Sim-Off:Sorry, ganz übersehen 
Es gab Menschen, die mochte man nicht, ohne dies genau bestimmen zu können. Und es gab Menschen, die mochte man nicht, und man konnte bestimmen, warum das so war. In Sivs war Fall war es, was die Flavia betraf, letzteres. Sie konnte sehr genau sagen, warum sie sie nicht mochte, und es lag nicht einfach nur daran, dass sie einen denkbar schlechten Start gehabt hatten, sobald Siv erfahren hatte, dass Corvinus gedachte sie zu ehelichen. Es lag auch nicht einfach nur daran, dass Sivs Gemütsverfassung zu jenem Zeitpunkt denkbar elend gewesen war. Beides hätte, auf längere Sicht, die Chance gehabt keine Rolle mehr zu spielen – Sivs Lage hatte sich wieder geändert, deutlich zum Besseren, und mit der Tatsache, dass Corvinus heiraten würde, musste, hatte sie sich abgefunden. Wie die Flavia sie allerdings behandelte, wie sie sie von Anfang an behandelt hatte, so als ob sie nicht mehr als Dreck sei – wie sie sich gab, so als ob sie der Archetyp eines Römers oder einer Römerin war, so wie Siv dieses Volk früher immer gesehen hatte… Das war es, was Siv nicht leiden konnte. Sie hatte es noch nie leiden können, wenn man ihr gegenüber herablassend war, und Herablassung war etwas, was die Flavia perfektioniert zu haben schien. Siv war niemand, der so etwas so leicht vergab. Genauso wenig wie eine Ohrfeige. Nein, Siv hatte mehr als genug Gründe, die Flavia nicht zu mögen, und sie vom Gegenteil zu überzeugen, würde einiges bedürfen. Es interessierte sie nicht, dass sie nicht in der Position derjenigen war, die überzeugt werden musste, nicht so wie die Dinge lagen, nicht sie als Sklavin und die andere als Herrin. Es interessierte Siv nicht. Was sie zurückhielt, war einzig das Wissen, dass Corvinus wohl ein Problem haben würde, wenn sie es mit der Flavia zu weit trieb – und das war auch der Grund, warum sie ihr bisher so penibel aus dem Weg gegangen war.
Das kühle Lächeln erwiderte Siv nicht. Ihr war nicht Lächeln, also lächelte sie nicht, so einfach war das – und diese Maskerade, die die Römer so gut beherrschten, nicht nur die Flavia, sondern auch Corvinus und viele andere, gehörte zu den Dingen, die Siv bisher nicht gelernt hatte und auch nicht wirklich nicht lernen wollte. Ihre Augen blitzten nur auf, als die Flavia davon sprach, dass sie ihr und ihrem Kind das Leben zur Hölle machen könnte. Sie war sich sicher, dass sie das nicht konnte, dass Corvinus das nicht zulassen würde, aber dennoch war es Wut, die in ihren Augen schimmerte, Wut darüber, dass die andere Frau es wagte, ihr Kind zu bedrohen. Ihr Kind. Niemals würde sie zulassen, dass jemand Hand an ihr Kind legte, eher würde sie sich zerreißen lassen, wie die Wölfin, die ihr Junges verteidigte. Ohne hinzusehen, streckte Siv die Hand aus und zog eine Schriftrolle aus einem Regal, die sie der Flavia hinhielt. Es war ihr gleichgültig, ob es eine war, die sie schon gelesen hatte oder nicht. Sie konnte inzwischen alles hier lesen, manches schneller, manches weniger schnell, was nicht nur am Schwierigkeitsgrad lag, sondern auch daran, wie interessant Siv den Text fand, aber sie konnte es lesen, das war es, was zählte. "Herrin", sagte sie betont, ähnlich dem Tonfall, in dem Römer das Wort Sklave aussprechen mochten.
Als die Sprache dann wieder auf ihr Kind kam, presste Siv die Zähne aufeinander, so fest, dass sie beinahe knirschten. Ein Sklave. Ihr Kind, ein Sklave. Sie mochte nicht daran denken, sie dachte auch einfach die meiste Zeit nicht daran, hatte Corvinus sich doch bis heute nicht klar zu diesem Thema geäußert. Sie konnte nicht daran denken, denn allein der Gedanke, dass ihr Kind ein Sklave sein würde, verschaffte ihr schlaflose Nächte. Es war ihr gleichgültig, als was ihr Kind geboren war – es zählte, was es später sein würde. Sie machte sich keine Gedanken darüber, dass es, wenn es als Sklave geboren war, in Rom, im römischen Reich, keinerlei Chancen auf einen nennenswerten Aufstieg haben würde. Das war es nicht, was in Sivs Augen zählte. Freiheit an sich war es, die Freiheit zu tun und zu lassen, was ihr Sohn, ihre Tochter wollte, das war es, was sie für ihr Kind wollte, und es würde ihr schon reichen, Corvinus’ Zusicherung zu haben, dass es so kommen würde, auch wenn er es erst irgendwann nach der Geburt tun würde. Sie vertraute ihm. Allein dass sie diese Zusicherung noch nicht hatte, dass er sich jedes Mal aus dem Thema herausgewunden hatte, bereitete ihr Magenschmerzen, aber selbst damit konnte Siv, noch, fertig werden – weil sie ihm vertraute. Es war ihr gemeinsames Kind. Er würde nicht wollen, dass es in Sklaverei lebte, noch dazu in seiner Sklaverei, davon war sie überzeugt. Aber sie antwortete nicht auf die Worte der Flavia, weil sie es mit jedem Wort nur schlimmer gemacht hätte. Sie konnte ihr nicht sagen, dass sie nicht davon ausging, dass ihr Kind kein Sklave sein würde. Und sie wollte ihr nicht zeigen, wie sehr es sie schmerzen würde, wenn es doch so kam. Und dann hob sie den Kopf, einmal mehr mit diesem germanischen Stolz, der ihr bis heute nicht genommen worden war. Kurz erinnerte sie sich daran, wie sie früher auf diese Frage reagiert hatte, in den Monaten nach ihrer Gefangennahme. Wie sie mit dem Gedanken gespielt hatte, Hel zu sagen. Die Göttin der Unterwelt, ihre Schutzgöttin, die das gesamte römische Reich zerschlagen könnte, wenn sie wollte… Sie hatte es nie getan, niemals. Ihr Respekt war zu groß gewesen. Fast, nur fast, war Siv versucht zu lächeln. Ihr Respekt wäre auch heute noch zu groß, um das zu tun, aber heute würde sie gar nicht mehr auf so eine Idee kommen. Sie war stolz auf ihren Namen, den ihr Vater ihr gegeben hatte. Es gab keinen Grund, ihn nicht zu nennen, und sie hoffte, ihr Kind würde eines Tages genauso denken. "Ich bin Siv. Von den Chatten." Sie wusste gar nicht, warum sie nun, in diesem Augenblick, den Namen ihres Stammes nannte, aber es schien ihr einfach richtig zu sein.