Beiträge von Aureliana Siv

    Er hielt sie einfach fest, als sie sich wieder an ihn schmiegte, und Siv genoss den Moment einfach. Mehr wollte sie nicht. Nur das. Nur das… Sie atmete tief ein und rührte sich nicht, und erst, als Corvinus sie wieder von sich schob, hob sie den Kopf und sah ihn an. Und spürte schon wieder diese Traurigkeit, gepaart mit Verzweiflung. Er war hier, bei ihr, er war gekommen, und doch schien er es jetzt nicht einmal zu schaffen, ihr in die Augen zu sehen. Nach all den Erfahrungen, die sie in den letzten Wochen, Monaten gemacht hatte, schien es ihr nun selbstverständlich zu sein, dass er sich jetzt verabschieden würde. Dass er sie wieder verlassen würde. Umso überraschter war sie, was sie dann zu hören bekam von ihm. Komm nach Hause. Nach Hause. Zurück. Nach Hause. Siv starrte ihn an, so intensiv, dass er offenbar schon wieder ihrem Blick nicht standhalten konnte – sie ahnte nicht, dass er in ausgerechnet diesem Augenblick an die Flavia gedacht hatte. Und wenn sie es geahnt, gewusst hätte, hätte sie vermutlich nicht die geringste Ahnung gehabt, wie sie hätte reagieren sollen. Sie wollte es ihm nicht noch schwerer machen, als es war. Sie wollte… kein Problem für ihn sein. Aber zugleich sehnte sie sich danach, einmal wieder seine volle Aufmerksamkeit zu haben, ohne dass er an sie dachte, die Flavia, oder an all die anderen Schwierigkeiten, die er sah. Und schon gar nicht daran, dass es richtig wäre, sie, Siv, zu vergessen.


    In jedem Fall schloss er nun die Augen, während sie ihn immer noch ansah, überrascht und sprachlos über das, was er gesagt hatte. Sie stellte gar nicht in Frage, was er mit nach Hause gemeint haben könnte. Es war für sie so klar wie ein Herbsttag, wenn der Morgennebel verschwunden war und man meinte, der Blick würde in die Unendlichkeit reichen, so rein schien die Luft zu sein. Ihr Zuhause war bei ihm. Und er sah das doch genauso, sonst wäre er doch kaum hier… sonst hätte er nicht noch ein komm zurück angefügt. Und doch… Er hatte immer Zweifel gehabt. Was war jetzt anders? Und er konnte ihr schon wieder nicht in die Augen sehen. "Du… du… wirklich?" In dieser Frage, diesem einen Wort lag alles, was Siv nicht zu formulieren vermochte, was sie in diesem Augenblick noch nicht einmal tatsächlich denken konnte, verletzt, aufgewühlt und empfindsam wie sie gerade war. Wie es funktionieren sollte, in Zukunft. Ob sich etwas ändern würde – nicht viel, aber wenigstens etwas, wenigstens das, dass er sich keine Vorwürfe mehr machte, sondern einfach akzeptierte, was war. Dass sie ihn nicht nur flüchtig zu Gesicht bekam, und dass er wenigstens dann ihr gehörte, wenn sie beide allein waren. Dass sie ihm nicht aus dem Weg gehen musste. Und vor allem anderen, ob er wirklich wollte, dass sie zurückkam. Aber eines wusste sie mit Sicherheit: sie wollte zurück zu ihm. Alles andere… würde sich klären. Warum sonst war er denn dann hier, wenn er nicht wenigstens diese eine Entscheidung getroffen hatte? Dass er sie wollte. Komm nach Hause. "Ja", wisperte sie, das Chaos in ihr ebenso ignorierend wie die leise Furcht, erneut verletzt zu werden. Stattdessen hob sie eine Hand und legte sie ihm auf die Brust. "Ja."

    Er wiederholte den Namen, einmal. Sprach ihn aus. Überlegend, so schien es ihr. Siv wusste immer noch nicht, was sie tun oder sagen sollte. Sie wusste es einfach nicht. Sie hatte keine Ahnung, weswegen er hier war. Er hatte mit ihr allein sein wollen, so allein wie möglich, aber jetzt waren sie hier und er sagte kaum etwas. Er hatte ihr gesagt, dass er sie nicht gehen lassen könne, aber jetzt tat er nichts. Er hatte nach dem Namen seines Sohnes gefragt, aber er schien ihn nicht sehen zu wollen… Er stand einfach nur da und sah sie an, mit diesem zweifelnden Gesichtsausdruck, den sie so gut kannte. Zweifelnd oder abweisend, so sah er häufig drein, wenn er mit ihr zusammen war. Wenn er wieder einmal dachte, es wäre falsch. Siv senkte ihren Blick und schluckte, und sie kämpfte mit sich, während es in ihrem Kopf und ihrem Herzen wild durcheinander tobte. Sie verließ sich in der Regel immer auf ihr Gefühl, aber in diesem Moment schien ihr Inneres ein einziges Chaos zu sein. Er war so deutlich gewesen. Jedes Mal, wenn sie über dieses Thema gesprochen hatten. Er hatte immer gezweifelt, schien es ihr, selbst dann, wenn er nachgegeben und es auf sich hatte beruhen lassen. Er hatte es nie akzeptiert, im Gegensatz zu ihr, hatte immer wieder davon angefangen, und jedes Mal hatte es damit geendet, dass sie sich entweder gestritten hatten oder eine melancholische Stimmung sich breit gemacht hatte. Sie wusste nicht, warum er jetzt hier war, aber was sie sehen konnte auf seinem Gesicht, zweifelte er offenbar selbst daran. Und doch war er hier, und hielt nach wie vor ihre Hände… Sie schloss die Augen und lehnte sich erneut an ihn. Genoss einfach nur seine Nähe, seine Wärme, die Geborgenheit, die es für sie bedeutete von ihm gehalten zu werden. Ein Teil von ihr wusste, wie gefährlich es war, sich darauf einzulassen, denn wenn er ging und sie zurückließ, wenn er ging und nicht wiederkam, würde es für sie nur noch schwerer werden. Aber sie sehnte sich so sehr nach ihm… und es war ihr egal, wenn sie am nächsten Morgen aufwachte und sich noch einsamer fühlte. Jetzt war er hier, bei ihr. Und sie war nicht bereit, ihn zu teilen, nicht mit ihren eigenen Zweifeln, und noch nicht einmal mit ihrem Sohn, denn zu fragen, ob er ihn sehen wollte, auf die Idee kam sie in diesem Augenblick gar nicht. "Geh noch nicht", flüsterte sie. Nur noch ein paar Augenblicke länger seine Nähe spüren. Gehalten werden. "Bitte."

    Wäre es möglich gewesen, Siv hätte sich noch enger an Corvinus gedrängt in dem Moment, in dem er sie küsste. Sie brauchte seine Nähe, seine Wärme, wie sehr, wurde ihr erst jetzt bewusst, wo sie ihn wieder spüren konnte. Aber sie stand ohnehin schon dicht bei ihm, und als er sich von ihr ein wenig löste, fiel es ihr schwer, nicht einfach seinen Bewegungen zu folgen. Sie wollte ihn nicht loslassen. Sie wollte ihn auch nicht ansehen. Sie hatte Angst vor dem, was dann passieren könnte. Davor, was sie in seinen Augen dann wohl lesen würde, davor, dass er anfing zu reden und nur das Übliche sagen würde. Aber sie wehrte sich nicht dagegen, als er sie ein wenig auf Abstand zu sich brachte, und musste feststellen, dass sie den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht zu deuten wusste. War das Erstaunen, was sie sah? Aber er runzelte die Stirn, und das hieß doch eigentlich immer Missfallen bei ihm. Siv strich sich mit einer Hand ein paar Strähnen aus der Stirn. Sie wusste, dass sie nicht allzu gut aussah, unausgeruht und erschöpft, und auch ihr allgemeiner Zustand war schlechter als es in der Villa Aurelia gewesen war. Sie tat, was sie konnte, gerade nachdem sie in den letzten Jahren in der Villa erlebt hatte, was Sauberkeit bedeuten konnte, aber in der Subura waren einem einfach Grenzen gesetzt. Es ging schon los mit der Verfügbarkeit von sauberem Wasser bis hin zu den Dingen, die sie sich einfach nicht leisten konnte, den aurelischen Sklaven aber wie selbstverständlich zur Verfügung gestanden hatten. Vielleicht lag es daran, dass er die Stirn runzelte. Vielleicht lag es aber auch daran, dass er schon wieder bereute, gekommen zu sein.


    Siv kämpfte gegen Kloß an, der in ihrem Hals war. Sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte, sollte letzteres der Fall sein. Sie wusste nicht, wie stark sie noch war, wie viel Kraft sie noch aufbringen konnte. Es tat so gut, dass er hier war, so gut, von ihm gehalten zu werden, so gut, seine Nähe zu spüren… aber es war nicht genug. Diese wenigen Momente waren nicht genug, um ihr die nötige Kraft zu geben auszuhalten, wenn er wieder ging. Und sie allein zurückließ, diesmal womöglich tatsächlich für immer. Ihr Brustkorb wurde eng, und Siv bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen. Und dann hörte sie einen Nieser. Erschrocken sah sie auf, hinüber zu dem Bereich, wo sie Finn wusste, und machte eine Bewegung, als wolle sie beinahe hinüber hechten. Corvinus’ Hände, die sie nach wie vor hielten, und Feruns leises Lachen hinderten sie daran, aber dennoch blickte sie noch einen Moment lang besorgt zu der dünnen Trennwand, und lauschte auf ein weiteres Geräusch, das aber wenigstens vorerst nicht kam. Erst als Corvinus’ Hände zu den ihren glitten, sie nahmen und sacht mit dem Daumen über ihre Haut strichen, sah sie ihn wieder an, und als er plötzlich wieder sprach, da spürte Siv wieder diesen Kloß im Hals. Mein Sohn. Er sagte nicht dein Sohn, oder noch schlimmer der Junge, nein. Er sagte mein Sohn. Er nannte Finn seinen Sohn. Siv atmete zitternd ein. "Finn", murmelte sie, und fragte sich plötzlich, was Corvinus wohl davon halten würde, dass der Junge keinen römischen Namen hatte. Nicht einmal teilweise. Und dann fragte sie sich, was er wohl davon halten würde wenn er wüsste, dass sie ihn eigentlich Raban hatte nennen wollen, der Rabe, nach seinem Vater, sich dann aber doch für einen anderen Namen entschlossen hatte, einen, der ihr passender erschienen war, und der ein ganz eigener war für ihren Sohn. "Er heißt Finn. Der Helle." Hell wie der Tag, wie die Hoffnung, die ihm diesen Namen gebracht hatte.

    Er war hier. Und er hielt sie. Ohne etwas zu sagen, ohne irgendwelche… Einwände vorzubringen, was alles dagegen sprach, warum es falsch war, warum es nicht sein sollte. Siv sah gar keine Veranlassung, etwas zu sagen, zu argumentieren, solange er nicht damit anfing aufzuzählen, weswegen sie sein lassen sollten, was sie gerade taten. Sie wollte es nicht sein lassen. Sie wollte ihn. Ihr war egal, was sonst noch war, aber das wusste er, das hatte sie oft genug gesagt… Sie atmete tief ein, atmete seinen Geruch ein. Sie liebte seinen Geruch. Und sie wusste nicht, wie lange sie das hier haben würde. Vielleicht würde er sie jeden Moment wegschieben und anfangen zu reden, all die Nachteile aufzählen, all das was dagegen sprach, und dann… würde er gehen. Und sie würde wieder allein sein. Oder sie würde aufwachen, was auf dasselbe hinauslief: sie würde allein sein. Allein mit Finn. Aber sie wollte nicht daran denken, und es fiel ihr leicht, allzu leicht, diese Gedanken fortzuschieben, sogar den an ihren Sohn, und seine Nähe zu genießen. Seinen Geruch, seine Umarmung, seinen Atem, der sacht über ihre Haare und ihren Hals strich.


    Als sie dann doch seine Stimme hörte, öffneten sich ihre Augen, obwohl sie nichts sehen konnte außerdem Stoff, der seine Brust verhüllte. Ein Kloß war plötzlich in ihrer Kehle. Ich kann dich nicht gehen lassen. Sie traute ihren Ohren nicht so wirklich. Wieder geisterten Brix’ Worte in ihrem Kopf umher, aber sie hatte Mühe, das alles irgendwie in Einklang zu bringen. Sie hatte… immer… geglaubt, sie bräuchte ihn mehr als er sie. Hatte immer geglaubt, genau das wäre ihr Problem. Dass sie ihn mehr brauchte, und dass er ihr nur einen Gefallen getan hatte und dessen, ihrer, dann irgendwann überdrüssig geworden war. Dass sie diejenige, die einzige war, die glaubte ohne den anderen nicht mehr leben zu können. Die nur funktioniert hatte in den letzten Wochen, weil es nicht anders ging. Vor allem, weil es Finn gab, der sie brauchte. Und jetzt das. Ich kann dich nicht gehen lassen. Siv erzitterte für einen winzigen Moment in seinen Armen. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. "Ich will gar nicht gehen", murmelte sie schließlich, so leise, dass es kaum verständlich war, noch mehr da sie es in den Stoff hineinmurmelte. Konnte das denn sein? Konnte sie sich so sehr geirrt haben, nach allem, was war? Konnte es tatsächlich sein, dass er sie genauso brauchte… Siv schloss wieder die Augen, presste ihre Lider zusammen, während in ihrem Inneren ein Kampf tobte. Sie wollte es glauben, aber zugleich hatte sie Angst davor. Angst vor der Hoffnung, die das bedeutete, wenn sie das zuließ, wenn sie das glaubte. Angst vor der Enttäuschung, die eine Hoffnung wie diese mit sich bringen konnte, sei es nun, weil sie dann doch feststellen musste, dass es anders war, oder sei es, weil es nichts änderte. Und so blieb sie einfach stehen, bei ihm, und spürte seinen Herzschlag unter ihrer Hand, bis die seine plötzlich ihr Gesicht umfasste, ihren Kiefer, und ihren Kopf anhob und zu ihm drehte. Für einen winzigen Moment sah sie ihn an, bevor seine Lippen auf die ihren trafen und er sie küsste, und es dauerte nur einen winzigen Augenblick, bis sie den Kuss erwiderte.

    Siv musterte den Kleinen weiter und lächelte, als er an ihrem Finger zog. Sie achtete wenig auf Narcissa in diesem Augenblick. Sie wollte nicht sehen, wie sie darauf reagierte, dass Siv so betont nur von sich gesprochen hatte, dass sie das wir nicht aufgegriffen hatte. Gerade unter Sklavinnen gab es doch so viele, die allein waren. Wenn die Herren ihr Recht einforderten, wenn andere Sklaven sich nahmen, was sie wollten, wenn sie sich mit anderen Sklaven einließen, die aber einem anderen gehörten… Wenn der Vater nicht wollte. Nicht mehr.


    Sie zog leicht ihren Finger zurück und gab dann wieder nach, als der Kleine quengelte und zurückzerrte, dann sah sie auf. "Ich…" Da war der Moment. Siv hatte ihre Entscheidung getroffen, aber sie wusste nicht, ob sie sie sagen sollte. Sie wollte nicht, dass Corvinus zu früh davon erfuhr. Eigentlich wollte sie gar nicht, dass er davon erfuhr. Wenn sie einfach weg war, würde es am einfachsten für ihn sein. Dann musste er sich keine Gedanken mehr machen, was wohl richtig wäre, und ob er ihr irgendetwas schuldig wäre. Sie wollte nicht, dass er doch noch zu ihr kam, nur weil er das Gefühl hatte das tun zu müssen. Aber jetzt lügen wollte sie auch nicht, ganz davon abgesehen, dass sie es kaum gekonnt hätte, nicht so, dass es auch glaubhaft gewesen wäre. "… weiß noch nicht", beendete sie ihren Satz schließlich. Sie schob der Aurelia mit ihrer freien Hand den Teller mit dem geschnittenen Brot hin. "Magst du was?" Nicht gerade die Art, wie eine Sklavin – oder eine Freigelassene – mit einer Römerin umzugehen hatte. Aber Narcissa war in die Küche gekommen, hatte sich dazu gesetzt, verhielt sich nicht so, als erwarte sie etwas anderes, und Siv war noch nie eine Mustersklavin gewesen.

    Cimon verschwand einen Augenblick, und die Aurelia unterdessen schien sich etwas zu entspannen. Und Siv… fühlte sich immer noch etwas merkwürdig. Dass Cimon sie für etwas Besseres zu halten schien, für jemanden, der höher gestellt war als sie, das war ihr so… so fremd. Sie war einige Jahre Sklavin gewesen, aber diese Denkweise hatte sie sich nie angewöhnt. Römer waren nichts Besseres, Freie waren nichts Besseres. Nicht besser als sie. Und auch nicht schlechter, auch wenn Siv durchaus gegenüber dem ein oder anderen eine gewisse Verachtung an den Tag legen konnte – den typischen Römern, wie sie nach wie vor von ihnen dachte, denen, die so waren, wie früher immer von den Römern gedacht hatte. Denen, die so waren wie Celerina. Arrogant und eingebildet und abgehoben, die eben sich selbst für etwas Besseres hielten und das andere auch nur zu deutlich spüren ließen. Dass Narcissa dieses Verhalten nicht an den Tag legte, wunderte Siv wenig, denn das, immerhin, hatte sie gelernt in den letzten Jahren, dass eben nicht alle Römer gleich waren – auch wenn sie sich anfangs dagegen gewehrt hatte. Dass aber nun Cimon sich verhielt, als sei sie, Siv, höher… Damit umzugehen fiel ihr noch wesentlich schwerer, als wenn es umgekehrt gewesen wäre. Umgekehrt wäre sie trotzig geworden, widerwillig, und man hätte ihr das auch angemerkt. So aber… wusste sie nicht, was sie tun sollte. Sie wollte nicht, dass Cimon – dass irgendwer – sich ihr gegenüber so verhielt.


    "Ja… Es schränkt ziemlich ein, ich meine, vor allem jetzt, damit. Das war am Anfang noch nicht so schlimm." Ihr Grinsen war trotzdem etwas schief, weil sie daran denken musste, dass sie selbst dann schon nicht mehr viel hatte tun dürfen, als sie noch gekonnt hätte. Dann kam Cimon herbei mit dem Stuhl, sagte aber nichts, sondern setzte sich nur etwas weiter weg, und erst als Narcissa ihn aufforderte, rückte er näher. Siv lächelte ihm zu und fragte sich, was sie tun oder sagen konnte, dass er… nun ja, lockerer wurde. Einfach kein Sklave mehr war. Aber sie wusste nicht was, und so antwortete sie auf Narcissas weitere Fragen: "Ja. Bewegen tut es sich schon lang." Sie kratzte sich über dem Ohr und grinste erneut leicht. "Kommt drauf an. Inzwischen kann es schon recht hart zutreten. Und wenn ich schlafen will, ist es auch nicht so angenehm. Aber sonst… ist es aufregend…"

    Sacht strich Siv über seine Wange. Tastete sanft über die Haut. Als er kurz zurückzuckte, zögerte auch Siv einen Augenblick, verunsichert. Sie wusste nicht, ob er das wollte. Ob er ihre Berührung ertrug. Aber sie sehnte sich so sehr nach ihm. Und als Corvinus wieder erstarrte, fuhr sie fort. Es war so… Sie hatte Angst, dass das ein Traum war. Sie hatte nicht nur Albträume, sie hatte manchmal auch diese Träume, schöne Träume. Nicht so wie in Germanien… Aber sie dennoch schön. Das Problem war nur: wenn sie aufwachte, nach solchen Träumen, in denen er bei ihr war, fühlte sie sich nur noch verlorener als sonst. Sie hatte Angst, wenn sie zu schnell war, zu überstürzt, zu grob, könnte auch dieser Traum platzen wie eine überreife Frucht.


    Es musste ein Traum sein. Es ging gar nicht anders. Er konnte nicht real hier sein. Und obwohl Siv wusste, was sie erwarten würde, wenn sie wieder aufwachte, ignorierte sie die Warnung, die ein Teil ihrer Selbst ihr zurief. Es war egal, wenn sie in der Früh aufwachte und ihr nur nach Weinen zumute war. Es war egal. Jetzt war er hier, und sie wollte es genießen, jeden Augenblick. Sie musste nur aufpassen, dass sie den Traum nicht platzen ließ, nicht vorzeitig, nicht bevor der Morgen graute… Ihre Fingerspitzen streichelten sacht über seine Wange, fuhren über den Wangenknochen unterhalb seines Auges, zeichneten die Konturen nach, die sie so gut kannte… blieben aber so sanft wie sie begonnen hatten, und blieben auf diesen Raum begrenzt. Corvinus rührte sich immer noch nicht, hatte nur die Augen geschlossen und verharrte still, und schließlich senkte sich auch ihr Daumen, legte sich auf sein Kinn. Und das war der Moment, in dem er sich doch bewegte. Bevor sie es sich versah, bevor sie irgendetwas tun, irgendwie reagieren konnte, hatte er einen Arm um sie geschlungen und sie an sich gezogen. Seine andere Hand spürte sie plötzlich an ihrem Kopf, in ihren Haaren, und wie ihr Körper an seinen wurde ihr Kopf an seine Brust gedrückt. Und Siv ließ es nicht nur zu, sie vergrub ihr Gesicht in den Stofffalten und presste sich an ihn. Ihre Hände lagen links und rechts von ihrem Kopf auf seiner Brust, und zum ersten Mal seit langem fühlte sie sich wieder… geborgen. Sie atmete seinen vertrauten Geruch ein, spürte seinen Körper an ihrem, fühlte seine Arme um sich. Das war besser als jeder Traum, den sie bisher gehabt hatte. Einfach nur gehalten zu werden von ihm, war so viel mehr, als sie erwartet hätte. Und Siv stand einfach da, mit geschlossenen Augen, genoss seine Nähe und ließ sich halten.

    Dieses Mal antwortete Corvinus schneller, ließ das Schweigen sich nicht derart in die Länge ziehen. Und Sivs Mund öffnete sich, langsam, während sie ihn anstarrte. Das Chaos in ihrem Inneren nahm um ein Vielfaches zu, steigerte sich urplötzlich, so sehr, so stark, dass sie zuerst gar nichts denken konnte. Zurückkam. Er wollte, dass sie zurückkam. Er wollte, dass… er… Siv starrte, während die Worte in ihr Bewusstsein zu sickern begannen, langsam, nach und nach. Zuerst meinte sie, sich verhört zu haben. Dann glaubte sie, dass ihr Bewusstsein ihr etwas vormachte, dass sie sich nur etwas einbildete, dass sie das hörte, was sie hören wollte. Weil sie es sich so sehr wünschte, weil sie sich so sehr danach sehnte, genau das zu hören. Und dann, je länger sie Corvinus ansah und er zurückstarrte, wurde ihr immer mehr klar, dass er tatsächlich das gesagt hatte, was sie gehört hatte. Wie von fern hörte sie plötzlich Brix’ Stimme. Vielleicht, Siv, solltest du nicht nur das Offensichtliche als gegeben annehmen, denn das ist das Einfachste, aber nicht immer das Tatsächliche.


    Das war der Moment, in dem Siv sich zum ersten Mal rührte. Wieder bewegte sie ihre Hand, ganz langsam. Sie wollte das so sehr glauben. Aber sie hatte Angst, Angst, dass es doch nur Einbildung war. Angst, dass er doch wieder einen Rückzieher machen würde. Oder dass ihm erneut klar werden würde, wer sie war, was sie war, und dass es nicht funktionieren konnte, nicht so, wie er sich das vorstellte jedenfalls. Und Corvinus’ Miene trug nichts dazu bei, ihr diese Angst zu nehmen. Aber er war hier. Er war hier… und er hatte gesagt, dass er sie zurückhaben wollte. "Du…" Sie machte einen kleinen, zögernden Schritt auf ihn zu, bis ihre erhobene Hand seine Wange berührte. Einen winzigen Moment lang ließ sie ihre Fingerspitzen dort ruhen, dann begann sie, sacht darüber zu streichen. Zu tasten. Fast so, als berühre sie ihn zum ersten Mal. Sie sehnte sich so sehr nach ihm. Und einem Mal flammte die Hoffnung auf, die sie so massiv unterdrückt hatte. "Du… du willst nicht, dass ich gehe?"

    Siv wartete erneut. Wartete darauf, dass er etwas sagte. Aber wieder dröhnte nur das Schweigen in ihren Ohren, unterbrochen von leisen Geräuschen aus dem Hauptraum, die Siv aber gar nicht so wirklich auffielen, weil sie wartete. Darauf, dass er etwas sagte. Dass er reagierte. Ihre Hände begannen nun zu zittern, und Siv schalt sich innerlich selbst für ihren Mangel an Selbstbeherrschung, während sie ihre Hände zugleich nur fester packte, gegenseitig. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, das sah sie durchaus, aber was sie davon halten sollte, wusste sie genauso wenig wie von der ganzen Situation. Und dann sagte er doch endlich etwas. Und raubte Siv damit für Momente nicht nur die Sprache, sondern auch den Atem.


    Deinetwegen. Es war nicht das Wort an sich. Dass er ihretwegen hier war, das war klar gewesen. Es war, wie er es sagte. Seine Stimme klang so… merkwürdig. Nicht abweisend, nicht so, als ob er sich zwang etwas zu tun, was er nicht gern tat, aber von dem er dachte dass es richtig wäre, sondern… So… zerbrechlich. Als ob er mit diesem einen Wort etwas eingestand, was ihn zerstören könnte. Siv starrte ihn an, bis er schließlich seinen Blick hob und dem ihren begegnete. In ihren Augen spiegelte sich Schmerz, Verwirrung und Unsicherheit. Deinetwegen, echote es in ihrem Kopf. Das Wort an sich sagte nichts. Und der Klang seiner Stimme… war nicht mehr als Klang. Sie wusste doch, wie er dachte. Er hatte ihr gesagt, was er dachte. Was er wollte. Und er hatte es ihr gezeigt, mit jedem Tag, an dem er sie geschnitten hatte, mit jedem Tag, an dem er ihr aus dem Weg gegangen war… Siv biss sich auf die Unterlippe. Dann machte eine ihrer Hände eine Bewegung, fast als wollte sie ihn berühren – führte sie aber nicht zu Ende aus, sondern sank wieder herab. "Warum?" flüsterte sie. "Warum meinetwegen?"

    Er sagte nichts dazu, dass sie auswich. Und er antwortete auch nicht auf ihre Frage. Sivs Finger verschränkten sich noch mehr, kneteten einander, verknoteten sich. Sie konnte ja sogar verstehen, dass er nicht antwortete. Es ging sie nichts an. Es war sie wohl nie etwas angegangen, auch wenn es eine Zeit gegeben hatte, in der sie die Illusion gehabt hatte es sei anders. Und doch war er jetzt hier. Er war hier, er stand ihr gegenüber, und er war sicher nicht gekommen, um sie einfach nur zu fragen, wie es ihr ging. Sonst hätte er doch auf einer Antwort bestanden. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, warum er hier war. Siv schluckte mühsam und wartete, wartete darauf, dass er etwas sagte, aber es kam nichts, er sagte nichts, und das Schweigen schien immer unerträglicher zu werden, wurde es, für sie.


    Sie sehnte sich nach Finn. Sie hatte sich so daran gewöhnt, dass der Kleine da war, dass sie ihn in den Arm nehmen konnte, wenn sie ihn brauchte, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn konzentrieren und sich von allem ablenken konnte, was da noch war, dass sie sich jetzt völlig schutzlos fühlte, wehrlos… und auf merkwürdige Weise entblößt. Ein wenig erschreckte sie das… dass sie sich ohne Finn beinahe so fühlte, als fehle ihr ein Teil. Sie sah weg von Corvinus, sah dann wieder hin, sah wieder weg… und fühlte sich so schrecklich hilflos. Sie ertrug dieses Schweigen nicht, und sie ertrug nicht, wie er dastand, so steif, so angespannt. Warum war er hier, wenn es ihm so offensichtlich schwer fiel, zu tun weswegen auch immer er gekommen war? Ob er sich nun entschuldigen wollte oder verabschieden oder sonst etwas, warum… warum war er gekommen, wenn es ihm so viel abverlangte. Und er sprach immer noch nicht. Siv presste ihre Hände aneinander, und schließlich hielt sie es nicht mehr aus. "Warum bist du hier?"

    Siv ging weiter, auch als Ferun sie losgelassen hatte und zurückgegangen war, ging weiter, bis sie in der Mitte der winzigen Kammer stand, in der Uland, Ferun und die Kinder schliefen. Es hatte beides seine Vor- und Nachteile. Hier hatte man wenigstens etwas wie Privatsphäre. Aber die Enge zerrte mehr an Sivs Nerven als es der Mangel an Privatsphäre gekonnt hätte, und so war es zumindest für sie so die beste Lösung, dass sie nicht hier drin schlief. Die Kammer war so klein, dass von der hölzernen Wand bis in die Mitte hinein nur einen Schritt brauchte, und diesen einen Schritt tat Siv noch, bevor sie stehen blieb. Sie hörte leise Bewegung hinter sich, hörte, wie ihr jemand hinterher kam, aber sie drehte sich nicht um, erst, als mehr Licht den Raum erhellte und sie Sonnwinns Stimme hörte. Corvinus nun zugewandt beobachtete sie, wie er die Lampe an den Platz unter der niedrigen Decke hängte, und danach streifte ihr Blick sein Gesicht, für einen kurzen, aber in all seiner Flüchtigkeit doch scheinbar unendlich währenden Augenblick. Er sah… anders aus. Seltsam hart. Müde. Und abweisend, in ihren Augen jedenfalls. Abweisung war das, was sie erwartete, aber es passte nicht zusammen mit der Tatsache, dass er überhaupt hier erschienen war. Er hatte doch, was er wollte. Sie war fort, war gegangen, und das ohne den geringsten Aufstand zu machen, ohne ihn noch einmal zu sprechen, ohne ihm zur Last zur fallen oder ihn zur Rede zu stellen oder gar anzubrüllen. Sie hatte einfach das getan, was er gewollt hatte, und war gegangen. Hatte sich und ihren, seinen Sohn genommen und aus seinem Leben entfernt. Warum war er dann nun hier?


    Siv schlang ihre Hände um den Oberkörper und rieb sich über die Oberarme, weil sie plötzlich fror, bevor ihre Arme wie Blick wieder sinken ließ und nur ihre Hände ineinander verknotete vor ihrem Bauch. Und dann sprach er sie an. Und plötzlich war da wieder diese Klammer um ihre Brust, und es brannte. Sivs Atem ging leise und flach, und für einen Moment verkrampften sich ihre Finger noch mehr. Einen Augenblick schwieg sie, blieb so, dann sah sie wieder auf, sah ihn an. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie wollte nicht lügen, sie konnte es gar nicht, es hätte wohl lächerlich gewirkt unter diesen Umständen, wenn sie auch nur versucht hätte zu sagen gut. Aber die Wahrheit… wollte sie auch nicht sagen. Sie wollte nicht so schwach sein, so schwach wirken. Wollte ihm nicht zeigen, wie sehr er sie verletzt hatte. Wie… sehr… sie ihn vermisste. Und er wollte das auch sicher nicht hören. "Ich…" Ihre Hände lösten sich kurz voneinander, die Finger spreizten sich, die Handflächen nach oben, während sich die Kuppen von Mittel- und Ringfinger noch berührten, bevor sie sie wieder verschränkte. "Es… Uland und Ferun sind sehr nett." Der Ausweichversuch war erbärmlich, das wusste sie selbst. "Und… dir?"

    Das Gespräch zwischen den beiden Männern rauschte an Siv vorbei. Sie hörte die Worte, sie verstand sogar den Sinn, aber sie hatte trotzdem Mühe, wirklich zu begreifen, über was sie da eigentlich sprachen. Sie stand einfach nur da und begann, sich nach einem Fluchtweg zu sehnen, aber Corvinus blockierte den einen und Uland den anderen Durchgang, und so blieb sie einfach stehen, wiegte Finn in ihren Armen und tat sonst nichts. Als Uland sie ansprach, nickte sie nur nach einem Moment. Sie traute ihrer Stimme nicht. Sie traute ihr ganz und gar nicht. Genauso wenig wie sie ihren Augen traute, weswegen sie Ulands Blick auswich und sich auf Finn konzentrierte, und obwohl der Germane eine Antwort zu erwarten schien, die etwas ausführlicher war, drückte er schließlich nur kurz ihren Arm und wandte sich dann wieder ab von ihr. Und dann setzte er sich in Bewegung, ging wieder zurück, und er ging ebenfalls – nicht nach draußen, sondern an ihr vorbei, in die Wohnung hinein. Sivs Mund wurde staubtrocken, während sie ihn sah, nicht sein Gesicht, aber seine Schulter, seinen Arm, der sich an ihr vorbeischob, und für einen winzigen Moment war sie versucht, etwas zu tun, etwas zu sagen, ihn am Arm zu fassen, irgendetwas. Aber der Augenblick verstrich. Corvinus ging zu dem Tisch hinüber, und Siv selbst blieb stehen wo sie war, bis Sonnwinn plötzlich bei ihr auftauchte und sie ein Stück weit in den Raum hineinzog. Als Siv danach Ulands Blick begegnete, wusste sie, dass der Junge auf diese Idee nicht allein gekommen war.


    Und dann blieb Siv wieder stehen. Sie lächelte Sonnwinn flüchtig zu und schüttelte kurz den Kopf, und der sprang zurück zu seinem Vater. Siv selbst blieb auf Abstand. Abstand zum Tisch, Abstand zu Corvinus. Sie schaffte es immer noch nicht, einen klaren Gedanken zu fassen. Das Chaos in ihr tobte weiter und verhinderte effektiv, dass sich strukturiertere Gedankenstränge bilden konnte, verhinderte aber ebenso, dass Schmerz und Sehnsucht – obwohl sie ein Teil des Chaos waren – einen zu großen Platz für sich reklamierten. Sie stand da und wartete, ohne zu wissen worauf, und währenddessen entspann sich ein unbeholfenes Gespräch am Tisch, durchsetzt mit großen Pausen. Siv kam das Ganze immer absurder vor, aber dennoch stellte sie sich nicht – nicht bewusst – die Frage, die lauerte: warum um alles in der Welt war er hier? Sie stellte sie sich nicht, sie gestand sich nicht ein, dass sie Angst vor der Antwort hatte, sie gestand sich noch nicht einmal ein, dass sie diese Frage hatte. Und dann geschah etwas, was ihre Aufmerksamkeit erregte. Corvinus sagte wieder etwas, und Siv hörte es, wie schon die Male zuvor – aber diesmal sickerte nach einem Augenblick in ihr Bewusstsein, dass er von Finn sprach. Mit einem Mal schien ein eisiger Klotz in ihrem Magen zu sein. Er wollte, dass jemand Finn nahm. Er wollte… Er… Und dann war Ferun schon da, bevor Siv einen klaren Gedanken fassen konnte, und bevor sie etwas tun konnte, hatte sie ihr Finn schon abgenommen. Und Siv… fühlte Panik. Was sollte das? Was wollte er? Finn war ihr Schutzwall, ihre eine und einzige Ablenkungsmöglichkeit. Finn konnte sie einfach immer vorschieben. Dass Corvinus wollte, dass jemand Finn nahm, konnte doch nur zwei Dinge bedeuten: er wollte etwas von ihr, und er hatte durchschaut, wie hilflos sie sich fühlte ohne Finn.


    "Ferun, du… warte…" Siv machte eine Handbewegung, aber Ferun, die das Übliche vermutete, lächelte ihr nur beruhigend zu. "Mach dir keine Sorgen, Siv. Ich weiß wie ich ihn halten muss", sagte sie leise, bevor sie Siv einen leichten Schubs gab, in die Richtung, in der die Schlafgelegenheiten waren. Die Wohnung machte an dieser Stelle einen Knick, um das Treppenhaus herum. Eine einfach gezimmerte Wand war dort und trennte den abgeknickten Teil noch einmal zusätzlich etwas ab. Eine einfache Schlafstelle am Boden an der diesseitigen Wand wies darauf hin, wo Siv für gewöhnlich schlief. Es war nur improvisiert und noch einmal ein Stück schlechter als das, was in dem Schlafbereich vorzufinden war, aber Siv hatte es so gewollt – so merkten die anderen wenigstens nicht gar so sehr, wie schlecht sie wirklich schlief. Und Finn wachte immer noch regelmäßig in der Nacht auf und hatte Hunger oder brauchte Beschäftigung. Es war angenehmer für sie alle, wenn wenigstens eine gewisse Trennung da war. An dieser Schlafstelle vorbei schob Ferun Siv nun, während Uland unterdessen Corvinus auf diese Möglichkeit hinwies.

    Er wirkte so… unnahbar. Kalt. Abweisend. So, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Sie stand einfach da und starrte ihn an, auch noch, als Uland hinter auftauchte und etwas sagte, und auch dann noch, als Corvinus das erste Mal seine Stimme erhob. Ihre Brust fühlte sich… so eng an. Viel zu eng, um ihre Lunge und ihr wild schlagendes Herz zu beherbergen, und erst recht nicht das ganze Chaos, das in ihr gerade tobte und ihren Geist ins Trudeln schickte. Da war… so ein merkwürdiges Gefühl. Wie Eisenketten um ihre Brust. Von dem Klumpen in ihrem Magen und ihrem Hals gar nicht zu reden. Sie wusste nicht, warum er hier war, und sie fragte sich das auch gar nicht, einfach weil sie in diesem Augenblick nicht klar genug denken konnte dafür. Sie wusste nur, was seine Anwesenheit in ihr auslöste, und alles, was sie versucht hatte zu verbergen, zu verdrängen in letzter Zeit, drängte an die Oberfläche und überflutete ihr Inneres, so massiv, dass sie Mühe hatte zu atmen. Ihr Brustkorb fühlte sich so eng an… so eng… und es kribbelte so furchtbar, in ihrem Magen, auf ihrer Haut, überall.


    Erst als Finn tatsächlich anfing zu weinen, schaffte er es, Sivs Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie wandte den Blick ab von dem Mann, der ganz wie der Senator wirkte, der er war – und den sie völlig anderes kannte. Sie wandte den Blick ab und Finn zu, legte eine Hand an seinen Hinterkopf und stützte ihn so, während sie sein Gewicht verlagerte, ihn von einer liegenden Position auf ihrem Arm in eine aufrechte brachte und ihn so an ihrer Brust hielt. Ihre Finger an seinem Köpfchen streichelten ihn sacht, strichen über die feinen Härchen, während sie ihren Sohn – seinen Sohn – sanft auf und ab wippte ihren Armen und beruhigende Laute machte. "Ssschschsch…" Ihre Aufmerksamkeit war jetzt auf Finn gerichtet, und sie dankte ihm im Stillen dafür, dass er sie so in Anspruch nahm. Corvinus’ plötzliches Auftauchen hatte sie schockiert, so sehr, dass sie nach wie vor nicht wirklich reagieren konnte. Sie fühlte sich wie in eisiges Wasser gestoßen, das Geist und Körper gleichermaßen lähmte, weil der Unterschied, der Schock, zu groß war. Es war zu viel für sie. Nach all den vergangenen Wochen, nach allem, was war, nach der Gewissheit, unerwünscht zu sein, nach der Entscheidung, zu der sie sich durchgerungen hatte, und dem Wissen, dass es das war, war es in diesem Augenblick zu viel für sie, ihn nun doch hier stehen zu sehen. Sie sehnte sich danach, aufzusehen, ihn anzusehen, und hatte doch Angst davor. Angst davor, wieder den Senator zu sehen, den Patrizier, den Römer, und nicht den Mann, den Mensch, der er war. Schmerz, über Vergangenes, Verlorenes, Erhofftes und nie Erlangtes blühte in ihr auf und verringerte den Raum in ihrer Brust nur noch mehr, und zugleich Hoffnung, verzweifelte Hoffnung, der sie nicht nachgeben konnte, weil sie zu große Angst hatte enttäuscht zu werden – und der doch ein winziger Teil ihrer Selbst wider besseren Wissens nachzugeben begann.


    Uland unterdessen bemerkte durchaus, dass hier etwas nicht ganz so war, wie es sein sollte. "Natürlich nicht", versicherte er mit einem Lächeln, das dennoch ein wenig unsicher war – und dachte natürlich trotzdem, dass ein Patron wie der Aurelier einen Klienten wie ihn nicht besuchte. Nicht einfach so, und schon gar nicht um diese Tageszeit. "Ich… verzeih mir bitte. Ich versuche gerade so viel zu arbeiten wie möglich, um… Geld zu verdienen. Für Germanien. Es tut mir leid, dass ich zusätzlichen Arbeitsmöglichkeiten den Vorzug gegeben habe in der letzten Zeit, vor dem Empfang…" Uland hatte das zwar abgesprochen, dass er nicht mehr regelmäßig kommen würde zur Salutatio, war sich jetzt allerdings nicht mehr so ganz sicher, ob er nicht tatsächlich zu viel Zeit hatte vergehen lassen. "Es geht uns gut." Er lächelte erneut, offener diesmal, und sah dann kurz zu dem Blondschopf hinunter, der sich halb hinter, halb neben ihn geschoben hatte und den Senator kurz anstarrte, bevor ein Grinsen über sein Gesicht zog. Uland legte ihm eine Hand auf den Kopf und verwuschelte seine Haare. "Du störst überhaupt nicht. Komm doch herein, bitte. Meine Frau würde sich freuen, dich einmal wieder zu sehen."

    Und wieder war ein weiterer Tag vergangen. Siv hatte das Gefühl, dass sie in einer Art Einheitsbrei alle ineinander zu zerfließen schienen. Sie fühlte sich so… so klein und jämmerlich. Es gab viel, woran sie sich hier nicht gewöhnen konnte – die Enge, die Luft, all das –, und darüber hinaus wurde der Schmerz, den seine Abweisung in ihr verursacht hatte, nicht geringer, aber mehr noch als das war es sie, sie selbst… die sich erbärmlich fühlte. Dabei gab es doch so viel Gutes, sie hatte Finn, und Uland und seine Familie, die wirklich freundlich zu ihr waren… Aber manchmal machte es das nur noch schlimmer, weil Siv das Gefühl hatte – und das war völlig neu für sie –, dem nicht gerecht werden zu können. Sie gab sich ihr Bestes, sich nichts anmerken zu lassen, und zumindest das schien sie gut genug transportieren zu können: dass sie nicht darüber reden wollte. Sie bemerkte die Blicke, die Ferun und Uland ihr zuwarfen, aber sie ignorierte sie, und zumindest für den Moment schienen sie es aufgegeben zu haben, sie darauf anzusprechen. Genauso wie darauf, dass sie nach wie vor schlecht schlief – selbst dann, wenn Finn sie schlafen ließ. Und selbst wenn Ferun eine Anspielung in dieser Richtung machte, dann schob Siv es nur darauf, dass die Subura nichts für sie war, dass vor allem die Enge ihr aufs Gemüt schlug. Und damit log sie noch nicht einmal, denn dass das mit ein Grund war für Sivs eher schlechte Verfassung, stimmte auch. Germanien, hatte ihre Standard-Antwort gelautet, wenn denn die Sprache darauf gekommen war. Wenn wir erst in Germanien sind… Dann würde alles besser werden. Siv redete sich das jedenfalls ein. Sie konnte gar nicht anders, als sich das einzureden. Sie würde verzweifeln, wenn sie sich nicht so fest daran klammerte, dass eine Besserung in Aussicht war. Für sie und für Finn.


    Mit dem Jungen beschäftigte sie sich gerade wieder, hatte ihn auf dem Arm und ging auf und ab, während Uland, Ferun und die Kinder gemeinsam aßen. Siv nutzte die Ausrede recht gern, die Finn bot bei solchen Gelegenheiten, egal ob er nun gestillt werden musste, sonst etwas brauchte oder nicht. Heute war nicht der Fall, aber Siv tat trotzdem so, als brauche er sie ausgerechnet jetzt und unbedingt und ohne jedes Wenn und Aber. Wenn die vier zusammen waren, fühlte sie sich einfach überflüssig. Mehr noch, sie fühlte sich wie ein Eindringling. Und sie schottete sich lieber selbst ab, als dabei zu sitzen und sich… fremd und unwohl zu fühlen. Oder den leichten Schmerz, den das in ihr aufwühlte. Der einfache Tisch befand sich direkt beim Durchgang zu der winzigen Küche, so dass Siv, wenn sie sich weiter vorne im Raum aufhielt, durchaus genug Abstand zwischen hatte, um die leise Unterhaltung wenigstens einigermaßen ausblenden zu können. Und so war sie der Tür auch am nächsten, als es plötzlich klopfte. Uland sah hoch und machte Anstalten, aufzustehen, aber Siv schüttelte leicht den Kopf. "Ich geh schon", meinte sie leise, während sie sich bereits umwandte und zur Tür ging. Sie verlagerte Finn in ihren Armen so, dass sie eine Hand frei hatte, und öffnete dann die Tür. Und blieb wie vom Donner gerührt stehen. Finn versuchte bereits nach kurzer Zeit, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wedelte mit seinen Ärmchen und gab glucksende Geräusche von sich, aber – eines der wenigen, wenn nicht sogar das erste Mal überhaupt – Siv reagierte nicht darauf. Sie reagierte auch nicht darauf, als bereits nach einem winzigen Moment Ulands Stimme ertönte. "Siv? Wer ist da?" Sie stand einfach da und starrte Corvinus an, der vor der Tür stand, während ihr Herz sich mit einem einzigen Satz den Weg in ihre Kehle hineingebahnt zu haben schien und dort wild pochte, während es ihr heiß und kalt zugleich den Rücken hinunter lief und ihre Lunge zu wenig Platz zu haben schien. Ein weiteres "Siv?!" ertönte, dann erklang Stuhlscharren, und Uland tauchte hinter ihr auf. Und blieb erst mal selbst überrascht stehen, als er erkannte, wer da vor der Tür stand. "Cor… Patron! Das ist… das… Es freut mich, dich hier zu sehen, komm doch herein…" Seiner Stimme war die Verwirrung darüber anzumerken, dass der Aurelier hier, in der Subura, in seiner Wohnung aufgetaucht war. "Was…" Sein Blick wanderte zu Siv, die immer noch da stand und Corvinus anstarrte. "Was können wir für dich tun?"

    Siv genoss die kurze Berührung, genoss es, im Arm gehalten zu werden. Sie gab das nicht gerne zu, aber am liebsten hätte sie Brix aufgehalten und sich von ihm noch länger so halten lassen, so lange, bis das Gefühl der Einsamkeit endlich verschwunden war, und wenn es nur für ein paar Stunden wäre. Aber es ging nicht, das wusste sie, und es war ohnehin fraglich, ob Brix’ Gegenwart das überhaupt bewirken konnte. Also ließ sie ihn bald wieder los, zwang ein Lächeln auf ihre Züge, als er sich von den drei Kindern verabschiedete. Denk noch einmal über meine Worte nach. Siv unterdrückte abermals ein Seufzen. Brix hatte leicht reden. Er war es nicht, der das hinter sich lassen musste, was er sich in den letzten Jahren aufgebaut hatte. Der eine Reise vor sich hatte, von der er nicht wusste, wie sie enden würde. Der ein Ziel vor Augen hatte, von dem er nicht wusste, was ihn dort erwarten würde, das so schwammig war, dass er es nicht mal genau ausmachen konnte, und das ohnehin nur zweite Wahl war… Aber hier zu bleiben, einfach nur um hier zu bleiben, war keine Option. Siv wusste nicht genau, was sie wollte, aber sie wusste, dass sie das nicht wollte: in Rom bleiben, wenn er sie nicht hier haben wollte. Wenn er sie nicht bei sich, in seiner Nähe wissen wollte. Wenn sie ihr Leben so fristen musste wie hier, ohne irgendwelche Vorzüge, weder die, die ein Leben in den germanischen Wäldern hatte, wenigstens für sie, noch die, die das Leben in einer Stadt bieten konnte. Für das Leben, das sie im Augenblick führte, war sie nicht gemacht. Und sie wollte es auch nicht für ihren Sohn. Da war es weit besser, wenn er eine Hälfte seines Seins, seiner Herkunft, seiner Abstammung verdrängte, vergaß und sich erst spät, wenn überhaupt, damit beschäftigte. So wichtig schien ihr der römische Teil seines Erbes dann auch nicht zu sein, dass sie dafür das hier in Kauf genommen hätte, für ihn und für sich.


    Einen Augenblick lang stand Siv so da, in Gedanken versunken, dann hörte sie einen Aufschrei, und als sie sich umdrehte, sah sie, wie Sonnwinn versuchte Lioba einen Klotz wegzunehmen, den sie ihm offenbar gerade geklaut hatte. Siv machte kurzen Prozess, griff sich den Klotz und legte damit den Grundstein für einen weiteren Turm, und es dauerte nicht lang, da bauten sie alle drei, gelegentlich unterbrochen von Streitereien, die Siv zu schlichten versuchte, bis Uland nach Hause kam und es Essen gab.

    Siv sah hinunter und strich sich kurz über die Tunika, die sie trug. Warm genug war sie, immerhin befanden sie sich im obersten Stock der Insula. Sonderlich dicht waren die Wände und das Dach nicht, und im Gegensatz zu den anderen Wohnungen, die sich mittig im Gebäude befanden, kam hier nur noch Wärme von der darunter liegenden Wohnung. Da sie zudem nicht viel Geld hatten für Heizmaterial und Uland ohnehin an allen Ecken und Enden sparte, damit sie für Mogontiacum ein ordentliches Startkapital hatten, war es zwangsläufig notwendig, sich auch hier drinnen warm anzuziehen. Was Brix allerdings über die Alpen sagte, gab Siv zu denken, und als er dann zu Finn sah, wurde ihr plötzlich kalt. Unwillkürlich zog sie ihren Sohn enger an sich, fast als könne sie ihn so bereits jetzt schon vor der Kälte schützen, die ihn erwartete in den Bergen. "Ich… noch ist ja Zeit." Ihr Tonfall hatte etwas Verteidigendes, und obwohl Brix zu dem Thema nichts mehr sagte, fügte Siv noch an: "Uland weiß noch nicht einmal, wann er genau los will." Und sie würden ja sicher nicht von heute auf morgen einfach so aufbrechen. Wenn Uland den Termin für den Aufbruch festgesetzt hatte, würde sie immer noch Zeit genug haben, sich zu kaufen, was sie brauchte. Sie wollte nicht jetzt schon daran denken, was war, wenn sie die Reise antraten. Wie diese Reise womöglich ausgehen könnte. Sie senkte ihren Kopf leicht und legte ihre Lippen an Finns Stirn, hielt ihn einen Augenblick so fest wie sie es wagte, während sie zugleich die Augen schloss. Sie konnte sich nicht vorstellen, ihn zu verlieren. Sie wusste, wie gefährlich das war, wie lächerlich, wie absurd, weil ein Kind nun mal leichter und schneller starb. Finn war noch lange nicht aus dem Gröbsten heraus. Er würde noch Jahre brauchen, bis er aus dem Gröbsten heraus war. Es war… unverantwortlich, dass sie ihr ganzes Herz so sehr an den Jungen gehängt hatte. Aber sie konnte es auch nicht mehr ändern, genauso wenig wie sie etwas daran ändern konnte – oder wollte –, dass sie ihn verwöhnte. Sie hatte ihn fast ständig bei sich. Sie reagierte auf sein Weinen oder Rufen, wann immer ihr es möglich war. Keiner, den sie von früher kannte, war so mit seinen Kindern umgegangen. Es ging auch gar nicht, nicht mit der Arbeit, die man zusätzlich noch hatte, und schon gar nicht wenn dann erst mal mehr als ein Kind da war. Aber Finn war alles, was Siv noch hatte… Und sie schob jede Möglichkeit, dass er irgendwie zu Schaden kommen könnte, weit fort von sich. Sie ertrug nicht einmal wirklich den Gedanken daran.


    Als Brix dann auf ihre und Feruns Frage hin ablehnend reagierte, unterdrückte Siv ein Seufzen. Sie hätte sich gefreut, wenn er noch etwas hätte bleiben können. Sie vermisste ihn… Aber sie wusste auch, dass er nicht einfach tun und lassen konnte, was er wollte. Es war so viel einfacher gewesen, Zeit mit ihm zu verbringen, als sie auch in der Villa gewohnt hatte. Beim Essen, oder einfach so, tagsüber, wenn sie seine Hilfe im Garten brauchte oder er die ihre bei irgendwelchen organisatorischen Sachen, in die er sie eingelernt hatte während ihrer Schwangerschaft, in der sie kaum noch etwas hatte tun dürfen. Oder wenn sie sich einfach so über den Weg gelaufen waren in den Gängen… Als Sonnwinn sie aufforderte, endlich weiterzumachen, setzte sie noch ein paar Steine, bis der Turm augenscheinlich die richtige Höhe erreicht hatte, um wieder umgestoßen zu werden – was sie daraus schloss, dass der Racker das auch gleich in die Tat umsetzte. Lioba ließ kurz von Brix’ Haaren ab und jauchzte auf bei dem Geräusch, und Brix sagte gleichzeitig etwas, was Siv erneut an den Rand der Frage trieb, die ihr auf den Lippen brannte. Zu Hause steht alles Kopf. Warum. Warum… Aber sie schwieg ein weiteres Mal. Es ging sie nichts mehr an. Höchstens noch, dass Brix anscheinend Stress hatte, aber sie konnte auch nichts tun, um ihm zu helfen. "Schade", warf Ferun von der Küche ein. "Wir richten Uland deine Grüße aus – und schau bald mal wieder vorbei!" Siv nickte und stand auf, um das Ledersäckchen zu nehmen und Brix dann kurz zu umarmen, bevor er ging. Und presste dann die Lippen aufeinander als er noch einmal wiederholte, was er zuvor schon gesagt hatte, und als sie wieder diesen Schmerz spürte, den sie am liebsten verdrängte.

    Siv sah dabei zu, wie Brix mit Sonnwinn und Lioba immer wieder Türme baute, um sie zerstören zu lassen, aber sie beteiligte sich nicht daran, sondern beschäftigte sich mit Finn, hielt ihn mit einem Arm und ließ ihn mit den Fingern ihrer anderen Hand spielen. "Stiefel… Ja, doch, Stiefel sind eine gute Idee. Und anständige Klamotten. Aber ich dachte, da krieg ich dann in Germanien bessere Sachen. Und ansonsten… Nein, eigentlich nichts. Wenn mir noch was einfällt, kann ich's mir ja dann kaufen." Sie spielte damit auf das Geld an, das Brix ihr vorbei gebracht hatte. Sie musste nachsehen, wie viel das war, ob es reichte, um ein schönes, weißes Kaninchen zu bekommen, das sie opfern konnte. Denn opfern wollte sie auf jeden Fall noch, bevor sie Rom verließ. Iuno hatte ihr ihre Bitte erfüllt, hatte auf ihr Kind acht gegeben und es gesund sein lassen, da war es nur anständig, ihr dafür auch zu danken. Genauso wie sie ihren eigenen Göttern dafür noch danken musste… Aber in das Wäldchen vor den Toren Roms konnte sie nicht, nicht jetzt, nicht mit Finn. Ihn hier zurücklassen kam aber erst recht nicht in Frage, also würde sie damit wohl noch warten müssen.


    Während Siv noch grübelte, kam Ferun zurück, mit einem Bottich voller Wasser, und Brix sprang auf, um ihn ihr abzunehmen. "Dort hinüber. Danke", lächelte die Germanin leicht und wies Brix zur Küche hin, ein kleiner Seitenraum mit einer einfachen Kochstelle, wo sie gleich darauf zu werkeln begann. Siv unterdessen hatte inzwischen ihre eine Hand von Finn gelöst, der nun seine kleinen Fingerchen in ihre langen Haaren vergrub, und baute nach Sonnwinns Anordnungen einen weiteren Turm. Als Brix wieder auftauchte, sah sie hoch. Jetzt, zum ersten Mal, lag ihr die Frage auf den Lippen, was sich in der Villa tat. Nein. Was er tat. Wie es ihm ging. Ob er… etwas gesagt hatte, irgendetwas, über sie. Aber so deutlich die Frage auch in ihren Augen zu lesen sein mochte, sie stellte sie nicht. Sie wollte nicht hören, was Brix zu sagen hatte, wollte nicht hören, dass er war wie stets. Dass es keinen Unterschied gab. Dass er womöglich diese neue Sklavin bereits in sein Bett geholt hatte… auch wenn sie wusste, dass Brix ihr das wohl niemals sagen würde, selbst wenn es so wäre. Stattdessen fragte sie etwas anderes. "Wie viel Zeit hast du noch? Ich meine, bleibst du noch ein Stück?" Sonnwinn strahlte Brix an, und aus der Küche rief Ferun: "Ja, bleib doch zum Essen – Uland würde sich sicher freuen, dich zu sehen."

    Das war ganz eindeutig nicht die Antwort, die Siv hatte hören wollen. Wenn erst mal tausend Meilen zwischen uns liegen… Sie schluckte mühsam. Was für eine Wahl hatte sie denn? Sie würde Brix sofort mitnehmen, wenn sie könnte. Aber hier bleiben… Sie konnte doch nicht hier bleiben. Sie würde es nicht aushalten, in einer winzigen Behausung wie dieser hier, umgeben von viel zu viel Stein und viel zu viel Menschen. Von zu viel Enge und zu wenig frischer Luft und Natur. Auch nicht, wenn Brix sie regelmäßig besuchen kam. Sie würde durchdrehen auf kurz oder lang, das wusste sie. Das hier war nicht die Villa Aurelia, in der es sich gut leben ließ, die Platz bot und Luft und Ruhe. Sie kitzelte Finn ein wenig am Bauch und ignorierte Brix’ Kommentar. Sie wusste schlicht nicht, was sie darauf nun antworten sollte. Und weil sie sich auf Finn konzentrierte, entging ihr völlig, wie Brix sie ansah. Wie unentschlossen er für Augenblicke wirkte. Hätte sie es bemerkt, sie hätte womöglich gefragt, was los war, aber sie bemerkte es nicht, und so verging der Moment in Schweigen. Nur Sonnwinn starrte für Augenblicke fragend und mit leicht geöffnetem Mund hoch zu Brix.


    Erst als der Germane wieder das Wort ergriff, wandte Siv den Blick ab von Finn und wieder ihm zu. Die Erklärung seines Satzes von zuvor schien ihr etwas dürftig zu sein, aber sie fragte nicht nach. Wenn es ohnehin nur wieder darum ging, sie solle es sich doch anders überlegen… Siv presste die Lippen aufeinander. Glaubte Brix denn ernsthaft, es fiel ihr leicht, zu gehen? Sie ließ Jahre ihres Lebens zurück! Menschen, die sie lieb gewonnen hatte, nicht nur einen oder zwei, sondern einige. Arbeit, die sie gemocht hatte. Und andere Tätigkeiten, wie das Lesen, das Entdecken unzähliger Geschichten, ferner Länder, ganzer Welten aus ihrem Blickwinkel betrachtet! Schätze, die in Schriftrollen verborgen lagen, und in anderen Menschen, die von dort her kamen und erzählen konnten. Und nicht zuletzt Finns Vater. Den sie liebte. Sie kam um diese Tatsache einfach nicht herum, auch wenn sie es noch so sehr wollte. Sie liebte ihn. Und sie nahm ihrem Sohn den Vater weg, ganz gleich, ob der sich ihm nicht in geringster Weise verbunden fühlte. Sie nahm Finn den Vater weg, und die Gelegenheit, sich selbst mit ihm auseinander zu setzen, mit ihm und seiner Ablehnung, so bald er alt genug war. Glaubte Brix wirklich, ihr würde das leicht fallen? Oder glaubte er, ihr würde es leicht fallen, ihn zurückzulassen, der wie ein großer Bruder für sie geworden in den letzten Jahren, der ihr ihre eigenen Brüder so sehr ersetzt hatte, wie es keiner gekonnt hätte sonst… "Brix, ich…" Sie wollte nicht weiter darüber diskutieren. Sie wusste nicht, was sie noch sagen sollte. Und sie spürte schon wieder, wie sich ein Schluchzen ihre Kehle hinaufdrängte. Sie hatte ganz eindeutig zu wenig und zu schlecht geschlafen die letzten Tage, und hatte zu viel in ihrer wachen Zeit, was ihr zu schaffen machte – nicht nur die Situation an sich, auch Finn, der regelmäßig weinte, so wie alle Babys, und die beiden anderen Kleinen, die sie beanspruchten, und dann die Enge hier, die ihr so sehr aufs Gemüt schlug, weil sie das Gefühl hatte zu ersticken… Sivs Nerven lagen einfach blank zur Zeit, und die Selbstbeherrschung, die sie noch auszuüben imstande war, hing an einem seidenen Faden. Und so war sie dankbar für die Ablenkung, die Brix gleich darauf bot. Sie lächelte schwach. "Ja, das wird er ganz sicher." Sie setzte sich zu Brix und den Kindern auf den Boden und sah ihn dann ein wenig verwirrt an. "Ich? Was… was sollte ich brauchen?" Vernünftige Klamotten, vielleicht, vernünftig für Germanien. Aber die würde sie ohnehin kaum in Rom bekommen.

    Siv musterte Brix kurz misstrauisch, aber als er ihr dann ihren Sohn zurückgab, war vergessen, ob er seinen Kommentar tatsächlich ernst gemeint hatte, oder ob sie nicht lieber doch nachbohren sollte. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, das für Augenblicke die Erschöpfung von ihrem Gesicht wischte, als sie Finn wieder entgegennahm, der sich inzwischen tatsächlich beruhigt hatte. "Möchtest du nicht öfter vorbei kommen? Am besten immer dann, wenn er gerade einen Schreikrampf hat…" Ihr Lächeln und der sanfte Tonfall sagten etwas völlig anderes aus als die Worte für sich allein. Natürlich war es anstrengend, und wenn er so erbärmlich weinte wie zuvor und einfach nicht aufhören wollte, dann zerrte das unglaublich an ihren Nerven. Trotzdem wollte sie ihn um nichts in der Welt hergeben, wollte sie um nichts in der Welt mit jemand anderem tauschen.


    Das Gespräch allerdings wandte sich unangenehmeren Themen zu, und nach ihrem kleinen Ausbruch, der nur deshalb so ruhig blieb, weil sie wieder Finn in ihren Armen hielt und sie ihn nicht schon wieder aufregen wollte, schwieg Brix erst mal und beschäftigte sich kurz mit den Kindern. Siv streichelte über Finns Kopf und drückte ihre Lippen auf seine Stirn, dann sah sie auf, als sie Brix’ Seufzen hörte. Sie begriff nicht ganz, was er ihr mit diesem verklausulierten Satz sagen wollte. Das Offensichtlich nicht als gegeben nehmen? Das Einfachste, das Tatsächliche? "Was meinst du damit?" fragte sie, sowohl verständnislos als auch misstrauisch. Fragend musterte sie ihn, wie er mit den beiden Kindern einen Turm baute, nur um ihn von Sonnwinn dann wieder zerstören zu lassen. "Wir… Ich weiß nicht. Uland macht die Planungen, und er… er möchte sicher gehen, dass er genug hat um sich in Mogontiacum etwas aufzubauen. Und noch ist es ohnehin zu kalt." Für sie und Finn ohnehin, aber auch für Lioba und Sonnwinn würde die Reise so zu beschwerlich, zu gefährlich werden. Keiner von ihnen wollte ein unnötiges Risiko eingehen. "Frühestens im späten Frühling. Eher noch Frühsommer, glaube ich", meinte sie. Ihrer Stimme war anzuhören, dass ihr die Aussicht nicht gefiel, so lange hier zu sein, in diesen winzigen Räumen, aber es ließ sich nicht ändern.

    Siv war versucht, das Geld abzulehnen, als Brix ihr sagte es sei seins. Aber er hatte ja immerhin die Wiege, die er ja verkaufen sollte, und Siv bedeutete Geld einfach nicht so viel. Sie tat sich nicht wirklich leicht damit, es von ihm anzunehmen, schon allein weil sie in den letzten Jahren durchaus gelernt hatte, welch hohen Stellenwert die Münzen einnahmen, mit denen hier Handel betrieben wurde, aber ihr selbst bedeutete es nicht wirklich etwas. Es war nur Mittel zum Zweck. Und sie ging davon aus, dass Brix es nicht anders sah. "Danke, Brix. Wenn du die Wiege dann los wirst, dann ziehst du das aber ab, ja?" Sie musste sich etwas überlegen, was sie für ihn tun konnte, irgendetwas. Sie hatte noch Zeit, aber bevor sie endgültig mit Uland, Ferun und den Kindern nach Germanien aufbrach, wollte sie irgendetwas für Brix tun, was ihm ihre Dankbarkeit zeigte. Und wie sehr sie ihn vermissen würde. Für einen Augenblick wurde der Drang, Brix einfach zu umarmen, beinahe übermächtig, aber sie zügelte sich, schon allein weil sie wusste, dass sie dann die Tränen nicht mehr würde zurückhalten können. Sie hatte keinen derartigen Zusammenbruch mehr gehabt, seit sie sich von Idolum verabschiedet hatte, und sie hatte vor, es dabei zu belassen. Sie konnte hier nicht in Tränen ausbrechen, weil sie keinen Ort hatte, an den sie sich zurückziehen konnte, an dem sie allein war, an dem es keiner bemerken würde.


    "Es wird andere geben, die sich um den Garten kümmern können." Siv konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme bitter klang. Der Garten. Es war Sklavenarbeit, jedenfalls hatte sie sie als Sklavin getan – warum sollte es in Ordnung sein, wenn sie das nun weiter tat? Warum war es nicht in Ordnung, dass sie sich weiter… Siv zwang sich, diesen Gedanken nicht zu Ende zu denken. Sie drehte sich im Kreis damit. Es war doch eindeutig, dass das Argument, sie wäre keine Sklavin mehr, nur vorgeschoben war. Um nicht auszusprechen, was Fakt war: dass er sie einfach nicht mehr um sich haben wollte, aber offensichtlich auch nicht so weit gehen wollte, dass er sie hinausschmiss. Sie schwieg, während Ferun sich kurz verabschiedete, Sonnwinn abwechselnd Brix und sie mit neugierigen Augen anschaute und Lioba sich ein Holzstück griff und es durch die Gegend warf. Siv starrte das Stück an, das über den Boden kullerte und schließlich zur Ruhe kam, und Sonnwinn begann leise und ein wenig altklug daher zu schimpfen, machte aber keine Anstalten, das Stück wieder zu holen. Und Siv sah schließlich doch wieder hoch, als ihr das Schweigen, Brix’ Warten zu viel wurde. "Warum soll ich noch mal nachdenken, Brix? Glaubst du mir ist das leicht gefallen, die Entscheidung? Glaubst du ich hab nicht drüber nachgedacht, bevor ich sie getroffen hab? Es… ich kann das nicht. Er will mich nicht da haben, mich nicht und Finn nicht, und ich… jetzt wo ich frei bin, wo ich nicht mehr da bleiben muss… Und ich muss doch dran denken, was für Finn das Beste ist, und…"