Beiträge von Aureliana Siv

    Die leichten Schläge schienen vorerst kaum Wirkung zu zeigen, und Siv knurrte erneut. Sie musste sich zusammenreißen, um die Römerin nicht einfach zu schütteln, aber das hätte vielleicht bei einem Betrunkenen geholfen, aber nicht hier. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als mit ihren Bemühungen fortzufahren, die Römerin so irgendwie wach zu halten. Sie stellte zwar die Schläge ein, fuhr aber fort, ununterbrochen auf die Römerin einzureden – hauptsächlich Beschimpfungen. Aber solange sie wenigstens einigermaßen bei Bewusstsein blieb, tat es seinen Zweck. Und Siv konnte sich dabei abreagieren. Der Römer neben ihr redete ebenfalls auf sie ein, allerdings war sein Tonfall wesentlich gemäßigter und bei weitem mehr von Sorge geprägt als Sivs.


    Während beide versuchten, die Römerin wach zu bekommen oder wenigstens zu verhindern, dass sie noch mehr in die Ohnmacht abdriftete als ohnehin schon, dampfte der Tee auf der Kommode neben dem Bett unbeachtet vor sich hin. Bisher hatte sich keine Gelegenheit ergeben, ihn der Römerin einzuflößen, so wie diese sich benommen hatte. Für einen Moment spielte Siv mit dem Gedanken, der halb Bewusstlosen etwas davon ins Gesicht zu spritzen, aber wenn überhaupt würde eher kaltes Wasser seine Wirkung tun. Noch bevor sie aber zu einer Entscheidung kommen konnte, trat Cadhla plötzlich in den Raum, und kurz nach ihr ein Mann, den Siv für den Heilkundigen hielt – den Medicus, wie der Römer ihn genannt hatte. Mit einem erleichterten Aufstöhnen richtete sich die Germanin mit einem Ruck auf. "Endlich", murmelte sie, während sie zurücktrat und den Mann für einen Moment bei seiner Arbeit beobachtete.


    Sie hätte zu gerne weiter zugesehen, denn es interessierte sie wirklich, was er nun tun würde, aber vorher musste sie noch etwas erledigen. Um der Römerin wirklich helfen zu können, würden sie wissen müssen, warum sie das getan hatte, und Siv vermutete, dass die Schriftrolle darüber Aufschluss geben könnte – warum sonst hätte die junge Frau sie mitnehmen sollen? Aber Siv konnte nicht einmal vernünftig Latein, geschweige denn lesen, und davon abgesehen hatte sie ohnehin kein Lust, sich zu sehr in diese Angelegenheit verstricken zu lassen. Sie war Sklavin, das konnte nur schief gehen, wenn sie sich zu sehr einmischte. Nicht dass sie das abgehalten hätte, wenn sie sich wirklich hätte einmischen wollen. Aber sie wollte nicht, also war das ein willkommener Grund für sie, die Schriftrolle loszuwerden. Sie drückte sie dem Römer in die Hand. "Hier. Das… in Garten. Ich finden, bei… bei Wasser." Während der Römer die Schriftrolle las, wandte Siv sich wieder dem Medicus zu. Sie wollte ungern etwas von dem verpassen, was er tat, und davon abgesehen benötigte er vielleicht Hilfe. Blutverschmiert wie sie war trat sie einen Schritt vorwärts und sah ihm über die Schulter.

    Der Strom an farbenfrohen Flüchen, der über Sivs Lippen kam, als die Römerin sich aus ihrem Griff wand und aus dem Bett sprang, übertraf alles, was sie bisher gesagt hatte. Der Römerin schienen immer neue Dinge einzufallen, wie sie Siv und Urmus das Leben schwer machen und ihrem ein Ende setzen konnte. Die Germanin machte noch eine Bewegung um sie aufzuhalten, kam aber ebenso zu spät wie Ungus. Sie faselte noch etwas von einem Brief, dann sank sie mit einem halblauten Stöhnen zu Boden. Der Römer war schneller als Siv und fing sie noch rechtzeitig auf, und während er zu sprechen anfing, legte er die Römerin wieder auf das Bett. Siv runzelte leicht die Stirn, als sie sich bemühte die Anweisungen zu verstehen. Binden. Ans Bett binden? Das war eine gute Idee. Im Moment war die Römerin zwar halb weggetreten und kaum in der Lage, etwas zu tun, aber wer wusste schon wie lange das so bleiben würde. Während Utus bei der Römerin blieb, schlüpfte Siv aus dem Zimmer in eine nahegelegene Wäschekammer, um ein großes Laken zu holen. Um Seile aufzutreiben, würde sie zu lange brauchen, und davon abgesehen war das Laken weicher – und die Römerin sicher nicht in der Lage, sich dagegen zu wehren.


    Verrückt, das musste die Römerin sein, jedenfalls im Moment. Spätestens jetzt hatte sie das einwandfrei bewiesen. In Siv brodelte es innerlich, als sie sich fragte, warum ausgerechnet sie mit solchen Marotten der Römer konfrontiert wurde. Sie rieb sich mit einem genervten Seufzen an ihrer Stirn und verschmierte das Blut nur noch mehr, als sie zurückkehrte in das Schlafgemach. Mit der Hilfe des Römers band Siv das Laken über den Oberkörper der jungen Frau, deren Augenlider leicht flatterten, die aber sonst kaum in der Lage war sich zu rühren und nicht ganz anwesend zu sein schien. Mit einem erneuten Fluch wandte Siv sich wieder Römerin zu und begann, ihr ins Gesicht zu schlagen – leicht genug, dass es keine wirkliche Ohrfeige war, aber fest genug, dass es sie doch etwas schmerzen musste. "Hay. Hay! Oh nein, du stirbst jetzt nicht. Nicht nachdem du mir so viel Ärger gemacht hast. Das hättest du wohl gerne", knurrte sie. Wenn die Römerin jetzt einschlief, standen die Chancen schlecht, dass sie noch einmal aufwachen würde. Wenigstens bis der Heilkundige da war, musste sie wach bleiben. Dass Siv selbst die Schriftrolle, die für diese letzte Aufregung gesorgt hatte, gerade in dem Beutel in ihrer Tasche trug, daran dachte sie im Moment nicht.

    Vermutlich war es Sivs Glück, dass sie auf Germanisch geflucht hatte und die Römer sie daher nicht verstehen konnten – vor allem als es um die Verwünschungen ging, die sie der Römerin an den Kopf geworfen hatte. Aber was musste sie sich auch umbringen wollen? Wer war so dumm sein Leben wegzuwerfen? In Siv festigte sich langsam die Überzeugung, dass die Römerin aus einer Laune heraus gehandelt hatte. Irgendetwas, was in ihrem behüteten und verwöhnten Leben nicht ganz so gelaufen war, wie sie wollte. Römer. Wieder war die alte Verachtung da, die in den letzten Tagen zu ihrem eigenen Erstaunen geringer geworden war. Und was tat sie jetzt? Sie setzte sich auf! Und sie setzte sich nicht nur auf, sie rutschte nach hinten und lehnte sich an die kalte Wand, als ob sie nicht schon genug unterkühlt wäre! Siv biss die Zähne so fest zusammen, dass sie knirschten. Urkus war im Moment auch keine große Hilfe – anstatt ihr die Leviten zu lesen und sie wieder hinzulegen, bat er sie darum. Oh ja, eine Frau um etwas bitten, die noch vor kurzem Selbstmord hatte begehen wollen. Als ob sie darauf hören würde.


    "Langsam hab ich die Schnauze voll. Du willst, das Hrun dich doch noch holt, oder?" Der Eisriese würde seine Freude an diesem Opfer wohl bald verlieren, mutmaßte die Germanin. "Du legen. Liegen. Und sein warm." Das war keine Bitte, sondern eine Aufforderung, fast schon ein Befehl. Ihr Tonfall enthielt noch nicht einmal wirklich Sorge, denn dafür war im Moment einfach nicht die Zeit. Jetzt musste gehandelt werden, das hatte sie schon als Kind gelernt, dass hatte einfach jeder im Dorf gelernt, wenn es darum ging, Verletzte zu behandeln – vor allem solche, die an Unterkühlung litten, die aus irgendwelchen Gründen im langen Winter zu lange draußen gewesen waren. Siv achtete kaum auf das, was die beiden Römer nun besprachen. Familie war so ziemlich das einzige Wort, was sie wirklich verstand, und dann am Schluss, als der Römer von Marcus anfing. Endlich ein vernünftiger Gedanke, seufzte sie innerlich. Corvinus würde geholt werden müssen, immerhin war er für sie verantwortlich, soviel hatte Siv inzwischen ebenfalls begriffen – dass Corvinus trotz seiner Jugend der war, der diesem Haushalt vorstand. Aber noch musste das warten. Die Germanin beugte sich über die Römerin und versuchte sie wieder nach unten, in die Kissen zu drücken, und zwischen die Steine. Ihre Bewegungen waren dabei nur so sanft, wie es unbedingt sein musste in Anbetracht der Verletzungen und des geschwächten Zustands der Römerin, dafür aber sehr bestimmt.

    Siv zog eine Grimasse. "Nicht Rom, alle Stadt. Alle Stadt so, so… wirr, und laut, und… Ich nie lernen Weg. Nicht in Stadt." Aber sie freute sich tatsächlich – nicht dass Straton sich verlaufen hatte, aber dass er es ihr sagte und ihr damit zeigte, dass sie nicht die Einzige war, der es so ging. Nicht viele Männer – jedenfalls nicht viele, die sie kannte –, hätten das zugegeben, und Siv wusste zu schätzen, dass er es tat. Zumal er es offensichtlich nur sagte, um sie aufzubauen. Und es tat ihr gut, war sie doch nicht nur gerade erst fast in Panik geraten, sondern praktisch den ganzen Tag bisher aufgezogen worden mit ihrer Angst vor der Stadt, den Straßen und den Menschen, hauptsächlich von Brix. Sie wusste, dass der Germane in dieser Situation auch anders reagieren würde, dass er sich nicht über sie lustig machen würde, nicht wenn er merkte, dass sie der Panik wirklich nahe war, aber dennocht tat es einfach gut, jemanden vor sich zu haben, der sie ernst nahm.


    Als er weitersprach, verstand sie nur, dass er wohl noch nicht fertig war hier. Vermutlich musste er noch einkaufen, was sonst sollte er auf dem Markt wollen? Siv war nicht unbedingt begeistert von der Aussicht, noch mehr Zeit hier zu verbringen, und noch weniger davon, sich wieder ins Getümmel stürzen zu müssen… Aber sie konnte von Straton auch nicht erwarten, sie sofort nach Hause zu bringen. Sie war ja schon dankbar, dass er sich überhaupt die Mühe machte, denn mit Sicherheit bedeutete das einen Umweg für ihn. Wieder lächelte sie. "Ja. Du, du tun was müssen, wieso du hier bist. Ich… Weg erklären nicht geben sinnvoll, ich sicher nicht gehen, nicht… wissen. Verstehen?" Für einen Moment runzelte Siv die Stirn, als sie in ihrem recht kümmerlichen Wortschatz nach einem Wort kramte, das halbwegs passte. "Ich würd den Weg nicht finden, so oder so nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, mich hier je zurechtfinden zu können… Ich… Danke. Für helfen." Ein leichtes Grinsen. Langsam kam ihr eigentlich fröhliches Wesen wieder durch. "Aufpassen sein gut. Ich wieder weg, wieder… verloren? wenn nicht."


    Siv nickte Straton noch einmal zu und folgte ihm dann. Zum ersten Mal sah sie die beiden Sklaven, die ihn offenbar begleiteten und bereits ein paar Dinge trugen, und sie nickte ihnen kurz zu, bevor diese sich weiter um die Einkäufe kümmerten. Die Germanin biss unterdessen die Zähne zusammen und trat wieder in die Menge hinein. Diesmal achtete sie darauf, dass sie bei ihrem Begleiter blieb, ging so nahe bei ihm, dass sie ihn unmöglich verlieren konnte. Gleichzeitig versuchte sie, es nicht zu auffällig werden zu lassen, wie unwohl, ja verloren sie sich fühlte, kaum dass sie wieder in den Strom der Menschen getreten waren, aber das stellte sich als ein recht schwieriges Unterfangen heraus. Beides zugleich funktionierte nicht. Einen Moment lang kämpfte Siv mit sich, dann gewann, zu ihrem eigenen Ärger, die Angst, und sie blieb dicht bei Straton, auch wenn sie sich gerade noch beherrschen konnte, ihn bei der Hand oder an einem Zipfel seiner Tunika zu fassen. So weit gesunken war sie dann doch nicht. Zum Teil um von sich und ihrem erbärmlichen Verhalten gerade abzulenken, zum Teil aber auch weil sie sich wirklich dafür interessierte, begann sie ihm Fragen zu stellen. "Du nicht Römer, oder? Wo, wo deine Heimat?"

    Cadhla wusste selbst, was zu tun war, und daher begriff sie auch ohne Probleme, was Siv meinte. Und dafür war die Germanin dankbar, hätte sie doch einfach nicht erklären können, was sie sagen wollte. Die Keltin sprach außerdem noch von Matho, und Siv entsann sich dumpf, dass dieser Mann sie heute früh gekauft hatte – und dann zurücklegen ließ, weil er keine Zeit gehabt hatte sie mitzunehmen. Stattdessen war später Brix gekommen, um sie abzuholen. Aber die Wut über diese Behandlung, die sich fast sofort bemerkbar machte, wurde in den Hintergrund gedrängt von der Sorge um das fiebernde Mädchen auf dem Bett vor ihr. Sie nickte Cadhla nur zu, ohne noch etwas zu sagen – sie hätte ohnehin nicht gewusst, wie sie in die Küche gelangen sollte, und noch weniger wo Matho schlief. Von dem Rundgang durch die Villa, den sie mit Tilla noch vor wenigen Stunden gemacht hatte, war nicht viel hängen geblieben. Noch ein Nicken, dankbar diesmal, sie Cadhlas Hand auf ihrer Schulter spürte, dann war die Keltin verschwunden.


    Siv wandte sich wieder Tilla zu, und während ihre linke Hand die von dem Mädchen hielt, goss sie mit der rechten etwas Wasser in einen bereitstehenden Becher. Danach löste sie ihre Hand vorsichtig, stützte den Kopf des Mädchens und begann, ihr behutsam etwas von dem Wasser einzuflößen. Sie brauchte Flüssigkeit, so heiß wie das Fieber in ihr brannte – besser wäre etwas Heißes, aber wie schon zuvor hatte Siv keine Wahl als hier zu bleiben und zu warten. Und Wasser war besser als nichts. Sie versuchte es hartnäckig, bis Tilla einige Schlucke genommen hatte, dann überprüfte sie den Sitz der Wadenwickel und zog die Decke wieder fest über den schmalen Körper des Mädchens, bevor sie das Tuch von deren Stirn nahm. Sie tunkte es wieder in die Schüssel, wrang es vorsichtig aus und legte das nun wieder kühle, feuchte Tuch auf Tillas Stirn.

    Siv runzelte die Stirn, als die Römerin die Decke festhielt. Wie um alles in der Welt sollte sie die heißen Steine um ihren Körper sonst verteilen? Ganz davon abgesehen, dass die junge Frau sich so wenig wie möglich bewegen sollte in ihrem Zustand. Für einen Moment zweifelte die Germanin ernsthaft am Verstand der Römerin, aber dieser Gedanke war für den Moment wie weggeblasen, als durch die Bewegung der Verband verrutschte und die Wunde sofort wieder zu bluten begann. Im Gegensatz zu dem Römer hielt Siv sich nicht zurück. "Hels verfluchte Ausgeburten", fluchte sie. "Bei allen Kreaturen der Unterwelt, was denkst du dir dabei? Soll Loki doch deinen Körper mit Geschwüren übersehen!" Während sie gleichzeitig mit dem Römer nach dem Arm griff und ihm half, den Gürtel wieder zurecht zu rücken und die Blutung zu stoppen, kamen aus ihrem Mund die schillerndsten Flüche, die vermutlich selbst einen abgebrühten Soldaten hätten erblassen lassen, hätte er sie verstanden.


    Das Blut kümmerte Siv wenig, war doch ihre Tunika inzwischen schon dunkel davon, und auch ihr Gesicht und ihre Haare waren rotverschmiert. Erst als der Verband wieder richtig saß, richtete Siv sich etwas auf, schob sich ein paar blutnasse Strähnen aus dem Gesicht und warf der Römerin einen Blick zu. Wollte sie tatsächlich so sehr sterben? Was sonst brachte sie dazu, sich zu wehren und dabei die Wunde wieder aufbrechen zu lassen? Jetzt, wo der Arm wieder versorgt war, drängte sich Siv erneut die Frage auf, wie zurechnungsfähig die Römerin im Moment überhaupt war, aber bevor sie diesen Gedanken weiterverfolgen konnte, lenkte sie Undus ab. "Nicht weiß. Cadhla ihn holen." Wieder griff sie nach der Decke, die durch die Hektik gerade eben doch hinuntergerutscht war, und zog sie zurück. Sie hatte in ihrem Leben mehr als nur einen nackten Mann gesehen, also achtete sie nicht weiter auf den Römer, sondern tat das, was sie von Anfang an im Sinn gehabt hatte: sie verteilte die in Tücher gewickelten Steine um den Oberkörper der Römerin, mit einer Hand, während sie mit der anderen den Arm der Frau vorsichtig festhielt und ihr gleichzeitig einen warnenden Blick zuwarf. Sollte sie nur versuchen, sich noch mehr in Lebensgefahr zu bringen.

    Einige Steine lagen immer zum Erhitzen griffbereit, um den Römern schnell die Betten wärmen zu können, wenn ihnen zu kalt war, und nachdem Siv vier der bereits angewärmten Steine ganz zum Feuer geschoben hatte, damit sie heiß wurden, setzte sie Wasser für den Tee auf. Danach stand sie für einen Moment unschlüssig herum. Solange Wasser und Steine nicht heiß waren, konnte sie nichts tun – es brachte auch nichts, zurückzugehen in das Gemach der Römerin. Wie hieß sie eigentlich? Siv lehnte sich an ein Regal, betrachtete das Feuer und forschte in ihrem Gehirn, aber der Name wollte ihr nicht einfallen. Der des Römers dagegen… Urnus? Usus? Es war irgendetwas mit U, da war sich Siv recht sicher, aber was es genau war, blieb ihr unklar. Die Germanin zuckte schließlich die Achseln und beugte sich über den Wasserkessel, aber noch war es nicht warm genug, um den Tee aufzugießen. Mit einem Achselzucken lehnte sie sich wieder zurück, als ihr einfiel, dass ihre Decke noch draußen im Garten war. Mit einem leisen Fluch verließ sie die Küche und ging hinaus, um sie zu holen – noch wusste niemand, dass sie draußen schlief, wenn sich die Gelegenheit bot, und sie wollte dass das so blieb. Sie war sich ziemlich sicher, dass es ihr nicht erlaubt werden würde, wenn sie fragte, also fragte sie einfach nicht. Nur musste sie schnell ihre Decke verschwinden lassen, bevor sie irgendjemand sah; und wenn… Usus? irgendwann nachfragen sollte, was sie draußen gemacht hatte, konnte sie ihm erzählen, sie hätte nicht schlafen können und einen – zugegebenermaßen sehr späten – Spaziergang gemacht.


    Draußen im Garten wandte Siv sich sofort zu dem Baum, unter dem sie geschlafen hatte, und holte ihre Decke. Als sie sich jedoch umdrehte und wieder zum Haus gehen wollte, fiel ihr Blick auf den Teich – und die Sachen, die dort in der Nähe lagen. Siv runzelte die Stirn und zögerte für einen Moment, aber das Wasser würde ohnehin noch nicht heiß genug sein… Kurzentschlossen ging sie hinüber, bückte sich und hob die Sachen auf. Ein Krug, der noch nach Wein roch, ein blutiger Dolch und eine Schriftrolle, neben einem Beutel. Siv musste nicht in logischem Denken geschult sein wie die Römer, um den Sinn dieser Gegenstände zu begreifen. Sie presste die Lippen zusammen und starrte auf die Sachen. Was sollte sie damit tun? Die Römerin wäre mit Sicherheit nicht begeistert davon, wenn diese Dinge in die falschen Hände gerieten – jetzt, wo sie zumindest vorerst überlebt hatte. Aber auf der anderen Seite, sie hatte sich umbringen wollen. Was sagte das über ihren Geisteszustand aus? Siv konnte nicht nachvollziehen, wie ein Mensch Selbstmord begehen konnte, zu sehr hing sie an ihrem Leben, zu viel Leidenschaft, zu viel Lebenslust steckte in ihr. Bei allem was ihr bisher widerfahren war, war ihr doch nie der Gedanke an Selbstmord gekommen. Davon abgesehen war sie mit der festen Überzeugung aufgewachsen, dass es feige war, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen – es sei denn es geschah aus ehrenhaften Gründen, um beispielsweise andere zu schützen oder die Ehre der Familie zu wahren. Und irgendwie bezweifelte sie, dass die Römerin solche Gründe gehabt hatte.


    Ihre Finger schlossen sich um die Gegenstände und verstauten Messer und Schriftrolle in dem Beutel, der dabei gelegen hatte. Siv wusste noch nicht, was sie damit tun würde, aber sie würde sie in jedem Fall erst mal mitnehmen. Den Beutel schob sie in eine Tasche, dann brachte sie ihre Decke zurück in den Schlafraum, ging anschließend zur Küche und stellte den Krug auf einer Anrichte ab, bevor sie den Tee zubereitete. Dann wickelte sie die vier inzwischen erhitzten Steine vorsichtig in dafür vorgesehene Tücher ein und bugsierte sie in einen Tragekorb. Mit der einen Hand das Tablett mit dem Tee balancierend, in der anderen den Korb tragend, kehrte sie zurück zum Schlafgemach der Römerin. Für den Bruchteil einer Sekunde blieb sie überrascht stehen – nicht, weil der Römer sich zu der Frau gelegt hatte. In dieser Situation war es das einzig Vernünftige, was er hätte tun können, denn mit seinem Körper konnte er sie viel besser und effektiver wärmen als nur mit den Decken. Aber sie hätte Unsus nicht unbedingt zugetraut, so zu handeln. Siv hatte sich schnell wieder im Griff, so schnell, dass ihre Überraschung vermutlich gar nicht aufgefallen war. Den Korb mit den Steinen setzte sie neben dem Bett ab, das Tablett mit dem Tee auf der kleinen Kommode daneben. Danach griff sie nach der Decke, um sie zurückzuschlagen, ungeachtet dessen, dass beide darunter nackt waren.

    Als Straton angerempelt wurde und in ihre Richtung stolperte, machte Siv unwillkürlich einen halben Schritt rückwärts. Im nächsten Moment musste sie sich ein Grinsen verkneifen, als er dem Mann etwas hinterher rief. Die Germanin konnte ihn zwar nicht verstehen, aber sie kannte sich mit Flüchen gut genug aus, um sich anhand des Tonfalls ungefähr vorstellen zu können, was Straton gesagt haben musste. Sie nutzte die Gelegenheit, solange er zur Seite gewandt war, um sein Profil zu mustern. Kannte sie ihn nun tatsächlich oder nicht? Er war in jedem Fall kein Römer, so wie er aussah – er hatte mit ihnen den etwas dunkleren Hautton, die Haar- und Augenfarbe gemein, aber seine Gesichtszüge waren anders, schärfer geschnitten. Und er schien ebenfalls ein Sklave zu sein, einer eines wohlhabenderen Hauses, seiner Tunika nach zu schließen. Sie selbst trug auch weit bessere Sachen, als sie je erwartet hätte zu bekommen als Sklavin. Die Römer waren ein seltsames Völkchen, wenn zumindest die Höhergestellten so sehr Wert darauf legten, dass ihre Sklaven gut aussahen, wenn sie darauf achten mussten, weil der Eindruck so wichtig war… Siv erschien das Ganze etwas unsinnig. Wie ein Mann beurteilt wurde, hing doch hauptsächlich daran – sollte daran hängen –, wie er handelte, welche Taten er für sich sprechen lassen konnte. Menschen konnten gut und viel reden, aber zu was sie fähig waren, was sie wert waren, zeigte sich erst, wenn sie wirklich handeln mussten. Einem Sklaven neue Sachen kaufen war nicht schwer. Davon mal ganz abgesehen, was konnte das Aussehen seiner Sklaven und Diener schon über einen Mann aussagen, wenn man nicht wissen konnte, ob er es nur tat, weil es erwartet wurde? Weil es sonst seinem Ruf schaden würde?


    Siv wandte ihre Augen auch nicht ab, als Straton sich wieder zu ihr drehte. Sie war noch nie einem Blick ausgewichen, und zumindest bisher hatte ihr das noch keine wirklichen Schwierigkeiten gebracht, war sie doch auch noch nicht vielen Römern begegnet. Corvinus, so seltsam es ihr schien, bestand jedenfalls nicht darauf, dass sie die Augen senkte, wie es sich für eine Sklavin gehörte. Und mit den übrigen Aureliern hatte sie bisher noch recht wenig zu tun gehabt. Die Germanin runzelte leicht die Stirn, während sie sich auf seine Worte konzentrierte und in ihrem Kopf wie jedes Mal die Satzteile aussortiert und beiseite geschoben wurden, die sie nicht kannte, um aus dem Rest einen möglichen Sinn entschlüsseln zu können. "Dort… dort gehen wo… Meinst du wo ich die anderen verloren hab? Wenn ich das wüsste…" Siv seufzte leise. "Ich nicht weiß, wo andere sein. Nicht weiß, wo… wo gehen." Die Germanin gestikulierte kurz und sah in Richtung der Menschenmenge. Vermutlich würde sie die anderen auch nicht mehr finden, wenn sie gewusst hätte, wo sie suchen sollte. Sie lächelte Straton dankbar an, als dieser sich nun den Menschen in den Weg stellte, um ihr Gelegenheit zu geben sich ganz aus der Menge zurückzuziehen, und sie nutzte den wenigen Freiraum, um zwischen zwei Stände zu treten – weit genug, um auch ihm noch Platz zu lassen. "Danke. Ich… ich nicht gut, hier, bei viel Menschen. Nicht gut bei Stadt." Sie lächelte schief. "Das hier… eins Mal, dass ich bin in Stadt. Du kannst zeigen Weg zu Aurelia, bitte? Ich bin, ich… dafür wär ich sehr dankbar, ich will hier einfach nur weg… Ich habe Danke. Für du zeigen Weg."

    Cadhlas Worte wirkten, und sie würden noch weiter wirken, gaben sie Siv doch einiges zu denken – viel mehr, als sie jetzt wirklich verarbeiten konnte. Was die Keltin gesagt hatte, widersprach vielem von Sivs bisheriger Einstellung. Cadhla war nicht die erste, die ihr so etwas in der Art zu sagen versuchte, aber sie war die erste, die Worte fand, die Siv wirklich berührten, so sehr, dass sie darüber nachzudenken begann. Oder lag es an der Art, wie sie es sagte? Oder daran, dass Cadhla Kriegerin war, wofür allein Siv sie schon bewunderte? Oder vielleicht daran, dass die Keltin in derselben Situation war wie sie, dass sie Sklavin war, aber ihr Schicksal mit so viel mehr Würde und Stärke zu tragen schien als es ihr, Siv, möglich war? Die Germanin dachte in diesem Moment nicht darüber nach, warum es ausgerechnet Cadhlas Worte schafften, was ihr Vater jahrelang vergeblich versucht hatte, und wenn sie es getan hätte, hätte sie nicht sagen können warum. Sie spürte nur, dass die Worte der Keltin ihr Ziel trafen und etwas bewegten, ob sie es wollte oder nicht.


    Nachdem sie ihren ersten Blätterhaufen in den Korb geschaufelt hatte, begann sie wieder damit, neue einzusammeln, während Cadhla über ihre Mutter sprach. Siv zuckte leicht die Achseln. "Nicht, nicht… leid tun. Ich nie… Ich hab sie nie kennen gelernt. Ich weiß nur nicht, ob ich sie vermisst hätte, ob etwas anders gewesen wäre… Ich sie nicht kennen. Ich nicht weiß, wie Leben… von mir… sein mit Mutter." Die Götter? Siv wusste nicht, was die Götter wollten, aber ohne Mutter aufzuwachsen hatte ihre Entwicklung mit Sicherheit beeinflusst, hatte sie vielleicht nicht nur trotziger, sondern auch stärker werden lassen als es sonst der Fall gewesen wäre. Aber ob sie sie geliebt hatte… "Vielleicht… vielleicht ich stark, mehr stark als, als ich sonst wäre. Aber… ich nicht weiß, dass Mutter mich lieben. Wie? Sie mich nicht kennen. Sie tot. Sie, sie keine Wahl wie geben Leben, wenn ich neu bin." Siv zuckte erneut mit den Achseln. Sie wollte gerne daran glauben, dass ihre Mutter sie geliebt hatte, aber sie konnte es nicht so recht, nicht unter diesen Umständen.


    Als Cadhla weitersprach und schließlich nach ihrer Hand griff, sah Siv auf. "Ich stark? Ich versuchen. Ich wolle stark sein, und… wenn Zorn haben, dann, dann, dann funktioniert das auch. Mit Zorn nicht so schwer sein. Aber ohne… ich versuchen. Ich nicht wollen sein Sklavin. Nicht hier." Sie legte ihre andere Hand auf ihr Herz. "Du wirklich glauben, ich stark bin?" Im nächsten Moment lachte die Germanin ungläubig auf. Sie? Eine gute Mutter? Das wagte sie stark zu bezweifeln. Natürlich waren Kinder schon ein Thema gewesen, immerhin war sie fast zwei Jahre verheiratet gewesen, und auch wenn sie tagsüber nicht immer das Leben einer Ehefrau geführt hatte, war es doch nachts so gewesen. Aber wenn sie über Kinder nachgedacht hatte, dann hatte sie gehofft, dass die Götter ihr noch Zeit ließen, weil sie sich dafür noch nicht bereit fühlte – auch wenn sie Ragin das nie so deutlich gesagt hatte. "Ich, Mutter? Nein. Ich nicht glaube, ich bin gute Mutter. Und auch wenn Mann traurig, ich froh, ich kein Kind haben." Jetzt noch mehr als ohnehin schon. Hätte sie ein Kind, wäre es entweder auch versklavt, oder aber fern von ihr in Germanien.

    Nein, Siv begriff nicht, was Tilla meinte, als diese von Dünen sprach. Sie verstand nur, dass vor dem vielen Wasser offenbar Berge kamen, oder vielleicht auch Hügel, mit hohem Gras bewachsen… Aber die Germanin war sich nicht ganz sicher, ob sie das wirklich richtig verstand oder Tilla ihr nicht etwas ganz anderes erzählen wollen. Von dem Tagtraum des Mädchens bekam Siv nichts mit, zum Glück, musste man wohl sagen – denn sie hätte nicht nur begeistert mitgeträumt, sondern versucht ihn in die Tat umzusetzen. Aber noch wusste sie ja noch nicht einmal, dass es hinter der Villa Stallungen gab, Pferde… Die Möglichkeit reiten zu können hätte sie nicht mehr losgelassen, wüsste sie davon – nicht nur weil sie Pferde und Reiten liebte seit sie denken konnte. Nein, hier kam noch ein anderer Grund dazu, ein fast noch wichtigerer: auf einem Pferd durch die Gegend zu galoppieren, die Landschaft vorbeirasen zu sehen, den Wind im Gesicht und die Haare hinter sich flattern zu spüren, hatte selbst zu Hause in Germanien dafür gesorgt, dass Siv sich so frei fühlte wie selten. Was musste das dann nur hier für ein Gefühl sein, was könnte es hier für sie bedeuten, wo Freiheit nur noch ein Wort für sie war.


    Als Tilla ihre Namensgeste noch einmal wiederholte und mit anderen Gesten zu erklären versuchte, lächelte Siv. Herz. Irgendetwas mit Herz. Sie würde später Brix fragen, was Tilla genau meinte, wenn sie beide zusammen erwischte hieß das. Dann wurde die Germanin aus ihrer Überlegung gerissen, als Tilla sich auf einmal zu ihr hinüber beugte und sie vorsichtig umarmte. Überrascht saß Siv im ersten Moment einfach nur da und rührte sich nicht, dann legte sie, noch vorsichtiger als Tilla, ihren Arm um das Mädchen. Sie war noch nicht lange hier, aber sie hatte bisher eher den Eindruck gehabt, dass Tilla eher scheu war – nicht unbedingt still und zurückgezogen, aber immer darauf bedacht, etwas Abstand zu haben. Und Siv selbst war eigentlich selbst eher bemüht, niemanden zu nahe an sich heran zu lassen. Nicht zuzulassen, dass sie sich hier wirklich wohl fühlte. Aber sie konnte das Mädchen in diesem Moment auch nicht einfach zurückstoßen, und so erwiderte sie die Umarmung zaghaft. Danach lehnte sie sich wieder an den Baum und wiederholte grinsend das Zwirbeln der Haare. Tillas Namensgeste kannte sie schon. "Ja, das bist du, Tilla."

    Siv schloss für einen Moment die Augen und bemühte sich, ihre Angst zu unterdrücken. Dann holte sie tief Luft und tauchte wieder in die Menge ein, versuchte in die Richtung zu gehen, aus der sie meinte gekommen zu sein. Aber sie konnte sich nicht erinnern, und unsicher wie sie war, wurde sie von den Menschen um sie herum zur Seite geschoben, angerempelt und mitgerissen, bis sie sich aus dem Hauptstrom wieder herausgekämpft hatte und sich erneut einen Platz am Rand suchte. Sie wusste nicht, was sie tun sollte – einfach hier zu warten und zu hoffen, dass Brix und Dina sie finden würden? Aber die beiden wussten ja auch nicht, wo sie geblieben war – sie waren es ja gewesen, die stehen geblieben waren, und Siv selbst war inzwischen auf ihrer Suche mit Sicherheit noch ein Stück weitergegangen. Aber hier herumzulaufen brachte sie auch nicht weiter. Sie würde die beiden noch viel weniger finden als umgekehrt. Die Germanin streckte sich etwas und versuchte, über die Menge hinweg zu sehen, aber sie konnte kein bekanntes Gesicht entdecken – was kein Wunder war. Siv war so viele Menschen auf einmal nicht gewöhnt, und sie konnte einfach den Überblick nicht behalten. Selbst wenn Brix oder Dina gerade vorbeigingen, hätte sie vermutlich Schwierigkeiten, sie zu sehen.


    Mit zusammengebissenen Zähnen und dem angestrengten Versuch, der Angst nicht zu erlauben, die Oberhand zu bekommen, drehte sie sich wieder um, nur um einen Mann vor ihr stehen zu sehen, der sie aufmerksam musterte. Erschrocken und hörbar sog sie die Luft ein und prallte zurück, weil sie nicht damit gerechnet hatte, dass jemanden neben ihr zu sehen. Während sie die Hand auf ihr klopfendes Herz presste, sprach er sie schon an, und fast wie von selbst stellte sich jene Konzentration ein, die sie immer brauchte, wenn sie jemanden auf Latein reden hörte. "Salve… Straton." Siv runzelte leicht die Stirn und versuchte sich an die Saturnalienfeier zu erinnern, während sie den Mann ebenfalls musterte. Irgendwie kam er ihr bekannt vor, aber sie war sich nicht ganz sicher… Aber eigentlich musste sie ihn dort getroffen haben – diese Feier war bisher der einzige Ort gewesen, an dem sie Menschen außerhalb der Villa Aurelia gesehen hatte. Und sie wollte im Moment zu sehr jemanden um sich haben, den sie wenigstens vom Sehen her kannte. Der ihr helfen konnte. "Ich… mein Name… ist Siv. Ich sein, ich bin von Villa Aurelia." Die Germanin registrierte nicht bewusst, dass Straton sich bemühte, ihren Sicherheitsabstand nicht zu unterschreiten und überhaupt sich so zu benehmen, dass er sie kaum erschrecken konnte, aber unbewusst ließ sein Verhalten sie aufatmen. Er hatte sich so hingestellt, dass er sie von der Menge etwas abschirmte, und durch den Freiraum, den er ihr ließ, hatte sie zum ersten Mal seit sie Brix und Dina verloren hatte, wieder das Gefühl einigermaßen atmen zu können. "Ich nicht… weiß Weg, Weg zu Villa. Ich hier bin mit… Brix und Dina, mit denen war ich unterwegs, aber ich hab sie verloren, und… Ich bin hier mit Sklaven, zwei, aber sie… sie nicht… nicht hier." Wieder ließ Siv ihren Blick kurz über die Menge schweifen, bevor sie Straton wieder ansah und etwas hilflos mit den Achseln zuckte.

    Wenige Tage nach den Saturnalien bot sich den Menschen auf den Straßen Roms ein nicht ganz alltäglicher Anblick. Eine blonde Sklavin wurde von zwei anderen Sklaven in die Mitte genommen und halb durch die Menge getragen, halb geschleift, mit dem Rücken nach vorne. Siv hatte sich bisher erfolgreich weigern können, mit auf den Markt zu gehen – oder sonst wohin, sah man einmal von der Saturnalienfeier und dem Julfest ab –, aber sogar sie hatte gewusst, dass es nicht ewig so weitergehen würde, auch wenn sie gehofft hatte, das Unvermeidlich noch ein wenig länger hinauszögern zu können. Und heute war es soweit gewesen. Sie sollte Tuniken bekommen – nicht einfach welche, die im Haus über waren, sondern eigene, die ihr vernünftig passten. Zuerst hatte sie sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, als Dina zu ihr gekommen war und ihr Bescheid gegeben hatte. Sie war ja im Grunde selbst schuld – zwei der Tuniken hatte sie ruiniert, als sie Corvinus und Helena versorgt hatte, eine erst vor kurzem, beim Julfest. Nichts was sich nicht richten ließe, aber geflickte und ausgebesserte Sachen sollten die Sklaven der Aurelier nicht tragen, weil es ein schlechtes Licht auf die Familie warf. Aber Siv wollte keine neue Tunika, und so sehr sie auch das Haus verlassen wollte, wollte sie es doch nicht tun, um den Tag in den Straßen Roms zu verbringen. Es gab nicht viel, wovor sie Angst hatte, aber Menschenmengen und dieses Gefühl der völligen Orientierungslosigkeit, das sie in dieser Stadt jedes Mal ergriff, gehörten dazu. Und Siv war nicht wirklich gut darin, sich ihren Ängsten zu stellen.


    Dina hatte irgendwann aufgegeben und Brix dazu geholt, und der hatte nur gelacht und sie gefragt, ob sie Angst habe. Und Siv hätte ihn verfluchen können, dafür, dass er sie trotz der kurzen Zeit schon so gut kannte. Sie und Angst? Sie hätte sich eher die Zunge abgebissen als das zuzugeben. Natürlich war sie daraufhin mitgekommen. Aber als sie sich den Märkten näherten und die Menschen um sie herum immer mehr wurden, war die Germanin einfach stehen geblieben und hatte auf dem Absatz kehrt gemacht. Gekommen war sie nur einige Schritte weit, bevor Dina und Brix ihr unter die Armen gegriffen und sie einfach mitgeschleift hatten, lachend und trotz ihrer Proteste. Siv kam sich etwas lächerlich vor, aber die beiden entließen sie erst aus ihrem Griff, als sie schon bei einem Händler waren. Dina suchte ein paar Sachen für Siv aus – während Brix rumalberte und die Germanin einfach nur dastand und abwechselnd den Händler, Brix und Dina mit Blicken durchbohrte. Die Ägypterin versuchte, Siv fürs Einkaufen zu begeistern, aber damit konnte sich die Germanin auch nicht wirklich anfreunden. Sicher gab es einiges zu sehen – genau das war das Problem, es war einfach zu viel. Warum so viel Zeit verschwenden, wenn es doch nur darum ging, sich ein paar Tuniken auszusuchen? Wieso bestand Dina darauf, dass sie sie anprobierte, und dann auch noch in verschiedenen Farben? Siv verzog das Gesicht, während die Ägypterin um sie herumsprang und ihr mal dies, mal jenes an den Körper hielt. "Na wenigstens eine hat hier ihren Spaß. Zwei", korrigierte sie sich mit einem Seufzen, als sie Brix’ breites Grinsen sah.


    Als sie schließlich fertig waren, konnte Siv ein erleichtertes Aufseufzen nicht unterdrücken, aber kaum einen Moment später stellte sie mit Erschrecken fest, dass sie noch nicht fertig waren. Wenn sie schon auf dem Markt waren, würden sie auch gleich Lebensmittel einkaufen, erklärte Brix ihr mit einem gutmütigen Zwinkern, wohl wissend, wie wenig Siv das gefallen würde, und die Germanin stöhnte leise auf, ergab sich aber wortlos in ihr Schicksal. Hätte sie etwas gesagt, hätte Brix nur die Gelegenheit genutzt, sie weiter aufzuziehen. Sie gingen weiter, zu anderen Händlern, und dann geschah es. Siv war ganz normal weitergegangen, aber Brix und Dina hatten bei einem Gewürzhändler halt gemacht – und als Siv auffiel, dass die beiden nicht mehr neben ihr waren, konnte sie schon nicht mehr ausmachen in der Menge. Die Germanin blieb für einen Moment wie erstarrt stehen und versuchte, die aufkommende Panik zu unterdrücken, die fast sofort von ihr Besitz ergriff. Suchend sah sie sich um und ging etwas zurück, aber schon nach ein paar Schritten wusste sie noch nicht einmal mehr genau die Richtung, aus der sie gekommen war. Waren sie an dieser Ecke schon hierhin eingebogen oder war es die davor gewesen? Wieder blieb Siv stehen, am Rand, um nicht ständig angerempelt zu werden, und sah sich um, aber wieder konnte sie kein bekanntes Gesicht sehen. Ihr Magen zog sich noch etwas mehr zusammen. Was, wenn sie sie nicht wiederfand? Wie sollte sie den Heimweg finden? Die Germanin schluckte mühsam. Sie hasste dieses Gefühl. Bis sie in römische Gefangenschaft geraten war, hatte sie immer gewusst, wo sie war, hatte immer gewusst, welchen Weg sie zu gehen hatte, selbst in fremden Gegenden. Sie hatte schon als Kind gelernt, sich zurecht zu finden, und sie hatte immer etwas gefunden, woran sie sich orientieren konnte, etwas, was ihr einen Hinweis auf den nächsten Schritt gab und den danach. Sie hatte sich einfach sicher gefühlt. Aber hier… musste sie ja schon Angst haben, von der Menge irgendwo mit hin gerissen zu werden, wo sie nicht hin wollte. Nicht dass es einen Unterschied machte, sie kannte sich ohnehin nicht aus. Sie fühlte sich so unglaublich verloren, jetzt, wo sie zum ersten Mal wirklich allein war in Rom, und für jemanden wie sie, die es gewohnt war einfach zu wissen, wo sie sich hinwenden musste ohne nachzudenken, war das furchtbar. Reiß dich zusammen, schimpfte sie sich in Gedanken. Du findest dich in jedem Wald zurecht, es kann doch nicht so schwer sein, hier weiterzukommen! Aber sie kannte den Weg nicht, konnte sich nicht erinnern, und sie sprach Latein nicht gut genug, um jemanden zu fragen und die Antwort dann auch zu verstehen. Und sie war – noch – nicht verzweifelt genug, einfach irgendjemanden zu bitten, sie nach Hause zu bringen. Dass es schon jemanden gab, der sie bereits seit einiger Zeit im Blick behielt, merkte sie dagegen nicht – und das war genauso sehr ein Zeichen für ihre aufkeimende Panik wie die Tatsache, dass ihr noch nicht einmal der Gedanke an eine Flucht kam, so gering auch die Gelegenheit sein mochte, die sich ihr gerade bot.

    Siv bemühte sich, nicht weiter auf Severus und die Frau zu achten, obwohl die zwar leise, aber heftig geführte Diskussion direkt in ihrer Nähe stattfand. Obwohl sie nichts verstand – weil sie kaum Latein konnte, weil die beiden zu leise redeten und weil Siv einfach nichts verstehen wollte –, merkte sie doch am Tonfall, dass das Gespräch der beiden sich nahe an einem Streit bewegte, wenn es nicht schon einer war, und sie hatte keine Lust darauf, darin irgendwie verwickelt zu werden. Der Abend hatte sich bis jetzt wesentlich besser entwickelt, als sie je gedacht hätte, und das wollte sie nicht riskieren. Also folgte sie Minna, als diese einen Schritt zur Seite machte, und lächelte, als sie deren Antwort hörte. Es tat so gut, Germanisch zu hören. "Vielen Dank. Wenn wir erst vor der Stadt sind, glaube ich nicht, dass ich ein Problem haben werde den Weg zu finden. Aber Rom… Die Straßen machen mich wahnsinnig, ich weiß nicht wie sich hier jemand zurecht finden kann. Und dann die vielen Menschen…" Siv sah sich einen Moment um und ließ ihren Blick über die Leute schweifen, die um sie herum standen und gingen und sich unterhielten – und im Gegensatz zu ihr keine Probleme damit zu haben schienen, dass es einfach viel zu viele Menschen in diesem Raum waren, zu viele und zu dicht beieinander. Ihr Blick streifte ein paar, die sie kannte, aber sie heftete ihn schon bald wieder auf Minna. "Bist du…" Siv stockte einen kurzen Moment. Sie hatte fragen wollen, ob sie Sklavin der Flavier war, aber sie konnte und wollte diese Frage nicht über die Lippen bringen, nicht so. "Bist du… von hier? Ich meine, wohnst du hier, bei den Flaviern? Und wie lange bist du schon in Rom, wie lange hast du… Germanien nicht mehr gesehen?" Gegen Ende war Sivs Stimme leiser geworden. Abgesehen von der eigenen Sehnsucht, die wieder in ihr zu nagen begann, wusste sie nicht genau, ob sie Minna mit dieser Frage nicht verletzte, weil die Erinnerung für sie vielleicht zu schmerzhaft war – so wie für Siv selbst in manchen Momenten. Aber jetzt war die Frage schon gestellt.

    Die Römerin begann sich unter ihren Berührungen zu winden, gab Schmerzlaute von sich und versuchte, ihren Arm wegzuziehen, aber in ihrem geschwächten Zustand hatte sie keine Chance. Siv hielt das Handgelenk erbarmungslos fest, während sie die grüne Masse verschmierte, dann sah sie zu dem Römer hoch, der ihren Gürtel bereits fest zusammenrollte. Er sagte irgendetwas, aber im Moment schaffte sie es einfach nicht, sich darauf zu konzentrieren, und so verstand sie kein Wort, aber sie begriff seine Gesten und hielt den Arm so, dass er den Gürtel darauf drücken und festbinden konnte. Als er fertig war, überprüfte sie noch einmal den Sitz und Druck des provisorischen Verbandes – was der Römer davon halten mochte, war ihr gleichgültig. Es ging ihr im Moment auch nicht darum, dass sie ihm nicht zutraute, den Verband vernünftig anzulegen; sie hatte nun mal begonnen, sich um die Römerin zu kümmern, sie hätte bei jedem den Verband überprüft, jeden dessen Fähigkeiten sie nicht kannte, hieß das.


    Danach wandte Siv sich der Römerin zu, fühlte ihre Stirn, während der Römer begann, sie durch die Decken hindurch zu rubbeln. Die Germanin schüttelte leicht den Kopf, während sich ihr zum ersten Mal die Frage stellte, wer die beiden eigentlich waren – sie hatte bisher keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken, und auch jetzt konnte sie nicht die Konzentration aufbringen, sich zu erinnern, und so schob sie den Gedanken weg. Später war immer noch Zeit. Jetzt war wichtig, die Römerin warm zu bekommen, und eigentlich wäre es am besten, sie in einen Zuber mit warmem Wasser zu legen, damit ihr sich Körper gleichmäßig wieder erwärmen konnte. Siv wusste um die Gefahr, der Unterkühlte ausgesetzt waren. Sie konnte nicht erklären warum, aber wenn der Körper zuerst an Beinen und Armen wieder warm wurde, dann bestand dennoch die Gefahr, dass der Betroffene starb, selbst wenn er noch rechtzeitig ins Warme gebracht worden war. Lange Winter in Germanien hatten ihre Sippe das gelehrt. Die Germanin richtete sich wieder auf und zog ein paar Decken zusammen, um sie um den Ober- und Unterkörper der Römerin festzudrücken, dann sah sie den Römer an, als dieser sie wieder ansprach. "Ja, heißes trinken. Und… Sie… sie braucht… Körper warm ist müssen. Körper – nicht, nicht Arme und Beine. Körper eins. Rest zwei." Sie nickte ihm noch einmal zu, dann verließ sie den Raum, um aus der Küche die Sachen zu holen, die sie brauchte.

    Siv hatte schon Mühe, Tillas Beschreibungen zu folgen, wenn Tilla wusste wovon sie sprach und es um etwas ging, dass auch Siv kannte, selbst wenn sie es in dem Moment nicht begriff. Als Tilla aber Strand und Dünen beschrieb, deren Bezeichnungen sie selbst nicht kannte und die Siv noch nie in ihrem Leben gesehen hatte, verstand die Germanin gar nichts mehr. "Bei… Vielwasser… noch viel? Viel… was?" Noch eine große Fläche, aber kein Wasser, denn diese Geste hatte Tilla nicht verwendet. Siv runzelte leicht die Stirn und überlegte. An Seen gab es davor keine weiten Flächen, jedenfalls nicht an denen die sie kannte. Oder meinte Tilla etwa eine Wiese, die bis ans Ufer reichte? Aber was sollte diese rollende Bewegung bedeuten? "Meinst du Berge? Aber…" So wie Tilla es beschrieb – zumindest so wie Siv es auffasste –, waren diese Landschaften, von denen sie sprach, recht dicht beieinander. Aber Siv hatte Mühe damit sich eine große Menge Wasser, Berge und dazwischen eine Wiese vorzustellen.


    Die Germanin streckte ihre Beine und ließ sie dann vom Ast herunterbaumeln, während Tilla weitergestikulierte. Die Namensgeste für Prisca kannte Siv inzwischen, aber den anderen Namen nicht. Hektor selbst hatte sie zwar getroffen, aber sie wusste nicht, dass er Priscas Sklave war, und stellte daher keine Verbindung her. Tilla wartete aber gar nicht ab, bis sie fragen konnte – was vermutlich bei Siv ohnehin nur zu noch größerer Verwirrung geführt hätte –, und zeigte, dass sie für die Germanin auch eine Namensgeste erfunden hatte. "Herz? Mein Name, du geben mit Herz?" Siv war gerührt. Sie verstand zwar nicht den vollen Namen, und sie wusste auch nicht so genau, warum diese Geste, erfunden von dem Mädchen ihr gegenüber, sie so berührte, aber sie war gerührt. Sie hob ihre rechte Hand, legte sie auf Tillas und drückte sie kurz, während sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. "Danke. Gut, gutes… Geste. Bewegung. Für Name von mir. Ich, ich mögen. Möge." Dann klopfte sie sich ebenfalls mit der Faust zweimal auf ihre linke Schulter. "Das auch… Teil von Bewegung? Von Namebewegung? Oder nur das?" Ihre Hand legte sich erneut auf ihr Herz.

    Cadhla verstand, was sie meinte, und verschwand, um die Sachen zu holen. Mit ihr wandte sich der Mann zum Gehen, der Tilla hereingebracht hatte, und Siv, die sich inzwischen neben Tillas Bett hingekniet hatte, sah zu ihm hoch. "Hey! Du… halt. Warte bitte, wir… Du bleiben, bitte. Wir… vielleicht wir brauchen du." Siv wusste nicht, was Tilla hatte, aber sie wollte sie nicht alleine lassen, und vielleicht brauchten sie den Mann, um irgendetwas zu holen. Sie achtete für den Moment nicht weiter darauf, ob er blieb oder ging, sondern wandte sich wieder Tilla zu und steckte die Decke noch fester um sie, und als sich die Hand des Mädchens darunter hervorwühlte und nach etwas tastete, griff Siv danach und hielt sie fest, während ihre andere weiter über die Stirn strich. "Ist schon gut… Ich bin ja da", murmelte sie leise auf Germanisch, während Cadhla wieder hereinkam und Tücher und einen Krug Wasser brachte. Siv sah kurz hoch und nickte ihr dankbar zu, dann löste sie ihre Hand vorsichtig aus der Tillas. Während die Keltin sich bemühte, trotz Tillas Abwehr ihre Stirn zu kühlen, nahm Siv zwei der Tücher und tunkte sie in das kühle Wasser. Gleichzeitig warf sie Cadhla einen kurzen Blick zu und runzelte die Stirn. "Medizin? Fieber?" Es musste irgendwas mit Tillas Krankheit zu tun haben, aber was Cadhla genau meinte, konnte Siv nicht sagen. Sie hielt sich aber nicht damit auf, über die Worte zu rätseln, sondern schlug die Decke am Fußende zurück und wickelte erst die rechte, dann die linke Wade in eines der Tücher, bevor sie nach zwei weiteren, dickeren griff und diese ebenfalls darum schlug. Danach stopfte die Germanin wieder die Decke fest und zog ihre eigene vom Stockbett herunter, um sie ebenfalls über Tilla zu legen. Schwitzen half gegen Fieber, man musste nur darauf achten, dass die Kranke gegen Zugluft gut geschützt war. Siv nahm wieder Tillas Hand und wandte sich erneut an Cadhla. "Du… Tilla brauchen Hitze. Hier geben… Stein? Hitzestein? Für Hitze bei Tilla?"

    Seit dem Fest bei den Flaviern freute Siv sich den Abend, an dem sie sich mit Minna und Severus verabredet hatte. Sie jubelte innerlich bei dem Gedanken, das Julfest feiern zu können, noch dazu mit zwei anderen Chatten, und zumindest einige der anderen in der aurelischen Villa hatten gemerkt, dass etwas los sein musste, war sie doch fröhlich wie noch nie. Siv war aber allen Fragen ausgewichen – nur Cadhla hatte sie eingeweiht, hatte ihr nicht nur von den beiden Chatten erzählt, sondern auch von ihrem Vorhaben, zusammen außerhalb von Rom zu feiern. Sonst hatte sie keinem etwas gesagt, und sie hatte auch nicht gefragt, ob sie gehen durfte. Es ging um das Julfest, um ihre Stammesgenossen, ihre Heimat – und das wollte sie mit niemandem teilen, ebenso wenig wie sie Corvinus’ Geschenk vor jemand anderem hatte öffnen wollen. Sie wollte wenigstens die Illusion haben, frei entscheiden zu können, so frei, dass sie noch nicht einmal jemandem Bescheid sagen musste, nur diesen einen Abend. Siv hatte keine Ahnung, was die Konsequenzen sein mochten, wenn sie aufflog, aber das war ihr egal. Davon abgesehen glaubte sie nicht, dass großartig etwas passieren würde. Zum einen waren immer noch diese Saturnalien im Gange, zu denen die Sklaven wie Freie behandelt wurden. Zum anderen hätte sie, Saturnalien oder nicht, abends ohnehin nichts mehr zu tun – es würde sie also keiner vermissen, es sei denn Corvinus rief – oder eher bat, aufgrund der Saturnalien – sie zu sich, um mit ihr den Abend zu verbringen. Sie hatte das Gefühl, dass er ihre Gesellschaft genoss, meistens jedenfalls, und auch wenn sie sich dagegen wehrte, konnte sie doch nicht verleugnen, dass es ihr genauso ging, zumindest dann, wenn er sie nicht gerade verwirrte oder aufregte. Nur was sie damit anfangen sollte, wusste sie nicht.


    Siv schob diese Gedanken weg, während sie vor dem Haus wartete. Es war Wintersonnwende. Nicht die Zeit, um über einen Römer und sein Verhalten zu grübeln. Es war die Zeit von Odins Jagd… begleitet von den Toten, denen, die einen Platz in Walhalla gefunden hatten. Ragin… Es würde seine erste Jagd werden, und Siv fragte sich, ob er sich darauf freute. Ob er die Gelegenheit nutzen würde, um nach ihr zu sehen… Oder ob er es nicht tat, weil er wusste was ihr passiert war, weil er wusste dass sie nicht mehr in Germanien war… Sie warf kurz einen Blick zurück zur Pforte. Sie hatte sich nicht davon gestohlen, sondern war einfach zur Tür hinaus gegangen, mit dem Bündel, dass sie zuvor noch in der Küche gepackt hatte, und hatte Leone zugenickt, als ob sie alles Recht der Welt hätte, die Villa zu verlassen. Dann hatte sie sich weit genug entfernt, dass sie nicht mehr gesehen werden konnte, bevor sie stehen blieb. Frechheit siegte eben, zumindest hatte Leone sie nicht aufgehalten. Ihre Gedanken wanderten wieder zurück zu Ragin, aber nicht für lange, denn im nächsten Moment tauchten Minna und Fiona auf, die sie abholten. Sie grüßten sich und machten sich dann auf den Weg, und wäre sie sich in den Straßen Roms noch verloren gewesen ohne die Führung der anderen beiden, fühlte sie sich in ihrem Element, kaum dass sie die Stadt verlassen hatten. Anhand von Severus’ Worten war es für Siv kein Problem, den Weg zu ihrem Treffpunkt zu finden. Sie spürte die Kühle in ihre Knochen kriechen, aber sie war nichts gegen die Kälte die sie gewohnt war um diese Jahreszeit. Siv atmete tief ein, sog die frische Luft tief in die Lungen und sprang übermütig durch die Gegend, bis sie an den Waldrand kamen und auf Severus trafen. "Heilsa", grüßte auch sie, mit einem schalkhaften Augenzwinkern, das im Fackelschein vermutlich kaum zu sehen war. "Was, feiern wir nicht an dem Ort, den du zuerst vorgeschlagen hast? Oder hattest du Angst, wir würden den Weg nicht finden?" Ihr Tonfall war neckend und zeigte deutlich, dass sie ihre Worte nicht ernst meinte. Während sie in den Wald voraus ging, in die Richtung die Severus beschrieben hatte, wechselte sie, wenn auch mit Bedauern, ins Latein. Sie würde wieder nur die Hälfte verstehen und sich mehr schlecht als recht ausdrücken können, aber es unfair gegenüber Fiona gewesen, Germanisch zu reden. "Es… nicht viel Weg sein. Nicht weit. Oder?"

    Siv freute sich, zwei Stammesgenossen getroffen zu haben. Es war nicht nur die Tatsache, dass sie endlich reden konnte, wie sie wollte, und sich nicht mehr konzentrieren musste, wenn sie zuhörte. Es war einfach… sie hatte das Gefühl, mit den beiden ein Stückchen Heimat gefunden zu haben. Sie lächelte Minna an, die sie begrüßte, und antwortete dann Severus. "Nein, ich bin erst seit wenigen Wochen in Rom." Mehr sagte sie nicht zu dem Thema. Sie wollte nicht darüber nachdenken, wie sie in Gefangenschaft geraten war, wie sie hierher gekommen war, und vor allem nicht wie wenig Zeit im Grunde seitdem erst vergangen war. Sie musterte Minna, die über den Vorschlag, gemeinsam Jul zu feiern, ebenso begeistert zu sein schien wie sie, und hörte den beiden zu, wie sie das Fest – ihr Fest – planten. Siv seufzte leise. "Außerhalb der Stadt klingt gut… Einfach großartig. Ich brauche nur jemanden, der mich abholt, ich kenne mich hier überhaupt nicht aus. Diese Stadt…" Siv schüttelte nur den Kopf. "Wenn wir erst mal im Wald sind, werd ich kein Problem haben den Weg zu finden, aber ich muss erst mal hier rauskommen." Sie winkte ebenfalls Tilla zu, als diese an ihnen vorbeisprang, dann sah sie hoch, als einer der Aurelier plötzlich zu ihnen kam und ihnen eine Kerze in Form eines Schiffes übergab. Minna bedankte sich, während Siv, etwas perplex, das Ding nur in den Händen hielt. Wieso schenkte ihnen der Römer etwas? Sie hätte Brix fragen sollen, was es mit diesem seltsamen Fest auf sich hatte, nicht Niki. Ganz offensichtlich hatte sie mehr als nur die Hälfte von der Erklärung der Köchin verpasst.


    Eine Bewegung riss sie aus ihren Gedanken, und sie sah Severus hinterher, der dem Aurelier nachging und ihm das Schiff wieder in die Hand drückte, bevor er zu ihnen zurückkam. Aber die Überraschungen, die der Abend für Siv bereit hielt, waren noch nicht zu Ende. Fast gleichzeitig mit Severus trat Corvinus zu ihnen. Siv hatte den Eindruck, dass er den Germanen eingehender musterte als die anderen um sie herum, dann wandte er sich an sie, und die Art wie er sie anlächelte, machte sie verlegen – was einen Teil von ihr ärgerte, aber sie konnte es auch nicht ändern, dass sie so empfand. Ihr Gesichtsausdruck wurde weicher, und ihre Lippen verzogen sich zu einem kaum sichtbaren Lächeln, als auch er ihr etwas gab. "Danke", sagte sie leise, während sich ihre Finger um das Päckchen schlossen, ohne hinunter zu sehen. Sie wusste jetzt schon, dass sie es nicht hier aufmachen würde, wo jeder zusehen konnte. Wenn die anderen glaubten, dass sie es nicht beachtete, weil sie keinen Wert auf ein Geschenk von einem Römer legte, konnte ihr das nur recht sein, aber in diesem Fall traf es nicht zu. Sie wollte allein sein, wenn sie es öffnete, auch wenn sie nicht wusste wieso. Sie sah Corvinus noch einen Moment hinterher, als er weiter zu Cadhla ging, und Siv lächelte der Keltin kurz zu – sie wusste, dass Cadhla eigentlich nicht hatte kommen wollen und nur da war, um Siv einen Gefallen zu tun, und die Germanin war dankbar dafür. Auch wenn es im Moment so aussah, als ob sie sie nicht brauchte, tat es doch gut zu wissen, dass es jemanden gab, auf den sie sich verlassen konnte. Der für sie da war. Sie beschloss, später zu ihr zu gehen und ihr davon zu erzählen, wen sie gerade getroffen hatte, dann wandte sie sich wieder um. Severus begann erneut von ihrem Ausflug zu sprechen, als wieder jemand zu ihnen trat, eine dunkelhaarige Frau, die sie von ihrer Aufmachung her ebenfalls als Sklavin einschätzte, und den Germanen ansprach. Siv zog leicht eine Augenbraue nach oben, als sie den abweisenden Tonfall hörte, in dem er sprach, dann wandte sie sich an Minna. "Wenn wir das mit dem Julfest wirklich machen, könntest du mich vielleicht abholen? Ich bin bei den Aureliern… Es tut mir wirklich leid, aber ich bin heute zum ersten Mal seit meiner Ankunft hier wieder in Rom unterwegs – und ich hab fast die Befürchtung, dass ich mich hier in der Stadt nie zurechtfinden werde."

    Hätte Siv gewusst, dass er über ihre Einschätzung verblüfft war, hätte sie es mit einem Achselzucken abgetan. Sie hatte gar nicht mal so sehr ihn beurteilt – sie war viel mehr von sich selbst ausgegangen. Corvinus hatte zwar gesagt, dass andere viel von ihm erwarteten – aber warum sollte ihn das so belasten, warum sollte er sich deswegen einsam und nicht stark genug fühlen, es sei denn er selbst stellte diese Erwartungen auch an sich, oder wollte ihnen zumindest gerecht werden? Siv hatte sich um die Erwartungen anderer Menschen selten geschert. Es waren ihre eigenen, die – wenn sie hinter ihnen zurück blieb – dafür sorgten, dass sie sich einsam und schwach fühlte. Und gerade in den letzten Wochen und Monaten hatte sie diese Erfahrung nur zu oft gemacht, hatte zu oft das Gefühl gehabt, sie wäre nicht stark genug, wenn auch auf ganz andere Art als er. Sie legte den Kopf leicht auf eine Seite und zog leicht die Augenbrauen hoch bei seiner Antwort. "Germanien nicht einfach. Anders. Viel anders. Aber nicht, nicht einfach. Wald… viel Gefahr. Du tot, wenn du bist schwach. Nicht eins Fehler." Dann schüttelte sie nur den Kopf, als er von Patriziern und Plebejern sprach. Sie hatte die Begriffe inzwischen schon ein paar Mal gehört, sie wusste, dass die Aurelier Patrizier waren, und sie war inzwischen zu der Auffassung gekommen, dass es so etwas wie verschiedene Stämme sein mussten – ähnlich wie die Chatten und andere in Germanien. Aber was der Unterschied genau war, wusste sie nicht, und seine folgende Erklärung ließ sie an ihrer bisherigen Annahme wieder etwas zweifeln. Was hatte Arbeit damit zu tun, welchem Stamm man angehörte? Sie seufzte lautlos und beschloss, sich bei Gelegenheit Brix vorzunehmen und ihn zu löchern. Aber immerhin verstand sie, dass es die Patrizier offenbar schwerer hatten.


    Sein erfreutes Lächeln, das ihrer Zusage folgte, machte sie nur noch sprachloser, als sie es ohnehin schon war. Er stimmte nicht nur zu, er schien sich auch noch darauf zu freuen… Siv folgte dem Römer mit ihren Blicken, als er quer durch den Raum zu einem Sessel ging und sich darauf niederließ, dann gab sie sich endlich einen Ruck und ging in die Knie, um aufzuräumen, als er sie zu sich rief. Zögernd legte sie die paar der größeren Scherben, die sie schon eingesammelt hatte, wieder auf den Boden und erhob sich wieder. Einen Moment lang sah sie auf ihre immer noch blutverschmierten Finger, dann riss sie kurzerhand noch einen Streifen Stoff aus ihrer Tunika, die mittlerweile sehr kurz wurde, und tunkte ihn in die Waschschüssel auf der Kommode. Während sie zu Corvinus hinüberging, säuberte sie ihre Hände notdürftig, nur um kurz vor ihm stehen zu bleiben und etwas ratlos dessen Haltung zu betrachten, die sie aufzufordern schien, sich auf seinen Schoss zu setzen. Da er aber nichts sagte, blieb sie einfach stehen.


    Dann stellte Corvinus ihr eine Frage, die sie ihn verblüfft ansehen ließ. Sie konnte nicht einordnen, was er damit bezweckte, und das irritierte sie etwas. "Ja, ich… Cadhla. Ich kennen Cadhla, sie… ist gut. Ist stark. Wir… redet? … Und Tilla…" Siv lächelte versonnen, als sie daran dachte, wie sie beide in dem Baum gesessen hatten. Inzwischen hatte Brix ihr erzählt, was Tillas Namensgeste für sie bedeutete. Siv Eisenherz. Der Name gefiel ihr, auch wenn sie noch einen langen Weg vor sich hatte, bis er wirklich zutraf. "Tilla sein lieb. Und andere… Ich kenne Brix. Caelyn. Niki." Sie zuckte leicht die Achseln. Kennen gelernt hatte sie inzwischen so gut wie alle im Haus, aber wirklich gut kannte sie im Grunde noch keinen, außer vielleicht Cadhla. Sie fingerte an dem Stück Stoff herum, als ihr das so deutlich bewusst wurde, und presste kurz die Lippen aufeinander. Siv wusste, dass es an ihr lag – an ihrer Einstellung, sich nicht zu wohl fühlen, um nicht in Gefahr zu geraten aufzugeben. Zu vergessen. Aber spätestens seit sie mit Cadhla Blätter weggeräumt hatte, war sie sich nicht mehr so sicher, ob sie das wirklich wollte. Sie biss die Zähne zusammen, und um sich abzulenken, beugte sie sich nach vorne und fuhr mit einer noch sauberen Ecke des Stoffs über die Wange des Römers, wo ihre Finger blutige Flecken hinterlassen hatten.

    Siv starrte die Keltin an und war für einen Moment sprachlos, bevor in ihren Augen dasselbe Feuer zu lodern begann. Sie begriff nur wenig von dem, was Cadhla genau sagte, aber sie begriff die Kernaussage. Meinte sie das ernst? Sie hatte zweimal versucht zu fliehen, beide Male noch recht am Anfang, als es leicht für sie gewesen wäre, nach Hause zu finden… Aber sie war eingefangen worden, und die römischen Soldaten hatten danach dafür gesorgt, dass ihr jeder weitere Gedanke an Flucht gründlich vergangen war. Und jetzt, kaum dass sie verkauft worden war, tat sich ein Hoffnungsschimmer auf… Auch wenn Cadhla deutlich war, dass sie Zeit, viel Zeit brauchen würden, was immer noch mehr als das, was Siv bisher gehabt hatte. Bevor sie allerdings dazu kam zu antworten, ging die Tür auf und ein Mann kam herein, der Tilla auf den Armen trug. Siv runzelte die Stirn, als sie das Mädchen, und als der Mann sie auf ihrem Bett abgelegt hatte, trat sie daneben und strich ihr sanft über die glühende Stirn. "Sie hat Fieber. Sie braucht… Sie… krank. Hitze, viel Hitze." Siv wusste, was sie tun müsste, um das Fieber zu senken, aber sie kannte sich nicht aus – bei der kurzen Führung, die Tilla hier heute noch gegeben hatte, hatte sie sich kaum etwas merken können. "Wir Wasser. Wasser und, und… das da." Sie hob kurz die Decke an. "In klein." Außerdem brauchte sie dringend etwas zu trinken, am besten einen Kräutertrunk, der half das Fieber zu senken – aber sie wusste nicht, was sie hier hatten. Fragend sah sie zu den beiden anderen Sklavinnen. Caelyn war selbst noch neu, hatte sie gesagt, aber zumindest Cadhla würde sich hoffentlich gut genug hier auskennen. Die Germanin zog inzwischen die Decke über Tilla und steckte sie an den Seiten fest. Gerade weil das Mädchen fieberte, war es wichtig, dass sie zugedeckt war, damit sie nicht auskühlte, verschwitzt wie sie war. Mit einem Zipfel ihrer eigenen Decke trocknete sie Gesicht und Nacken ab, dann strich sie ihr ein paar Strähnen aus dem Gesicht und streichelte dann sanft über ihre Haare, als das Mädchen im Fieberschlaf zu weinen begann.