Siv hatte schon lange den Wunsch verspürt, in der Nacht nach draußen zu gehen, weil sie oft lange brauchte bis sie einschlief, und dann nur selten einen ruhigen Schlaf hatte. Aber bisher hatte sie es nicht gewagt, weil sie sich im Haus noch nicht sonderlich gut auskannte. Und sie wollte vermeiden, wieder in den Gemächern irgendeines Römers zu landen, der dann was wusste sie was annahm und ihr befahl zu bleiben und sich seltsam aufführte… Und… Nein. Diese Erfahrung wollte sie nicht wiederholen, danke. Überhaupt versuchte sie momentan eher, sämtliche Erinnerungen an dieses Erlebnis zu verdrängen. Zu sehr stritten in ihr die verschiedenen Seiten – er war ein Römer, einer von ihnen, auch wenn er zugegebenermaßen anders war als alle, die sie bisher kennen gelernt hatte, aber gleichzeitig hatte sie sich… so gut gefühlt. Nun, in jedem Fall konnte sie nicht schlafen, nicht sonderlich gut, nicht in diesem Haus. Bei ihm schon… Siv hatte die Stimme einfach ignoriert. Es würde ihr jedenfalls nicht wieder so schnell passieren, dass sie sich verlief und auf einmal in einem fremden Zimmer stand. Jetzt kannte sie den Weg von den Unterkünften zum Garten sogar gut genug, um ihn auch im Dunkeln zu wissen.
Sie hatte sich also nach draußen geschlichen, als alle schliefen, mit ihrer Decke unter dem Arm, und hatte sich einen Baum, ihren Baum, gesucht. Für einen Moment hatte sie überlegt, es sich in einer der Astgabeln bequem zu machen, wie sie es zu Hause immer getan hatte, wenn sie im Wald übernachtet hatte. Aber sie hatte kein Seil dabei, um sich festzubinden, also entschied sie sich dagegen und kuschelte sich stattdessen dicht neben den Stamm, in eine Mulde zwischen zwei Wurzeln. Und schlief. Sie schlief tief und fest, ganz anders als drinnen, in diesem Haus, dessen Wände sie erdrückten, in diesem Bett, das mit Sicherheit eines der schlechtesten im Haus war und ihr trotzdem noch viel zu weich. Sie schlief, auch dann, als auf einmal eine Gestalt in den Garten kam. Sie schlief, während die Gestalt sich hinsetzte, herumhantierte, und schließlich in den Teich ging. Und sie schlief auch noch, als der Gesang vom Wasser herüberschwebte, zart, aber doch deutlich, getragen von der stillen Nachtluft. Die Stimme wob sich sanft in Sivs Träume hinein, und obwohl Worte und Melodie fremd waren, störten sie ihren Schlaf nicht. Erst als eine weitere Gestalt auftauchte und anfing zu sprechen, lüfteten sich die Nebel des Schlafs, durch die Siv trieb, und entließen sie schließlich.
Langsam setzte sich die Germanin auf, und noch während sie versuchte, ganz in die Welt der Wachen zurückzufinden, zog schon etwas ihre Aufmerksamkeit auf sich. Zwei Gestalten, eine über die andere gebeugt, am Teich. Siv runzelte die Stirn, während sie sich vergeblich bemühte, einen Sinn darin zu erkennen. Schließlich stand sie auf und ging näher heran, und schon bald konnte sie im Mondlicht mehr erkennen – eine junge Römerin lag am Boden, reglos, in einem weißen Kleid, das einige tiefdunkle Flecken aufwies, und daneben ein Mann, auch ein Römer, der offenbar verzweifelt auf ihr herumdrückte. Sivs Stirnrunzeln vertiefte sich. Sie näherte sich noch mehr, und jetzt sah sie, dass die Frau nass war, dass ein Handgelenk mit einem Stoff umwickelt war, der sich ebenfalls dunkel färbte… Ohne zu überlegen überwand Siv die letzte Entfernung und kniete neben dem Mann nieder, der – wie sie jetzt begriff – versuchte, das Wasser aus der Frau herauszubekommen. Siv handelte ohne nachzudenken. Sie kannte nicht konkret diese Situation, aber ähnliche – sie war einige Male dabei gewesen, wenn im Winter Menschen im Eis eingebrochen waren und sie gerettet werden mussten, oder Kinder im Sommer sich übernommen hatten, beim Schwimmen. Und mehr noch kannte sie Wunden aller Art und wusste, wie man sie versorgen musste. Das Leben in Germanien, in einer kleinen Sippe nahe beim Wald mit all seinen Gefahren brachte so etwas mit sich. Für einen Moment beobachtete sie den Römer, und als sie sah, dass er zurechtkam, nickte sie nur leicht und griff nach dem Handgelenk. Der Stoff war fest darum gezurrt, aber es reichte nicht, um die Blutung zu stoppen. Mit fliegenden Fingern riss sie einen breiten und einen schmaleren Streifen aus ihrer Schlaftunika, so dass ihr diese nun nicht einmal mehr bis zur Mitte ihrer Oberschenkel reichte. Ebenso schnell wickelte sie den breiten Streifen zu einer festen Rolle zusammen. Als sie damit fertig war, löste sie den inzwischen blutschweren Stoff um das Handgelenk, und sofort sprudelte Blut daraus hervor. "Bei Hels düsteren Geschöpfen", fluchte Siv auf Germanisch, als sie sah, wie sauber die Schlagader getroffen war. Genau in diesem Moment bäumte sich die Römerin auf, und das Blut spritzte auf Sivs Hände, ihre Tunika, sogar auf ihr Gesicht. Wieder fluchte die Germanin, wesentlich farbenfroher als noch zuvor, aber sie zuckte nicht zurück, sondern drückte ungerührt die Rolle fest auf die Wunde, um diese dann mit dem schmalen Streifen festzubinden. Sie wusste, dass das nicht reichen würde. Die Wunde musste genäht werden, wenn die Blutung dauerhaft gestoppt werden sollte…