Beiträge von Aureliana Siv

    "Wenig Schlaf", murmelte Siv als Erklärung und nickte leicht zu Finn hin. Es stimmte ja, sie kam wenig zum Schlafen, weniger als vor der Geburt. Dann sah sie wieder überrascht hoch, als Brix von der Wiege anfing. Er fand keinen Käufer? Siv verbot sich den leisen Anflug von Erleichterung, der sich in ihr breit machen wollte. Es war lächerlich. Sie konnte die Wiege nicht mehr gebrauchen, hier würde sie zu viel Platz wegnehmen, und mitnehmen konnte sie sie erst recht nicht. Sie konnte sie nicht gebrauchen. Was sie aber gebrauchen konnte, wäre das Geld, das sie bedeutete, für die Reise, bis sie endlich dort angekommen war, wo sie römisches Geld nicht mehr brauchen würde. "Na ja, ehm. Was… Was für Geld ist das dann, das du mitgebracht hast?" fragte sie. Irgendwoher musste Brix das ja haben, wenn er die Wiege noch nicht verkauft hatte, und er hatte ihr ohnehin schon so viel gegeben. "Im Moment brauch ich ja nichts." Ein zur Abwechslung mal ehrliches, wenn auch müdes Lächeln flog über ihre Züge, als Brix sich wieder kurz mit Finn beschäftigte. Dann, unwillkürlich, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, tauchte plötzlich Corvinus vor ihrem inneren Auge auf, ersetzte Brix vor ihr, hielt seinen Sohn und sprach mit ihm… Siv wandte den Blick ab und schluckte mühsam, während sie sich mühsam anstrengte, dieses Bild zu vertreiben. "Alle…", murmelte sie. Das wagte sie zu bezweifeln. Und dann hob sich ihr Kopf wieder, ruckartig, als Brix die letzten Worte aussprach, aber sie sah ihn nur kurz an, mit brennenden Augen, bevor sie den Kopf zur Seite drehte und zu Ferun starrte, die sich mit der Wäsche beschäftigte, während Sonnwinn und Lioba am Boden saßen und miteinander spielten – das hieß, Lioba spielte, während Sonnwinn es komplett misslang, den gleichen Eindruck zu erwecken und dadurch zu verschleiern, dass er in Wahrheit aufmerksam lauschte. Sivs Stimme wurde nicht lauter, gewann aber etwas an Schärfe. "Was, doch? Zurückkommen? Und was soll ich dann da?"

    Im ersten Moment musste Siv sich beherrschen, Brix nicht anzufahren, als er ihr den Kleinen einfach wegnahm, und musste sich noch mehr beherrschen, um ihn nicht einfach zurückzunehmen. Finn war das Einzige, was sie hatte, was ihr geblieben war, und es fiel ihr unglaublich schwer, ihn aus ihren Händen zu geben. Was in der Villa Aurelia schon begonnen hatte, hatte sich hier nicht nur fortgesetzt, sondern verstärkt. Uland hatte Finn noch überhaupt nie gehalten, und Ferun nur, wenn es gar nicht anders gegangen war. Brix allerdings war noch einmal etwas anderes. Sie kannte Brix wesentlich länger, und sie wusste ja selbst, dass sie sich lächerlich benahm. Und Finn hörte tatsächlich auf zu weinen, als der große Germane ihn hochhob und ihn dann an seinem Bart ziehen ließ. Trotzdem blieb da eine nervöse Unruhe in Siv, und sie musste sich nach wie vor beherrschen, nicht wenigstens ihre Hände auszustrecken und Finn zu berühren, oder Brix zu sagen, was er tun sollte. "Ehm. Du…" Siv biss sich auf die Unterlippe und schluckte den Rest der Worte hinunter, während Brix auf den Kleinen einsprach. Finn hatte noch nicht wieder begonnen zu weinen, das war doch Zeichen genug dafür, dass Brix alles richtig machte, dass es keine Notwendigkeit gab, ihm irgendetwas zu sagen. Finn war nur so wichtig für sie…


    Sie stemmte eine Hand in die Hüfte und strich sich erschöpft die Haare aus der Stirn. "Mir…" Sie unterdrückte mit Gewalt das Schluchzen, das in ihrer Kehle steckte, und zwang stattdessen ein Lächeln auf ihre Züge. "Ich… bin etwas müde." Das Lächeln geriet nicht sonderlich überzeugend, während sie diese Untertreibung vom Stapel ließ, das spürte Siv selbst. Aber sie ignorierte geflissentlich den Blick, den Ferun ihr vom anderen Ende des Raumes aus zuwarf, zuckte andeutungsweise die Achseln und strich nun doch ihrem Sohn wenigstens über den Kopf, als dieser ein Brabbeln von sich gab. "Ich freu mich schon drauf, wenn er endlich durchschläft", versuchte sie abzulenken.

    Ferun war heute früher von ihrer Arbeit heimgekommen, weil nicht sonderlich viel los gewesen war in dem kleinen Geschäft, in dem sie aushalf. Siv wusste, dass Ferun es gut meinte, dass sie etwas entlasten wollte – dass es Siv derzeit nicht sonderlich gut ging, war ihr anzusehen –, aber die Germanin war sich nicht so sicher, ob sie sich darüber freuen sollte. Sich um die Kinder zu kümmern war zwar beileibe nicht immer einfach, aber es war immer Ablenkung. Ihr Problem war ja nicht, dass es viel zu tun gab, dass die Kinder – sowohl Finn als auch Sonnwinn und Lioba – sie beanspruchten, sondern die Tatsache, dass sie sich in den ruhigen Phasen nicht entspannen konnte. Wenn sie wach war, brachen all die Gedanken, die Gefühle, die Sehnsucht und die an den Rändern ihres Seins nagende Verzweiflung über sie herein, wenn sie schlief, träumte sie. Es waren nicht immer Albträume, aber es waren häufig solche, die ihren Schlaf unruhig sein ließen – und die wenigen schönen, die sie hatte, ließen sie dann nur mit einem dumpfen Gefühl der Einsamkeit und des Verlusts aufwachen. Aber letztlich war es gleichgültig, ob Ferun ihr mit ihrem gelegentlichen früheren Heimkommen einen Gefallen tat oder nicht. Siv dachte nicht im Traum daran, Ferun vor den Kopf zu stoßen, indem sie ihr davon erzählte, dass es für sie nicht wirklich ein Gefallen war, zumal es ohnehin nichts gab, was sie oder Uland hätten tun können, um ihre Situation zu verbessern. Siv wusste, dass es nichts gab, was die beiden hätten tun können. Oder sonst jemand. Es war einfach etwas, womit sie selbst fertig werden musste.


    Und an diesem Tag war es tatsächlich gut, dass Ferun früher gekommen war – in jedem Fall war sie in genau dem richtigen Augenblick gekommen. Finn brüllte sich gerade die Seele aus dem Leib, so hörte es sich für Siv jedenfalls an, und es war einer dieser Momente, in denen es nichts zu geben schien, was ihn beruhigte. Sie konnte nichts anderes tun, als ihn herumzutragen. Als es an der Tür klopfte und Ferun mit Lioba hinging, hatte sich Finns Lautstärke etwas gedämpft, aber er weinte noch immer, und Siv lief immer noch mit ihm umher, sprach leise auf ihn ein, wiegte ihn, sprach wieder, streichelte, und war bald selbst den Tränen nahe, weil das Schreien und Weinen derart an ihren Nerven zerrte und sie ihn nicht beruhigen konnte. Nur vage bekam sie mit, wer da an der Tür war, hörte eine leise Stimme und dann Feruns Antwort, auf germanisch: "Nein, Uland ist nicht da. Aber Siv. Komm doch rein." Siv verlagerte Finns Körper etwas, hielt ihn jetzt etwas aufrechter, umfing seinen Körper mit ihrem linken Arm und stützte sein Köpfchen mit der rechten Hand, und sah dann überrascht auf, als Brix den Raum betrat. "Brix?" Ein müdes Lächeln flog über ihre Züge. "Hey, schön dich zu sehen."

    Die Tage vergingen, ohne dass Siv sie zu fassen bekam. Sie verbrachte viel Zeit mit den Kindern, schon allein, weil dies hier ihre hauptsächliche Aufgabe war, und es tat ihr gut, es lenkte sie ab. Sie bemühte sich, bemühte sich wirklich, alles zu verdrängen, wegzuschieben, was da noch war. Und da war so viel.. Die Sehnsucht, nach ihm, war wohl das Schlimmste. Sie hatte geglaubt, es würde besser werden, wenn sie erst einmal aus seinem Einflussbereich heraus war, aber das wurde es nicht. Im Gegenteil stellte sie nun fest, dass das Gefühl seiner Anwesenheit, seiner Nähe, ohne sie wirklich erreichen zu können, zwar schmerzhaft gewesen war, aber ihr dennoch geholfen hatte. Sie war es gewohnt, dass er ihr fehlte, hatte er sie doch inzwischen schon wieder seit Wochen gemieden, vor ihrer Freilassung und danach erst recht. Sie kannte dieses Gefühl. Ihn dennoch wenigstens in ihrer Nähe zu wissen, war etwas, wie sie nun feststellte, was es leichter gemacht hatte. Aber sie hätte doch auch nicht bleiben können. Sie war frei. Wie hätte sie denn bleiben können, wo der Zwang ihres Sklaventums weggefallen war? Wie hätte sie sich und ihrem Sohn später noch in die Augen sehen können, wenn sie dennoch geblieben wäre, obwohl so deutlich war, dass er sie nicht wollte, sie nicht und seinen Sohn nicht? Wie könnte sie Finn denn Stolz beibringen, wenn sie selbst ihren eigenen so völlig begrub… nur um in der Nähe eines Menschen zu bleiben, der so offensichtlich nichts von ihr wissen wollte. Es war doch egal, wie sehr sie sich nach ihm sehnte. Wie sehr sie ihn liebte. Es war egal, weil es ihm anders ging als ihr… Und sie war nun immerhin frei, konnte gehen, musste nicht mehr bei ihm bleiben. Und doch wollte sie nichts anderes als das. Sie schämte sich dafür, aber ein Teil von ihr wünschte sich, sie wäre noch Sklavin. Wünschte sich, er hätte sie nicht freigelassen.


    Und da waren die anderen Dinge. Siv war nicht für dieses Leben gemacht. Der Lärm, der Schmutz, die Enge und die Luft, die ihr selbst jetzt, im beginnenden Frühling, viel zu stickig erschien. Sie hatte nicht die geringste Ahnung gehabt, in welchem Luxus sie bisher gelebt hatte. Der Platz, den es in der Villa gegeben hatte. Der große Garten. Nichts im Vergleich zu der Weite der germanischen Wälder, sicher nicht, aber im Gegensatz zu dem, was sie hier hatte… Und dann war da das Licht – etwas, was sie auch in Germanien nicht in der Form zur Verfügung gehabt hatte. Was sie damals nicht gestört hatte, aber jetzt, wo sie es entdeckt hatte, wo sie einmal gemerkt hatte, dass der Tag nicht notwendigerweise mit der Dämmerung zu enden hatte, vermisste sie es. Sie vermisste es, abends noch etwas tun zu können. Zu lesen, auch wenn sie nur diese eine einzige Schriftstück zur Verfügung hatte, das Corvinus ihr geschenkt hatte, und keine ganze Bibliothek – die sie genauso vermisste. Sie vermisste es, Finn sehen zu können, wenn er nachts aufwachte und sie brauchte, wenn sie ihn stillte oder einfach nur mit ihm herumging, um ihn zu beruhigen, weil er Bauchweh hatte oder nicht schlafen konnte. Und dass sie selbst nur wenig Schlaf bekam und dieser dann nicht sonderlich erholsam war, trug nichts dazu bei, dass es ihr besser ging. Und so verbrachte Siv die Zeit bei Ulands Familie, mühte sich, sich abzulenken, was ihr tagsüber auch hinreichend gelang. Nur nachts… nachts, wenn alle schliefen und nur sie wach war, und höchstens Finn noch, ohne sie jedoch allzu sehr in Anspruch zu nehmen, brachte sie es nicht fertig, zu verdrängen.

    Sie war also Narcissa. Siv legte den Kopf ein wenig schief und musterte sie, ein wenig neugierig – etwas, was sie schon seit einiger Zeit so nicht mehr wirklich empfunden hatte. Eineiige Zwillinge. Hatte sie Narcissas Schwester denn überhaupt schon mal gesehen, oder hatte das immer nur die eine gewesen, wenn sie sich denn überhaupt gesehen hatten, von Ferne? Dann allerdings sagte die Aurelia etwas, was Siv sich innerlich zurückziehen ließ. Ihr müsst beide sehr stolz sein. Beide. Beide… Sie, ja, sie war stolz, aber… Sie wandte ihren Blick wieder zu dem Kleinen, aber diesmal berührte sie ihn nicht, sie sah ihn nur an, ihren kleinen Sohn, der gerade aufzuwachen begann, blinzelte, gähnte. Die winzigen Hände, zu Fäustchen geballt, reckten sich ein wenig in die Höhe, als der kleine Körper sich streckte, während zugleich seine Lider flatterten. Die Augen waren noch blau, aber bereits jetzt konnte man die ersten braunen Punkte erkennen, die sich um seine Iris zu bilden begannen, wenn man genau hinsah. Ein paar Wochen, vielleicht ein paar Monate, dann würden seine Augen braun sein, schätzte sie.


    Oh ja, sie war stolz auf ihren Sohn. Stolz auf dieses winzige Leben, das sie hervorgebracht hatte. Ein Sohn. Auch wenn Siv weit davon entfernt war, ihr eigenes Geschlecht niederzureden, ein Sohn war nun einmal etwas anderes als eine Tochter. Sie wäre so oder so stolz auf ihr Kind gewesen, aber sie konnte nicht wissen, wie es mit einer Tochter gewesen wäre, weil sie nun mal einen Sohn bekommen hatte, und er war… perfekt. Trotzdem lächelte sie diesmal nicht. Narcissa hatte von beiden gesprochen. Und Siv wusste, dass sie allein war. Sie hatte immer gewusst, dass Corvinus das Kind nicht annehmen würde. Aber dass er nicht einmal, ein einziges Mal wenigstens, kommen würde, um seinen Sohn zu sehen… ihn kennen zu lernen… Sie hatte geglaubt, dass er das tun würde. Dass er wenigstens, wenn sie allein waren, sich zu seinem Sohn bekennen würde. Aber das hatte er bis heute nicht. Nein. Er war nicht stolz auf ihn. Sivs Lippen pressten sich aufeinander. Vermutlich war ihm nun einfach nur klar geworden, was der Kleine war. Der Sohn einer Sklavin. Egal ob er der Vater war, der Kleine war der Sohn einer Freigelassenen. Einer ehemaligen Sklavin. Der Gedanke, dass Corvinus das nun endgültig realisiert haben könnte, tat unglaublich weh. Genauso wie der Gedanke, dass sie ihm völlig egal war, so egal, dass er es noch nicht einmal für nötig hielt, nach ihr zu sehen, wie es ihr ging nach der Geburt. Und dann erwachte Trotz in ihr. "Ich bin stolz auf ihn." Oh ja, sie war es. Und ihr Stolz reichte für zwei. Sie hob wieder eine Hand und fuhr über den Bauch des Kleinen, bevor sie ihre Finger so hielt, dass er mit den Händchen danach greifen und sich daran klammern konnte. Ein leises Glucksen war zu hören, aber er schien nichts zu wollen, schien zufrieden zu sein, einfach ein bisschen zu strampeln und zu glucksen und ihren Finger zu umklammern. "Na ja, was heißt einfach." Siv verzog leicht ihre Mundwinkel nach oben und deutete zugleich ein Achselzucken an. "Es war… nicht schön. Nicht einfach, nein. Aber es war auch nicht schwer, da war nichts… anders, als es sonst ist. Ich glaub, es war normal. Für eine erste Geburt…"

    Siv saß da, knabberte an ihrem Brot und sah ihren Sohn an. Entscheidung. Entscheidung. Sie seufzte auf. Es war bereits im Rollen, mit Brix hatte sie geredet, und er hatte versprochen sich zu erkundigen. Sich umzuhören, bei denen, die er kannte, bei denen, die die Aurelier kannten. Bei denen, die in Frage kamen. Ihr Entschluss war gefasst. Es war nur so schwer, darauf zu warten, bis sie ihn endlich in die Tat umsetzen konnte.


    Plötzlich wurde die Germanin jedoch aus ihren mal dahinwirbelnden, mal träge dahingleitenden Gedanken gerissen, als jemand die Küche nicht nur betrat, sondern sie auch ansprach. Sie sah hoch, und mit einiger Überraschung erkannte sie die Römerin, die sie vor einiger Zeit – noch vor der Geburt – in der Bibliothek getroffen hatte. Oder war das ihr Zwilling? Sivs Brauen zogen sich eine Winzigkeit zusammen, während sie überlegte, wie sie das rausfinden konnte, ohne einfach direkt nachzufragen, aber dann sagte die Aurelia etwas, was Siv dazu brachte zu glauben, tatsächlich Narcissa vor sich zu haben. Flora hatte sie noch nicht getroffen, warum hätte die sie also nach ihrem Kind fragen sollen? Na gut, fragen vielleicht schon, immerhin sah sie es ja, aber wenn sie sich nicht schon getroffen hätten, hätte sie doch sicher anders gefragt… Wie machte eine Mutter das mit eineiigen Zwillingen? "Salve", antwortete sie zunächst, und lächelte dann leicht, während sie zu ihrem Sohn sah. "Ja. Er ist da. Seit ein paar Tagen." Sie hob eine Hand und strich leicht über seine Stirn, über sein Köpfchen, und ihr entging völlig, dass die Aurelia sich etwas unbehaglich fühlte. Dann sah sie wieder auf. "Ehm. Du… bist du… Narcissa? Oder…"

    Siv sah zwischen den beiden hin und her, während sie sich über die Schwester der Römerin unterhielten, aber es gab nichts, was sie zu diesem Thema hätte beitragen können. Sie kannte die Zwillinge nicht, traf Narcissa in diesem Moment zum ersten Mal. Aber je länger die Aurelia blieb und sprach, desto mehr bekam Siv den Eindruck, dass sie… nun ja, anders war. Jedenfalls anders als viele andere Römer, die sie kennen gelernt hatte. Vielleicht lag es daran, dass sie noch jung war, aber Siv hatte nicht das Gefühl, dass sie mit ihnen sprach wie mit Sklaven. Nicht, dass sie selbst noch eine war, aber das konnte die Aurelia ja nicht wissen. Siv zuckte leicht die Achseln und grinste etwas schief, als Narcissa noch eine Frage stellte. "Ein bisschen. Aber ich freu mich einfach darauf, wenn es vorbei ist. Die Schwangerschaft, meine ich." Mit einer leichten Kopfbewegung deutete sie zu ihrem unförmigen Bauch hin.


    Dann sah sie zu Cimon auf, als der plötzlich fragte, ob er etwas bringen können. Euch, sagte er. Er schloss sie mit ein. Siv konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, dass er sie so behandelte. "Mir? Eh, nein. Aber danke." Sie lächelte ihm zu, ein wenig verhalten, ein wenig verwirrt, weil sie nicht so recht wusste, wie sie darauf reagieren sollte.

    Er fehlte ihr. Sie war erst ein paar Tage hier, und er fehlte ihr so sehr. Siv hatte geglaubt, dass sich daran etwas ändern würde, wenn sie die Villa erst mal verlassen hatte. Wenn sie nicht mehr in dem Haus lebte, das seines war, in dem sie ständig Gefahr lief, ihm zu begegnen, und das in seinen Bereichen mehr als deutlich das Siegel seiner Anwesenheit trug. Sie hatte geglaubt, wenn sie erst einmal aus diesem Einflussbereich heraus war, würde es besser werden. Aber das wurde es nicht, es wurde eher noch schlimmer. Er fehlte ihr. Und dazu kamen andere Dinge, die ihre Situation nur noch schwerer machten. Uland und Ferun waren nett genug, sie hatten sich auf Anhieb verstanden, und Siv war in die beiden Kleinen regelrecht vernarrt, genauso wie umgekehrt – was zu einem Gutteil daran liegen mochte, dass Siv ihnen auf ihrer Ebene begegnete. Im Umgang mit den beiden merkte sie, dass sie wohl keine wirklich gute Mutter werden würde, nicht wenn es darum ging, durchzugreifen und streng zu sein. Aber vielleicht lag es auch nur an der Situation. Sie sehnte sich nach Gesellschaft, nach Nähe – unvoreingenommene Nähe. Uland war tagsüber weg und arbeitete, und jetzt wo Siv da war und auf die Kinder aufpassen konnte, ging auch Ferun einer Arbeit nach, auch wenn diese nur einige Stunden ihres Tages in Anspruch nahm. Sie brauchten Geld, für die Reise nach Germanien und für den Neustart in Mogontiacum. Aber selbst wenn sie da waren, waren die beiden etwas anderes. Ferun, die ohnehin schon ein sehr ruhiger Mensch war, war deutlich unglücklich. Sie bemühte sich, sehr, aber es war natürlich dennoch zu merken, dass das Leben in Rom ihr Gemüt trübte. Siv konnte das verstehen, denn zumindest was das Leben in dieser Insula anging, in den Randgebieten der Subura, ging es ihr ganz genauso. Der Lärm, der Gestank, die Enge auf den Straßen und in der Wohnung… Es war nur gut, dass Finn so klein war und sie ohnehin in regelmäßigen Abständen brauchte, auch in der Nacht, denn so weckte er sie zumeist nur aus einem sehr unruhigen, teils sogar von Albträumen behafteten Schlaf, die entweder auf die Situation hier oder auf seinen Vater zurückzuführen waren. Und dass Ferun so zurückgezogen war, so unglücklich mit ihrem Leben, half Siv nicht, ihre eigene Situation mit anderen Augen zu sehen. Es half ihr nur insofern, als dass sie versuchte, für Ferun da zu sein, aber es gab einfach nicht viel, was Siv tun konnte. Es war nicht wie bei Finn, der sie so sehr brauchte und alles forderte, dass sie gar keine andere Wahl hatte.


    Und dann war da noch etwas, genauer gesagt, da waren zwei Dinge. Ferun und Uland, so sehr ihnen beiden das Leben in Rom inzwischen gegen den Strich gehen mochte, waren glücklich miteinander. Sie liebten sich, und sie waren glücklich. Wenn sie alle daheim waren und sich mit ihren Kinder beschäftigten, in diesen Momenten der trauten Familieneinigkeit kam Siv sich wie ein Eindringling vor – und es führte ihr vor Augen, was sie verloren hatte. Nicht, dass ein solches Leben mit Corvinus jemals möglich gewesen wäre, aber sie hatten immerhin etwas gehabt. Die kleinen, alltäglichen Szenen, die hatten sie gehabt. Sie hatte ihm geholfen, bei alltäglichen Handgriffen, beim Anlegen der Toga, beim Sortieren mancher Schriften, beim Vorbereiten seiner Besuche. Sie hatte einfach bei ihm sein können, und in diesen Momenten hatten sie wie selbstverständlich ihre gegenseitige Gesellschaft geteilt. Das fehlte ihr genauso sehr wie die Nächte, die sie miteinander geteilt hatten – und von denen die letzte schon so lang her war, dass sie sich kaum noch zu erinnern meinte. Die Nächte, in denen sie das Lager mit ihm geteilt hatte, genauso wie die Nächte, in denen sie einfach nur gemeinsam eingeschlafen waren, in seinem Bett. Siv sehnte sich danach, und das ruhige Glück, die stille Zufriedenheit, die Uland und Ferun manchmal ausstrahlten, wenn sie zusammen waren und Rom verdrängen konnten, so dass es ihnen ihr Gemüt nicht trübte, verstärkte die Sehnsucht nur. Und dann war da der letzte Punkt, der, der dazu führte, dass Siv die Gesellschaft der Kinder am meisten zu schätzen wusste. So nett Uland und Ferun auch waren – Siv bemerkte, wie sie sie manchmal ansahen. Sie weigerte sich, über Finns Vater zu sprechen. Sie blockte jedes Mal ab, wenn das Gespräch sich diesem Thema auch nur ansatzweise zuwandte. Aber natürlich machten die zwei sich Gedanken, schon allein, weil sie niemand besuchen gekommen war bisher. Und sie sprachen über sie, dessen war Siv sich sicher. Sie sprachen und grübelten und mutmaßten, und je länger Siv sich weigerte, auch nur irgendetwas preiszugeben, desto merkwürdiger wurden die Blicke, die sie ihr manchmal zuwarfen. Siv wappnete sich bereits jetzt für das Gespräch, das wohl irgendwann kommen würde, auch wenn sie versuchte, es hinauszuzögern, so lange es ging. Stattdessen beschäftigte sie sich mit den Kindern, die zwar Fragen stellten – jedenfalls Sonnwinn –, aber Fragen ohne jeden Hintergedanken, die völlig unvoreingenommen waren ihr gegenüber, die vernarrt waren in Finn – Sonnwinn, weil es endlich einen weiteren Jungen gab, Lioba, das merkte man nur zu deutlich, weil es endlich jemanden gab, der noch kleiner war als sie –, und sie hingen an Siv wie eine Klette. Und Siv sehnte sich so sehr nach Nähe, nach Aufmerksamkeit und nach Ablenkung, dass es ihr egal war, dass sie auf intellektueller Ebene kaum gefordert war, ganz im Gegensatz zu den letzten Monaten und Jahren. Es begann ihr zu fehlen, und sie begann, sich unterfordert zu fühlen, aber noch war diese Sehnsucht nichts im Vergleich zu jener nach etwas Nähe.

    Viel geredet hatten sie nicht auf dem Weg zu der Insula, die Sivs neues Heim sein würde, jedenfalls in den nächsten Monaten. Und sie bewegten sich immer tiefer in Gegenden hinein, die Siv während ihrer ganzen Zeit in Rom kaum je zu Gesicht bekommen hatte. Sie hatte sich nie wirklich an die Stadt gewöhnen können – und je enger die Straßen, je verbauter die Häuser, je weniger Natur und frische Luft, desto schlimmer für sie. Selbst an die Märkte, die sie doch eher häufig hatte aufsuchen müssen, hatte sie sich nicht gewöhnen können, wobei es hier vor allem die Masse an Menschen war, die ihr nicht gefallen hatte. Und sie hatte bei Botengängen teils große Umwege auf sich genommen, um die Bereiche der Stadt zu meiden, in denen es ihr zu eng war, zu… drückend. Und jetzt bewegte sie sich immer tiefer hinein in die Eingeweide dieser Stadt. Siv meinte fast zu ersticken, und sie war dankbar um die Wärme des kleinen Körpers, der an ihrem Oberkörper lag. Von ihrem Unwohlsein konnte sie Brix nichts erzählen, am Ende bestand der sonst noch darauf, sie wieder zurückzunehmen. Und das wollte sie nicht.


    Nein, zurück wollte sie nicht. Aber der Gedanke, von nun an, und sei es nur für einige Monate, hier leben zu müssen, gefiel ihr nicht. Sie hatte von Anfang an gewusst, dass sie Glück gehabt hatte – sie hätte ganz woanders landen können. Wäre vermutlich woanders gelandet, wenn sie anders ausgesehen hätte. Die Schergen, die sie damals von Germanien nach Rom gebracht hatten, hatten mehr als nur einmal deutlich gemacht, dass ihr Aussehen ihr größtes, nein, eigentlich sogar ihr einziges Kapital war, ungebildet und wild, wie sie war – und damit auch deren. Sie hatte Glück gehabt. Und selbst in der Villa Aurelia hatte sie lange gebraucht, bis sie sich an die Mauern und den Stein um sie herum gewöhnt hatte, genug, dass es ihr, meistens jedenfalls, nichts mehr ausmachte. Als Brix schließlich langsamer wurde und dann eines der Gebäude betrat, musste Siv ein Schaudern unterdrücken, als sie daran denken musste, was die einzigen Umstände waren, unter denen sie anfangs in der Villa hatte schlafen können – entweder sie war im Garten gewesen, oder bei Corvinus, hatte seine Nähe gespürt, seinen Körper. In ihrer neuen Bleibe würde sie keins von beiden haben. Keinen Garten, oder gar Stall, in den sie flüchten konnte, wenn es ihr zu viel wurde. Kein Corvinus, zu dem sie gehen konnte, wenn sie es nicht mehr aushielt… Sie waren so oft aneinander geraten, von Anfang an, erinnerte sie sich – aber das war Siv. Sie lebte ihr Leben nun mal mit Leidenschaft, und obwohl sie um ihren Status gewusst hatte, hatte sie es nie geschafft, ihren Stolz und ihre Leidenschaft wirklich zu bändigen, gar zu unterdrücken. Auch und gerade ihrem Herrn gegenüber nicht. Sie hatte kein Problem gehabt, mit ihm aneinander zu geraten, im Gegenteil, es hatte ihr gefallen. Das hatte einen Teil des Reizes ausgemacht, den er auf sie ausgeübt hatte, dass er nicht nachgegeben hatte, nie, ohne dabei jedoch… brachial zu werden. Deswegen hatte sie ihn akzeptiert, als Mann und letztlich irgendwie auch als Herrn – obwohl sie das niemals so zugegeben hätte –, und deswegen hatte sie angefangen ihn zu mögen. Ein anderer Besitzer… und sie hätte entweder ihr Leben mit niedersten Arbeiten fristen können oder wäre irgendwann gebrochen worden, das wusste sie. Aber mit Corvinus war es anders gekommen, anders gewesen. Hel, er fehlte ihr.


    Erst als Brix verwundert seinen Kopf durch die Tür streckte, fiel Siv auf, dass sie eine ganze Zeit lang vor dem Haus gestanden und es nur angestarrt hatte, ohne sich zu rühren. Und ohne es wirklich zu sehen. Versunken in Erinnerungen… Siv blinzelte einmal und schüttelte leicht den Kopf, dann gab sie sich einen Ruck und folgte Brix endlich in das Haus hinein.

    Siv verschnürte ihr Bündel und nahm dann ihren Sohn aus seiner Wiege, band ihn sich mit einem langen Tuch, das mehrfach überkreuz gewickelt war, vor die Brust, so dass er sicher bei ihr war und sie dennoch die Hände frei hatte. Ihre Bewegungen waren langsam und bedächtig. Ein sauberer Schnitt, wisperte es in ihrem Kopf. Sie konnte keinen sauberen Schnitt machen. Es ging einfach nicht. Sie musste es in Raten tun, und selbst dann, wenn die letzte Rate – die Reise nach Germanien – erledigt war, würde es dennoch kein gänzlich sauberer Schnitt sein. Nicht nur wegen dem Buch. Sie trug ihn im Herzen, und dort würde sie ihn immer haben. Sie würde ihn nie vergessen, das wusste sie – gerade deshalb war es ja so gefährlich, das Buch dennoch mitzunehmen. Aber der Schnitt würde dann so sauber sein, wie er nur sein konnte. Den Anhänger hier zu lassen, war richtig.


    Es dauerte nicht lange, bis Brix wieder kam. Hätte Siv darauf geachtet, wäre ihr vielleicht aufgefallen, dass er ein wenig merkwürdig war, aber sie hatte keinen Kopf dafür. Nein: sie hatte kein Herz dafür. Sie sah ihn nicht einmal wirklich an, als er hereinkam, einen kleinen Beutel mit Münzen in den Händen, den er ihr wortlos in die Hand drückte. Siv widersprach nicht. Sie hatte das Gefühl, jenseits von solchen Dingen zu sein.
    "Fertig?"
    Siv nickte nur schweigend, und ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, nahm sie ihr Bündel auf, drehte sich um und ging.



    Wie hab ich das gefühlt was Abschied heißt
    Wie weiß ichs noch: ein dunkles unverwundnes
    grausames Etwas, das ein Schönverbundnes
    noch einmal zeigt und hinhält und zerreißt.

    Am Rande der Subura lag dieses mehrstöckige Gebäude, in dem Uland, Ferun und ihre beiden Kinder Sonnwinn und Lioba lebten. Direkt unter dem Dach ist die Familie untergekommen, was den Weg in die Wohnung mühsam und die Wohnung selbst im Sommer nahezu unterträglich heiß, im Winter kalt und bei Regen des Öfteren feucht sein lässt. Jedoch gibt der Abstand zur Straße ein wenig Schutz vor Lärm, Sicherheit vor zwielichtigen Gestalten und die ein oder andere frischere Brise im Sommer.

    Ein Winken, schon nicht mehr auf mich bezogen,
    ein leise Weiterwinkendes - , schon kaum
    erklärbar mehr: vielleicht ein Pflaumenbaum,
    von dem ein Kuckuck hastig abgeflogen.


    Rainer Maria Rilke


    Es war nicht lange nach ihrem Besuch im Stall. Siv wusste nicht, wie lange sie bei Idolum gewesen war, aber sie wusste, dass seitdem nicht viel Zeit vergangen war. Als sie zurückgekommen war, hatte sie eine recht aufgelöste Dina vorgefunden, die einen schreienden Finn umher getragen hatte, ohne jede Chance darauf, ihn beruhigen zu können. Siv hatte ihn ihr abgenommen und sich bedankt, und den Kleinen erst mal versucht zu stillen – und Hunger war tatsächlich der Grund gewesen für sein Gebrüll. Das gab ihr etwas Aufschluss darüber, wie lange sie bei Idolum gewesen war, immerhin hatte Finn einen gewissen Rhythmus, wann er wieder Hunger bekam, und sie hatte ihn gestillt gehabt, bevor sie ihn Dina gegeben hatte. Die allerdings hatte ihr noch gesagt, dass er schon einige Zeit geweint hätte, was Siv sofort ein schlechtes Gewissen verursachte. Sie konnte nicht vorgehen. Sie konnte sich nicht um sich selbst kümmern, wenn da so ein kleines Leben war, dass so sehr auf sie angewiesen war, dass so abhängig war von ihr. Es ging einfach nicht. Und doch war sie froh darum, dass sie sich diese Zeit bei Idolum einfach genommen hatte, ebenso wie sie wusste, dass sie nicht früher hätte gehen können, nicht in Anbetracht des Heulkrampfes, den sie schon wieder bekommen hatte bei ihm. Also hatte sie Finn gestillt, hatte mit ihm geschmust, mit ihm geredet und ihn umher getragen, und jetzt schlief er wieder. In seiner Wiege. Brix hatte vorgeschlagen, die Wiege erst dann zu verkaufen, wenn sie tatsächlich weg war und sie hier nicht mehr brauchte, und Siv hatte zugestimmt, nicht zuletzt deswegen, weil sie für die Unterkunft nichts würde zahlen müssen im Gegenzug dafür, dass sie mithalf mit den Kindern und im Haushalt. Da sie vorerst noch in Rom bleiben würde, würde es genug Gelegenheiten geben, an denen Brix ihr das Geld würde geben können. Siv war nicht ganz wohl bei dem Gedanken an diesen Abschied auf Raten – ihr wäre es weit lieber, von vornherein einen sauberen Schnitt machen zu können. Nichts, das ausfranste, nichts, das Gefahr lief, sich zu entzünden. Aber sie hatte keine Wahl. Sie glaubte kaum, dass sie es bis ins späte Frühjahr hinein hier aushalten würde. Die letzten Tage, Wochen, hatte es funktioniert, aber früher oder später würde der Tag kommen, an dem sie ihm begegnen würde.


    Als Brix, wieder einige Zeit später, klopfte und ihr Zimmer dann betrat, hatte Siv ihre wenigen Habseligkeiten bereits in ein Bündel gepackt. Einiges hatte sie hier gelassen, bewusst, was wohl zu ihren Dingen zählte – eine Menge Tuniken, beispielsweise, mit denen sie nichts würde anfangen können in Germanien. Nur die einfachsten und festesten hatte sie genommen. Und auch sonst fanden sich wenige Dinge in ihrem Beutel. Ein einfacher Kamm, einige Lederbänder, die man immer für irgendetwas gebrauchen konnte. Und das Buch. Das Buch, dass Corvinus ihr geschenkt hatte, das er seit seiner Kindheit gehabt hatte, und vor ihm schon sein Vater, und das zahlreiche Anmerkungen von ihm in sich trug, von ihm als Kind bis hin zu ihm als Erwachsenem. Sie wusste, dass sie es hier lassen sollte. Dass es ihr nur weh tun würde, jedes Mal, wenn sie es aufschlug. Aber sie brachte es nicht fertig, es hier zu lassen. Es war ihr ans Herz gewachsen. Und: irgendetwas sollte Finn später von seinem Vater haben. Er hatte ein Recht darauf, wenigstens etwas über ihn zu erfahren, von ihm selbst, und wenn es nur auf diesem Umweg über seine eigenen Anmerkungen in diesem Buch ging, dann war es eben so. Dazu kam, dass Corvinus das Buch selbst sehr geliebt hatte. Er hatte es ihr gesagt, und man merkte es dem Buch auch an. Es war etwas, dass ihm viel bedeutet hatte, und damit ganz sicher das Richtige, um es Finn später zu geben.


    Viel mehr fand sich nicht in ihrem Bündel, als sie Brix hereinbat, und trotzdem war sie im Grunde beinahe fertig. Sie sah den Germanen an und schluckte. "Können wir los?"
    "Ja. Das heißt, bald. Ich muss hier noch was erledigen, ich wollte nur nachsehen, ob du so weit fertig bist."
    Dass das eine Ausrede war, dafür musste Siv Brix nicht sonderlich gut kennen, um das zu erkennen. Allerdings wusste sie nicht so recht, was nun schon wieder los war. "Was ist los?"
    Brix seufzte. "Willst du ihm nicht doch Bescheid geben? Dich wenigstens verabschieden?"
    Stille. Dann: "Nein." Ein Hauch des so vertrauten Trotzes schwang nun in ihrer Stimme mit. Diese Frage hatte Brix ihr gerade nicht zum ersten Mal gestellt, und jedes Mal war ihre Antwort die gleiche gewesen. Sie hatte geglaubt, er hätte es kapiert gehabt.
    "Siv-"
    "Nein, Brix!" Die Heftigkeit in ihrer Stimme war fast ungewohnt, sowohl für sie als auch für ihn, weil sie schon so lange nicht mehr so reagiert hatte. "Ich werde nicht zu ihm gehen. Er will mich nicht sehen – und ich werd mich nicht aufdrängen!"
    Brix setzte dazu an, etwas zu sagen, zu widersprechen womöglich, aber ließ es dann bleiben. Und Siv sagte ebenfalls nichts mehr. Momente lang standen sie einfach nur da, während verlegenes Schweigen zwischen ihnen herrschte, dann hoben sich Sivs Hände und lösten das Band um ihren Hals. Zum ersten Mal, seit Corvinus ihr das Pferdchen umgehängt hatte, nahm sie es ab, ohne dass die Notwendigkeit gegeben wäre, das Band auszutauschen. Wortlos wog sie es einen Augenblick in ihrer Hand, bewegte ihre Finger leicht unter dem Lederband, betrachtete den filigranen Anhänger und strich dann schließlich sacht mit dem Daumen darüber. Ein sauberer Schnitt. Wenn sie schon nicht sofort aus Rom verschwinden konnte, und wenn sie schon die Verpflichtung fühlte, ihrem Sohn wenigstens etwas von seinem Vater zu bewahren, dann wollte sie wenigstens in allen anderen Dingen einen sauberen Schnitt machen. Und es schien ihr richtig, den Anhänger hier zu lassen. Sie hatte ihn bekommen, als sie gekommen war. Sie gab ihn zurück, jetzt, wo sie ging. Es war wie ein Kreis, der sich schloss. Der sich schließen musste, ganz gleich, wie weh es tat. Ohne Brix anzusehen, reichte sie ihm schließlich den Anhänger. "Gib ihm das", wisperte sie.
    Einen Moment lang geschah gar nichts, und Siv meinte schon, dass Brix sie womöglich nicht gehört hatte. Als sie jedoch aufsah, konnte sie sehen, wie er sie musterte, wieder mit diesem merkwürdig-mitleidigen Blick. Dann streckte er nur die Hand aus und nahm ihr den Anhänger ab. "In Ordnung", antwortete er leise. Einen Augenblick blieb er noch stehen, dann wandte er sich um und ging.

    Und wieder kam ein Zusammenbruch. Diesmal erwischte es Siv im Stall, bei Idolum. Sie hatte ihren Sohn – ausnahmsweise – Dina anvertraut, weil zu Idolum, in seinen Unterstand gewollt hatte, weil sie ihn hatte umarmen wollen, und Finn dann irgendwo ablegen in dieser Zeit, das kam nicht in Frage. Dann gab sie ihn immer noch lieber jemand anderem, auch wenn ihr das schwer fiel. Und bei Idolum war es dann wieder so weit. Sie konnte nicht mehr. Konnte sich nicht mehr zusammenreißen, nicht mehr verdrängen. Sie stand da, an den warmen Leib des Hengstes gepresst, die Arme um seinen Hals geschlungen, und weinte in seine Mähne, sein Fell hinein. Es tat so weh, so furchtbar weh… Etwas derartiges zu verlieren. Es sich eingestehen zu müssen. Es war nichts im Vergleich zu dem Schmerz, den sie über sich hatte ergehen lassen müssen, als das Mal in ihrem Nacken nun endlich so gezeichnet wurde, dass es sie als Freigelassene des Marcus Aurelius Corvinus auswies. Und dabei tat sie bereits ihr Bestes, um diesem Schmerz aus dem Weg zu gehen. Sie mied alles, was auch nur in irgendeiner Form mit ihm zu tun hatte, mied es, wo sie nur konnte. Nicht nur ihn selbst – den sie seit geraumer Weile nun schon nicht mehr gesehen hatte – sondern auch die Bereiche in der Villa, in denen er sich häufig aufhielt, die seinen Stempel trugen, seine Aura aufgesogen hatten wie ein Schwamm und sie nun beständig ausstrahlten. Sie hatte sich zurückgezogen in die Sklaventrakte, hauptsächlich, dorthin, wo sich kaum einer der Römer und schon gar nicht er hin verirrte, und dagegen hatte niemand Einwände gehabt, obwohl ihr die Leibsklaven-Pflichten mit ebenjener Begründung weggenommen worden waren: dass sie keine Sklavin mehr war.


    Ja, sie tat ihr Bestes, dem Schmerz und allem, was ihn auflodern lassen könnte, aus dem Weg zu gehen. Vielleicht traf es sie deshalb nur umso heftiger, wenn sie dann irgendwann an den Punkt kam, an dem sie nicht mehr konnte. Und diesen Punkt erreichte sie immer häufiger in letzter Zeit. Sie musste hier raus. Sie konnte einfach nicht mehr. Sie hatte die Grenze ihrer Leidensfähigkeit erreicht und im Grunde schon überschritten, das spürte sie deutlich, und sie musste etwas tun. Sie würde noch zugrunde gehen so. Und so schwer ihr die Entscheidung auch gefallen war und immer noch fiel, sie sah für sich keinen anderen Ausweg. Es wurde einfach nicht besser… und die Zusammenbrüche, die sie hatte, halfen ihr nicht, hatten nicht einmal mehr den Effekt, dass es ihr danach wenigstens kurzzeitig besser ging. Sie hinterließen nur noch mehr ein Gefühl dumpfer Leere und Verzweiflung. Sie musste weg von hier, wo sich nichts daran ändern würde, musste versuchen ein Umfeld zu finden, in dem sie ihrem Sohn eine gute Mutter würde sein können. In dem sie für ihn würde da sein können, voll und ganz. Sie presste sich an Idolum, ihr Körper bebend unter lautlosen Schluchzern, und nahm stumm Abschied von ihm.

    Wie war ich ohne Wehr, dem zuzuschauen,
    das, da es mich, mich rufend, gehen ließ,
    zurückblieb, so als wärens alle Frauen
    und dennoch klein und weiß und nichts als dies:


    Siv strich ihrem Sohn über die feinen Härchen, über seine Wange, und musste lächeln, wenn auch nur schwach, als sich die kleinen Fingerchen in festem Griff um ihren Zeigefinger schlossen. Sie hatte ihn gerade gestillt, und er war am Einschlafen, in ihren Armen. Er ließ sich Zeit mit dem Trinken, Siv hatte den Eindruck, dass er es genoss, und weil er sich Zeit ließ, musste er selten aufstoßen. Was sie durchaus angenehm fand, aber mehr noch als das faszinierte es sie einfach, wie er sich verhielt. So klein. Aber sie könnte schwören, dass er bereits jetzt eine komplett eigene Persönlichkeit war. Einzigartig. So sehr diese erste Zeit an ihren Nerven zerrte, Momente wie diese waren einfach… atemberaubend. Schlichtweg atemberaubend. Sie seufzte leise und neigte ihren Kopf zu ihm hinunter, um ihn auf die Stirn zu küssen, bevor sie ihren Finger aus den seinen löste und nach dem Anhänger um ihren Hals tastete.


    In dem Moment klopfte es, und nach ihrer leisen Aufforderung betrat Brix den Raum. Siv lächelte ihm matt zu. "Hey."
    "Hey." Er setzte sich zu ihr aufs Bett und schwieg lange Momente, in denen er einfach nur ihren Sohn ansah. Siv konnte nicht wirklich einschätzen, was er denken mochte. "Und…?"
    Brix seufzte. "Bist du dir denn wirklich sicher?"
    Siv wusste sofort, was er meinte. "Mehr denn je", antwortete sie dumpf, ohne ihn anzusehen. Dass Brix sie besorgt musterte, entging ihr. Ebenso, wie sie wohl wirken mochte auf ihn – oder die anderen, die wenigen, die ihr noch über den Weg liefen dieser Tage. Sie war zumeist so dumpf, wie ihre Stimme gerade klang. Abgestumpft, leblos. Nur wenn sie sich mit ihrem Sohn beschäftigte, schien Siv mit Leben erfüllt zu sein, schien sie zu ihrem früheren Selbst zurückzufinden, zu dem, was sie, ihr Wesen, eigentlich ausmachte. Und sie wusste es auch. Wusste es, ohne etwas dagegen tun zu können. Ja, sie war sich sicher. Sie konnte nicht bleiben. Wollte sie nicht Gefahr laufen, sich irgendwann so sehr zu verlieren, dass sie sich nicht einmal mehr bei ihrem Sohn wiederfand, dass sie ihm keine gute Mutter mehr würde sein können, weil der Schmerz zu groß wurde um ihn auszuhalten, musste sie gehen. Um seinetwillen durfte sie nicht hier bleiben, hier, wo sie alles an das erinnerte, was sie gehabt hatte. Zu haben geglaubt hatte. Verloren hatte. Hier, wo er war, sein Zuhause, sein Leben, seine Welt. Seine Frau. Seine neue, blonde, junge, germanische Sklavin. Dieses ganze Haus… atmete ihn, seine Gegenwart, sein Wesen, seine Präsenz. Sie konnte nicht bleiben, wo alles sie an das einzige erinnerte, was sie je wirklich gewollt hatte, mit ganzem Herzen und mehr Leidenschaft, als sie – trotz all der Leidenschaft, mit der sie ihr Leben schon immer gelebt hatte – je geglaubt hatte in sich zu finden.


    Siv bemerkte schließlich doch, dass Brix sie anstarrte, auf eine merkwürdig-mitleidige Art, und sie räusperte sich. Sie ahnte nicht, wie sehr sie wirkte wie damals, als Corvinus und sie kaum etwas miteinander zu tun gehabt hatten, als er sie bestraft hatte durch Nichtbeachtung, als sie nur noch ein Schatten ihrer Selbst gewesen war. Hätte sie es geahnt, sie hätte sich bemüht, diesen Eindruck zu kaschieren, mehr noch, sie hätte sich bemüht, sich zusammenzureißen, allein um ihres Sohnes willen. Aber sie ahnte es nicht. Sie spürte nur, dass sie etwas tun musste, und diesen Entschluss hatte sie bereits gefällt, hatte ihn bereits gefällt, bevor die neue Sklavin in dieses Haus gekommen war. Also war es letztlich doch egal. Ersatz oder nicht, sie würde nicht mehr hier sein, um es zu erleben. Um es sich ansehen zu müssen, wie Corvinus mit der Neuen anbandelte, wie er immer vertrauter mit ihr wurde. Wie er begann, mit ihr das Bett zu teilen. Nein. Sie musste sich das nicht antun. "Und?" wiederholte sie.
    Brix räusperte sich. "Ich hab wen gefunden. Eine Familie, mit mogontinischen Wurzeln – der Mann ist ein Klient von Corvinus, seit seiner Zeit als Tribun in Mogontiacum. Er heißt Uland. Hat versucht, hier in Rom Fuß zu fassen, aber die Sehnsucht nach Germanien ist wohl zu groß. Sie wollen im späten Frühjahr aufbrechen. Und du kannst jederzeit zu ihnen, meinten sie – sie haben zwei Kinder, da könnten sie jemanden gebrauchen, der mithilft." Er musterte sie kurz, aber Siv nahm die Neuigkeit scheinbar unbewegt auf. Die Wahrheit war, sie wusste nicht, was sie fühlen sollte. Ob das nun Erleichterung war, die sich in ihr breit zu machen begann, oder nicht doch Schrecken, dass ihr Vorhaben nun tatsächlich Formen annahm, ihre Entscheidung umgesetzt wurde. "Die Frau, Ferun, freut sich schon darauf, dich kennen zu lernen – sie hat hier nicht wirklich viel Kontakte, geschweige denn Freunde, und fühlt sich ziemlich einsam. Kann auch daran liegen, dass sie bis heute nur schlecht Latein spricht. Ach, und die beiden Kleinen sind Sonnwinn – der Racker ist drei – und Lioba, die ist acht Monate alt."
    Zum ersten Mal tauchte ein vages Lächeln auf Sivs Zügen auf, und sie sah hinunter auf ihren Sohn, der inzwischen in ihren Armen eingeschlafen war. "Das klingt gut", seufzte sie leise. "Wann… ich meine, was… was meinst du, wann ich los kann?"
    Brix zögerte einen Moment. Wäre er ehrlich gewesen, hätte er sagen müssen: sofort. Aber er wollte nicht, dass sie jetzt schon ging. Also antwortete er so vage, wie ihr Lächeln war: "Ich brauch noch ein bisschen Zeit. Um die letzten Details zu klären. Du weißt schon, das Geld… und dein Mal sollten wir endlich so kennzeichnen, dass du als Freie erkennbar ist." Er suchte nach Ausreden, um ein bisschen Zeit zu schinden, aber Siv widersprach nicht. Sie bemerkte es noch nicht einmal wirklich, dass es zumindest für Brix eher Ausreden denn tatsächliche Begründungen waren – aber das wiederum konnte Brix nicht mit Sicherheit sagen. Siv in jedem Fall nickte nur und sah auf ihren Sohn hinunter, und ein winziger Teil ihres Herzens war froh, dass sie noch ein paar Tage hier hatte. Obwohl ihr klar war, dass er niemals vorbei kommen würde, ganz egal, wie lange sie hier bleiben würde, und obwohl ihr klar war, dass es nur neues Leid, neue Schmerzen für sie nach sich ziehen würde, gab es doch immer noch diesen so furchtbar dummen und unvernünftigen Teil, so klein er auch sein mochte, der trotz allem noch Hoffnung hegte – wenn auch eine verstümmelte Hoffnung, so verkrüppelt, dass sie auf Siv manchmal fast wie ein pervertiertes Abbild wirkte gegen das Leuchten, das Strahlen, das Hoffnung eigentlich war.
    Brix schwieg einen Augenblick, und als von Siv kein Kommentar kam, neigte er sich schließlich über den Kleinen und strich ihm sacht über den Kopf. "Wie heißt er eigentlich?" Inzwischen war Zeit genug vergangen seit der Geburt, aber noch hatte er Siv den Namen nicht laut sagen hören.
    "Finn", antwortete sie. Der Helle. Der Weiße. So hell und weiß und strahlend, wie Hoffnung war. "Er heißt Finn."

    Heftig riss Siv die Tür zu ihrem Zimmer auf, und der einzige Grund, warum sie sie nicht hinter sich ins Schloss krachen ließ, war die Tatsache, dass ihr Sohn in seiner Wiege schlummerte. Das war auch der einzige Grund, der sie daran hinderte, ihren Schmerz laut hinauszuschreien. Stattdessen ließ sie sich nur, kaum dass die Tür ins Schloss gefallen war, daran entlang zu Boden sinken, zog die Beine an den Körper, kauerte sich zusammen und krümmte sich schließlich vornüber, während ihr Körper von heftigen, aber kaum hörbaren Schluchzern geschüttelt wurde.


    Sie hatte sie gesehen, die Neue. Heute hatte Corvinus sie gekauft, heute war sie gekommen. Brix hatte sie vorgewarnt. Hatte verhindert, dass sie ins offene Messer lief. Zu der schier endlos lang scheinenden Liste an Dingen, die sie ihm inzwischen schuldete, Dingen, wofür sie ihm dankbar war, war heute ein weiterer Punkt hinzugekommen: er hatte sie nicht ins offene Messer laufen lassen, sondern hatte sie vorgewarnt. Hatte ihr erzählt, dass Corvinus eine neue Sklavin gekauft hatte, eine Sklavin, die beinahe ihr Abbild hätte sein können. Siv krümmte sich noch mehr zusammen auf dem harten, kalten Boden, und die Schluchzer wurden noch heftiger. Sie schien keine Kontrolle mehr zu haben, über sich, über ihren Körper, konnte nicht verhindern, dass aufgestauter Schmerz und Verzweiflung, so lange nun schon zurückgehalten, sich endlich Bahn brachen. Wie eine ungeheure Flutwelle brachen die Gefühle über sie herein, die sie allzu lange unterdrückte hatte, eine Flutwelle, die alles hinfort riss, der sie nichts entgegenzusetzen hatte. Ersatz, wisperte es in ihrem Kopf. Er hat sich Ersatz besorgt. Ersatz. Er hatte mit ihr seinen Spaß gehabt, über Jahre, und jetzt, wo er ihrer überdrüssig geworden war, hatte er sich eine neue Sklavin gekauft. Warum er sie frei gelassen hatte, anstatt sie einfach fortzuschicken auf eines seiner Landgüter, war ihr nicht klar – vielleicht war da irgendwo in ihm so etwas wie ein Schuldgefühl, oder vielleicht auch Verantwortung, oder vielleicht lag es auch an dem Jungen, der immerhin sein Fleisch und Blut war, aber Fakt war, dass er sich Ersatz besorgt hatte. "Hel", schluchzte sie, würgte die Worte hilflos hervor. "Oh Hel, warum, warum… warum tut er mir das an… warum…" Sie wusste es nicht. Sie wusste keine Antwort. Sie hatte das Gefühl, Corvinus nicht mehr zu kennen, hatte das Gefühl, ihn niemals wirklich gekannt zu haben. Sie liebte ihn. So sehr. So sehr, dass sie nun das Gefühl hatte ihr Herz müsste zerreißen, mitten in ihrer Brust, weil der Schmerz zu groß war. Zu groß, um ihn auszuhalten. Sie hatte geglaubt, sie beide hätten etwas Besonderes geteilt. Etwas Einmaliges. Aber wenn es etwas Besonderes gewesen wäre, hätte er sich nicht einfach so… Ersatz gekauft. Und doch hatte er genau das getan. Er hatte sie frei gelassen, hatte sie von ihren Aufgaben entbunden, die sie als Leibsklavin gehabt hatte – die Aufgaben, die als einzige hätten sicher stellen können, dass sie ungestört, unauffällig Zeit miteinander hätten verbringen können –, und jetzt hatte er sich auch noch Ersatz gekauft. Hatte Siv noch einen Funken Hoffnung, und sei er auch noch so klein, sich bewahren können durch all die Ereignisse der letzten Wochen, einen Funken Hoffnung, dass sie sich irrte, dass Corvinus doch so für sie empfand, wie sie geglaubt hatte all die Jahre, so war er erloschen in jenem Augenblick, in dem die neue Sklavin die Schwelle dieses Hauses überschritten hatte, in jenem Augenblick, in dem sie sie gesehen hatte, im Atrium, eine flüchtige Erscheinung am anderen Ende, um sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass Brix ihr die Wahrheit gesagt hatte.


    Und während Siv sich auf dem Boden zusammenkrümmte und von Schluchzern geschüttelt wurde, so heftig, dass sie in diesem Moment wohl nicht einmal ihren Sohn gehört hätte, hätte er angefangen zu weinen, meinte sie wieder zu fallen. So tief. In ein bodenloses, schwarzgähnendes Nichts, das mit kalten, feingliedrigen Fäden nach ihr griff, sie durchdrang und zu verschlingen drohte.

    Narcissa, nannte Cimon den Neuankömmling. Siv konnte sich vage erinnern, diesen Namen gehört zu haben, in Verbindung mit den Zwillingen. Schwestern von Orest, wenn sie sich richtig erinnerte. Die Römerin schien sich irgendwie unwohl zu fühlen, fand Siv. Und irgendwie nicht ganz wie eine Römerin zu sein. Dass sie sagte, sie würde nicht bleiben, wo sie doch zur Familie gehörte und jedes Recht hätte, sie hinaus zu werfen. "Danke", murmelte sie, in Erwiderung auf die Worte, dass sie sitzen bleiben könne, und ließ sich tatsächlich wieder zurücksinken. Etwas unschlüssig, ob sie nicht doch gehen sollte, rührte sie sich vorerst nicht, spielte nur ein wenig mit der Schriftrolle, die Cimon ihr zuvor gebracht hatte. Und dann wandte die Aurelia sich an sie. Siv sah auf. "Es… oh", machte sie. "Ich weiß nicht. Zwei Wochen, drei… ungefähr."

    ...Wie weiß ichs noch: ein dunkles unverwundnes
    grausames Etwas, das ein Schönverbundnes
    noch einmal zeigt und hinhält und zerreißt.


    Ein leises Klopfen drang durch die Tür zu dem kleinen Raum, den Brix sein eigen nannte und in dem er nicht nur schlief, sondern auch arbeitete. Siv wartete die Antwort ab, bevor sie eintrat. Der Kleine lag in einer Trageschleife, die sie sich umgehängt hatte, und meckerte leise vor sich hin, war aber noch nicht unruhig genug, als dass sie ihn tatsächlich herausnehmen müsste. Brix sah auf und strahlte sie an, als er sie erkannte. Und den Kleinen. Siv konnte nicht anders als zurückgrinsen, als sie seinen Gesichtsausdruck sah, obwohl ihr nicht wirklich danach zumute war. "Na hey ihr zwei! Weswegen bist du hier, willst du ihm endlich was richtiges zu trinken geben?"
    "Brix!" Halb empört, halb lachend klang Sivs Ausruf. Der hob nur, ebenso lachend, die Hände und machte dann eine Bewegung mit einer davon zu dem Stuhl hin, der vor seinem Schreibtisch stand. "Setz dich. Warum bist du hier? Wenn es nicht darum geht, den Kleinen jetzt schon an Met zu gewöhnen?" Die letzte Frage wurde begleitet von einem Augenzwinkern.
    Sivs Grinsen wurde schwächer und verklang dann schließlich ganz, während sie sich setzte. "Hör zu, ich… ich brauch deine Hilfe." Ihre Stimme klang ernst – ernst genug, dass Brix’ Lachen ebenso verklang. Siv hatte plötzlich einen Kloß im Hals, und sie konnte ihn nicht ansehen bei den folgenden Worten. "Ich… ich werd gehen." Nur ein Wispern war ihre Stimme jetzt.
    "Du…" Brix räusperte sich. "Ist das dein Ernst? Ich meine, hast du dir das gut überlegt, wirklich gut, willst du nicht noch mal…"
    "Ich hab mir das überlegt. Gut überlegt. Und ich… ich kann nicht bleiben, Brix. Nicht so. Ich würde ja gern, aber… Und es tut mir auch leid, wegen dir, und den anderen, ich hab euch doch gern, vor allem dich, aber…" Jetzt sah Siv doch auf. "Er war bis heute nicht bei mir. Hat nicht nach ihm gesehen." Siv ahnte nichts von dem nächtlichen Besuch.
    "Er wird nicht-"
    "Ich weiß, dass er ihn nicht annehmen wird. Dass er es nicht kann! Aber dass er ihn nicht mal sehen will… Und mich auch nicht mehr… Brix, ich… ich kann das nicht, verstehst du das denn nicht? Dass er mir die Sache mit den Leibsklavenpflichten weggenommen hat, das war doch nur die letzte Nadel, die von einem vertrockneten Baum fällt. Er hat versucht, mir das über Wochen und Monate klar zu machen, und ich hab’s nicht kapiert, aber jetzt… mit der Sache… das war deutlich. Er will mich nicht mehr um sich haben."
    "Siv, du bist nun mal keine Sklavin mehr, soll er dich da weiter Sklavenarbeit machen lassen?"
    "Ja", murmelte sie. "Wenn er mich um sich haben wollen würde, dann ja. Es ist doch seine Entscheidung, wer was für ihn macht. Den Garten soll ich ja auch weiter betreuen… ist doch auch das gleiche wie vorher." Nein, das mit der Sklavenarbeit, das war für sie keine Begründung.
    Brix schwieg, und mit ihm Siv. Keiner von beiden sah den anderen an. Dann räusperte er sich erneut. "Bei was brauchst du meine Hilfe?"
    Wieder sah Siv auf. "Ich möcht bald weg. So bald wie möglich. Ich kann jetzt noch nicht nach Germanien, nicht so klein wie er ist, und nicht so lange es nicht wirklich Frühling ist, aber du hast gesagt, es gäbe Bekannte… der Familie, oder so… du weißt schon. Bei denen ich unterkommen könnte." Siv holte Luft, und bevor Brix etwas sagen konnte, sprach sie schon weiter. "Und es wär toll, wenn du jemanden weißt, der nach Germanien geht, in den nächsten Wochen. Oder Monaten. Mit denen ich mitreisen könnte. Und, und ich werd wohl ein bisschen Geld brauchen. Weißt du, ich hab doch alles aufgebraucht für das Opfer an Iuno, am Anfang der Schwangerschaft, und was ich seitdem gekriegt hab, hab ich dir gegeben für das, was ich noch schuldig war… Aber für die Reise werd ich was brauchen, und ich wollte Iuno auch noch mal opfern, als Dankeschön, weil alles so gut lief." Siv wollte schon aufhören, als ihr noch etwas einfiel: "Kannst du die Wiege verkaufen? Die gehört mir, die war ein Geschenk, und ich glaub die ist einiges wert…"
    Brix schwieg wieder. Diesmal so lange, dass Siv beinahe unruhig wurde, und mit ihr der Kleine, so dass sie sich Momente lang ihm widmete, bevor sie wieder aufsah. Brix seufzte. "Das kriegen wir schon hin. Ich kümmer mich drum und sag dir Bescheid, wenn ich was organisiert hab. In Ordnung?"
    "Danke, Brix", flüsterte Siv. "Und, bitte… sag niemandem was, ja?" Und Brix nickte nur.


    Sim-Off:

    meins^^


    Einige Tage waren seit der Geburt inzwischen vergangen. Genug Zeit, dass Siv sich hatte erholen können, genug Zeit, dass das Stillen nun wirklich funktionierte – genug Zeit, dass die allererste ruhige Zeit vorbei war. Es war nur logisch, dass ein Kind gleich nach der Geburt noch nicht viel quengelte, damit die Mutter die notwendige Zeit hatte, sich auszuruhen. Aber dann war es losgegangen. Siv war ja nun wirklich nicht verweichlicht oder weinerlich, aber sie hatte irgendwie das Gefühl, dass sie momentan überhaupt nicht mehr wirklich zum Schlafen kam. In einem regelmäßigen Abstand von zwei bis drei Stunden wachte der Kleine auf und wollte trinken, und zwischendurch wachte er auf und wollte sauber gemacht werden, und zwischendurch wachte er auf und wollte im Arm gehalten werden, und zwischendurch wachte sie auf und wollte ihn einfach nur ansehen… Und sie konnte sich nicht satt sehen. So müde sie war, sie konnte sich nicht satt sehen an dem Wunder, das ihr Kind für sie war. Jedes Mal wieder war sie fasziniert davon, wie klein er war. Und wie perfekt. Alles stimmte, alles passte. Er war einfach perfekt. Und genau das war mit eines der Probleme, warum Siv so müde war – sie wollte ihn nicht aus der Hand geben. Sie hätte ihn zwischendurch Dina anvertrauen können, oder Sofia – na gut, dem Soffchen nicht –, oder auch Niki, Niki wäre eine gute Wahl gewesen in ihren Augen, aber das machte sie selten, und sie machte es nur, wenn sie selbst in der Nähe bleiben konnte. Sie wusste im Grunde, dass es lächerlich war, und dass es gefährlich war – der Kleine war immer noch nicht aus dem Gröbsten heraus. Das war auch der Grund, warum sie seinen Namen – den sie selbstverständlich schon wusste – bisher nicht laut ausgesprochen hatte. Es war gefährlich, sich zu sehr an ihr Kind zu binden, wenn die Gefahr noch so groß war, dass er nicht überleben würde. Aber sie konnte nicht anders. All die Liebe in ihr, die sie für Corvinus hatte, die dieser so selten zugelassen hatte und jetzt gar nicht mehr zu wollen schien, hatte nun etwas, worauf sie sich konzentrieren konnte. Ihr Sohn.


    Augenblicklich saß Siv in der Küche und aß etwas, während der Kleine, zur Abwechslung mal friedlich, neben ihr schlummerte und kleine Gluckslaute im Schlaf von sich gab. Er war eingepackt in sauberes Leinen und lag in einem kleinen Körbchen, damit er nicht aus Versehen herunterfallen konnte, wenn er sich im Schlaf bewegte. Siv knabberte an einem Stück Brot und sah ihn einfach nur an, während sie sich gleichzeitig über ihren Entschluss grübelte. Die Geburt – und die Tatsache, dass sich Corvinus nicht bei ihr hatte blicken lassen seitdem, weder um nach ihr zu sehen, noch nach seinem Sohn – hatte etwas gelöst in ihr. Sie weigerte sich, den Schmerz zuzulassen, der das bedeutete. Sie weigerte sich einfach. Sie hatte ein Kind, das sie brauchte, sie konnte sich nicht in Selbstmitleid verlieren. Sie liebte Corvinus… und in den Momenten, in denen sie diese Gedanken zuließ, brachte sie die Tatsache, dass er sie nicht mehr wollte, an den Rand der Verzweiflung. Aber ihr Sohn war jetzt da. Und dieses kleine Wesen, das sie so sehr brauchte, half ihr mehr, als sie je geahnt hätte. Es war unglaublich, was die Tatsache bewirken konnte, gebraucht zu werden. Gebraucht, gewollt, geliebt. Und sie war überzeugt davon, dass ihr Sohn, so klein er auch sein mochte, sie jetzt schon genauso liebte wie sie ihn. Wie sonst war zu erklären, dass er nur bei ihr wirklich zur Ruhe fand – selbst wenn sie ihn mal jemand anderem anvertraute? Wie sonst war zu erklären, dass er unruhig war, wenn er sie nicht sah, aber dann häufig nur ihre Stimme zu hören brauchte? Wie sonst war zu erklären, dass er sie so ansah, auf diese spezielle Art, die, davon war Siv überzeugt, nur für sie reserviert war und für keinen sonst! Irgendwie war sie sich im Klaren darüber, dass das wohl nicht so ganz stimmte, dass sie sich da viel einbildete, jedenfalls jetzt noch. Aber sie liebte dieses Kind, liebte es mit einer fast schmerzhaften Intensität, die derjenigen für Corvinus in nichts nachstand. Und im Gegensatz zu Corvinus brauchte der Kleine sie. Brauchte, wollte, liebte sie. Davon war sie überzeugt.


    Ja, sie hatte inzwischen einen Entschluss gefasst. Sie musste ihn nur noch in die Tat umsetzen. Brix war ihr Vertrauter, er würde ihr helfen, da war sie sich sicher. Und sie hatte auch schon mit geredet, im Vertrauen, und er hatte versprochen sich kundig zu machen. Zu sehen, was er tun konnte. Siv hatte nicht lange mit ihm gesprochen, und er schien gespürt zu haben, dass sie nicht großartig darüber reden wollte. Sie verdrängte im Grunde alles, was damit zusammenhing, weil sie doch nicht verhindern konnte, dass dann der Schmerz an die Oberfläche drängte. Aber ihr blieb gar keine andere Wahl.


    Sim-Off:

    Wer mag?

    Die Vorwehe ging vorbei, und Siv entspannte sich wieder. So lange die Dinger nicht regelmäßig kamen, brauchte sie sich keine Gedanken zu machen, und selbst wenn sie regelmäßig kommen würden, hatte sie nicht vor, auf sich aufmerksam zu machen, so lange sie nicht schlimm waren. Wirklich schlimm. Siv hielt nichts davon, irgendwen aufzuscheuchen, und obwohl sie einige Geburten als Helferin miterlebt hatte in Germanien, gab sie sich trotzdem der Illusion hin, bei ihr würde das schon anders werden. Einfacher. Auf Cimons Frage hin zuckte sie leicht die Achseln und seufzte lautlos. "Ich weiß es nicht. Ob ich bleiben will. Ich… bin schon ein paar Jahre hier, jetzt, und ich kenn die Leute. Ich hab ein paar Freunde…" Bei denen es ihr wirklich schwer fallen würde, sie zu verlassen, allen voran Brix, mit dem sie so viel verband inzwischen. Und da war Corvinus. Aber gerade er, sein Verhalten, war das, was sie in die andere Richtung trieb. "Nein, ich bin nicht gezwungen. Nur, die Reise nach Germanien ist lang. Und schwer. Gerade im Winter." Wieder deutete sie auf ihren riesigen Bauch und grinste schief. "Wenn ich kann, will ich das Kind nicht auf der Straße kriegen." Immerhin war sie nicht lebensmüde, und sie wünschte sich auch, dass das Kind überleben würde. Gerade die Geburt und die ersten paar Tage waren hochgefährlich, wer sollte das besser wissen als sie, war ihre eigene Mutter doch bei ihrer Geburt gestorben. Sie lächelte Cimon erneut an, der sie in diesem Moment mit einem Blick ansah, der Siv fast an einen Hund erinnerte. Was sie schon wieder ein wenig irritierte, weil sie es einfach nicht gewohnt war, dass jemand so… so unterwürfig war. Noch dazu jemand, der so groß und stark war wie Cimon. Gerade er hatte doch gar keinen Grund dazu, fand sie. Dass er sich Gedanken um sie machte, um ihre Schmerzen, ihre Sorgen, kam ihr gar nicht in den Sinn – und hätte sie es gewusst, wäre sie erst recht überrascht gewesen.


    Bevor sie allerdings noch etwas sagen konnte, hörte sie plötzlich die Tür zur Bibliothek aufgehen. Siv sah hoch, und überrascht sah sie dort eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, stehen. Sie hatte zwar von den Zwillingen gehört, sie aber noch nicht gesehen – dennoch war klar, dass diese Frau keine Sklavin war. Sie mochte nicht hergerichtet sein wie eine Römerin, aber die Tunika war eindeutig zu fein, um die einer Sklavin zu sein. Dass sie rot wurde, war aber dann doch wieder etwas untypisch für eine Römerin, fand Siv. "Salve", antwortete sie und richtete sich auf, in der Absicht aufzustehen. Sie wollte keinen Ärger. Sie konnte sich noch gut an ihr letztes Zusammentreffen mit einer Römerin in dieser Bibliothek erinnern, und obwohl sie jetzt frei war, wäre es – in ihren Augen – der sichere Weg in Richtung Ärger, wenn sie nun einfach sitzen blieb. "Ich bin Siv", stellte sie sich vor.