein auszudrücken was sie meinte, setzte sie sich im Bett auf, nur um im nächsten Moment herunter zu springen und auf und ab zu laufen. Gleich darauf blieb sie wieder stehen und setzte neu an, versuchte Worte zu finden, mit denen sie wenigstens ansatzweise verständlich machen konnte, was sie sagen wollte. "Ich, ich nicht will sein hier, in Haus, in, in, mit Römer." So wie sie das letzte Wort aussprach, klang es wie eine Beleidigung. "Ich sein hier, sein Sklavin, das falsch!"

    Marcus Corvinus… Was hatte Brix ihr noch einmal gesagt, in wessen Auftrag sie gekauft worden war? Sie versuchte sich zu erinnern, aber es wollte ihr nicht einfallen, ob es dieser Name gewesen war oder nicht. Sie meinte allerdings, der Name wäre länger gewesen, den der Germane ihr genannt hatte. Siv war mittlerweile lange genug in römischer Hand, dass sie das Prinzip der Namen eigentlich wissen sollte, aber sie interessierte sich schlicht nicht dafür. Sie hat zwar inzwischen schon einige Male gehört, wie die anderen Sklaven über die Aurelier sprachen, wenn sie die Römer in diesem Haus meinten, aber dass jeder von ihnen dies als Teil seines Namens trug, war nichts, was sich ihr sonderlich eingeprägt hatte. Als der Römer weitersprach, gab sie schließlich auf – sie würde noch früh genug erfahren, wer ihr eigentlicher Besitzer war, früher vermutlich als ihr lieb war. Stattdessen konzentrierte sie sich auf seine Worte, versuchte zu verstehen, was er sagte. Corvinus… klein… Rabe? Sie überlegte, welche Kombination wohl mit klein am ehesten passen würde, während sie versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass sie nur die Hälfte von dem verstand, was er sagte – oder eher, dass sie dennoch versuchte, einen Sinn darin zu finden. Ihr Name. Nachdem er gerade seinen erklärt hatte, schloss sie – diesmal richtig – daraus, dass er die Bedeutung von ihrem wissen wollte.


    Für einen Moment war sie versucht, einfach so zu tun, als ob sie gar nichts verstanden hätte. Es wäre so einfach… Aber sie hatte bereits begonnen, sich mit den anderen Sklaven zu unterhalten, so gut sie dazu eben in der Lage war. Früher oder später würden die Römer davon erfahren, also hatte es einfach keinen Sinn, ihnen etwas vormachen zu wollen. "Siv bedeutet… Siv…" Sie überlegte. "Braut. Frau – in später – für Thor. … Donnergott", fügte sie nach einer kleinen Pause noch hinzu. Sie ging nicht davon aus, dass er wusste, wer Thor war. Ihr Vater hatte ihr den Namen ihrer Mutter gegeben, nachdem Hel nicht in Frage gekommen war – und später hatte er oft, ähnlich wie Brix gestern, darüber gescherzt, wie passend er für sie war, viel passender als für ihre Mutter, die in einer Gewitternacht zur Welt gekommen war…


    Inzwischen hatte Corvinus sich erhoben und begann langsam, sich auszuziehen. Ohne mit der Wimper zu zucken, sah sie ihm dabei zu, während sie erneut irritiert war. Was sollte die Fragerei? Interessierte er sich tatsächlich dafür? Einen Moment lang musterte Siv ihn noch, dann zuckte sie innerlich mit den Achseln. Spielte es für sie eine Rolle, ob er mehr über sie wissen wollte? Kaum. Höchstens dass es etwas angenehmer war, wenn er sich nicht direkt nahm, was er wollte. Sie griff nach dem Pokal und trank erneut, leerte ihn etwa zur Hälfte, während er seine Tunika über den Stuhl legte und zum Bett hinüber ging. Wenn sie schon Alkohol zur Verfügung bekam, konnte sie ihn auch genauso gut nutzen, um ihr die Nacht leichter zu machen, und tatsächlich sandte der Wein eine wohlige Wärme in ihre Glieder, auch wenn es lange nicht genug gewesen war, um wirklich davon betrunken zu werden. "Was heißt Schnee? Ich meine, was… Was, was Schnee ist? Das Wort?" Heimat dagegen kannte sie. Aber wollte sie wirklich vor einem Römer zugeben, dass sie sich nach ihrer Heimat sehnte? "Heimat… ich sein lieb. Lieber." Lieber als hier, in jedem Fall. Aber das dürfte ihm auch klar sein, also vergab sie sich nichts, wenn sie es sagte.


    Danach stand sie ebenfalls auf und atmete tief ein, bevor sie ihre Tunika über den Kopf zog, unter der sie nichts trug. Sie war es gewöhnt, so herumzulaufen, hatte zu Hause im Sommer nackt gebadet, auch mit anderen zusammen – und selbst wenn es nicht so gewesen wäre, hätte sie sich so etwas wie Schamgefühl spätestens bei den römischen Soldaten schnell abgewöhnt. Für einen Moment stand sie einfach nur da, ohne ihre Blößen zu bedecken. Ihr Körper trug noch die Spuren, die sie aus der Zeit ihrer Gefangenschaft hatte, als sie kaum eine Gelegenheit zu Widerspruch und Widerstand ungenutzt hatte verstreichen lassen. Die Wunden verheilten, langsam aber sicher, und es war abzusehen, dass sie in nicht mehr allzu langer Zeit gänzlich verschwunden sein würden – aber noch waren sie sichtbar. Dann legte sie die Tunika neben seine und ging zu dem Bett, um sich neben ihn zu legen, ohne noch etwas zu sagen, aber auch ohne ihn mehr zu berühren als notwendig war.

    Ohne es zu wollen, war Siv leicht weggedämmert, und so bekam sie nichts davon mit, dass Tilla sich an ihr vorbeischlich und den Baum hinaufkletterte. Was sie allerdings mitbekam, war die Walnuss, die an ihrer Wange abprallte, ihre Schulter traf und schließlich neben ihrem Arm zum Liegen kam. Schon bei der ersten Berührung hatte sie die Augen aufgeschlagen, und verblüfft richtete sie sich halb auf und sah sich um. Erst danach blickte sie nach unten, um zu sehen, was sie getroffen hatte, und griff nach der Nuss. Einen Moment lang drehte sie sie nachdenklich in ihren Fingern hin und her, sah sie erneut um sich und dann, als sie ein Knacken über sich hörte, schließlich auch nach oben. Ihre Augenbrauen wanderten ein Stück nach oben, als sie Tilla in den Ästen ausmachte, dann breitete sich auf ihrem Gesicht ein Grinsen aus. Sie konnte sich noch daran erinnern, wie Cadhla an ihrem ersten Abend das Mädchen ermahnt hatte, vorsichtig zu sein. Für Siv sah es allerdings nicht so aus, als ob Tilla Vorsicht nötig hätte. Sie saß auf einer Astgabel, als ob es das normalste überhaupt wäre, und sah, scheinbar etwas erschrocken, zu ihr hinunter. Siv überlegte nicht lange. Sie fragte sich nur, warum sie nicht selbst auf die Idee gekommen war, auf den Baum zu klettern – immerhin hatte sie das oft getan, als sie noch durch ihre Wälder streifen konnte. Sie griff nach dem untersten Ast und schwang sich mühelos hoch, um dann geschickt zu Tilla nach oben zu klettern. Bei ihr angekommen hielt sie ihr die Walnuss hin. "Da. Macht es dir was aus, wenn ich bleibe? Du… In Ordnung, dass ich bleibe?"

    … der kann auch Wolken riechen.


    Siv seufzte tief auf. Sie mochte den Garten, ganz eindeutig, und sie verbrachte jeden freien Moment hier, den sie hatte. Die letzten Tage hatte sie damit verbracht, die verschiedenen Aufgaben kennen zu lernen – Küchenarbeit, aufräumen, ach ja, und natürlich: Römer bedienen. Die Germanin verzog kurz das Gesicht, als sie daran dachte. Die Küche war ihr noch am liebsten. Sie besaß zwar kein Talent zum Kochen, aber sie mochte Niki, und sie kannte sich immerhin mit den Kräutern aus dem Norden aus. Außerdem war in der Küche die Gefahr am geringsten, einem Römer über den Weg zu laufen. Im Garten war das anders, aber das nahm Siv in Kauf, wenn sie nur draußen sein konnte, an der frischen Luft, und nicht in diesem Haus, das sie trotz seiner Größe einengte. Sie konnte es nicht leiden, konnte es nicht leiden, ständig drinnen sein zu müssen, in fast jedem Raum einen viel zu langen Weg vor sich zu haben, bis sie nach draußen kam, Wände um sich zu haben, die ihr den Weg versperrten und sie zu erdrücken schienen.


    Sie schlenderte den Weg entlang und streifte ein paar Blätter mit ihren Fingern, musterte die Pflanzen, die ihr so fremdartig erschienen. Doch so sehr diese sie auch faszinierten, im Moment zog es Siv zu etwas Bekanntem, zu dem Teil des Gartens, in dem die Bäume aus dem Norden standen, aus ihrer Heimat… Mit einem erneuten Seufzen ließ sie sich an einem großen Laubbaum mit ausladenden Ästen entlang zu Boden sinken und schloss die Augen. Es war ihr egal, dass einer der Römer vorbeikommen und sie so sehen könnte. Im Haus hatte es gerade nicht wirklich etwas zu tun gegeben, und nachdem sie den ganzen Tag – die ganzen letzten Tage, um genau zu sein – am Rennen gewesen war, sehnte sie sich danach, wenigstens einen Moment Ruhe zu haben. Es war nicht einmal so sehr die Arbeit, denn sie war Anstrengungen gewohnt. Aber ständig, so schien es ihr, wurde ihr etwas Neues gezeigt, das sie lernen, wissen, können, musste, am besten auf Anhieb, und sie bekam langsam den Eindruck, dass ihr Kopf platzte. Und dazu kam das Haus… Hier im Garten hatte sie dagegen das Gefühl, aufatmen zu können.

    Die einzelne Öllampe brannte ruhig vor sich hin und erhellte den Bereich, in dem sie saßen, während der Rest des Raums in Halbdunkel gehüllt war, und Siv sah den Römer weiter an. Sie war sich bewusst darüber, dass sie ihn möglicherweise nicht so direkt mustern sollte, aber sie senkte ihren Blick nicht, und sie löste ihn auch nicht von ihm. Sie sah sich nun mal nicht wirklich als Sklavin, auch wenn sie es war und daran nicht viel ändern konnte. Aber die Situation konnte sie… gelinde gesagt, nicht einschätzen. Sie saß hier, dem Römer gegenüber, und betrachtete ihn ebenso wie er sie. Und außer seiner Frage und ihrem Namen war noch kein Wort gefallen – er nannte ihr seinen Namen nicht, er fragte noch nicht einmal, was sie hier wollte oder warum sie so hereingeplatzt war. Er schien sich noch nicht einmal darüber zu wundern. Es war seltsam, und gleichzeitig beunruhigte sie das etwas. Ein Teil von ihr beharrte auf der Meinung, dass es letztlich sein Problem war, was er dachte oder annahm, aber der Rest von ihr wusste, dass es nicht seines, sondern ihres war – oder doch sehr schnell zu ihrem werden konnte. Ob sie es wollte oder nicht, sie hatte zu gehorchen – die Römer hatten Mittel und Wege, sie dazu zu zwingen, und sie hatte mit einigen davon bereits Bekanntschaft geschlossen. Genug, um diese Erfahrungen nicht wiederholen zu wollen. Allerdings wusste sie auch, dass sie das wohl kaum vermeiden konnte, nicht solange sie ihr Temperament nicht wirklich im Griff hatte.


    Im Moment machte ihr ihr Temperament allerdings die geringsten Sorgen. Sie war von der gesamten Situation zu verwirrt, ganz abgesehen davon, dass der Römer ihr momentan nicht wirklich eine Angriffsfläche bot. Nicht so wie die Soldaten, die es ihr fast schon zu leicht gemacht hatten, ihnen mit Verachtung zu begegnen. Der Römer vor ihr dagegen sah sie weiterhin einfach nur an, wiederholte ihren Namen auf eine Art, als ob er das Wort schmecken wollte, und beugte sich erneut vor. Diesmal konnte sie ein Zusammenzucken nicht ganz unterdrücken, als seine Hand über ihre Wange strich, aber sie wich ihm nicht aus. Als er dann schließlich wieder das Wort ergriff, zog Siv kaum sichtbar die Brauen zusammen. Sie hatte Glück, dass er noch wach war? Hatte sie das jetzt richtig verstanden oder brachte sie irgendwelche Wörter durcheinander? Sie kam nicht auf die Idee er könne glauben, dass sie zu ihm geschickt worden war, stattdessen schloss sie aus seinen Worten – wenn sie ihn denn richtig verstanden hatte –, dass es ihr Glück war, weil sie ihn so nicht aus seiner Nachtruhe hatte reißen können. Daraus wiederum, kombiniert mit seinem Hinweis auf sein Bett – das Wort hatte sie heute gelernt – schlussfolgerte sie, dass er sie mit diesem Kommentar wieder entlassen wollte.


    Sie machte schon Anstalten aufzustehen, als der Römer weitersprach, und Siv erstarrte in der Bewegung. Diesmal hatte sie keinen Zweifel daran, dass sie ihn richtig verstanden hatte – und jetzt begann sie auch zu begreifen, warum er sich über ihre Anwesenheit nicht wunderte. Sie presste ihre Kiefer aufeinander, während sie sich wieder in den Sessel zurücksinken ließ. Obwohl sie bereits an diesem einen Tag begriffen hatte, dass sich für sie einiges geändert hatte im Vergleich zu der Reise hierher, blieben ein paar Dinge offenbar doch gleich. Ihre Augen blitzten auf, als die vertraute Wut und gleichzeitig das Gefühl der Ohnmacht in ihr aufflammte, aber zumindest meinte sie nun in einer Situation zu sein, die sie kannte. Nur dass der Römer sich doch deutlich anders verhielt als die Soldaten, irritierte Siv etwas, aber sie versuchte das zu ignorieren, während sie sich innerlich wappnete und äußerlich langsam nickte. "So du willst." Da es nun so aussah, als ob sie länger bleiben würde, fragte sie sich zum ersten Mal, wer er eigentlich war, und bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, sprach sie ihren Gedanken aus. "Wie dein Name sein – ist?"