Wenige Tage nach den Saturnalien bot sich den Menschen auf den Straßen Roms ein nicht ganz alltäglicher Anblick. Eine blonde Sklavin wurde von zwei anderen Sklaven in die Mitte genommen und halb durch die Menge getragen, halb geschleift, mit dem Rücken nach vorne. Siv hatte sich bisher erfolgreich weigern können, mit auf den Markt zu gehen – oder sonst wohin, sah man einmal von der Saturnalienfeier und dem Julfest ab –, aber sogar sie hatte gewusst, dass es nicht ewig so weitergehen würde, auch wenn sie gehofft hatte, das Unvermeidlich noch ein wenig länger hinauszögern zu können. Und heute war es soweit gewesen. Sie sollte Tuniken bekommen – nicht einfach welche, die im Haus über waren, sondern eigene, die ihr vernünftig passten. Zuerst hatte sie sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, als Dina zu ihr gekommen war und ihr Bescheid gegeben hatte. Sie war ja im Grunde selbst schuld – zwei der Tuniken hatte sie ruiniert, als sie Corvinus und Helena versorgt hatte, eine erst vor kurzem, beim Julfest. Nichts was sich nicht richten ließe, aber geflickte und ausgebesserte Sachen sollten die Sklaven der Aurelier nicht tragen, weil es ein schlechtes Licht auf die Familie warf. Aber Siv wollte keine neue Tunika, und so sehr sie auch das Haus verlassen wollte, wollte sie es doch nicht tun, um den Tag in den Straßen Roms zu verbringen. Es gab nicht viel, wovor sie Angst hatte, aber Menschenmengen und dieses Gefühl der völligen Orientierungslosigkeit, das sie in dieser Stadt jedes Mal ergriff, gehörten dazu. Und Siv war nicht wirklich gut darin, sich ihren Ängsten zu stellen.
Dina hatte irgendwann aufgegeben und Brix dazu geholt, und der hatte nur gelacht und sie gefragt, ob sie Angst habe. Und Siv hätte ihn verfluchen können, dafür, dass er sie trotz der kurzen Zeit schon so gut kannte. Sie und Angst? Sie hätte sich eher die Zunge abgebissen als das zuzugeben. Natürlich war sie daraufhin mitgekommen. Aber als sie sich den Märkten näherten und die Menschen um sie herum immer mehr wurden, war die Germanin einfach stehen geblieben und hatte auf dem Absatz kehrt gemacht. Gekommen war sie nur einige Schritte weit, bevor Dina und Brix ihr unter die Armen gegriffen und sie einfach mitgeschleift hatten, lachend und trotz ihrer Proteste. Siv kam sich etwas lächerlich vor, aber die beiden entließen sie erst aus ihrem Griff, als sie schon bei einem Händler waren. Dina suchte ein paar Sachen für Siv aus – während Brix rumalberte und die Germanin einfach nur dastand und abwechselnd den Händler, Brix und Dina mit Blicken durchbohrte. Die Ägypterin versuchte, Siv fürs Einkaufen zu begeistern, aber damit konnte sich die Germanin auch nicht wirklich anfreunden. Sicher gab es einiges zu sehen – genau das war das Problem, es war einfach zu viel. Warum so viel Zeit verschwenden, wenn es doch nur darum ging, sich ein paar Tuniken auszusuchen? Wieso bestand Dina darauf, dass sie sie anprobierte, und dann auch noch in verschiedenen Farben? Siv verzog das Gesicht, während die Ägypterin um sie herumsprang und ihr mal dies, mal jenes an den Körper hielt. "Na wenigstens eine hat hier ihren Spaß. Zwei", korrigierte sie sich mit einem Seufzen, als sie Brix’ breites Grinsen sah.
Als sie schließlich fertig waren, konnte Siv ein erleichtertes Aufseufzen nicht unterdrücken, aber kaum einen Moment später stellte sie mit Erschrecken fest, dass sie noch nicht fertig waren. Wenn sie schon auf dem Markt waren, würden sie auch gleich Lebensmittel einkaufen, erklärte Brix ihr mit einem gutmütigen Zwinkern, wohl wissend, wie wenig Siv das gefallen würde, und die Germanin stöhnte leise auf, ergab sich aber wortlos in ihr Schicksal. Hätte sie etwas gesagt, hätte Brix nur die Gelegenheit genutzt, sie weiter aufzuziehen. Sie gingen weiter, zu anderen Händlern, und dann geschah es. Siv war ganz normal weitergegangen, aber Brix und Dina hatten bei einem Gewürzhändler halt gemacht – und als Siv auffiel, dass die beiden nicht mehr neben ihr waren, konnte sie schon nicht mehr ausmachen in der Menge. Die Germanin blieb für einen Moment wie erstarrt stehen und versuchte, die aufkommende Panik zu unterdrücken, die fast sofort von ihr Besitz ergriff. Suchend sah sie sich um und ging etwas zurück, aber schon nach ein paar Schritten wusste sie noch nicht einmal mehr genau die Richtung, aus der sie gekommen war. Waren sie an dieser Ecke schon hierhin eingebogen oder war es die davor gewesen? Wieder blieb Siv stehen, am Rand, um nicht ständig angerempelt zu werden, und sah sich um, aber wieder konnte sie kein bekanntes Gesicht sehen. Ihr Magen zog sich noch etwas mehr zusammen. Was, wenn sie sie nicht wiederfand? Wie sollte sie den Heimweg finden? Die Germanin schluckte mühsam. Sie hasste dieses Gefühl. Bis sie in römische Gefangenschaft geraten war, hatte sie immer gewusst, wo sie war, hatte immer gewusst, welchen Weg sie zu gehen hatte, selbst in fremden Gegenden. Sie hatte schon als Kind gelernt, sich zurecht zu finden, und sie hatte immer etwas gefunden, woran sie sich orientieren konnte, etwas, was ihr einen Hinweis auf den nächsten Schritt gab und den danach. Sie hatte sich einfach sicher gefühlt. Aber hier… musste sie ja schon Angst haben, von der Menge irgendwo mit hin gerissen zu werden, wo sie nicht hin wollte. Nicht dass es einen Unterschied machte, sie kannte sich ohnehin nicht aus. Sie fühlte sich so unglaublich verloren, jetzt, wo sie zum ersten Mal wirklich allein war in Rom, und für jemanden wie sie, die es gewohnt war einfach zu wissen, wo sie sich hinwenden musste ohne nachzudenken, war das furchtbar. Reiß dich zusammen, schimpfte sie sich in Gedanken. Du findest dich in jedem Wald zurecht, es kann doch nicht so schwer sein, hier weiterzukommen! Aber sie kannte den Weg nicht, konnte sich nicht erinnern, und sie sprach Latein nicht gut genug, um jemanden zu fragen und die Antwort dann auch zu verstehen. Und sie war – noch – nicht verzweifelt genug, einfach irgendjemanden zu bitten, sie nach Hause zu bringen. Dass es schon jemanden gab, der sie bereits seit einiger Zeit im Blick behielt, merkte sie dagegen nicht – und das war genauso sehr ein Zeichen für ihre aufkeimende Panik wie die Tatsache, dass ihr noch nicht einmal der Gedanke an eine Flucht kam, so gering auch die Gelegenheit sein mochte, die sich ihr gerade bot.