Beiträge von Aureliana Siv

    Nachdem Tilla langsamer wurde, verstand Siv etwas mehr von dem, was sie ihr sagen wollte – soweit sie es begriffen hatte, wiederholte sie das, was die Germanin gesagt hatte, und fügte an… Siv beobachtete die Hände des Mädchens. Dass die Vögel hier offenbar auch Nester bauten, wenn es kalt war – offenbar wiederholte Tilla das. Siv sah hoch und nickte, während sie sie gleichzeitig entschuldigend angrinste. Beim nächsten Schwall Gesten wurde es wieder schwieriger. Sie begriff zwar inzwischen, dass es um Farben ging, aber sie hatte nicht die geringste Ahnung, welche Farben Tilla genau meinte, nur die, auf die sie deuten konnte, begriff sie. "Ich… Es tut mir wirklich leid, Tilla… Du meinst den Himmel?" Das war nicht schwer, dafür musste sie nur nach oben deuten. Nur wusste Siv nicht, was Himmel – oder Farben, wo sie schon dabei waren – auf Latein hieß, und Tilla hatte keine Möglichkeit, ihr das zu sagen. Also zuckte Siv mit den Achseln und fuhr fort, in dieser seltsamen Mischung aus Germanisch, Latein und Gesten zu reden. "Schnee ist weiß, und kommt vom Himmel, ja. Schnee bei Himmel, wie Regen – aber Schnee" kalt. Wieder das Frieren. Siv lächelte Tilla zu. Irgendwie verstanden sie sich, und selbst wenn nicht, war es kein Problem. Sie mochte das Mädchen, und davon abgesehen lenkte sie die Anstrengung, Tilla zu verstehen und sich selbst verständlich zu machen, von allem anderen ab, was ihr im Kopf herumging. Und gerade zur Zeit tat ihr das gut, weil sie viel zu viel am Grübeln war, wenn sie dazu kam.


    Sie nahm aus Tillas Säckchen noch ein paar Nüsse und knackte sie, um dem Mädchen dann ein paar zu reichen und die übrigen selbst auseinander zu brechen und die Nüsse zu essen. Während sie knabberte, sah sie weiter zu. "Eine große Fläche, voll mit Wasser? Meinst du ein See?" Siv kannte das Meer nicht; diesmal hätte sie auch keine Ahnung gehabt wovon Tilla sprach, wenn diese hätte reden können. Daher konnte sie auch die Gesten schlecht einordnen, die Unendlichkeit bedeuten sollten. "Hm. Viel viel Wasser. Du gehen, wo viel Wasser? Wer gehen auch?"

    Sivs Augen loderten nach wie vor in diesem unruhigen Feuer, das sie so oft zu beherrschen schien. Nein, sie wollte nicht, dass Hass das einzige war was ihr blieb. Aber wollte sie tatsächlich hier etwas Schönes finden, etwas das lebenswert war? Wollte sie sich eingestehen, dass sie das hier überhaupt konnte? Sie wusste es nicht. Es schien so wenig zu geben, über dass sie sich noch sicher war, wenn sie ihren Zorn einmal losließ. "Ich… nicht weiß. Nicht wollen Hass. Aber ohne Zorn…" Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. "Hast ein Mensch, der verstehen…" Hatte sie das? Cadhla schien nur zu gut zu verstehen, was in ihr vorging. Aber war das genug? Genug um ihr zu helfen, genug um es wirklich leichter zu machen? Und dann waren da nach wie vor die Gedanken, ob sie wirklich wollte, dass es leichter wurde… Weil sie Angst hatte, sich dann zu verlieren. Aber sie wusste auch, dass Cadhla recht hatte. Dass sie auf Dauer mehr brauchen würde als nur die Erinnerung an ihre Heimat, die noch dazu zumindest im Moment noch hauptsächlich schmerzlich war, um sich nicht irgendwann in Hass und Bitterkeit zu verlieren.


    Die Germanin widmete sich wieder der Arbeit, legte den Rechen weg und verfrachtete den Haufen Blätter, den sie zusammengerecht hatte, in den Korb. Nebenbei lauschte sie Cadhlas Erzählung, auch wenn sie – wie fast immer – lange nicht alles verstand. Aber daran gewöhnte sie sich langsam. "Ich… Mutter? Nicht wissen. Sie tot, tot wenn ich neu bin, neu… Kind. Ich wissen nur Vater, und Bruder, viel Bruder. Ich nicht weiß, wie, wie… Leben bei Mutter." Siv seufzte leise. Machte es einen Unterschied? Wäre sie anders geworden, wenn sie eine Mutter gehabt hätte? Sie hatte noch wirklich darüber nachgedacht, und es hatte nur selten Momente gegeben, in denen sie sich eine Mutter gewünscht hätte, in denen sie sie vermisst hatte. Aber sie hatte sie ja nie kennen gelernt, während Cadhla… Spontan streckte Siv die Hand aus und strich kurz über Cadhlas Handrücken. "Mutter von dir leben. Ich glaube. Und ich bin mir sicher, dass sie stolz ist auf dich. Du sein stark, Cadhla. Viel stark. Du… nicht Sklavin. Nie."

    Sivs Grinsen wurde noch etwas breiter, als die Verblüffung des Römers größer wurde. Sie war selbst ein bisschen überrascht, wie er reagierte, aber langsam gewöhnte sie sich daran, dass ihre bisherige Einschätzung der Römer nicht immer zu stimmen schien. Und es gefiel ihr, dass er sich tatsächlich mit ihr unterhielt, auch wenn er den Vorschlag natürlich wie erwartet abwies. Auch wenn sie vermutete, dass er einfach nur zu überrascht war, um abweisend oder wütend zu werden. Nun, offensichtlich schien er auch nicht so ganz zu begreifen, dass sie ihn aufzog, aber hätte sie den Vorschlag ernst gemeint, hätte er auch Grund gehabt, sie in ihre Schranken zu weisen, war sie in seinen Augen doch nur eine Sklavin. Dennoch, vielleicht konnte sie von Glück reden, dass er nicht verstand, wie sie es gemeint hatte. Bei jedem anderen – jeden ihres Standes – wäre es einfach nur ein Spaß, aber er war Römer, ihr übergeordnet, und noch dazu ihr Besitzer. Und sie behandelte ihn im Moment nicht mit dem Respekt, der ihm seiner Meinung nach wohl zustand von jemandem wie ihr. Nicht, dass sie vor den Römern mehr Respekt hatte als vor sonst jemandem, eher im Gegenteil, aber in der Regel bemühte sie sich inzwischen wenigstens, es nicht so offen zu zeigen – und diese Situation war noch einmal ganz anders. Siv war sich nicht so ganz sicher, wie er mit einer solchen Frechheit umgehen würde, von einer seiner Sklavinnen auf die Schippe genommen zu werden.


    Sie befestigte den notdürftigen Verband um seinen rechten Arm und nickte, als er ihre Bitte noch einmal wiederholte. "Richtige Worte, ja. Sagen?" Die Germanin runzelte leicht die Stirn und sah ihn fragend an. "Du sagen Worte?" Während sie in Gedanken 'sagen' zu ihrem Wortschatz hinzufügte, musterte Corvinus sie einen Moment lang und schien über ihre Bitte nachzudenken. Als Siv das bewusst wurde, presste sie die Kiefer zusammen. Es hatte sie ohnehin schon genug Überwindung gekostet, einen Römer zu fragen, aber er hatte immerhin schon angefangen sie von selbst zu verbessern, und sie war es so leid, ständig nachfragen zu müssen, ob es wirklich richtig gewesen war, was sie gesagt hatte… Aber warum sollte er sich darauf einlassen? Sie wünschte sich, sie hätte diese Frage nicht gestellt – im Moment gerade fühlte sie sich einigermaßen wohl, fühlte sich ruhig, und das passierte ihr selten in Gesellschaft eines Römers. Jetzt von ihm eine für sein Volk typische Antwort zu bekommen – für eine Sklavin Lehrer spielen? Auf was für Ideen kommst du? –, würde sie wieder aufregen – allein schon die Erwartung einer solchen Antwort ließ ihren Zorn wieder brodeln. Es ging doch nur darum, ihr ab und zu zu sagen, was falsch gewesen war. Was sie stattdessen hätte sagen müssen. Nur dann, wenn sie ohnehin miteinander zu tun hatten. So schwer konnte das für einen Römer doch nicht sein, oder?


    Prüfend und mehr, um sich abzulenken, nahm sie noch einmal seine Hände in ihre und betrachtete die Abschürfungen und Schnittwunden dort, die sie nicht verbunden hatte. Im nächsten Moment ruckte ihr Kopf nach oben, als sie seine Antwort hörte, und sie war so sprachlos darüber, dass er zustimmte, dass sie nur ein Nicken als Antwort zustande brachte. Sie war froh, dass das Thema wechselte. "Andere… erwarten?" Sie runzelte die Stirn, aber sie konnte sich in etwa vorstellen, was 'erwarten' heißen mochte. Allerdings hatte sie zumindest in diesem Augenblick den Eindruck, dass Corvinus es war, der die meisten Erwartungen an sich selbst stellte. "Ich glauben anders. Ich glauben, du… erwarten… stark sein. Von dir. Andere auch erwarten, aber du. Und du… was du willst, von dir, das sein… sein wichtig. Sein was einsam, einsam geben. … Ich wollen… erwarten stark sein. Von mir. Nicht eins hier von Zuhause, nicht Vater, oder Bruder. Mutter tot, ich nie wissen sie. Ragin tot. Aber ich wollen bin stark. Auch wenn…" Sie verstummte. Wem erzählte sie das eigentlich? Ging sie tatsächlich davon aus, dass ihn interessierte, wie es ihr ging? Wieder entstand Druck in ihrem Kiefer, als sie die Zähne zusammenbiss. Ein Moment verging in Schweigen, dann ließ sie verblüfft ihre Hände sinken, die seine bis dahin immer noch gehalten hatten. Deutlich zeigte sich die Überraschung auf ihrem Gesicht bei seinem Vorschlag. Ihr Mund öffnete sich etwas, und für Momente starrte sie ihn einfach nur an. Sie hätte niemals gedacht, dass ihr im Spaß gemachter Vorschlag tatsächlich Wirklichkeit werden würde. "Du… du ernst? Du wollen…" Sie sah seine ausgestreckte Hand, und eher im Reflex als in einer bewussten Handlung nahm sie sie. "In Ordnung. Ich… heute Abend…"

    Siv sah das Lächeln, dass sich auf seine Züge legte, als sie ihre Hand an seine Wange legte, und für einen kurzen Moment hielt sie inne. Es wirkte so ehrlich, aber… Römer… Aber die Stimme hatte schon längst verloren. In diesem Moment war er einfach nur ein Mann – ein Mann, der es geschafft hatte ein Feuer in ihr zu entfachen, dass sie weder unterdrücken konnte noch wollte. Siv war nicht mehr unerfahren. Sie war sich im Klaren darüber, was sie gerade tat. Dass sie dabei war, sich ihm freiwillig, und mehr als nur bereitwillig, hinzugeben. Dass sie ihm mit Leidenschaft begegnete und weiter begegnen würde. Und dass es für ihn wohl nichts weiter als sein gutes Recht war, dass er das bekam, was ihm wohl seiner Meinung nach zustand. Nur schien sein Lächeln etwas anderes zu sagen…


    Siv ließ alle Gedanken los, als sie ihn zu sich zog, um ihn zu küssen, und jede noch so leise Stimme in ihrem Inneren verstummte, jeder Protest, jeder Vorbehalt, den ein Teil von ihr noch gehabt haben mochte. Nichts schien mehr eine Rolle zu spielen, außer dem was sie empfand. Ihr Körper drängte sich an ihn, während sich der Kuss in die Länge zog, und als sein Mund sich dann erneut von ihrem löste und an ihrem Hals entlang hinabstrich, seufzte sie wieder, langgezogen diesmal, als wollte sie die Luft schmecken, so wie sie ihn geschmeckt hatte. Ihr Kopf sank zurück und ihre Augen schlossen sich, als seine Hände und Lippen über ihren Körper fuhren, ihn erforschten und ihn dabei zu entflammen schienen, nicht nur da, wo sie ihn berührten, sondern überall. Er hielt nirgendwo lange inne, sondern glitt immer tiefer, und ihr ohnehin schon schneller Atem beschleunigte sich noch mehr, als ihr klar wurde, was sein Ziel war.


    Ihre Hand grub sich in seine Haare, als er es erreichte und begann, Hitzezungen auszusenden in ihren Körper, und jetzt ging ihr Atem auf einmal keuchend. Langsam winkelte sie ihr linkes Knie an, streckte es wieder, strich mit ihrem Bein an seinem Körper entlang, während sich ihre Wirbelsäule nach oben durchdrückte und gleichzeitig ihr Unterleib zusammenzog. Er wusste was er tat, wusste was er tun musste, um ihr auch noch den letzten Rest Selbstbeherrschung zu nehmen, und er tat es. Welle um Welle der Lust schien über sie hereinzubrechen, immer rascher aufeinander folgend, und er trieb sie weiter, gnadenlos, bis sie nachgab und sich mitreißen ließ, sich verlor im Taumel der Leidenschaft.

    Im Haus angekommen ließ sie die Türen offen, damit der Römer, der die Verletzte auf seine Arme gehoben hatte und hineintrug, leicht seinen Weg finden konnte, dann machte sie sich auf den Weg zu den Sklavenunterkünften. Im nächsten Moment erinnerte Siv sich daran, dass Cadhla dort nicht mehr schlief, und sie machte auf dem Absatz kehrt und hetzte in die entgegengesetzte Richtung, weckte die Keltin auf und gab ihr Bescheid. Einmal mehr zeigte sich, dass Cadhla Kriegerin war, denn Siv musste nicht warten, bis sie ihre Schlaftrunkenheit überwunden hatte – von einem Moment zum anderen war die Keltin hellwach und begriff was los war. Mit einem Nicken verließ Siv den Raum und lief noch einmal hinaus in den Garten. Sie würde auf die Schnelle wohl nirgendwo etwas finden, womit sie die Wunde vernähen konnte, und davon ganz abgesehen hatte sie damit auch nicht wirklich Erfahrung. Sie hatte bisher bei so etwas nur zugesehen, und das auch nicht sonderlich oft… Sie musste bei dem bleiben, was sie kannte – der Römer würde nach einem Heilkundigen geschickt haben, vermutlich hatten das sogar die Worte bedeutet, die sie Cadhla sagen sollte. Aber das würde dauern, und sie brauchte zumindest irgendetwas, um die Wunden besser zu versorgen. Pflanzen. Im Garten hatte sie, seit sie angekommen war, jede freie Minute verbracht, und sie kannte ihn inzwischen in- und auswendig. Vor allem die Teile, in dem die Pflanzen wuchsen, die sie aus ihrer Heimat kannte.


    Außer Atem erreichte sie das Schlafgemach der Römerin, und da der Mann mit seiner Last nur langsam hatte gehen können, während sie gerannt war, als wäre ihr der Fenrirwolf auf den Fersen, traf sie in etwa zeitgleich mit ihnen dort ein. Ohne weiter auf den Mann zu achten, trat Siv neben das Bett, auf dem er die Römerin ablegte, steckte die die Blätter, die sie aus dem Garten hatte – Heilwegerich und Bärenklee – in den Mund und zerkaute sie. Heilwegerich stoppte Blutungen, Bärenklee förderte Wundheilung, und beide konnten Entzündungen hemmen. Allerdings war die Verletzung schwer, zu schwer um sich nur auf Kräuter zu verlassen. Mit einem leisen Knurren vertrieb Siv die Gedanken und konzentrierte sich auf das, was sie tat. Sie öffnete den provisorischen Verband erneut, der bereits wieder mit Blut getränkt war, spuckte den Kräuterbrei auf ihre Finger und verrieb ihn in der Wunde. Danach presste Siv mit den Fingern ihrer linken Hand die Wundränder zusammen, während sie mit der Rechten den Gurt löste, der ihre Tunika zusammenhielt. Leder war besser, es würde das Blut nicht so schnell aufsaugen wie der Stoff ihrer Tunika. Sie reichte ihn dem Römer und gestikulierte ihm, den Gurt fest zusammenzurollen.

    Siv nickte nur knapp, als der Römer mit ihr sprach. In diesem Moment kam es ihr weder in den Sinn zu widersprechen noch nachzufragen, was ein Medicus oder ein Chirurg war. Widerspruch kam nicht in Frage – vor ihr lag eine Verletzte, und in diesem Augenblick war ihr gleichgültig, ob sie eine Römerin war oder nicht. Trotz ihres Zorns hatte Siv im Grunde ein weiches Herz, und einem Verletzten – selbst wenn er diesem Volk angehörte, dass sie verachtete – nicht zu helfen, wenn sie dazu imstande war, stand einfach nicht zur Debatte. Vielleicht hätte sie gezögert, hätte sie nachgedacht, aber sie dachte nicht nach, sondern handelte nur. Und was die Worte anging – jetzt war nicht die Zeit, um Fragen zu stellen. Sie musste sich einfach darauf verlassen, dass Cadhla mit diesen Begriffen etwas anzufangen wusste. Die Germanin überprüfte ein letztes Mal den Verband um das Handgelenk der Römerin, bevor sie sich auf den Weg machte.

    "Wenig?" Siv sah ihn fragend an und nickte dann, als sie begriff was er meinte. Sein Bemühen nicht herablassend zu klingen hatte dabei Erfolg, denn auf Siv wirkte es nur wie eine beiläufige Verbesserung, wofür sie dankbar war, gaben sich doch die wenigsten Mühe dazu, solange sie sie nur verstanden. Anschließend zuckte sie leicht die Achseln und grinste ihn diesmal tatsächlich an. Sie ging nicht davon aus, dass er ernsthaft darüber nachdachte, Germanisch zu lernen – es war lediglich ihre erste Reaktion darauf gewesen, dass er so ungehalten gewesen war, weil er sie nicht verstanden hatte. Im ersten Moment war es auch nur purer Trotz gewesen, der sie das hatte sagen lassen, aber inzwischen gefiel es ihr, ihn aufzuziehen. Sein verblüffter Gesichtsausdruck war es allemal wert. "Warum nicht? Wenn es dich stört, dass du mich nicht verstehst… Ich werd noch öfter Germanisch reden, auch in deiner Gegenwart." Sie überlegte kurz und übersetzte dann: "Ich… Du wollen verstehst, was ich Worte? Du lernen. Latein bei mir… von mir… schlecht. Ich nicht… nicht kann…" Sie kämpfte Momente lang mit den Worten. "Nicht kann… Lateinworte. Nicht viel zu… Nicht kann Worte, das, das ich meine… bei Germanisch… zu tun in Latein." Sie ließ einen zornigen Laut hören, als sie es noch nicht einmal wirklich schaffte, das jetzt halbwegs vernünftig auf Latein auszudrücken. "Du sehen? Ich… Ich kann’s einfach nicht! Und ich hasse es so sehr, mich nicht ausdrücken zu können, wenn ich will!" Kurz biss sie sich auf die Unterlippe, dann zuckte sie nur die Achseln, und ihr Tonfall wurde wieder ruhiger. Das Latein lernen mochte ihr für ihren Geschmack zu langsam gehen, aber sie lernte in jedem Fall, sich zu beherrschen. "Du sehen, du müssen lernen Germanisch, wenn du wollen verstehst all Worte bei… von mir." Sie musterte ihn wieder, überlegte einen Moment, dann überwand sie sich. "Du… du hast gerade wenig gesagt. Statt klein, nehme ich an. Du das tun wieder… bitte? Andere nicht… Die anderen verbessern mich nicht, wenn sie mich verstehen, sie… Viel andere nicht das tun. Nicht wenn sie verstehen."


    Wieder hielt sie inne, diesmal als sie seine Hand in ihrem Haar spürte. Sie wollte erneut aufsehen, aber seine Worte hinderten sie daran. Nein, dachte sie. Ich kann nicht fort. Ohne etwas zu sagen, ohne sich zu rühren, starrte sie einen Moment lang an ihm vorbei die Wand an. Dann erst realisierte sie, dass der Römer von ihnen beiden gesprochen hatte. Er konnte nicht weg? Ihre Augen verengten sich etwas. Wem wollte er das weismachen? Dann allerdings sprach er weiter, versuchte mit möglichst einfachen Worten zu erklären, was ihn dazu gebracht hatte, sein Zimmer in ein Scherbenmeer zu verwandeln. Und Siv wurde nachdenklich. Weil er versuchte, sich möglichst verständlich für sie auszudrücken. Weil er überhaupt anfing, ihr etwas zu erklären – sie hätte nicht gedacht, auf ihre Frage wirklich eine Antwort zu bekommen. Und nicht zuletzt wegen dem, was sie hörte. Bisher hatte sie Römer immer nur als Feinde gesehen, oder höchstens – in den letzten Tagen – neutral. Sie hatte nie darüber nachgedacht, welche Gefühle sie bewegten, oder dass sie auch Sorgen und Probleme hatten. Dass manche von ihnen, in gewisser Weise, ebenfalls unfrei waren, gebunden an das, was ihre Familie und die Sitten verlangten, nicht anders als in ihrer Heimat… Sie verstand nicht alles, was er sagte. Aber sie verstand genug. Und auf gewisse Weise konnte sie ihn verstehen, konnte nachvollziehen, was er empfand. Sie hob ihre Hand und berührte mit blutverschmierten Fingerspitzen kurz seine Wange, und ihre Stimme war leise, als sie antwortete. "Ich verstehen. Einsam ist nicht gut. Einsam ist… nimmt stark sein. Ich weiß…" Oh, wie gut sie das wusste.

    Siv bemühte sich weiterhin, eine neutrale Miene zu wahren, aber sie konnte weder das Funkeln in ihren Augen noch das Schmunzeln um ihre Mundwinkel ganz unterdrücken. Ihr fiel durchaus auf, dass der Römer sich – nach den ersten paar Schmerzlauten – zusammenriss und keinen Laut mehr von sich gab, allerdings war sie sich nicht ganz sicher, ob dass tatsächlich ihrer Reaktion darauf zuzuschreiben war. Zu Hause, egal bei wem, hatte Spott in der Regel immer gewirkt, und sie behandelte ihn im Moment nicht anders – die Götter wussten warum, aber dass er Römer war, spielte für sie gerade keine Rolle. Die Änderung in seinem Verhalten entlockte ihr allerdings ein Lächeln, auch wenn sie vermutete, dass er sich vor einer Sklavin einfach keine Blöße geben wollte. Aber sie wusste, wie weh gerade solche Wunden tun konnten, und wieder blitzten ihre Augen auf, diesmal in einer Art anerkennendem Spott.


    Die Germanin musterte ihn für einen Moment länger, als sie auf das Sprachproblem kamen. Sie hatte das Gefühl, dass er tatsächlich verstand, aber nachdem sie ihn gerade eben erst mit Germanisch überhäuft hatte, überraschte sie das auch nicht wirklich. Wieder zuckten ihre Mundwinkel, als ihr der Gedanke kam, dass sie das vielleicht öfter machen sollte, aber seine nächsten Worte machten ihr klar, dass er ihren Kommentar offenbar falsch aufgefasst hatte. "Ich lernen. Alle Tage, klein dazu. Ich, ich verstehen will, was… andere… Was andere sagen, mich mit anderen unterhalten können. Worte bei anderen." Nach einem Moment des Zögerns fügte sie hinzu: "Worte bei dir. Du lernen Germanisch für Worte verstehen bei mir." Wieder ein Blick, etwas seltsam diesmal, als sie das 'bitte' hörte. Warum sollte er sie um etwas bitten? Sie war seine Sklavin, sie hatte ohnehin keine Wahl… Aber sie nickte nur, beendete ihre Untersuchung des linken Arms und nahm dann den rechten, der um einiges besser aussah. Er wies ebenfalls viele Schnitte und Kratzer auf, aber keiner von ihnen war so tief, dass Blut stark floss.


    Ein erneutes Reißen von Stoff erklang, als Siv wieder einen Streifen aus ihrer Tunika und diesen wieder in zwei Teile riss. Das Stück, mit dem sie bisher das Blut abgetupft hatte, hatte sich inzwischen vollgesogen, und sie lehnte sich an Corvinus vorbei und legte es auf die Kommode, bevor sie dieselbe Prozedur beim rechten Arm wiederholte. "Kr… Kräu…?" Verständnislos sah sie ihn an, aber noch bevor sie dazu kam, wirklich zu fragen, erklärte er seine Worte von selbst. Nicht dass sie wesentlich mehr verstand, aber immerhin die wichtigsten Worte begriff sie. "Pflanzen… Krankheit? Krank? Ich kennen Pflanzen. Giftige Pflanzen und Heilkräuter, wenigstens die bekanntesten. Manche. Pflanzen das macht Mensch krank, und Pflanzen das macht Mensch gut." Siv war sich nicht ganz sicher, wonach er genau gefragt hatte, aber auf diese Art hatte sie beide Möglichkeiten abgedeckt. Dann hielt sie inne, als er seufzte und seinen Kopf wieder an die Wand lehnte. Sie musterte ihn. "Nicht hier sein? Ich auch", erwiderte sie trocken, bevor sie die letzten Splitter aus seinem rechten Arm zupfte und diesen dann ebenfalls mit einem Streifen Stoff zu umwickeln begann. Wieder ein Blick in sein Gesicht, dann eine Kopfbewegung, die auf das Chaos um sie herum zeigte. "Warum?"

    Seine Hand legte sich kurz auf ihre, als sie seine Wange berührte, und drückte kurz zu, bevor er sie wieder losließ. Siv schloss kurz die Augen und atmete ein. Ein Chatte… Bilder wirbelten durch ihren Kopf, und gleichzeitig schien sich ein Teil von ihr zu lösen und sie von außen zu betrachten, ein Teil der es erstaunlich fand, wie ein paar wenige Worte in ihrer Heimatsprache, ausgesprochen von einem Fremden, es geschafft hatten, sie derart aufzuwühlen. Alles schien wieder an die Oberfläche zu kommen, der Schmerz, die Sehnsucht, die Wut, und es schien so frisch zu sein wie in den ersten Tagen ihrer Gefangenschaft. Zur selben Zeit freute sie sich, freute sich darüber, endlich jemanden getroffen zu haben, der wie sie war, der ihre Sprache sprach, ihre Heimat kannte… Im Moment spielte für sie keine Rolle, dass er den Ort, wo sie herkam, vermutlich noch nie gesehen hatte. Nur dass er von ihrem Volk war, nicht nur Germane, sondern Chatte. Sie öffnete die Augen, sah sein Lächeln, und langsam breitete sich auch auf ihrem Gesicht eines aus, auch wenn ihre Augen nach wie vor ihr Staunen, ja, beinahe Fassungslosigkeit verriet. Sie hätte nicht so überrascht sein dürfen, jemanden von ihresgleichen zu treffen, Brix war ja immerhin auch Germane, und es gab vermutlich viele andere in Rom. Aber Brix war eben kein Chatte, und darüber hinaus hatte Siv ihre Unterhaltung an ihrem ersten Tag im Haus der Aurelier nicht vergessen. Dass er sich abgefunden hatte, zumindest teilweise. Außer Brix gab es nur noch einen anderen Germanen, den Leibwächter, aber mit diesem hatte Siv noch viel weniger zu tun, ganz davon abgesehen, dass er ziemlich desinteressiert wirkte.


    Sivs Lächeln wandelte sich zu einem Schmunzeln, als er ihr von Tilla erzählte. Dass sein Germanisch eingerostet war, bemerkte sie dagegen nicht, zu sehr wurde ihre Aufmerksamkeit davon in Anspruch genommen, dass er überhaupt vor ihr stand und mit ihr sprach. "Tilla der Irrwisch. Das passt zu ihr. Wo habt ihr euch denn getroffen? Ist das… ist es möglich? Können sich Sklaven gegenseitig besuchen?" Sie hatte davon bisher nichts gewusst, aber auf der anderen Seite hatte sie bisher auch keinen Grund gehabt, überhaupt jemanden danach zu fragen. Bei seinem Kompliment stieg ihr eine leichte Röte in die Wangen, war sie so etwas doch überhaupt nicht gewohnt – sie hatte sich selten wie ein Mädchen benommen, und so war sie auch behandelt worden. Aber sie hatte auch nie Wert auf Komplimente gelegt, hatte sie immer abgewehrt, selbst von Ragin – je nach Stimmung mit einem Lachen oder einem Fluch, aber immer um zu verhindern, dass sie so reagierte wie andere Frauen, dass sie rot wurde und, schlimmer noch, zu kichern anfing und mit den Wimpern klimperte. Jetzt allerdings wollte sie weder lachen noch fluchen. Severus – warum eigentlich Severus? – hätte ihre Reaktion vermutlich kaum verstanden. Also grinste sie nur ebenso schief und war froh, dass in diesem Moment noch jemand zu ihnen trat und verhinderte, dass sie antworten musste. Der Ankömmling war eine Frau, blond wie sie beide, und sie sprach sie ebenfalls auf Germanisch an. Sivs Grinsen wurde noch breiter. Dieser Abend schien wesentlich besser zu werden, als sie erwartet hätte.


    "Heilsa, Minna", antwortete sie auf Germanisch, und bevor sie noch etwas sagen konnte, stellte Severus sie bereits vor und machte gleich darauf einen Vorschlag, der Sivs Augen zum Leuchten brachte. Das Julfest? Sie war nicht davon ausgegangen, es hier überhaupt feiern zu können… geschweige denn mit jemandem zusammen. "Das Julfest? Nur zu gerne!" In diesem Moment dachte sie nicht daran, dass sie keine Ahnung hatte, wo Severus es feiern wollte, oder wie sie dorthin kommen sollte. Ob sie überhaupt durfte. Es spielte keine Rolle, alles was für sie zählte war der Gedanke, einmal rauszukommen. Abstand zu gewinnen. Durchatmen zu können und wenigstens für Momente zu vergessen, wo sie sich befand. Die einzigen Male, in denen ihr das bisher gegönnt gewesen war, war in der Gesellschaft Corvinus’ gewesen, eines Römers, und das gab ihr hinterher nur noch mehr zu denken als ohnehin schon.

    Siv ignorierte die strafenden Blicke, die der Römer ihr zuwarf, ebenso wie den Schmerzlaut, der ihm über die Lippen kam. Sie warf ihm allerdings einen noch strafenderen Blick zu als es seine waren, als er ihr den Arm entzog. "Willst du, dass die Splitter drin bleiben?" Energisch griff sie wieder nach seiner Hand und zog den Arm näher zu sich heran, bevor sie fortfuhr, die Wunden gründlich zu untersuchen, während sie gleichzeitig immer wieder das Blut abtupfte, das aus den Schnitten neu hervorquoll. Sie sah kurz hoch und ihn an, als er erklärte, dass ihm das weh tat. Ihre linke Augenbraue rutschte ein gutes Stück nach oben, und obwohl ihr Gesicht einigermaßen unbewegt blieb, funkelte in ihren Augenwinkeln gutmütiger Spott. In diesem Moment glich er eher einem ihrer Brüder oder Freunde, weniger einem der ihr so verhassten Römer. "Natürlich tut das weh, bei den Schnittwunden." Und Siv ging nicht gerade zimperlich mit ihm um. Wenn sich jemand aus Dummheit, Unachtsamkeit oder gar mit Absicht verletzte, dann hatte derjenige nichts anderes verdient, fand sie. Ihre Brüder hatten ihr in solchen Fällen immer halb lachend, halb vorwurfsvoll gesagt, sie wäre ein Eisblock, weil sie nicht einmal genug Mitgefühl zeigte, um sanft zu sein. Woraufhin Siv jedes Mal grinsend gekontert hatte, dass sie kein Mitleid habe mit Menschen, die es hätten besser wissen müssen – oder habe sie ihnen etwa zu viel zugetraut?


    Die Germanin sah erneut hoch, als Corvinus sie wieder anfuhr, einen gerade erst herausgeholten Splitter zwischen den Fingern. Diesmal konnte sie nicht verhindern, dass es um ihre Mundwinkel amüsiert zuckte, aber noch konnte sie ein Grinsen unterdrücken. "Nein, kann ich nicht. Ich hätt’s auf Latein gesagt, wenn ich könnte. Ich würd viel sagen, wenn ich könnte, warum sollte ich mir diese Gelegenheit entgehen lassen… Aber warum eigentlich? Wenn du mich verstehen willst, lern doch Germanisch." Das war es sogar wert, es auf Latein zu sagen. Das Funkeln in ihren Augen wurde für einen Moment stärker. "So ich sein, fühlen, alle Zeit. Schwer verstehe, was… was die anderen sagen. Ich muss mich ständig konzentrieren, das ist so anstrengend. Furchtbar. Du lernen Germanisch. Wenn du wollen verstehst all ich Worte." Weil sie das Grinsen jetzt nicht mehr wirklich unterdrücken konnte, sah sie wieder nach unten und machte ungerührt weiter, ließ ihre Finger weiter hinunter gleiten, bis sie zu seinem Handgelenk kamen. Sie drehte die Hand so, dass der Rücken nach oben zeigte, und fuhr, sanfter diesmal, über die Schnitte und Abschürfungen an den Knöcheln, aber dort konnte sie keine Scherben spüren.


    Währenddessen hatte der Römer erneut eine Frage gestellt, und Siv ließ mit einem zufriedenen Nicken von seiner Hand ab und sah ein weiteres Mal zu ihm hoch. "Öfter gemacht? Du meint das machen oft?" Die Worte konnten so viele unterschiedliche Formen bilden… Aber inzwischen war Siv recht geübt darin, wenigstens den Wortstamm zu erkennen und daraus zu schlussfolgern, was gesagt worden war. "Ja. In Germanien, Leben ist… viel Gefahr. Viel wild. Wald, und Wetter, und Tiere." Und Römer. Aus einem Grund, der ihr selbst nicht ganz klar war, sagte sie das Letzte nicht laut, sondern beließ es bei den natürlichen Risiken. So gut wie alles konnte zu einer – oft genug tödlichen – Gefahr werden, selbst wenn man sich auskannte und vorbereitet war. Man traf die nötigen Vorkehrungen, so gut es ging, man brachte seinen Kindern bei auf was sie zu achten hatten, und im Übrigen akzeptierte man was kam – kurz, man lebte einfach damit. Etwas anderes kannten die Menschen dort nicht, etwas anderes hatte sie nicht gekannt, bis die Römer sie verschleppt hatten. "In Germanien, viele wissen wie, wie… bei… wie Wunden zu versorgen sind." Sie deutete auf seine Schnitte, fuhr erneut mit ihren Fingern darüber und drückte die größeren zusammen, so dass erneut Blut herauskam, um möglichen Schmutz herauszuschwemmen. Dann tupfte sie es ein letztes Mal weg, bevor sie den längeren Streifen nahm und ihn um seinen Arm zu wickeln begann. "Das da. Du lernst, müssen lernst, in Germanien."

    Zitat

    Original von Severus


    Siv fuhr herum, und ihre Haare beschrieben einen hellen Halbkreis um ihren Kopf und ihre Schultern, als sie die Worte hörte, diese vertrauten Laute, so lange nicht gehört… Nicht das Germanisch Brix’, dessen Aussprache so anders war – auch wenn es für sie nicht wirklich eine Rolle gespielt hatte, war es doch wenigstens etwas aus ihrer Heimat. Aber jetzt hörte sie einen Chatten sprechen, einen ihres Volkes… Sie sah den Mann an, der vor ihr stand und sie ebenfalls anstarrte, nahm die hochgewachsene Erscheinung in sich auf, die warme Tunika, der Mantel über seinem Arm, die blonden Haare. Graugrüne Augen schienen sie durchdringend zu mustern. Wieder sagte er etwas, aber Siv stand für Momente einfach nur da und sah ihn an, während sie versuchte zu begreifen, was gerade in ihr vorging. Die unterschiedlichsten Emotionen begannen auf einmal in ihr zu toben. Die Menschen um sie herum schienen auf einmal nicht mehr wirklich da zu sein, und auch die Geräusche drangen nur noch gedämpft an ihr Ohr. Erinnerungen drangen an die Oberfläche, an ihr Zuhause, ihre Familie…


    "Du bist Chatte? Du…" Sie hob die Hand und berührte mit den Fingerspitzen kurz seine Wange, so als müsste sie sich überzeugen, dass er wirklich da war. Die Sehnsucht, die sie in den letzten Tagen, seit ihrem Gespräch mit Cadhla, wieder weit unter die Oberfläche gedrängt hatte, einfach weil es zu schmerzhaft war, sie ständig zu fühlen, so viel schmerzhafter als der Zorn… "… bist Chatte…" Endlich fand Siv wieder in die Gegenwart zurück und musterte ihn erneut, sah ihn fragend an. So viele Fragen lagen ihr auf einmal auf der Zunge, aber sie beherrschte sich zumindest etwas. Dass er ebenfalls ein Sklave war, war anzunehmen, und die brennenden Fragen nach ihrer Heimat würde er ihr vermutlich kaum beantworten können – sie war ja selbst erst seit wenigen Wochen in Rom, er würde kaum noch neuer sein als sie. "Wer bist du? Und woher weißt du meinen Namen?"

    Siv stand, etwas gelangweilt, herum, lehnte an einer Säule und beobachtete das Treiben in dem Raum. Sie wusste eigentlich gar nicht so genau, warum sie hier war. Irgendein seltsames Fest, dass die Römer feierten – dass sie zusammen mit ihren Sklaven feierten, die offenbar einmal im Jahr keine waren. Siv begriff den Sinn darin nicht ganz. Warum die Sklaven einmal im Jahr nicht wie solche behandeln? Um sich über sie lustig zu machen? Oder damit sich die Römer in ihrer Großzügigkeit sonnen konnten? Sie war mitgekommen, weil ein Teil von ihr doch neugierig gewesen war, aber nun stand sie hier und wusste nicht wirklich etwas mit sich anzufangen. So viele Menschen… viel zu viele Menschen. Und wieder so ein Haus, das für ihren Geschmack zu groß war und dass sie einengte. Sie zog sich noch ein Stück hinter die Säule zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Auf ihrem Weg durch den Raum war sie an Tilla und Caelyn vorbeigekommen, die sich mit einer anderen Frau unterhalten hatten, und Siv hatte kurz überlegt sich dazuzustellen, aber in dem Moment war ein Römer zu ihnen getreten. Er hatte auf eine seltsam verdrehte Art und Weise angefangen zu reden, die es ihr noch schwerer als ohnehin schon machte, zu verstehen, aber offensichtlich hatte er irgendetwas davon gefaselt, dass sie tun und lassen sollten, was sie wollten. Genau, dachte sie spöttisch. Und wenn dieses Fest vorüber ist? Sie war schnell weitergegangen, hatte sich durch die Menschen hindurch geschlängelt und die aufkommende Panik bekämpft, die sich in ihr breit machen wollte, als ihr mehrere entgegen kamen, und sich dann zu der Säule verzogen.


    In ihrer Nähe konnte sie Corvinus entdecken, zusammen mit einem anderen Römer, den sie kannte, und noch zwei Männern. Wieder schnitt sie eine Grimasse. Das Fest mochte einen hehren Anspruch haben, aber mit den Sklaven ließen sich die Römer dann doch nicht ein, nicht länger jedenfalls als es dauerte sie zu begrüßen. Nein, sie verstand nicht ganz, wozu dieses Fest gut sein sollte. Oder was sie feiern sollte – dass sie Sklavin war? Die für die Dauer dieses Festes frei war? Und am besten auch noch dankbar sein, für etwas, dass bis vor kurzem noch selbstverständlich für sie gewesen war? Ihre Miene verriet wenig von dem, was sie fühlte, nur ihre Augen funkelten. Am liebsten würde sie gehen. Aber sie hatte keine Wahl als hier zu bleiben, zumindest bis der erste aus dem aurelischen Haushalt nach Hause ging. Es war das erste Mal gewesen, dass sie die Villa verlassen hatte, seit sie angekommen war, und sie würde den Weg zurück nicht finden. Und sie hasste es, hasste es, auf jemanden angewesen zu sein. Sie, die sich in jedem Wald, egal welcher Art er sein mochte, zurecht fand, die vermutlich sogar blind ihren Weg finden würde… Sie fühlte sich verloren in dieser Stadt, kaum dass sie das Haus verließ. Rom mit seinen Straßen und Gassen und Plätzen erschien ihr wie ein einziges Labyrinth.

    Siv hatte gerade – ausnahmsweise – eine Pause gehabt, und das sogar völlig gerechtfertigt, hatte sie doch alle Aufgaben erledigt, die ihr aufgetragen worden waren, und als sie bei Niki vorbeigesehen hatte, hatte diese auch nichts für sie zu tun gehabt. Sie hatte gerade in den Garten gehen wollen, wie immer wenn sie freie Zeit hatte, als ihr Matho über den Weg lief. Und kaum hatte der Maiordomus sie gesehen, winkte er sie auch schon zu sich, so wie jedes Mal. Er überhäufte sie mit Arbeit, wann immer er sie sah, und Siv wusste, dass er das bei den anderen Sklaven nicht in dem Ausmaß tat – und dass es Absicht war. Sie bekam langsam das Gefühl, dass er dachte, sie wäre leichter im Zaum zu halten, wenn sie vor Arbeit nicht mehr aus noch ein wusste. Diesmal hatte er einen überraschend einfachen Auftrag für sie, der sie aber trotzdem das Gesicht verziehen ließ: Der dominus braucht jemanden, in seinem Schlafgemach. Sie hätte alles mögliche lieber getan, als zu diesem Römer zu gehen, aber Matho bestand darauf, dass sie gehen sollte, und zwar schnell. Also machte sie sich auf den Weg zu Corvinus, mit gemischten Gefühlen. Sie versuchte meistens, die Erinnerung an jene Nacht, ihre zweite in diesem Haus, zu verdrängen – und vor allem die an den Morgen danach. Sie verachtete sich selbst für ihre Reaktion, für das, was sie getan hatte, aber gleichzeitig war sie auch froh. In dieser Zeit, die sie mit Corvinus verbracht hatte, als sie für diesen einen Moment ihren letzten, inneren Widerstand aufgegeben hatte, hatte sie sich frei gefühlt. Und danach so gelöst wie schon lange nicht mehr. Aber warum war ausgerechnet ein Römer in der Lage, ihr dieses Gefühl zu vermitteln? Das Gefühl frei zu sein, wo sie sich doch ohne Römer überhaupt nicht erst danach sehnen würde? Wieso hatte sie etwas Derartiges mit einem Römer geteilt, teilen können, wo sie Seinesgleichen doch eigentlich verachtete? Viel, über das sie sich Gedanken machen musste. Zu viel, für den Moment. Also schob Siv sie weg, so gut es ging.


    Als sie Corvinus’ Räume erreichte, begriff sie sofort, warum Matho sie geschickt hatte. Der Römer schien durchgedreht zu sein. Er stand inmitten eines Scherbenmeers und tobte, brüllte sein Schlafgemach an, oder auch die Scherben zu seinen Füßen, Siv konnte das schon nicht genau sagen. Sie verzog kurz das Gesicht, als sie wieder an Matho denken musste. Er hatte mit Sicherheit gesehen, in welchem Zustand Corvinus war, und in seiner Überzeugung, dass Siv noch diverse Flausen ausgetrieben werden müssten, hatte er sie mit voller Absicht in die Höhle des Löwen geschickt. So wie der Römer sich im Moment benahm, schien seine Toleranzgrenze irgendwo bei Null zu liegen, und Siv beanspruchte die Toleranzgrenzen der meisten im Haus Anwesenden definitiv mehr. Aber Siv wäre nicht Siv, wenn sie eine Herausforderung nicht annehmen würde, selbst wenn sie von Matho kam. Also lehnte sie sich zunächst einfach nur in der offenen Tür an den Rahmen, verschränkte ihre Arme und wartete. Er konnte ja nicht ewig toben – und danach konnte sie fragen, was er wollte.


    Tatsächlich beruhigte sich der Römer nach einiger Zeit, wurde langsamer, bis er schließlich ganz aufhörte. Mit einer – wenn Siv es nicht besser gewusst hätte, hätte sie gesagt mutlosen – Bewegung lehnte er sich gegen die Wand, Kopf im Nacken, die Augen zu, so dass er sie nach wie vor nicht sehen konnte. Und erst jetzt bemerkte Siv, dass seine Unterarme verletzt waren, der linke sogar so sehr, dass das Blut so stark floss, dass es dunkle Flecken auf dem Boden hinterließ. Siv bewegte ihren Kopf hin und her und wusste nicht so recht, ob sie sich freuen sollte – eigentlich ja, immerhin war er ja ein Römer, aber er wirkte in diesem Moment so erbärmlich auf sie, dass sie schwankte zwischen Verachtung – und Mitleid. Sie zuckte die Achseln und beschloss, sich später darüber klar zu werden, was sie nun genau empfand bei diesem Anblick. Für den Moment löste sie sich von ihrer Position an der Tür und ging zu ihm hinüber. "Ihr Römer seid schon ein seltsames Völkchen. Ich meine, ich will ja nicht behaupten, dass ich nicht auch manchmal den Wunsch hab irgendwas kaputt zu machen, aber ich tu mir dabei nicht selbst weh." Kopfschüttelnd griff sie nach dem stärker blutenden Arm und besah sich die Wunden. "Was besseres konnte dir nicht einfallen, wie?" Sie hob den Saum ihrer Tunika und riss einen Streifen daraus, von dem sie noch einmal ein Stück abriss. Damit tupfte sie das Blut fort, mit gekonnten, aber nicht unbedingt sanften Bewegungen, bevor ihre Finger geschickt über den Arm glitten, die Wunden genauer inspizierten und gelegentlich einen Splitter herausholten. "Eigentlich", sinnierte sie, "wäre es nur fair, wenn ich deine Tunika ruiniere – ich weiß du zahlst für meine, aber ich muss meine selbst in Ordnung halten. Außerdem ist deine vermutlich wesentlich teurer. Und wenn du schon meinst, dich nicht beherrschen zu müssen, dann solltest du auch was von den Folgen haben, finde ich." Dass ausgerechnet sie mit ihrem Temperament eine der Letzten war, die sich über seine Selbstbeherrschung ein Urteil erlauben konnte, der Gedanke kam ihr nicht.

    Siv sah den Blick, den die Römerin ihr zuwarf, und sie konnte sich nur mit Mühe beherrschen, nicht als Antwort darauf ihr Gesicht zu verziehen. Zum Glück kam Tilla gerade hinzu und brachte Getränke, nur um ihr dann zu bedeuten, mit ihr zu gehen. Für einen Moment zögerte sie noch, aber dann riss sie sich los und folgte dem Mädchen, allerdings nicht ohne der Römerin noch einmal einen Blick zugeworfen zu haben. Römer… Sie hasste es, jemanden zu bedienen. Und dann auch noch Römer, die das als selbstverständlich hinnahmen. In Gedanken vor sich hinfluchend, nahm Siv ihren Platz neben Tilla ein und wartete wieder, wartete darauf, dass einem der Herrschaften dort drüben der Sinn nach etwas Anderem stand, was sie wieder würde besorgen müssen… Nicht lange, und es war wieder soweit. Obst. Auch dieses Wort hatte sie erst heute gelernt, und für einen Moment überlegte sie, einfach so zu tun als ob sie es nicht wüsste. Aber Tilla war schon auf dem Weg zu einem kleinen Tisch an der Seite, wo sie das Obst frisch aufschneiden konnten, und ließ wieder eine Menge Gesten sehen. Siv zuckte nur leicht die Achseln zum Zeichen, dass sie sie nicht verstand. Sie griff sich einen Apfel und begann ihn zu zerschneiden, und schüttelte erneut wortlos den Kopf, als Tilla ihr ein Stück der Orange anbot. Vor den Römern? Mit Sicherheit nicht. Vor allem nichts, was für diese nicht gut genug war. Tilla ließ sich davon wenig beeindrucken, aß selbst ein Stück davon und fragte sie wieder etwas – die Fragen konnte sie inzwischen recht gut von den normalen Sätzen unterscheiden, immerhin etwas. "Farben? Blau?" Siv zögerte kurz. "Was ist das… Diese Geste? Mag? Oh, du magst blau?" Siv lächelte leicht. "Ich auch." Sie servierten gerade das Obst, als Niki und gleich darauf ein anderer Sklave hereinkamen und verkündeten, dass Corvinus an dem Essen nicht teilnehmen würde – woraufhin einer der Männer die Anweisung gab, nun das Essen zu bringen. Siv konnte nicht verhindern, leicht die Augen zu verdrehen. Weiter bedienen. Sie bis ihre Zähne aufeinander und drehte sich um, ging zu dem größeren Tisch, auf dem die Speißen standen, und begann damit, sie hinüber zu tragen.

    Siv hatte schon lange den Wunsch verspürt, in der Nacht nach draußen zu gehen, weil sie oft lange brauchte bis sie einschlief, und dann nur selten einen ruhigen Schlaf hatte. Aber bisher hatte sie es nicht gewagt, weil sie sich im Haus noch nicht sonderlich gut auskannte. Und sie wollte vermeiden, wieder in den Gemächern irgendeines Römers zu landen, der dann was wusste sie was annahm und ihr befahl zu bleiben und sich seltsam aufführte… Und… Nein. Diese Erfahrung wollte sie nicht wiederholen, danke. Überhaupt versuchte sie momentan eher, sämtliche Erinnerungen an dieses Erlebnis zu verdrängen. Zu sehr stritten in ihr die verschiedenen Seiten – er war ein Römer, einer von ihnen, auch wenn er zugegebenermaßen anders war als alle, die sie bisher kennen gelernt hatte, aber gleichzeitig hatte sie sich… so gut gefühlt. Nun, in jedem Fall konnte sie nicht schlafen, nicht sonderlich gut, nicht in diesem Haus. Bei ihm schon… Siv hatte die Stimme einfach ignoriert. Es würde ihr jedenfalls nicht wieder so schnell passieren, dass sie sich verlief und auf einmal in einem fremden Zimmer stand. Jetzt kannte sie den Weg von den Unterkünften zum Garten sogar gut genug, um ihn auch im Dunkeln zu wissen.


    Sie hatte sich also nach draußen geschlichen, als alle schliefen, mit ihrer Decke unter dem Arm, und hatte sich einen Baum, ihren Baum, gesucht. Für einen Moment hatte sie überlegt, es sich in einer der Astgabeln bequem zu machen, wie sie es zu Hause immer getan hatte, wenn sie im Wald übernachtet hatte. Aber sie hatte kein Seil dabei, um sich festzubinden, also entschied sie sich dagegen und kuschelte sich stattdessen dicht neben den Stamm, in eine Mulde zwischen zwei Wurzeln. Und schlief. Sie schlief tief und fest, ganz anders als drinnen, in diesem Haus, dessen Wände sie erdrückten, in diesem Bett, das mit Sicherheit eines der schlechtesten im Haus war und ihr trotzdem noch viel zu weich. Sie schlief, auch dann, als auf einmal eine Gestalt in den Garten kam. Sie schlief, während die Gestalt sich hinsetzte, herumhantierte, und schließlich in den Teich ging. Und sie schlief auch noch, als der Gesang vom Wasser herüberschwebte, zart, aber doch deutlich, getragen von der stillen Nachtluft. Die Stimme wob sich sanft in Sivs Träume hinein, und obwohl Worte und Melodie fremd waren, störten sie ihren Schlaf nicht. Erst als eine weitere Gestalt auftauchte und anfing zu sprechen, lüfteten sich die Nebel des Schlafs, durch die Siv trieb, und entließen sie schließlich.


    Langsam setzte sich die Germanin auf, und noch während sie versuchte, ganz in die Welt der Wachen zurückzufinden, zog schon etwas ihre Aufmerksamkeit auf sich. Zwei Gestalten, eine über die andere gebeugt, am Teich. Siv runzelte die Stirn, während sie sich vergeblich bemühte, einen Sinn darin zu erkennen. Schließlich stand sie auf und ging näher heran, und schon bald konnte sie im Mondlicht mehr erkennen – eine junge Römerin lag am Boden, reglos, in einem weißen Kleid, das einige tiefdunkle Flecken aufwies, und daneben ein Mann, auch ein Römer, der offenbar verzweifelt auf ihr herumdrückte. Sivs Stirnrunzeln vertiefte sich. Sie näherte sich noch mehr, und jetzt sah sie, dass die Frau nass war, dass ein Handgelenk mit einem Stoff umwickelt war, der sich ebenfalls dunkel färbte… Ohne zu überlegen überwand Siv die letzte Entfernung und kniete neben dem Mann nieder, der – wie sie jetzt begriff – versuchte, das Wasser aus der Frau herauszubekommen. Siv handelte ohne nachzudenken. Sie kannte nicht konkret diese Situation, aber ähnliche – sie war einige Male dabei gewesen, wenn im Winter Menschen im Eis eingebrochen waren und sie gerettet werden mussten, oder Kinder im Sommer sich übernommen hatten, beim Schwimmen. Und mehr noch kannte sie Wunden aller Art und wusste, wie man sie versorgen musste. Das Leben in Germanien, in einer kleinen Sippe nahe beim Wald mit all seinen Gefahren brachte so etwas mit sich. Für einen Moment beobachtete sie den Römer, und als sie sah, dass er zurechtkam, nickte sie nur leicht und griff nach dem Handgelenk. Der Stoff war fest darum gezurrt, aber es reichte nicht, um die Blutung zu stoppen. Mit fliegenden Fingern riss sie einen breiten und einen schmaleren Streifen aus ihrer Schlaftunika, so dass ihr diese nun nicht einmal mehr bis zur Mitte ihrer Oberschenkel reichte. Ebenso schnell wickelte sie den breiten Streifen zu einer festen Rolle zusammen. Als sie damit fertig war, löste sie den inzwischen blutschweren Stoff um das Handgelenk, und sofort sprudelte Blut daraus hervor. "Bei Hels düsteren Geschöpfen", fluchte Siv auf Germanisch, als sie sah, wie sauber die Schlagader getroffen war. Genau in diesem Moment bäumte sich die Römerin auf, und das Blut spritzte auf Sivs Hände, ihre Tunika, sogar auf ihr Gesicht. Wieder fluchte die Germanin, wesentlich farbenfroher als noch zuvor, aber sie zuckte nicht zurück, sondern drückte ungerührt die Rolle fest auf die Wunde, um diese dann mit dem schmalen Streifen festzubinden. Sie wusste, dass das nicht reichen würde. Die Wunde musste genäht werden, wenn die Blutung dauerhaft gestoppt werden sollte…

    Siv begann zu zittern, ganz leicht nur, aber es war da. Römer, Römer, Römer, hämmerte es in ihrem Kopf. Aber wie so oft schien sich ihr Mund nicht sonderlich für das zu interessieren, was ihr Verstand sagte. Stattdessen folgte er dem, was ihr Gefühl forderte – wie meistens. Nur dass es dieses Mal kein Zorn war, der sie leitete. Wie lange… Ihre Lippen suchten die seinen, gaben und nahmen genauso, ließen sich Küsse rauben und forderten sie gleichzeitig ein. Wie von selbst hob sich ihre Hand und legte sich auf seinen Brustkorb, glitt darüber, zu seiner Schulter, seinem Hals, um schließlich die Linie vom Kinn, den Kiefer entlang bis zum Ohr zu umfangen. Ein Seufzen entrang sich ihrer Kehle, als sein Mund ihre Lippen schließlich verließ und eine Spur über ihren Hals zog, und sie beugte ihren Kopf ein Stück zur Seite, hielt die Augen immer noch geschlossen, konzentrierte sich nur auf die Berührungen, die eine flammende Spur auf ihrer Haut hinterließen. Sie spürte Schmerz, als seine Hand über die Prellungen strich, zuckte kurz zusammen, aber die übrigen Empfindungen waren stärker, überlagerten den Schmerz nicht nur, sondern nutzten ihn ein, vereinnahmten ihn, ließen ihn zu einem Teil von ihnen werden. Statt Corvinus auszuweichen, drehte sie ihren Oberkörper so, dass sie auf dem Rücken lag, und er folgte, beugte sich über sie, fuhr fort ihre Haut in Brand zu setzen. Römer, hallte es erneut in ihrem Kopf, aber nur noch undeutlich und wie aus weiter Ferne. Ihr Verstand war eindeutig dabei, den Kampf gegen die Lust zu verlieren, und das immer schneller.


    Schließlich hielt er inne, legte seine Hände an ihr Gesicht und sah sie einfach nur an. Siv löste ihre Hand von seinem Gesicht, ließ sie sinken, und für einen Moment wollte sie auch die Lider senken, wollte seinem Blick nicht begegnen, würde sie dann doch nur wieder erkennen, wer er war. Aber seine Augen hielten die ihren gefangen, ließen nicht zu, dass sie ihren Blick abwandte, und so erwiderte sie den seinen einfach. Die Stimme in ihrem Kopf wurde wieder lauter, bemühte sich gehört zu werden. Aber ihr Körper wollte, was hier geschah. Sie wollte, was hier geschah. Siv lebte ihr Leben mit einer Leidenschaft, die sie eines Tages vielleicht verzehren würde – aber selbst wenn ihr das bewusst gewesen wäre, hätte sie es nicht ändern können. Sie war leidenschaftlich, ob sie liebte oder hasste, stritt, half oder verzweifelte, in ihrem Zorn ebenso wie in ihrer Fröhlichkeit, und auch in ihrer Lust. Sie sah Corvinus an, und ihre Augen flackerten, als ihr Verstand sich ein letztes Mal aufbäumte. Der Mann über ihr war ein Römer, und sie wusste es. In der Dunkelheit der Nacht war es leicht gewesen, das zu vergessen, sich an ihn zu schmiegen und seine Nähe zu genießen. Aber jetzt, im Licht des noch jungen Tages, konnte sie sich nicht selbst belügen – nicht wenn sie ihn ansah. Aber ihr Verstand zog den Kürzeren. Siv wusste, wer er war, aber er hatte mit seinen Berührungen ihre Leidenschaft entfacht, und sie wollte mehr, wollte ihn spüren, wollte ihn berühren und von ihm berührt werden. Ein Teil von ihr wusste jetzt schon, dass sie sich später dafür verachten würde. Aber im Moment war ihr egal, wer oder was er war. Zu lange hatte sie nicht mehr bei einem Mann gelegen, nicht so, zu lange hatte sie nicht mehr diese Art von Leidenschaft gespürt.


    Ihre Hand hob sich und legte sich an seine Wange, strich über die raue Haut, fuhr mit den Fingerspitzen sacht über seine Lippen und verharrten dort für einen Moment. Dann umfasste sie plötzlich seinen Nacken, und während ihre andere Hand sich auf seinen Rücken legte, zog sie ihn zu sich hinunter. Hungrig suchten ihre Lippen nach den seinen, fanden sie und holten sich, was sie wollten.


    "Tief ist ihr Weh -,
    Lust - tiefer noch als Herzeleid:
    Weh spricht: Vergeh!
    doch alle Lust will Ewigkeit -,
    - will tiefe, tiefe Ewigkeit!"


    Friedrich Nietzsche - Das trunkene Lied

    Siv sah auch noch nicht hoch, als Cadhla zu antworten begann. Zu sehr hatten ihre eigenen Worte sie überrascht – nicht nur, dass sie Cadhla diese Art von Eingeständnis gemacht hatte… Sondern dass es tatsächlich so war. Sie hatte bisher nicht einmal vor sich selbst zugegeben, wie sehr sie ihren Zorn brauchte, um sich nicht schwach und verloren zu fühlen. Sie hatte es zwar gewusst, in ihrem tiefsten Inneren, aber sie hatte nie zugelassen, dass es bis an ihr Bewusstsein drang. Und jetzt war es raus, war es gesagt, und es ließ sich nicht mehr zurücknehmen. Siv biss sich heftig auf die Unterlippe und wünschte sich, einen Wall um sich herum aufbauen zu können, hinter den sie sich verkriechen konnte, der sie beschützen würde. Aber genau das war es ja – sie hatte sich bisher immer versteckt, hinter einer Mauer aus Zorn. Nicht nur hier, bei den Römern. Im Grunde immer, wenn es Probleme gab oder etwas nicht so lief, wie sie wollte. Es fiel ihr schwer, sich das wirklich einzugestehen, aber jetzt wo sie es einmal realisiert hatte, stand ihr zumindest diese Mauer nicht mehr zur Verfügung. Ihr Zorn war noch da, würde sie weiterhin schützen und genauso sehr noch oft genug ihr Urteilsvermögen beeinträchtigen, aber zumindest im Moment ließ er sie im Stich – so wie sie ihn im Stich gelassen hatte, als sie Cadhla dieses Eingeständnis gemacht hatte. "Ich, ich Angst, dass Leben hier sein gut. Sein… lebens… wert. Angst, dass, dass, … ich aufgeben dann. Dass ich vergesse, wer ich bin. Wo ich herkomme. Dass ich eigentlich frei bin, und sein will. Du… du denken dass Schönes Halt? Halt für weiter, weiter… kämpfen?"


    Obwohl sie die Keltin immer noch nicht ansah, hörte sie ihr doch weiter aufmerksam zu, und so offen und verwundbar, wie Siv sich im Moment fühlte, fielen deren Worte, soweit sie verstanden wurden, auf fruchtbaren Boden. Siv hatte nie erleben dürfen, wie es war eine Mutter zu haben, hatte keine Schwestern, und sie hatte auch sonst kaum mit den Frauen ihrer Sippe zu tun gehabt. Und zumindest bisher hatte sie weibliche Gesellschaft auch nicht wirklich vermisst – es hatte ihr gereicht, gelegentlich mit den Frauen zu reden, aber im Übrigen hatte sie ihre Zeit lieber mit ihren Brüdern verbracht, oder draußen, im Wald. Jetzt begann sie zum ersten Mal zu verstehen, was es bedeuten konnte, eine Freundin zu haben, eine Vertraute. Unwillkürlich fragte sie sich, wie es war, eine Mutter zu haben, die für einen da war. Eine Mutter… Endlich sah Siv hoch. "Du Halt geben? Für mich?" Ihre Unterlippe begann leicht zu zittern. "Ich… würde so gerne jemanden haben… Ich, ich sein froh. Ich brauchen Halt. Ich nicht bin wie du, so… so stark." Siv holte tief Luft, auf eine Art und Weise, die an einen Ertrinkenden erinnern mochte. In diesem Moment fühlte sie sich schwach, und sie kämpfte immer noch mit sich, diese Schwäche auch mal zuzulassen – ohne sich im nächsten Moment dafür selbst zu verachten. Unvermittelt fragte sie: "Erinnerung… Du haben Erinnerung bei, bei… Mutter? Frau, die… Du Kind, von diese Frau… Du wisst? Wie sie ist?"

    Siv löste ihren Blick vom Himmel und seufzte leise. Warum sollten die Vögel in Rom bleiben? Auf der anderen Seite wussten sie nicht von den Römern, und dass diese ein Volk waren, dass man besser mied… wenn man die Wahl hatte. Sie schnitt kurz eine Grimasse und lächelte Tilla dann wieder zu. Im nächsten Moment saß sie aber nur noch da und beobachtete das Mädchen verständnislos. "Was?" fragte sie hilflos. Sie machte mit ihren Händen eine beschwichtigende Geste. "Langsamer, Tilla, ich komm nicht mit…"Vögel Nester"… machen. Aber wenn warm." Den Rest verstand sie nicht, nicht genug um wirklich darauf eingehen zu können. Und auch was Tilla zum Thema Schnee zu 'sagen' hatte, rief bei Siv nur ein Stirnrunzeln hervor. "Wasser? … Schlange? Was… Was meinst du mit kalter Schlange? Das ist… Schnee sein… ist bei Himmel. Ist weiß. Nichts Schlange.", Siv sah sich um, konnte aber nichts weißes in ihrer näheren Umgebung entdecken. Wie sollte sie jemandem erklären, was Schnee war, der noch keinen gesehen hatte? Selbst auf Germanisch hätte sie vermutlich Schwierigkeiten gehabt, das so hinzubekommen, dass Tilla sich Schnee vorstellen konnte, aber hier… Siv konnte nicht einmal wirklich Tillas Sprache. Wieder runzelte Siv die Stirn. Es ärgerte sie, dass sie nicht in der Lage war sich zu verständigen, wenn sie es wollte. Sie musste Latein lernen… und wenn es nur war, um sich mit den anderen Sklaven vernünftig unterhalten zu können. Brix war einer der wenigen, mit denen sie wirklich sprechen konnte, aber zumindest bisher hatten sich ihre Aufgaben kaum überschnitten, und so hatte sie selten die Gelegenheit gefunden, mit ihm zu reden. Sie schob die Gedanken über ihre nicht vorhandenen Kommunikationsmöglichkeiten weg und konzentrierte sich wieder auf Tilla, die munter weiter gestikulierte. Unterdessen ließ sie sich von dem Mädchen noch ein paar Nüsse geben und knackte sie mit ihren Zähnen, um dann das Innere hervorzuholen. "Was?" Dieses Wort würde sie ihr Leben lang verfolgen. "Ich… Wasser? Wasser viel? Du meinen… Regen? Bad? Ich bei Bad?"

    Sivs Bewegungen wurden noch heftiger, so als ob sie ihren Zorn an den Blättern auslassen wollte – so heftig, dass sie nach hinten wieder aufwirbelten, anstatt einen vernünftigen Haufen zu bilden. Aber wie schon an ihrem ersten Abend fand Cadhla Worte, die Siv inne halten ließen und zum Nachdenken brachten – und das, obwohl sie wie üblich Mühe hatte, alles zu verstehen. Sie hörte auf, die Blätter zu malträtieren, stützte sich auf den Stiel auf sah die Keltin an. Sie konnte viel besser in Worte fassen, wie Siv sich im Moment fühlte, als sie selbst es sogar in ihrer Muttersprache gekonnt hätte. Sie spürte immer nur diesen unbändigen Zorn in sich, aber sie hatte immer nur darüber nachgedacht, worauf sie so zornig war – nicht, warum. Sie war sich noch nicht ganz sicher, ob es für ihre Situation einen Unterschied machte, aber es war in jedem Fall eine andere Sichtweise, noch dazu eine, die etwas Ruhe in ihr Denken brachte, zumindest im Moment. "Zorn ist… so, so stark, in mir. So…"


    Die Germanin verstummte für einen Moment und lauschte Cadhlas weiteren Worten. Zorn ist nicht genug… Stimmte das? Ihr Zorn war die ganzen letzten Wochen das gewesen, woran sie sich hatte festhalten können. Er hatte ihr geholfen… Oder doch nicht? Oder half er ihr nur hier nicht mehr? Siv seufzte leise, als sie daran denken musste, dass sie inzwischen schon ein paar mal in Situation geraten war, in denen ihr Zorn ihr entweder nicht hatte helfen können oder sie sogar im Stich gelassen hatte. Aber er war doch das einzige, was sie noch hatte…zusammen mit ihrem Stolz. "Zorn nicht genug? Aber Zorn…" Siv brach wieder ab, als ihr klar wurde, dass sie sich nur wiederholte. "Ich denke, du richtig ist. Du… du so, so… ruhig. So… gelassen, und überlegt, und… Du sein gut, und… Ich denke, es gut sein, wenn wie du. Aber ich…" Sie zuckte nur die Achseln. "Zorn viel. Und ich brauchen Zorn… Ohne Zorn, wenig… Halt. Wenig sicher. Ohne Zorn, ich sein wenig." Siv harkte wieder weiter, mit ruhigeren Bewegungen diesmal. Es war das erste Mal gewesen, dass sie jemandem so etwas gesagt hatte, dass sie eingestand, dass sie etwas brauchte, dass sie sich unsicher fühlte, und sie hatte Cadhla bei diesem Eingeständnis nicht angesehen, sah sie immer noch nicht an.