Beiträge von Aureliana Siv

    Er konnte es nicht einfach ablegen, sagte er. Was? Was konnte er nicht ablegen? Die Streitereien? Den Gedanken, dass das, was sie beide hatten, falsch war? Siv konnte so nicht weiter machen, sie war es müde, um jedes bisschen kämpfen zu müssen, was sie von ihm bekam und nicht in einem Streit endete oder einer Diskussion wie dieser hier. Sie hatte schlicht keine Kraft mehr dafür, jetzt, wo Finn da war, noch viel weniger. Sie stieß sich ab von dem Tisch, an dem sie noch gelehnt hatte, und ging einen Schritt in den Raum hinein, auf die Wiege zu, blieb dann aber stehen und sah Corvinus wieder an. Er war zu ihr gekommen, das stimmte. Aber nach dem, was er gerade gesagt hatte, war Siv schleierhaft warum er das getan hatte. Wenn er nach wie vor dachte, dass das hier im Grunde falsch war, falsch auf eine Art, die er nicht beiseite schieben konnte – und so hörte es sich für Siv beinahe an –, dann wusste sie nicht, warum er gekommen war und sie zurückgeholt hatte. Und dann sagte er, dass er Celerina den Vorzug gab. Geben musste, aber das war das Gleiche. Siv blinzelte, und sie fühlte sich, als ob ein Eimer eisigen Wassers über ihr ausgekippt worden wäre. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Den Vorzug. Dass Celerina und sie gleichauf waren, wenn auch auf anderer Ebene, das hätte Siv noch begriffen. Das hätte sie auch akzeptiert. Aber das war es nicht, was Corvinus sagte. Er gab der Flavia den Vorzug. Was hieß das? Dass es so weiter ging wie zuvor? Dass es Tage, Wochen dauern würde, bis sie ihn das nächste Mal sah? Dass sie sich hier so einsam fühlen würde wie bei Uland, einsamer vielleicht sogar noch, weil sie sich – abgesehen von ihrem Kummer – bei Ulands Familie wohl und willkommen gefühlt hatte, weil es hier nur Brix gab und vielleicht noch Sophia und Niki, und alle drei nicht viel Zeit hatten? Nachdem Siv gerade erst wortreich erklärt hatte, dass sie all die Dinge, die Celerina hatte und die ihr zustanden als Corvinus’ Frau, gar nicht wollte, dass sie weder an seiner Seite in der Öffentlichkeit erscheinen wollte noch sonst etwas, konnte Siv gar nicht anders als diesen Satz, dass die Flavia stets den Vorzug haben würde, eben so zu interpretieren: dass Siv auch in den wenigen Stunden der Freizeit, die Corvinus haben mochte, das Nachsehen haben würde. Dass er diese nicht mit ihr verbringen würde, nicht einmal dann, wenn es ging – da Celerina den Vorzug hatte. Und Siv wusste nicht, ob sie das konnte. Sie konnte sich damit abfinden, in so vielen Bereichen seines Lebens völlig ausgeschlossen zu sein oder, wenn überhaupt, weit zurückzustehen hinter der Frau, die seine Ehefrau war. Aber sie konnte nicht damit leben, dass sie in jedem Bereich seines Lebens nur die Nummer zwei war. "Bei was?" fragte sie dennoch, in der Hoffnung, vielleicht etwas falsch verstanden zu haben, und schluckte mühsam gegen den Kloß an, der ihre Stimme rau werden ließ. "Bei was gibst du ihr den Vorzug? Bei allem? Ich kann nicht so leben, wie das vor der Geburt war, Marcus. Ich kann… nicht… so einsam sein. So… traurig." Siv kämpfte mit sich, mit den Worten und mit den Tränen, die aufsteigen wollten. Es fiel ihr nicht leicht, das zu sagen, aber diesmal musste es sein. Um Finns Willen. "Schon wegen ihm nicht. Ich will eine gute Mutter sein, und… ich bin nicht gut, für ihn, wenn es mir so geht. Und ich will auch nicht in allem hinter ihr zurückstehen."

    Corvinus reagierte zunächst gar nicht, schloss dann die Augen und seufzte, bevor er nach ihr griff und sie zu sich zog. Nur zögernd gab Siv dem leichten Druck nach, Stück für Stück, bis sie sich schließlich seitlich auf seine Beine setzte. Dann erst sagte er etwas – und Siv musterte schweigend ihre Hände, die in ihrem Schoß lagen. Natürlich brauchte er die Flavia. Sie wusste das. Nur wie dieses Mittelmaß aussehen sollte, das wusste sie nicht. Was die Wochen, Monate vor der Geburt gewesen war, war in jedem Fall kein Mittelmaß gewesen, ganz sicher nicht. Keines, das sie akzeptieren konnte, selbst wenn sie die Streits ausblendete und die Phasen, in denen er ihr komplett ausgewichen war.


    Erst, als Corvinus noch etwas sagte, die Stimme diesmal leicht rauer als noch zuvor, wandte Siv ihren Blick und sah ihn an, und sagte schließlich auch etwas. "Ich will mit dir nicht über das Forum gehen, oder die Märkte. Ich will nicht, dass uns jemand sieht. Dass das jemand weiß. Das wollte ich nie", antwortete sie, und diesmal klang ihre Stimme ein wenig aufgebracht, auch wenn sie sich wegen Finn bemühte, leise zu bleiben. "Und was Celerina macht, ist mir egal, wenn sie mich in Ruhe lässt. Dass du sie brauchst, weiß ich, dass es nicht leicht ist, weiß ich, das weiß ich seit du gesagt hast, du wirst sie heiraten!" Und sie hatte trotzdem bei ihm bleiben wollen. "Ich will nicht, was sie hat. Du bist was du bist, und ich… ich will gar nicht, was sie hat und tut, als Frau von dir, von einem Römer, einem Senator. Das kann ich gar nicht." Inzwischen hielt es Siv nicht mehr auf seinem Schoß, und sie stand wieder auf, während sie gestikulierte. Mit Corvinus irgendwo in einem Häuschen leben, ja, das könnte Siv sich gut vorstellen. Irgendwo weit weg von Rom. Aber dass das nicht möglich war, wusste sie nur zu gut, und sie war nicht der Typ Mensch, der Träumen nachhing, die unmöglich waren. Allerdings wollte sie das, was möglich war. "Ich will nicht den Senator, ich will dich! Zeit mit dir! Nicht den ganzen Tag, aber etwas Zeit, für uns, und dann… keine Streitereien, und nichts über die Flavia, oder darüber, dass das hier falsch ist oder dass ich nicht bei dir sein soll. Dass ich dich nicht wollen soll! Das du mich nicht willst." Das letzte kam verzögert, wie ein Nachsatz, und deutlich leiser.

    Corvinus sagte nichts darauf, dass seine Frau und Siv schon aufeinander getroffen waren. Und irgendwie… irritierte Siv das auch ein wenig. Sie hätte gedacht, dass er es kommentieren würde – gleich in welcher, aber dass er irgendetwas dazu sagen würde. Dass er wenigstens würde wissen wollen, was noch passiert war. Es gab ja nichts weiter zu erzählen, aber es hätte auch mehr geschehen können im Atrium, und wäre Siv nicht so zurückhaltend gewesen, hätte sie sich nicht so sehr auf Finn konzentriert, dann wäre vermutlich auch mehr geschehen. Aber Corvinus schien das nicht einmal zu interessieren. Sivs Blick wanderte kurz zu der Wiege, in der ihr Sohn friedlich schlief. Ihm hätte etwas passieren können. So wie die Flavia offenbar auf Corvinus losgegangen war, hätte sie doch genauso gut auf sie und Finn losgehen können. Was hätte sie davon abhalten sollen? Bei Hel, sie hatte ihrem eigenen Mann das Gesicht zerkratzt – was sollte sie daran hindern, auf eine ehemalige Sklavin loszugehen, die sie eine Hure nannte? Für einen Moment legte sich eine eisige Hand um Sivs Herz, bevor sie diesen Gedanken abschüttelte. Sie wusste nicht, was genau zwischen Corvinus und seiner Frau vorgefallen war, aber es musste ein Streit gewesen sein. Und sie würde der Flavia keinen Grund zum Streiten geben. Sie würde sie nicht provozieren, jedenfalls nahm sie sich das fest vor, schon gar nicht, wenn sie Finn bei sich hatte. Sie trug jetzt Verantwortung, für ihren Sohn. Sie konnte ihrem Temperament, das dieser Wochen ohnehin einen deutlichen Dämpfer erlitten hatte, nicht mehr einfach so nachgeben wie früher.


    Sie sah wieder zurück zu Corvinus, und wo er zuvor geschwiegen hatte, antwortete er nun auf ihrer nächsten Worte. Allerdings nicht sonderlich zufriedenstellend. Siv runzelte leicht die Stirn, als er ihr stattdessen die Frage mehr oder weniger zurückgab. Er hatte doch sie zurückgeholt. Er war es gewesen, der gewollt hatte, dass sie ging – und nun hatte er sie zurückgeholt. Was sie wollte, war doch klar, war schon immer klar gewesen. Es ging darum, was er wollte. Was er sich gedacht hatte. Irgendetwas musste er sich doch dabei gedacht haben – denn dass es nicht so weiter gehen konnte, wie es vor der Geburt gewesen war, war doch klar. "Was ich denke?" wiederholte sie, während sie ihre Hand nun zurückzog, bis der Kontakt gebrochen war. "Das gleiche wie früher. Ich will bei dir sein. Zeit mit dir verbringen, nur wir beide. Und er", fügte sie noch mit einem leichten Nicken in Richtung Finn hinzu. "Ich will nicht das, was vor der Geburt war." Als sie darum hatte kämpfen müssen, dass er überhaupt Zeit mit ihr verbrachte. Der Corvinus, der stets gezweifelt hatte. Der sie abgewehrt hatte, wenn sie zu ihm gekommen war. Der ihre Nähe nicht gewollt hatte, gleich aus welchen Gründen. Der sie dann, nach der Freilassung, überhaupt nicht mehr hatte sehen wollen. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal wirklich beisammen gewesen waren – und sie meinte nicht nur das Bett, das sie miteinander geteilt hatten, sondern auch die ruhigen Stunden zusammen. Das war es, was sie wollte – dass er sich Zeit für sie nahm. Und sie wollte auch das Recht haben, einfach zu ihm kommen zu können, so wie früher, wo sie es einfach getan hatte, und nicht stets nur darauf zu warten, dass er zu ihr kam.

    Im Stillen musste Siv ihm zustimmen. Ja, früher oder später hätte die Flavia es wohl herausgefunden. Allein schon dass er sie nun zurückholte, war merkwürdig genug, dass es ein Zeichen war. Und es verwunderte sie noch nicht einmal, als Corvinus kundtat, dass die Kratzer von seiner Frau stammten. Im Grunde war das die Art der Flavia, so wie Siv sie zumindest kennen gelernt hatte. Sie konnte sich noch allzu gut an die Ohrfeige erinnern, die sie ihr – im schwangeren Zustand noch dazu – verpasst hatte. Immer noch nachdenklich sah sie auf den Tisch, wo seine Hand nun auf ihrer lag. Sein Daumen fuhr sacht über ihren Handrücken, eine stetige Bewegung. Arrangiert hatten sie sich. Und Corvinus sprach noch weiter – und bewies mit seinen nächsten Worten, dass er ihre Frage nicht ganz richtig verstanden hatte. Oder besser, dass er sie nur teils beantwortete, ob nun bewusst oder nicht, konnte Siv nicht sagen. "Nein", antwortete sie schlicht. "Sie wird mich im Auge behalten. Ihre Worte." Womit sie verriet, dass sie die Flavia bereits getroffen hatte. Einen Moment verharrte sie regungslos. Dann hob sie ihre Hand leicht an, so dass sich nun ihre Finger mit seinen verschränkten. "Und wir?"

    Für dich, hörte sie noch, bevor ihre Lippen die seinen berührten. Es war nicht der Grund dafür, dass sie ihn küsste, aber dennoch sorgten diese einfachen zwei Worte dafür, dass ihr ein angenehmer Schauer über den Rücken lief. Sie dachte daran, wie er bei Uland aufgetaucht war, daran, wie er ihr gesagt hatte, dass er sie zurückhaben wollte, und dann dachte sie für einen Moment an gar nichts mehr und genoss einfach nur den Kuss. Als sie sich dann aber löste, um Finn in die Wiege zu legen, folgte er ihr nicht – und, zugegeben, das war das, was sie eigentlich erwartet hatte. Dass er ihr folgte. Dass er hinter ihr blieb, mit seinen Händen vielleicht über ihren Rücken strich, ihren Nacken berührte, um sie dann an sich zu ziehen, sobald sie Finn hingelegt hatte. Stattdessen blieb er stehen, wo er war, und als sie wieder aufsah, ohne den Jungen auf dem Arm nun, zog er gerade seine Hand von seinem Gesicht fort, von den Kratzern, die dort zu sehen waren. Dann setzte er sich doch noch in Bewegung, kam aber nicht zu ihr, sondern ging zum Tisch, wo er sich hinsetzte. Und Siv… war verwirrt. Schon wieder.


    Regungslos blieb sie, wo sie war, sah die Hand an, die auf dem Tisch lag, und wusste nicht so recht, was sie nun tun sollte. Fast bereute sie es, Finn hingelegt zu haben, weil sie nun nicht wusste, wohin mit ihren Händen. "Ich… ja. Sicher", antwortete sie auf seine Frage. Natürlich würde sie sich wieder um den Garten kümmern. Es gab wenig andere Dinge, die sie hier tun konnte, in denen sie gut war und die ihr auch wirklich gefallen würden. Brix zu helfen machte ihr zwar Spaß, war aber nichts, was sie ständig machen konnte, nichts, was ihre Hauptaufgabe sein konnte. Mangels Alternativen streckte sie ihren Arm aus und strich sacht über den Kopf ihres Sohns. Sie sah Corvinus an, und erneut fragte sie sich, warum er da saß, am Tisch. Warum er ihr nicht gefolgt war. Warum er gerade jetzt, kaum dass sie sich wieder gesehen hatten, eine solche Frage stellte, so… alltäglich. Eine Frage, die genauso gut auch Brix mit ihr hätte klären können. "Du… was…" Siv verstummte und setzte dann erneut an, während Finn im Schlaf nach ihrem Finger griff und sich festklammerte daran. "Wie stellst du dir das vor? Ich meine…" Mit ihrer freien Hand machte sie eine hilflose Geste, dann löste sie sich von Finn und ging doch zu ihm hinüber, lehnte sich neben ihn an den Tisch. Eine ihrer Hände legte sich ebenfalls auf die Platte, neben die seine, und ihre Fingerspitzen berührten sacht die seinen. Nachdenklich starrte Siv auf das Muster, dass ihre Finger gemeinsam ergaben. "Du hast es ihr gesagt." Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, wenn auch eine ruhige, ohne Vorwürfe. "Wie soll das werden?"

    Siv wusste nicht, wie lange sie so da standen und sich umarmten. Sie genoss einfach nur den Moment. Genoss es, sich – trotz der Unsicherheit, die immer noch da war, trotz dieses leisen Stimmchens, das sie immer noch warnte, er könne irgendwann einen Rückzieher machen wie bisher stets – endlich wieder ganz zu fühlen. Als Corvinus sich dann ein wenig von ihr löste, musste sie beinahe ein Seufzen unterdrücken. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten sie noch wesentlich länger so da stehen können – und was ihn tatsächlich dazu bewegt hatte, etwas Distanz zwischen sich und sie zu bringen, hatte sie nicht gemerkt. Allerdings kam sie nicht dazu, etwas zu sagen oder ihn womöglich ein weiteres Mal zu umarmen, denn gleich darauf neigte Corvinus sich zu ihr und küsste sie, und diesmal schien Siv alles zu vergessen, die Zweifel und die Unsicherheit, die Grübeleien über ihn und was er wollte, und wie das Ganze hier weiter gehen mochte. Sie wusste nicht, was es war. Aber irgendetwas schien an seinem Kuss anders zu sein, anders als vor ein paar Tagen, als er ihretwegen zu Uland gekommen war, und anders als in den Wochen und Monaten vor Finns Geburt, als sie noch hier gewesen war. Sie konnte gar nicht anders, als den Kuss zu erwidern.


    Auch hier war es letztlich Corvinus, der sich zuerst löste, und Siv lehnte sich ein wenig zurück und musterte ihn nun. "Du…?" fragte sie nach, und ihre Augenbrauen hoben sich ganz leicht, als dann ein Danke kam. "… wofür?" fragte sie leise, während sie Finn etwas in ihrem Arm verlagerte. Sie konnte ihn wieder hinlegen, das wusste sie – er schlief nach wie vor, und nachdem es nun nicht so aussah, als würde sie das Zimmer verlassen, musste sie ihn nicht auf dem Arm tragen. Sie wollte sich nur noch nicht von Corvinus lösen, und so blieb sie, vorerst, lehnte ihre Stirn mit geschlossenen Augen für einen Moment gegen seine Brust, bevor sie ihren Kopf wieder hob und ihn ein weiteres Mal küsste, drängender diesmal, hungriger. Er war hier. Und sie wollte ihn. Sie begann erst nach und nach zu realisieren, wie sehr, und wie sehr ihr das gefehlt hatte, nicht nur seine Gegenwart, seine Nähe, sondern auch die Leidenschaft, die er in ihr zu wecken vermochte. Mit einem fast lautlosen Seufzen löste sie dann zunächst ihre Lippen von seinen und schließlich ihren Körper von ihm, während sie zu Finn hinunter sah und sich zu der Wiege hinüber bewegte, um ihn nun doch hinzulegen.

    Auf Brix’ Reaktion hin fauchte die Flavia noch einmal zurück, sagte aber sonst nichts, sondern starrte sie nur weiter an. Siv wusste nach wie vor noch nicht, wie sie reagieren sollte. Und scheinbar wussten auch Brix und die Flavia nicht, was sie nun sagen oder tun sollten. Siv unterdrückte ein Seufzen und wiegte Finn ein wenig hin und her, der nun aufwachte und vor sich hin nörgelte. "Sssschschsch", machte sie und wisperte beruhigende Worte auf Germanisch, während sie zugleich ihren Kopf ein wenig senkte und mit ihrer Wange sein Köpfchen berührte. "Alles in Ordnung. Gleich kannst du da raus." Finn schien das nicht ganz so zu sehen, denn er strampelte mit den Armen ein wenig und wurde nun etwas lauter. Siv schämte sich beinahe, aber sie war darüber im Grunde sogar erleichtert. Eine bessere Ablenkung von der Flavia, die sie Hure genannt hatte und die immer noch dort stand und sie anzustarren schien, hätte Siv sich nicht wünschen können. Finn kam an erster Stelle, vor allem anderen, und ganz sicher weit vor der Ehefrau seines Vaters, der Siv ohnehin nicht das Geringste zu sagen hatte.


    Und so traf die Germanin eine Entscheidung. Finn war unleidlich, und er brauchte etwas. Ob er nun sauber gemacht werden musste, ob er einfach nur aus der Stoffhalterung wollte, ob er beschäftigt werden wollte, war für Siv zweitrangig. Er brauchte sie, und im Moment konnte sie sich nicht angemessen um ihn kümmern – also galt es, das zu ändern. Und sie musste nicht auf die Erlaubnis Celerinas warten, bis sie gehen konnte, fand sie. Sie war auf Wunsch des Hausherrn hier, und sie war frei. Sie musste es sich nicht antun, hier zu stehen und zu warten und zu versuchen, ihren Sohn zu beruhigen, bis die Flavia sich dazu herabließ, als erste zu gehen, oder ihr die Erlaubnis dazu zu geben. Ohne ein Wort löste sich also von Brix’ Seite und setzte sich in Bewegung, um das Atrium an der Flavia vorbei zu verlassen. Sie wusste nicht, welcher Raum der ihre war, aber sie kannte sich hier ja aus. Falls Brix ihr nicht folgen sollte oder konnte, würde sie eben in seinem Zimmer, im Garten oder in der Küche auf ihn warten.

    Obwohl sie sich eigentlich auf den Weg zu ihm hatte machen wollen, hätte Siv nicht damit gerechnet, dass Corvinus vor ihrer Tür war, gerade im Begriff zu klopfen – und so stand sie für einen Augenblick wie versteinert da und starrte ihn nur an. Corvinus schien im ersten Moment genauso perplex zu sein wie sie, aber er erholte sich schneller. Es dauerte nicht lang, da hoben sich seine Mundwinkel in einem leichten Lächeln, während Sivs Mund plötzlich trocken wurde. Sie suchte nach Worten. Nach irgendetwas, was sie sagen könnte. Aber es wollte ihr einfach nichts einfallen, und selbst wenn es anders gewesen wäre, sie hatte starke Zweifel daran, dass sie etwas heraus bekommen hätte. Einen Augenblick lang sahen sie sich nur an, dann löste Corvinus sich aus seiner Starre und machte einen Schritt nach vorn, und noch einen, und Siv ging zurück, mehr von ihm gedrängt als tatsächlich selbst zurückweichend. Stumm sah sie zu, wie er die Tür schloss, und immer noch fühlte sie sich außerstande, irgendetwas zu sagen – oder zu tun. Sie wusste nicht was. Sie konnte ja noch nicht einmal so wirklich glauben, dass sie nun tatsächlich wieder hier war, bei ihm. Dass sie hier war, weil er es wollte, und nicht, weil sie seine Sklavin war oder zu stur, um zu gehen. Und ein Teil von ihr fürchtete, es könnte ein Traum sein, aus dem sie gleich wieder erwachen würde, wie so oft.


    Sie musste etwas sagen. Irgendetwas. Der Gedanke hämmerte in ihrem Kopf, dass sie nicht einfach wie blöd da stehen und ihn anstarren konnte, ohne etwas zu tun. Aber die Entscheidung wurde ihr abgenommen. Die Tür schloss sich hinter Corvinus, und im nächsten Augenblick hatte er sie an sich gezogen, mit Finn auf ihrem Arm – und Siv, nach einem winzigen Moment der Anspannung, vergrub ihr Gesicht an seiner Brust, wie sie es schon vor ein paar Tagen gemacht hatte, als sie noch bei Uland und seiner Familie gewesen war und Corvinus sie dort aufgesucht hatte. Sie schloss die Augen und atmete seinen vertrauten Geruch ein, schlang ihren freien Arm um seine Seite und presste sich an ihn, so gut es möglich war, ohne Finn zu wecken. Sie schob die Gedanken fort, die Grübeleien, die Zweifel. Solange er sie so hielt, solange sie einfach nur seine Nähe spürte, schien es so leicht zu sein, das zu tun. So leicht wie früher. Und sie hatte das Gefühl, regelrecht ausgehungert zu sein nach seiner Nähe, seiner Wärme, seiner Gegenwart, und obwohl die Zweifel immer noch da waren, obwohl sie immer noch unsicher war, nicht wusste, was er eigentlich… nun ja, wollte, erwartete, plante, ob er tatsächlich akzeptiert hatte, was zwischen ihnen war, ob er tatsächlich nicht mehr glaubte, es wäre besser, wenn sie ging – wünschte sie sich, er würde bei ihr bleiben, würde sie nicht allein lassen in der Nacht.

    Der Gesichtsausdruck der Flavia machte deutlich, wie wenig begeistert sie davon war, Siv zu sehen. Und die stand einfach nur und starrte zurück. Und als die Flavia dann das Wort ergriff, wurde klar, was Siv sich einen Moment zuvor noch stumm selbst gefragt hatte – ob Corvinus ihr tatsächlich von ihr erzählt hatte. Die Germanin presste die Lippen aufeinander, als das Wort Hure fiel, und als sie ihren Sohn als Balg bezeichnete, wurde ihr Gesichtsausdruck noch starrer. Aber was hätte sie darauf erwidern sollen? Celerina war, wer sie war – die Frau von Corvinus. Die Hausherrin. Was spielte es für eine Rolle, dass Siv schon lange vor ihr hier gewesen war, mit Corvinus schon das Bett und mehr geteilt hatte, als die Flavia ihn noch gar nicht kannte? Für diese schien es in jedem Fall keine Rolle zu spielen, oder Corvinus hatte ihr davon nichts erzählt. Es war auch gleichgültig. Es gab schlicht nichts, was Siv hätte sagen können. Dass Celerina hier war und ein Teil von Corvinus’ Leben, hatte sie schon seit längerem akzeptiert. Dass sie einen Platz einnahm bei ihm, den Platz an seiner Seite, den Siv niemals würde haben können, ebenso, auch wenn ihr das ganz sicher nicht fiel. Und sonst? Eine Entschuldigung? Etwa dafür, dass sie, Siv, zuerst da gewesen war? Dafür, dass sie nun mal keine Römerin war und eine Sklavin noch dazu, dass Corvinus deshalb nicht zu ihr hatte stehen können? Nein, sich zu entschuldigen oder auch nur zu behaupten, es täte ihr leid, kam für Siv nicht in Frage. Sie fühlte sich nicht schuldig. Und es tat ihr auch nicht leid. Was die Flavia anging, war für Siv die Sache sonnenklar. Nun, da sie wieder hier war, würde sie irgendwie mit ihr klar kommen müssen, am besten in der Form, dass sie ihr so gut und so weit wie möglich aus dem Weg ging. Weit weniger klar hingegen war alles, was Corvinus anging.


    Siv schwieg also, und als die Flavia ihr Wort an Brix richtete, ging in diesem eine leichte Veränderung vor. Seine Gestalt straffte sich ein wenig, und er machte einen Schritt an ihr vorbei, auf Celerina zu. Und Siv wünschte sich fort von hier, erst recht, als sie spürte, wie Finn langsam aufzuwachen begann. Noch waren es nur schwache Bewegungen, die er machte, und Siv schickte ein Stoßgebet zu Hel, der Kleine möge wenigstens weiter so still bleiben wie bisher – was er wenigstens für den Moment auch tat.

    Stumm, verunsichert saß Siv in ihrer Kammer, auf ihrem Bett. Finn schlief, in dem Bettchen, das Corvinus ihr geschenkt hatte, und ihr Blick hing wie festgesaugt an seiner kleinen Gestalt. Sie war hier. Seit einiger Zeit nun. Über das Zusammentreffen mit Celerina dachte sie nicht nach, und das wollte sie auch gar nicht, nicht jetzt, nicht im Moment. Stattdessen dachte sie an Corvinus. Und war sich unschlüssig, was sie tun sollte. Sie sehnte sich nach ihm. So lange schon sehnte sie sich nun nach ihm. Und jetzt war sie wieder hier, weil er sie zurückgeholt hatte, tatsächlich – aber sie saß allein in ihrer Kammer. Siv biss sich auf die Lippen. Sollte sie zu ihm gehen? Oder weiter warten? Sie hatte nicht die geringste Ahnung. Sie wusste es einfach nicht. Und so saß sie erst mal weiter da und starrte ihren Sohn an.


    Bis sie es schließlich nicht mehr aushielt. Sie konnte nicht einfach hier sitzen und warten und nichts tun und keine Ahnung haben. Es ging nicht. Sie war wieder hier, und das hieß, dass es wenigstens irgendetwas gab, was sie mit ihm besprechen konnte. Und wenn nicht, dann würde sie etwas finden. Irgendetwas. Sie wollte einfach nur… zu ihm. Alles weitere würde sich dann ergeben. Siv sprang auf und nahm vorsichtig Finn in den Arm. Er war gerade erst eingeschlafen, nachdem sie ihn wieder gestillt hatte, und das war die Zeit, in der er in der Regel am tiefsten schlief und sich durch wenig stören ließ. Dann ging sie mit ihm zur Tür und öffnete sie mit einem Ruck – und erstarrte.


    Sim-Off:

    reserviert

    Der Weg hierher war schweigsam verlaufen. Siv hatte nicht viel gesagt, und Brix schwieg ebenso wie sie. Und zum ersten Mal, seit sie ihn kennen gelernt hatte, fühlte sie sich in seiner Gegenwart unbeholfen. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, und das war ihr noch nie so gegangen – und zumindest für sie führte das dazu, dass das Schweigen nicht unbedingt angenehm war.


    Schließlich hatten sie die Villa Aurelia erreicht, und Siv nickte leicht, als Brix anmerkte, sie könnte mit den Sklaven essen. Im Grunde war das klar – sie hatte nicht erwartet, dass sie mit den Aureliern würde essen können, und abgesehen davon wollte sie das überhaupt nicht. Sie wollte gerade etwas erwidern, irgendeinen oberflächlichen Kommentar, als Brix innehielt – und gleich darauf hörte Siv die Schritte, die ihn hatten langsamer werden lassen. Auch sie blieb schließlich stehen. Und erstarrte, als sie erkannte, wer ihnen da entgegen kam. Die Flavia. Siv lief es kalt den Rücken herunter, während sie zugleich schützend die Arme um Finn legte, der in der Schlaufe vor ihrer Brust hing. Hatte Corvinus seiner Frau nun erzählt, was zwischen ihm und ihr war? Hatte er ihr von Finn erzählt? Er hatte es gesagt, sie konnte sich nur zu genau an seine Worte erinnern… Konnte sich nur zu genau daran erinnern, dass sie sich fragte, warum er das nun tun wollte. Was er damit bezwecken wollte. Was er damit bezwecken würde… Aber hatte er das nun wirklich getan? Abwartend blieb sie stehen, neben Brix, der ihr Bündel trug, und hatte ihre Arme um ihren Sohn gelegt, der eingeschlafen war, einen Arm um seinen Körper, den anderen so, dass ihre Hand sein Köpfchen umfing.

    "Werden wir sicher", antwortete Uland mit einem breiten Lächeln und fuhr seinem Sohn durchs Haar, während Brix sich nun Siv zuwandte. Die hingegen wusste immer noch nicht so recht, wie sie reagieren sollte. Sie fühlte sich durcheinander und überfordert, ähnlich wie an dem Abend, als Corvinus plötzlich hier gestanden hatte. Wegen ihr.


    Brix entschied sich dann doch, sich zu setzen, als er begriff, dass Siv nicht vorhatte Finn beim Trinken zu unterbrechen, und sie lächelte ihm vage zu. "Dauert nicht mehr lang", versicherte sie ihm auf seine Worte, dass er warten würde. "Ich glaub er ist bald fertig." Und dann sprach Brix die Worte aus, die sie erstarren ließen. "Brix…" Nicht nur ihr Blick, auch ihre Stimme war jetzt gequält. Es war unfair, fand sie, dass er ihr das sagte, noch dazu vor Uland und seiner Familie, wo sie ihm kaum antworten konnte. Andererseits hätte sie ohnehin nicht gewusst, was sie ihm hätte sagen sollen. Dass sie unsicher war, und verwirrt? Dass sie nicht wusste, was das Richtige war, dass ihr Gefühl sie in dieser Sache gerade völlig im Stich zu lassen schien und sie sich dadurch so hilflos fühlte wie selten? Dass sie Angst hatte? Nein, das kam nicht in Frage, das zuzugeben, auch nicht vor Brix. "Ich war mir nicht sicher, ob… ob das… passiert." Ihre Stimme war nun leise und rau, und ihren Blick hatte sie wieder auf Finn gesenkt, der nun endlich satt zu schien. Siv ordnete ihre Kleidung wieder, während ihr Ferun den Kleinen abnahm, ihn an ihre Schulter legte und ein wenig herumtrug, um ihr die Gelegenheit zu geben ihre Sachen zusammen zu packen. Wie schon bei ihrem Auszug aus der Villa Aurelia vor Wochen dauerte es nicht lange, bis Siv ihre wenigen Habseligkeiten beisammen hatte. Sie hatte das ein oder andere Kleidungsstück inzwischen dazu gekauft, geeignet für die lange Reise, aber alles passte in den Beutel, den sie hatte. Obenauf legte sie das Buch von Corvinus’ Vater, das er ihr geschenkt hatte, dann schnürte sie alles zusammen – bevor sie sich nun an die Germanen wandte, die sie aufgenommen hatten.


    Siv mochte keine Abschiedsszenen. Entsprechend ungelenk und hilflos fühlte sie sich nun, als sie sich zunächst den Kindern zuwandte und sich in die Knie sinken ließ. Sonnwinn starrte sie einen Augenblick lang an, dann schlang er seine Arme um ihren Hals, und Siv umarmte ihn zurück, während sie zugleich auch Lioba zu sich zog. "Besuch uns. Das tust du, ja?" Siv lächelte traurig. "Tu ich", versprach sie, und immerhin, das war nicht gelogen – noch würden sie nicht abreisen, das hatte Uland selbst gesagt. Zeit genug, die kleine Familie noch ein paar Mal zu besuchen, bevor ein endgültiges Lebewohl bevorstand. Sie löste sich von den Kindern und verabschiedete sich auf von Uland, der sie kurz umarmte, und dann von Ferun, die sie ebenfalls in den Arm nahm – ein wenig länger diesmal. Einige wenige Worte des Abschieds fielen, aber keiner von ihnen sagte sonderlich viel, und schließlich nahm Siv Finn wieder und band ihn sich mit einem großen Tuch vor die Brust, so dass er Arme und Beine frei hatte, aber nicht gehalten werden musste von ihr. Und wandte sich schließlich Brix zu. "Ich wär fertig."

    Siv nickte nur leicht, als Brix es ablehnte, sich zu setzen. Sie vermied es, etwas hinein zu interpretieren. Sie kam sich vor, als ob sie sich auf unendlich dünnem Eis bewegte gerade… als ob sie jederzeit einbrechen könnte. Ohne etwas zu sagen, beobachtete sie, wie der Germane einen Lederbeutel auf den Tisch legte und Uland eine Botschaft dazu überbrachte. Als er ihn dann etwas fragte, zog sich etwas in ihr zusammen. „Sag dem Senator, ich werde kommen. Aufbrechen wollen wir in ein paar Wochen“, antwortete Uland währenddessen. „Ich habe noch einige Aufträge, die ich gerne fertig erledigen möchte, und es gibt noch ein paar Dinge zu erledigen, das Übliche zur Vorbereitung eben. Sonst steht unserer Reise nichts mehr im Weg. Das Wetter ist nun schon seit längerem stabil.“ Er grinste flüchtig, als Sonnwinn sich neben ihm aufbaute und die Worte seines Vaters mit einem heftigen Nicken unterstrich. „Ich hab auch schon eine Händlergruppe im Auge, der wir uns anschließen können. Möglich, dass wir deswegen noch etwas warten müssen, weil sie ihren Aufbruch verschoben haben – aber das Risiko ist es nicht wert, früher aufzubrechen und dann in einer kleineren Gruppe zu sein.“


    Siv hatte der Unterhaltung schweigend gelauscht, aber als Brix sich dann ihr zuwandte, sah sie wieder hoch. Schwieg noch einen Moment länger, während seine Frage im Raum hing. „Nein“, antwortete sie dann ehrlich. Sie kommentierte die simple Verneinung nicht weiter. Brix würde sich seinen Teil denken, oder fragen, wenn es nicht so war und es ihn interessierte. Brix wusste mehr von ihr, kannte sie besser, als ihr manchmal lieb war… genauso wie es früher mit ihren Brüdern gewesen war, jedenfalls den beiden, denen sie am nächsten standen hatte. „Ich hab nicht viel, das ist schnell zusammen.“ Sie sah kurz zu Finn hinunter, der immer noch trank, aber inzwischen langsamer wurde, strich mit den Fingern sacht über seinen Kopf und blickte dann wieder zu Brix. „Es… geht also wirklich zurück?“ Es war nicht das, was sie eigentlich hatte sagen wollen – aber das einzige, was sie vor Uland und Ferun sagen wollte.

    So sehr hätte sie sich gewünscht, dass Corvinus noch einmal zu ihr kam. Sie noch einmal in den Arm nahm, so wie vorhin. Aber er tat nichts. Er stand einfach nur da und sah sie an – und schließlich bekam sie nicht mehr als ein Nicken zum Abschied. Als er sich umdrehte, rang sie innerlich mit sich, ob sie die Distanz zwischen ihnen nicht doch überbrücken sollte, aber… aber. Da war dieses Aber, das in ihr vibrierte. Sie wusste nicht, wie er darauf reagieren würde, vor Uland und Ferun, von denen er sich gerade verabschiedete. So häufig sie früher immer die Initiative ergriffen hatte, wenn er gezögert hatte, so schwer fiel es ihr nun, das zu tun. Sie wusste nicht, woran sie war. Sie wusste nicht, wie ernst es ihm war. Sie wusste nicht, wie dünn das Eis war, auf das sich zu begeben sie gerade im Begriff war. Und Siv hatte Angst davor, einzubrechen. Unterzugehen. Als Corvinus die kleine Wohnung schließlich verlassen hatte, mochte er sich leichter fühlen – Siv fühlte sich schwerer. Sie hatte im Grunde schon abgeschlossen gehabt, nicht mit ihren Gefühlen oder dem, was war, aber mit der Hoffnung. Und jetzt war er hier gewesen, und so sehr Siv sich auch dagegen wehren wollte, er hatte die Hoffnung in ihr neu entfacht. Alles, was sie gewollt hatte, war mit ihm zusammen zu sein. Einfach nur das. Ohne Reue, ohne schlechtes Gewissen, ohne dass sich in diesen Momenten Gedanken an seine Frau oder seine Position oder sonst etwas dazwischen drängten und den Augenblick verdarben. Sie verstand, dass er das nicht immer konnte – sie konnte es ja auch nicht. Aber in den letzten Monaten hatte es einfach überhand genommen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zuletzt Zeit miteinander verbracht hatten, ohne dass es letztlich darin geendet hatte, dass er ihr… fremd vorgekommen war. Fremd und abweisend. Und jetzt… jetzt, wo er hier gewesen war, wo er zu ihr gekommen war, jetzt war sie es, die sich fremd vorkam. Fremd und… auf merkwürdige Art abweisend, abweisend sich selbst gegenüber, der Hoffnung, die irgendwo in ihr wieder aufgeflammt war, wie ein Strohfeuer, das sich kaum unterdrücken ließ, aber beinahe ebenso rasch wieder erlosch, wenn es keine Nahrung bekam.


    Siv ignorierte die fragenden Blicke, die Uland und Ferun ihr zuwarfen. Sie blieb einfach nur stehen und starrte die Stelle an, an der Corvinus verschwunden war. Erst nach endlosen Augenblicken rührte sie sich schließlich. Mit Finn auf dem Arm verließ sie ebenfalls die Wohnung, aber nicht, um die enge Stiege nach unten zu gehen, wie auch Uland feststellte, der ihr hinter gekommen war. Siv wandte sich zu der schmalen Leiter, die am Ende des Treppenvorsprungs im Dunkeln lag, und mit raschen Bewegungen hatte sie sie erklommen und zwängte sich durch die Falltür, die auf das Dach führte. Der einzige wirkliche Rückzugsort, den sie hatte. Es war kühl hier, am Abend, aber das störte sie nicht, noch nicht. Warm angezogen war sie ohnehin, war es doch in der Wohnung nur wenig wärmer gewesen – dennoch kam nur wenige Augenblicke später Ferun nach oben und brachte ihr wortlos zwei Decken, bevor sie wieder verschwand. Wenn Uland und seine Frau eines gelernt hatten in den vergangenen Wochen, die Siv bei ihnen verbracht hatte, dann dass es keinen Sinn machte zu versuchen sie auszufragen. Eine der Decken breitete Siv auf dem Boden aus, in die andere wickelte sie sich und Finn ein, bevor sie sich hinlegte, auf dem Rücken, Finn auf ihrer Brust. Und verlor langsam, aber sicher, die Kontrolle über sich und das Gefühlschaos, das in ihr tobte. Tränen glitzerten schwach im Sternenlicht, und ihre Brust hob und senkte sich tiefer, als sie sich Finns wegen zwang, dennoch ruhig zu atmen, obwohl eigentlich Schluchzer ihre Kehle hinauf drängten. Und so lag sie da und hielt Finn in ihren Armen, während sie in den sternenklaren Nachthimmel hinaufstarrte.



    ~~~ Tage später ~~~


    Siv saß gerade am Tisch und stillte Finn, als Brix kam. Auf das Klopfen hatte sie zunächst kaum reagiert, erst, als sie Uland Brix’ Namen nennen hörte, sah sie auf – und keinen Augenblick später betrat der Germane den Wohnraum und grüßte in die Runde. Siv war wie erstarrt für einen Augenblick. Unwillkürlich, unbewusst, ließ sie ihre Arme sinken, und mit ihnen Finn, dem das gar nicht gefiel – kaum hatte er den Kontakt zu ihrer Brust endgültig verloren, plärrte er los und fing an zu strampeln, stieß ihr seine Füße gegen den Brustkorb und hörte erst wieder auf, als Siv ihn hastig wieder an die Brust legte. "Brix", grüßte sie ihn leise. Jeder hier wusste, was sein Besuch bedeutete – Siv hatte nicht wirklich über das gesprochen, was Corvinus’ Besuch bedeutet hatte, aber Uland und Ferun waren nicht dumm. Und es war nicht schwer, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Dennoch hatte Siv sich so sehr darauf versteift, dass dieser eine Besuch letztlich nichts zu bedeuten gehabt hatte, dass die Hoffnung, die aufgeflammt war, unnütz und töricht war und dass sie sie unterdrücken musste, dass sie nun nicht so recht wusste, was sie denken sollte. Oder fühlen. Und vielleicht war Brix auch nur da, um sie wieder mal zu besuchen… Siv schluckte, wich Brix’ Blick für einen Moment aus und sah ihn dann wieder an. "Ehm. Setz dich doch."

    Corvinus folgte Sivs drückenden und fordernden Bewegungen widerspruchslos, ließ zu, dass sie seine Arme so hinschob, dass er den Jungen sicher hatte. Und danach standen sie da. Corvinus schien sich nicht zu trauen, sich auch nur eine Winzigkeit zu bewegen. Er tat nichts, hielt Finn einfach nur, und Siv stand davor und wusste auch nicht so recht, was sie sagen oder tun sollte. Sie konnte ihm zeigen, wie er ihn halten musste – aber sie konnte ihm nicht sagen, wie er mit seinem Sohn umgehen sollte. Der Moment war irgendwie merkwürdig für sie, und sie war erleichtert, als Corvinus ihr Finn wieder zurückgab. Sie griff ihn mit beiden Händen und hielt ihn so, dass er an ihrem Oberkörper lag, die Haltung aufrecht, der Kopf an ihre Schulter gelehnt. Ob es nun daran lag, dass er wieder bei ihr war, dass sie ihn – fast schon unbewusst – sanft wiegte und über seinen Kopf strich oder nur Zufall war, er fing nicht an zu weinen, sondern gluckste nur weiter vor sich hin.


    Als Corvinus sich dann räusperte, sah Siv auf. Einen Moment lang musterte sie ihn, schweigend, unschlüssig, was sie sagen sollte. Er ging. Er ließ sie allein, wieder. Etwas in ihrem Magen zog sich zusammen, und Siv spürte wieder das dumpfe Loch in sich, das für Momente gefüllt gewesen zu sein schien, als er sie vorher gehalten hatte. Für einen winzigen Moment schloss sie dann die Augen, als sie seine Finger auf ihrer Wange spürte, genoss die Berührung und erlaubte sich, sich der Vorstellung hinzugeben, dass er sie tatsächlich holen würde. Erlaubte sich, daran zu glauben, dass er sie nicht nur zurückholen, sondern dass sich etwas ändern würde. Nicht viel, nicht in ihrem Status, nicht in ihren Tätigkeiten oder sonst etwas allzu Ersichtlichem – aber in seinem Verhalten ihr gegenüber. Dass er sie nicht mehr von sich wegstoßen würde, egal welche Gründe ihn nun dazu brachten. Ein paar Tage. Siv öffnete die Augen wieder, und während sie das tat, verdrängte sie diese Gedanken, verdrängte die Hoffnung. Ein paar Tage. Dann würde sie es erleben, so oder so. Bis dahin aber… bis dahin war es besser, sich nicht der Hoffnung hinzugeben, so gut sie es konnte jedenfalls. "Ja." Sie nickte ebenfalls leicht, in Erwiderung zu seinem. Und als er sich dann umdrehte und hinausging in den größeren Bereich, folgte sie ihm nur bis zur Schwelle des Durchgangs und blieb dort stehen. Corvinus wandte sich noch einmal zu ihr um und sah sie an, und Siv sah zurück, nichtahnend, dass er dachte sie würde vorausgehen. So wie er stehen blieb und zu ihr zurücksah, wirkte es vielmehr auf sie, als wolle er sich hier verabschieden. Was sie davon halten sollte, wusste Siv nicht so recht, aber andererseits wusste sie ohnehin nicht, wie sie sich nun von ihm hätte verabschieden sollen, gleich ob sie allein waren oder ob Uland und seine Familien zusahen. Am liebsten wäre es ihr gewesen, er würde gar nicht gehen. Oder würde sie gleich mitnehmen. Sie gestand es sich nur ungern ein, aber jetzt, wo sie ihn wieder gesehen hatte, wo er sie gehalten und geküsst hatte, hatte sie Angst vor der kommenden Nacht, wenn sie wach auf dem Boden lag und allein war. Schlimmer noch: sich einsam fühlte. "Also…", murmelte sie. "Dann… bis dann."

    Siv bemerkte nichts von dem, was in diesem Moment in Corvinus vorgehen mochte, einfach weil sie – in diesem Moment – nicht auf ihn achtete. Wie so häufig, wenn Finn bei ihr war, hatte der Junge auch den größten Teil ihrer Aufmerksamkeit sicher. Erst als sie sich wieder besann und sich in Erinnerung rief, weswegen sie ihn überhaupt geholt hatte, sah sie wieder auf. Ein wenig zögernd, hob sie ihre Arme etwas, so dass Corvinus seinen Sohn nehmen konnte, wenn er denn wollte – aber der machte zumindest im Augenblick keine Anstalten dazu, sondern sah sie nur an, ein wenig fragend, wie ihr schien. Siv wusste nicht so recht, was sie tun sollte. Ein Teil von ihr wünschte sich, er würde seinen Sohn tatsächlich nehmen, ein Teil von ihr behauptete steif und fest, dass nach wie vor nur sie fähig war, Finn richtig zu halten, und dass Corvinus, genau wie jeder andere auch, ihren Sohn sicherlich fallen lassen würde und es quasi lebensgefährlich für den Kleinen war, ihn auch nur einen Moment aus ihrer Obhut zu lassen. Absolut höchst lebensgefährlich. Es grenzte an ein Wunder, dass ihm bisher noch nichts passiert war! Aber so sehr Siv seit der Geburt geneigt war, dieser Stimme tatsächlich Gehör zu schenken, war sie sich doch im Klaren darüber, dass das pure Übertreibung war. Sie wollte ihren Sohn ja nicht verwöhnen, ganz im Gegenteil, wenn er stark und robust werden sollte, konnte sie gar nicht früh genug damit anfangen, ihn abzuhärten. Und Corvinus war sein Vater. Es war etwas lächerlich, behaupten zu wollen, es wäre Abhärtung für Finn, wenn ihn – Wochen nach seiner Geburt! – sein Vater auch endlich mal zu halten bekam.


    Corvinus machte schließlich doch Anstalten, ihn zu nehmen, und Siv legte ihm den Kleinen in den Arm. Und hätte am liebsten angefangen nervös um ihn herumzuwedeln, weil er in ihren Augen alles falsch machte. „Nein, du-“ Noch bevor Finns Köpfchen sich zu weit drehen konnte, hatte sie ihre Hand schon darunter geschoben und stützte ihn, während ihre andere an Corvinus Händen und Armen herumdrückte und -schob, bis er ihn richtig hielt. „Du musst den Kopf stützen, er kann ihn noch nicht halten“, murmelte sie, dann drückte sie Corvinus’ Arme näher an seine Brust heran. „Und näher zu dir.“ Am Ende ließ er ihn doch noch fallen… Siv hätte am liebsten nervös auf ihren Fingern herumgebissen, so musste ihre Unterlippe herhalten. Finn machte das Ganze auch nicht gerade leichter, denn anstatt still zu sein und sich einfach halten zu lassen, schien er beschlossen zu haben, dass es Zeit war für ein wenig Gezappel. Aber Corvinus schien ihn nun einigermaßen sicher zu haben, und Siv sah endlich hoch und begegnete seinem Blick, der seltsam perplex wirkte. Oder hilfesuchend? Siv wusste es nicht genau. „Ehm. Ja.“ Sie lächelte schief, jederzeit bereit, wieder zuzugreifen.

    Wie sehr ihr Verhalten Corvinus wiederum belastete, bemerkte Siv in ihrem Zustand gar nicht. Natürlich war ihr – im tiefsten Inneren – klar, was es ihn gekostet haben musste, hier aufzutauchen. Und nicht nur das, sondern gar zu sagen, dass er sie zurück wollte, dass sie zurück kommen sollte. Sie kannte ihn ja, kannte ihn so gut… Aber die letzten Wochen, Monate, waren hart für sie gewesen – wie hart, zeigte die Tatsache, dass sie überhaupt hier war, bei Uland. Sie wäre nicht gegangen, wenn sie auch nur die geringste Hoffnung gehegt hätte, dass etwas wie das hier möglich gewesen wäre. Wenn sie die Hoffnung gehabt hätte, dass es mit Corvinus noch glückliche Momente hätte geben können… Wenn sie geglaubt hätte, dass er sie und Finn, ihre Anwesenheit, nicht nur noch als Belastung empfand. Sie war zu sehr mit sich und dem Chaos in ihr beschäftigt, als dass sie im Augenblick großartig hätte wahrnehmen können, was in ihm vorging, oder sich darüber Gedanken machen konnte, was es ihn wohl gekostet hatte. Und auch als er Finn wollte, entging ihr, wie er ihr Zögern auffasste. Wie falsch im Grunde, denn diesmal hatte ihr Verhalten nicht das Geringste mit ihm zu tun, aber alles mit Finn – und mit der Tatsache, dass sie über ihn mit Argusaugen wachte, wie eine Wölfin über ihr Junges.


    Was sie dann allerdings bemerkte, war sein Zögern, als sie wieder da war. Wie er abwartete. Wie er innehielt. Wie er nur zaudernd das Köpfchen seines Sohnes berührte. Wie vorsichtig er war… Und wie er erschrak und zurückzuckte, als Finn plötzlich nieste. Siv konnte nicht anders, sie musste leise lachen, als sie Corvinus’ Gesichtsausdruck sah. "Keine Sorge. Macht er ab und zu." Sie strich sacht mit ihren Fingerkuppen über Finns Stirn und den winzigen Nasenrücken entlang, bis sie zur Spitze kam, die sie leicht anstupste. Vorhin noch war sie leicht zusammengezuckt, als Finn geniest hatte, aber da war er auch bei Ferun gewesen, nicht bei ihr. Finn schmatzte leise und gab ein fast fröhlich klingendes Glucksen von sich. Jetzt strahlte Siv beinahe. "Ich glaub er wird ein Frecher. Hm, Finn?" Natürlich war das Blödsinn, aber Siv war felsenfest davon überzeugt, dass sie bereits jetzt erste – und ausgeprägte! – Charakterzüge an ihm feststellte. Dann sah sie wieder auf, sah Corvinus an, versuchte zu erkennen, was in ihm in diesem Moment wohl vorging. "Ehm. Du… wolltest…" Sie hob den Kleinen leicht hoch und sah ihn fragend an. Ihr war nicht wohl dabei, Finn aus der Hand zu geben, wie üblich, aber Corvinus war sein Vater, und so sehr ein Teil von ihr dagegen protestierte, so sehr wünschte sich ein anderer, dass er seinen Sohn endlich auch in den Arm nahm.

    Er antwortete nicht gleich, und nach einem Augenblick spürte Siv kühle Finger unter ihrem Kinn, die sie mit sanftem Druck dazu brachte, aufzusehen. Sie erwiderte seinen Blick, und es fiel ihr schwer, schwerer als zuvor, in seinem Gesicht zu lesen. Sie meinte Zuneigung zu sehen, die gleiche Zuneigung, die sie für ihn empfand, aber sonst… Versprochen. Siv schluckte erneut. Versprochen… Corvinus würde das nicht sagen, wenn es ihm nicht ernst damit war, das wusste sie. Und doch entging ihr nicht, dass er keinen Zeitpunkt nannte. In diesem Augenblick hätte sie sich am liebsten in seine Arme geworfen und angefangen zu heulen, um all die wirren Gefühle, Trauer, Angst, Wut und Schmerz endlich, endlich hinaus lassen zu können. Wenigstens diese wenigen Augenblicke noch auskosten, die ihr blieben… Sie glaubte ihm, aber es fiel ihr schwer, gegen die Angst anzukommen, die Angst vor neuerlicher Enttäuschung. Sie wollte diesen Moment genießen, so lange er noch hier war, bei ihr. Wollte seine Nähe spüren, seine Arme um ihren Körper, wollte einfach nur gehalten werden und dieses Loch gefüllt haben, das in ihrem Inneren zu sein schien.


    Aber sie konnte nicht. Sie konnte nicht all das heraus lassen, was in ihr tobte. Sie hatte so hart darum gekämpft, es in sich zu verschließen – sie konnte das Risiko nicht eingehen, den Damm jetzt eigenhändig einzureißen, der verhinderte, dass ihre Gefühle herausbrachen. Ließ sie das zu, tat sie es selbst, bezweifelte sie, dass sie sie wieder würde einsperren können, und spätestens wenn Corvinus ging, würde sie das müssen. Weil sie dann wieder allein war. Und weil sie ein Kind hatte, für das sie sorgen musste, einen Sohn, für den sie da sein musste, und der ihre volle Aufmerksamkeit nicht nur brauchte, sondern auch verdient hatte. Und so nickte sie nur stumm, während sie seinem Blick standhielt und die Stille sich ausbreitete – bis Corvinus plötzlich erneut das Wort ergriff. Und Sivs Augen weiteten sich ein wenig. Er wollte Finn halten? Sogar für sie selbst unverständlich zögerte sie einen winzigen Moment, bevor sie nickte. Er war Finns Vater, er hatte jedes Recht, ihn zu sehen, ihn zu halten. Und sie freute sich, dass er das wollte. Wie sehr hatte sie sich nach der Geburt gewünscht, er möge vorbei kommen, um seinen Sohn wenigstens einmal zu sehen? Aber sehen war etwas anderes als halten, und Finn gehörte ihr. Er war ihr Sohn.


    Siv schob die leicht irrationalen Gedanken beiseite. Sie hatte ein Problem damit, Finn aus der Hand zu geben, das fiel jedem auf, der nur ein wenig mehr Zeit mit ihr verbrachte. Ferun beispielsweise machte sich inzwischen, wie vorhin, gar nicht mehr die Mühe zu fragen, weil sie die Antwort kannte – und weil sie wusste, dass sie ihr Finn nur abnehmen konnte, wenn sie ihn einfach holte. Und es war… es freute sie tatsächlich, dass Corvinus seinen Sohn halten wollte. Es bedeutete etwas. Es war ein weiterer Stein, der ihr bröckelndes Vertrauen in ihn wieder festigte. Er würde ihn nicht sehen, geschweige denn halten wollen, wenn es ihm nicht ernst damit war, sie zurück zu wollen. "Warte kurz", murmelte sie und verschwand für einen Augenblick in den größeren Teil der Wohnung, nur um kurze Zeit später wieder aufzutauchen, Finn in ihren Armen. Jetzt war auf ihrem Gesicht ein zärtlicher Ausdruck zu sehen, während sie ihren Sohn ansah – bis sie vor Corvinus stehen blieb und ansah, zögernd, ohne zu wissen, was sie nun tun sollte, und mit widerstreitenden Gefühlen in sich.

    Er antwortete nicht auf ihre Frage, aber das hinderte Siv nicht daran, dennoch ihre Zustimmung zu geben. Sie war ohnehin eher rhetorischer Natur gewesen, jedenfalls in diesem Augenblick noch, war mehr Ausdruck des Chaos’ gewesen, das nach wie vor in ihr herrschte. Er wollte, dass sie zurückkam. Mehr noch, er bat sie darum, zurück zu kommen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass das passieren würde, nicht nach allem, was bereits gewesen war. Nicht nach ihrem letzten Aufeinandertreffen. Oder dem davor. Oder den scheinbar unzähligen davor, die so oder ähnlich geendet hatten. Nein, sie hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass das hier geschehen würde. Und doch war er hier… Gemessen daran war das Chaos in ihrem Inneren wohl kein Wunder.


    Und dann trat er einen Schritt zurück. Klein nur, aber groß genug, dass ihre Hand sich von seiner Brust löste und hinabfiel – fiel, bis er sie auffing und mit seiner umschloss. Siv betrachtete ihre beiden Hände kurz, aber kaum hörte sie Corvinus wieder sprechen, ruckte ihr Kopf wieder hoch. Sie starrte ihn an, und zu dem Chaos in ihrem Inneren gesellte sich plötzlich wieder der Druck auf ihrer Brust, dieser Druck, der nur allzu vertraut war inzwischen, viel vertrauter als es Siv Recht war. Sie hatte das Gefühl, wieder Schwierigkeiten mit dem Atmen zu haben, und unwillkürlich beschleunigte er sich. In ein paar Tagen. Er würde sie also doch nicht mitnehmen. Er würde wieder gehen, und sie würde hier bleiben, einsam, obwohl sie nicht allein war, würde sich einsam schlafen legen und einsam aufwachen und sich dafür schämen, dass sie nichts dagegen tun konnte, dass sie Finn keine bessere Mutter sein konnte, eine Mutter, die sich vollständig fühlte, der es reichte, für ihr Kind da zu sein… Siv schluckte mühsam, während Corvinus weiter sprach. Von Ursus erzählte. Ihre Hand fühlte sich plötzlich merkwürdig an in seiner, merkwürdig kalt und fremd, so, als wäre es nicht mehr ihre. Sie machte schon Anstalten, ihre Hand der seinen zu entziehen, als Corvinus dann die Flavia erwähnte. Dass er mit ihr reden würde. Musste. Sivs Hand blieb, wo sie war, und sie sah ihn an, aufmerksam und verunsichert. Sie zwang sich, wieder ruhiger zu atmen, auch wenn es ihr schwer fiel, weil der Druck immer noch da war und ihren Brustkorb einengte. Ein Teil von ihr verstand, was er meinte. Warum er das tun wollte, das Gefühl hatte, es tun zu müssen. Ein anderer Teil freute sich, freute sich darüber, dass er nun endlich auch vor anderen zu ihr stand – sie hatte das nie von ihm gewollt, nie gefordert, und sie konnte auch gut ohne das leben, aber das hieß nicht, dass sie sich nicht dennoch darüber freute. Natürlich freute sie das. Aber da war noch ein Teil in ihr, ein Teil, der die Gefahr sah, die ein solches Geständnis barg. Der Teil, der sich fragte, wie ein Leben – ihr Leben – in der Villa Aurelia aussehen sollte, wenn die Flavia erst mal Bescheid wusste. Der Teil, der sich fragte, was Corvinus damit bezwecken wollte, was er zu erreichen hoffte damit… außer seiner Frau die Wahrheit gesagt zu haben. Der Teil, der befürchtete, der Einfluss der Flavia könnte groß genug auf ihren Mann sein, dass er Siv doch wieder fort schicken würde, weil seine Frau es von ihm verlangte. Sie hatte keine Ahnung, dass Celerina ihn betrogen hatte, dass sie ihm einen Bastard hätte unterschieben können, dass sie nicht wirklich in der Position war, Forderungen zu stellen.


    Siv atmete tief ein. "Marcus…" Sie wusste nicht so recht, was sie nun sagen sollte. Aber was gab es schon, das sie sagen konnte? So sehr sie sich – trotz aller Zweifel – bereits darauf gefreut hatte, endlich wieder mit ihm zusammensein zu können, die Nacht mit ihm verbringen zu können, bei ihm, an ihn geschmiegt einzuschlafen und am nächsten Morgen wieder aufzuwachen… Es gab nichts, was sie sagen oder tun konnte. Wenn Corvinus sie jetzt zurücklassen wollte, würde sie ihn nicht umstimmen können, so gut kannte sie ihn. Und das bisschen Stolz, das ihr geblieben war, hinderte sie daran es wenigstens zu versuchen. "Tu das", murmelte sie, während sie seinem Blick nun auswich. "Du… du kommst dann? Ich meine, wenn…" Siv biss sich auf die Unterlippe und hob leicht die Hand, die immer noch in seiner lag, ohne den Satz zu vollenden.